JudikaturJustizBsw57292/16

Bsw57292/16 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
22. Juni 2021

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Hurbain gg. Belgien, Urteil vom 22.6.2021, Bsw. 57292/16.

Spruch

Art. 10 EMRK - Verpflichtung einer Zeitung zur Anonymisierung eines online archivierten Artikels zum Schutz des Privatlebens.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 10 EMRK (6:1 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Beim Bf. handelt es sich um den Chefredakteur der auflagenstarken belgischen Tageszeitung Le Soir. Der Fall betrifft einen Artikel über mehrere Verkehrsunfälle, der 1994 in einer Printausgabe der Zeitung erschienen und ab 2008 in deren Onlinearchiv frei verfügbar war. In besagtem Artikel wurde unter anderem über einen Verkehrsunfall berichtet, den ein gewisser G. verursacht hatte und bei dem zwei Personen gestorben und drei weitere verletzt worden waren. G. wurde dabei mit seinem vollen Namen genannt.

Nachdem Letzterer aufgrund des Unfalls verurteilt worden war und seine Strafe verbüßt hatte, wurde er 2006 gerichtlich rehabilitiert. (Anm: In der StPO ist festgelegt, dass ein Verurteilter unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit hat, die gerichtliche Feststellung seiner Rehabilitierung zu verlangen. Damit wird der Eintrag im Strafregister gelöscht und etwaige Folgen der Verurteilung wie der Verlust bestimmter Rechte werden beseitigt.)

Im Jahr 2010 verlangte G. von Le Soir mit mehreren Schreiben die Entfernung des Artikels aus dem Archiv oder zumindest dessen Anonymisierung. Er wies darauf hin, dass der Artikel über mehrere Suchmaschinen auffindbar war, wenn man seinen Namen eingab. Die Rechtsabteilung der Zeitung weigerte sich im Jänner 2011, den Artikel zu löschen, gab aber an, Google gebeten zu haben, den strittigen Artikel zu entfernen. Laut dem Bf. hätte Google darauf jedoch nicht reagiert.

Daraufhin wandte sich G. 2012 gestützt auf Art. 1382 des Code civil (Anm: Danach hat jeder, der einem anderen auf schuldhafte Weise einen Schaden verursacht, diesen wiedergutzumachen.) an die Gerichte und beantragte unter Berufung auf sein Recht auf Vergessen, den Bf. dazu zu verurteilen, den Artikel zu anonymisieren. Das erstinstanzliche Gericht gab dem Antrag am 25.1.2013 statt und verurteilte den Bf. dazu, G.s Namen in besagtem Artikel durch den Buchstaben »X.« zu ersetzen und ihm einen Euro für den erlittenen immateriellen Schaden zu bezahlen. Das Berufungsgericht bestätigte das Urteil im September 2014 ebenso wie der Cour de cassation im April 2016 das Urteil des Berufungsgerichts.

Es scheint, dass der strittige Artikel auf der Internetseite von Le Soir für Abonnenten immer noch abrufbar ist.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit) durch die Verurteilung zur Anonymisierung der archivierten Version des Artikels.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK

(53) Da die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund [...] unzulässig ist, erklärt sie der GH für zulässig (einstimmig).

(74) Es wird nicht bestritten, dass die zivilrechtliche Verurteilung des Bf. [...] einen »Eingriff« in seine Rechte nach Art. 10 EMRK darstellte.

Zur Rechtmäßigkeit des Eingriffs

(78) Der GH muss prüfen, ob die Anwendung von Art. 1382 Code civil [...] durch die innerstaatlichen Gerichte auf die Situation des Bf. vorhersehbar war. Dazu berücksichtigt er den gesamten innerstaatlichen Rechtsrahmen, also sowohl die angewendeten geschriebenen Normen als auch die allgemeinen Rechtsgrundsätze und die Rechtsprechung.

(79) [...] Das belgische Recht anerkennt, dass das Recht auf Vergessen einen integralen Bestandteil des Rechts auf Achtung des Privatlebens darstellt. Wie der Cour de cassation im vorliegenden Fall in Erinnerung gerufen hat, erfließt dieses Recht aus Art. 8 EMRK, Art. 17 IPbpR und Art. 22 der Verfassung. Das Berufungsgericht hat sich insbesondere auf diese Bestimmungen gestützt, um G. ein Recht auf Vergessen zuzuerkennen.

(80) Die Festlegung der Reichweite des Rechts auf Vergessen obliegt den nationalen Behörden und insbesondere den Gerichten und Tribunalen, denen es primär zusteht, das innerstaatliche Recht auszulegen. Wenn die vorgenommene Interpretation nicht willkürlich oder offenkundig unangemessen ist, beschränkt sich die Aufgabe des GH darauf zu entscheiden, ob deren Auswirkungen mit der Konvention vereinbar sind.

(81) Die vom Bf. vor den innerstaatlichen Gerichten aufgeworfene Frage betraf den Umstand, ob G. die Voraussetzungen erfüllte, um sich auf sein Recht auf Vergessen berufen zu können, da es sich laut dem Bf. beim strittigen Artikel nicht um eine neuerliche Veröffentlichung handelte, sondern die bloße Archivierung eines früheren Artikels. Diesbezüglich hat der Cour de cassation die vom Berufungsgericht vorgenommene Interpretation bestätigt, wonach das online Stellen des archivierten Artikels eine »neue Veröffentlichung« [...] bedeutete.

(83) Nach Ansicht des GH war die entsprechende Auslegung der Bestimmungen zum Schutz des Privatlebens durch die innerstaatlichen Gerichte weder willkürlich noch offenkundig unangemessen.

(84) Was Art. 1382 Code civil betrifft, so verpflichtet

diese Bestimmung jede Person dazu, den durch ihr Verschulden verursachten Schaden [...] wiedergutzumachen. Diese Bestimmung dient als Grundlage für Zivilklagen wegen des angeblichen Missbrauchs der Pressefreiheit.

(85) Der GH ist daher von der Ansicht des Bf. nicht überzeugt, wonach nicht vorhersehbar war, dass er durch die digitale Reproduktion eines früheren Artikels auf der Basis des allgemeinen Haftungsrechts wegen einer Missachtung des Rechts auf Vergessen verurteilt werden könnte. Er erinnert daran, dass die einfache Tatsache, dass eine rechtliche Bestimmung im Hinblick auf eine bestimmte Art von Fällen das erste Mal angewendet wird, nicht ausreicht, um eine mangelnde Vorhersehbarkeit zu begründen.

(88) Daraus folgt, dass die Verurteilung des Bf. auf eine rechtliche Grundlage gestützt war, welche die Anforderungen an die Vorhersehbarkeit erfüllte. Der Eingriff war daher »gesetzlich vorgesehen«.

Wurde ein legitimes Ziel verfolgt?

(89) Die Parteien stimmen dahingehend überein, dass der Eingriff ein legitimes Ziel iSd. Art. 10 Abs. 2 EMRK verfolgte, nämlich den Schutz des guten Rufes und der Rechte anderer – im vorliegenden Fall G.s Recht auf Achtung seines Privatlebens.

Zur Notwendigkeit des Eingriffs

(90) [...] Im vorliegenden Fall wird nicht die Rechtmäßigkeit des ersten Erscheinens des Artikels in Frage gestellt, sondern seine Verfügbarmachung im Internet und die Möglichkeit des Zugangs zu ihm lange Zeit nach den Ereignissen.

(91) Für die nationalen Gerichte ging es darum, verschiedene Rechte gegeneinander abzuwägen: einerseits die Meinungsäußerungsfreiheit des Bf. als Redakteur und insbesondere sein Recht, die Öffentlichkeit zu informieren, und andererseits G.s Recht auf Schutz seines Privatlebens.

(101) In einem Fall wie dem vorliegenden müssen die Rechte einer Person, die Gegenstand einer im Internet verfügbaren Veröffentlichung ist, [...] mit dem Recht der Öffentlichkeit abgewogen werden, sich – insbesondere mithilfe digitaler Pressearchive – über vergangene und zeitgeschichtliche Ereignisse zu informieren.

(102) Diesbezüglich ist sich der GH der Gefahr der abschreckenden Wirkung auf die Pressefreiheit vollkommen bewusst, die mit der Verpflichtung eines Redakteurs verbunden ist, einen Artikel zu anonymisieren, dessen Rechtmäßigkeit nicht in Frage gestellt wird. Tatsächlich bringt die Verpflichtung zur Prüfung der Rechtmäßigkeit der Aufbewahrung eines Berichts online zu einem späteren Zeitpunkt aufgrund eines entsprechenden Verlangens der betroffenen Person, die eine Abwägung aller auf dem Spiel stehenden Interessen impliziert, die Gefahr mit sich, dass die Presse davon Abstand nimmt, Berichte in ihren Onlinearchiven aufzubewahren, oder es unterlässt, individualisierte Elemente in Berichte aufzunehmen, die später Gegenstand eines solchen Verlangens werden können.

(103) Der GH ist sich auch des Umstands bewusst, dass die Änderung der archivierten Version eines Artikels die Integrität der Archive beeinträchtigt, die deren Wesen ausmacht. Die innerstaatlichen Gerichte müssen daher besonders wachsam sein, wenn sie einem Antrag auf Anonymisierung oder Änderung der elektronischen Version eines archivierten Artikels mit Blick auf das Recht auf Achtung des Privatlebens stattgeben.

(104) Das Recht zur Beibehaltung von für die Öffentlichkeit verfügbaren Onlinearchiven ist jedoch kein absolutes Recht. Vielmehr muss es mit den bestehenden anderen Rechten abgewogen werden. Dabei müssen nach Ansicht des GH, wenn es um das online Stellen oder die Verfügbarhaltung einer archivierten Veröffentlichung geht, dieselben Kriterien berücksichtigt werden wie er sie im Zusammenhang mit einer erstmaligen Veröffentlichung verwendet. Einige von ihnen können angesichts der Umstände des Falles und des Zeitablaufs allerdings mehr oder weniger stichhaltig sein.

Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem Interesse

(105) Was die Frage des Bestehens einer Debatte von allgemeinem Interesse betrifft, [...] betont der GH, dass Archive im Wesentlichen auf eine andere Weise zu einer Debatte von öffentlichem Interesse beitragen als eine ursprüngliche Veröffentlichung. Digitale Archive stellen vor allem eine wertvolle Quelle für den Zugang zu Informationen dar, die für Bildung und historische Recherchen sowie für die Kontextualisierung von aktuellen Ereignissen nützlich sein können. Das Gewicht, das diesem Kriterium bei der Interessenabwägung beizumessen ist, muss daher dieser Besonderheit entsprechen.

(106) Im vorliegenden Fall hat das Berufungsgericht zurecht festgehalten, dass das online Stellen des Artikels keinen aktuellen Wert hatte. Es urteilte, dass die Identität einer Person, bei der es sich um keine Person des öffentlichen Lebens handelte, dem strittigen Artikel zwanzig Jahre nach den Ereignissen keinen zusätzlichen Wert von allgemeinem Interesse verlieh, da er lediglich zu einer allgemeinen statistischen Debatte über die Straßenverkehrssicherheit beitrug.

(107) Tatsächlich betraf der Artikel eine Reihe von – gewiss tragischen – Ereignissen, deren Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem Interesse sich hauptsächlich auf die Gefahren des Straßenverkehrs und die Gründe dafür bezog. Der GH hält unterstreicht daher die Beurteilung des Berufungsgerichts [...].

Bekanntheit der betroffenen Person und Ziel des Artikels

(108) [...] Gewiss hat der GH bereits festgehalten [...], dass eine Person sich nicht auf Art. 8 EMRK berufen kann, um sich über eine Verletzung ihres guten Rufes zu beklagen, wenn sich diese vorhersehbarerweise aus ihren eigenen Handlungen wie einer Straftat ergibt.

(109) Das hat dennoch nicht zur Folge, dass sich eine Person, die in der Vergangenheit strafrechtlich verurteilt wurde, nie auf das Recht auf Vergessen berufen kann, da das Recht sonst seiner Substanz entleert würde. Der GH ist der Ansicht, dass eine verurteilte Person nach Ablauf einer gewissen Zeit ein Interesse daran haben kann, mit Blick auf ihre Reintegration in die Gesellschaft nicht mehr mit ihrer Tat konfrontiert zu werden. Wie das Berufungsgericht erklärt hat, darf die elektronische Archivierung eines Artikels zur begangenen Tat für den Betroffenen keine Art »virtuelles Strafregister« darstellen. Dies gilt umso mehr, wenn die Person wie im vorliegenden Fall ihre Strafe verbüßt hat und rehabilitiert wurde.

(110) Auch wenn eine unbekannte Person nach der Begehung von Straftaten und während des Prozesses eine gewisse Bekanntheit erlangt, kann diese Bekanntheit mit dem Verlauf der Zeit abnehmen. [...] Das Recht auf Vergessen vermag dem Betroffenen daher in bestimmten Fällen das Recht zu vermitteln, den Status einer einfachen, der Öffentlichkeit unbekannten Person wiederzuerlangen. [...]

(111) Im vorliegenden Fall hat das Berufungsgericht daran erinnert, dass G. kein öffentliches Amt bekleidete. Es handelte sich bei ihm um eine Privatperson, die der breiten Öffentlichkeit zum Zeitpunkt ihres Ersuchens um Anonymisierung unbekannt war. Die Ereignisse, aufgrund derer er verurteilt worden war, waren abgesehen vom strittigen Artikel nicht Gegenstand einer Medienberichterstattung. Der Fall erfuhr weder zur Zeit der Ereignisse noch zum Zeitpunkt des online Stellens der archivierten Version des Artikels eine mediale Resonanz.

Verhalten der betroffenen Person gegenüber den Medien

(112) Die innerstaatlichen Gerichte haben sich nicht explizit zur Frage von G.s Verhalten gegenüber den Medien geäußert. Der GH betont, dass Letzterer nie Kontakt zu den Medien aufgenommen hat, um seine Situation öffentlich zu machen [...]. Es geht ganz im Gegenteil aus seinem Schriftverkehr mit Le Soir, mit dem er die Entfernung oder Anonymisierung des strittigen Artikels verlangte, hervor, dass er alles unternommen hat, um der Medienaufmerksamkeit zu entkommen.

Art und Weise der Erlangung der Informationen und ihr Wahrheitsgehalt

(113) Die Richtigkeit der im strittigen Artikel berichteten Ereignisse wurde von G. nicht bestritten. Letzterer hat auch nicht behauptet, dass die enthaltenen Informationen unter Missachtung der journalistischen Sorgfalt erlangt worden wären. Das Berufungsgericht hat im Übrigen befunden, dass die Rechtmäßigkeit der erstmaligen Verbreitung des Artikels nicht bestritten wurde.

Inhalt, Form und Auswirkungen der Veröffentlichung

(114) Was zunächst den Inhalt des strittigen Artikels anbelangt, so berichtete er über mehrere Verkehrsunfälle, die sich im Jahr 1994 im Zeitraum von mehreren Tagen ereignet hatten. Der von G. verursachte Unfall war einer davon.

(115) Was zweitens die Form der Veröffentlichung betrifft, [...] erinnert der GH daran, dass Internetseiten Mittel zur Information und Kommunikation sind, die sich von Printmedien unterscheiden, vor allem was ihre Fähigkeit zur Speicherung und Verbreitung von Informationen angeht. Onlinekommunikationen und ihr Inhalt laufen viel stärker Gefahr als Veröffentlichungen in Papierform, in die Ausübung und den Genuss der Grundrechte und Grundfreiheiten – insbesondere des Rechts auf Achtung des Privatlebens – einzugreifen.

(116) Der GH hat daraus abgeleitet, dass die Wiedergabe von Print- und Internetmaterial einem unterschiedlichen Regime unterworfen werden kann. Dasselbe gilt für Papierarchive und digitale Archive. Die Reichweite Letzterer ist viel größer und die Folgen für das Privatleben der genannten Personen sind umso schwerwiegender. Dies wird durch Suchmaschinen noch verstärkt.

(117) Was den Verbreitungsgrad der archivierten Version des Artikels betrifft, berücksichtigt der GH den Umstand, dass die Konsultation von Archiven einen aktiven Rechercheschritt durch die Eingabe von Schlagwörtern auf der Archivseite der Zeitung erfordert. Der strittige Artikel konnte aufgrund seines Platzes auf der Internetseite keine Aufmerksamkeit von Internetnutzern auf sich lenken, die nicht nach Informationen über G. suchten. Der GH zweifelt auch nicht an, dass die Aufrechterhaltung des Zugangs zum strittigen Artikel nicht zum Ziel hatte, erneut Informationen über G. zu verbreiten.

(118) Er hält trotzdem fest, dass [...] die Archive von Le Soir zum Zeitpunkt, zu dem G. sein Verlangen äußerte, und während des gesamten innerstaatlichen Verfahrens frei und gratis zugänglich waren.

(120) [...] Der GH akzeptiert, dass auf Suchmaschinen und die für strittige Informationen verantwortlichen Redakteure verschiedene Verpflichtungen anwendbar sein können. Es trifft auch zu, dass es vor allem den Suchmaschinen geschuldet ist, dass die von den betreffenden Medien verfügbar gehaltenen personenbezogenen Informationen von Internetnutzern leicht gefunden werden können. Es darf jedoch nicht aus dem Blick verloren werden, dass es für sich schon Auswirkungen auf die Sichtbarkeit der strittigen Informationen hat, wenn eine Zeitung einen Artikel auf ihrer Webseite online stellt. Auch resultiert der ursprüngliche Eingriff in G.s Recht auf Achtung seines Privatlebens aus der Entscheidung des Bf., diese Informationen auf seiner Webseite zu veröffentlichen und vor allem sie dort verfügbar zu halten, auch wenn dies ohne Absicht geschehen mag, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit darauf zu lenken.

(121) Was drittens die Auswirkungen der Veröffentlichung angeht, hat das Berufungsgericht festgehalten, dass eine einfache Suche mit G.s vollständigem Namen in der Suchmaschine von Le Soir oder in Google den strittigen Artikel sofort aufscheinen ließ. Es kam daher zum Schluss, dass die Aufbewahrung des strittigen Artikels online für unbegrenzte Zeit und schwerwiegend in G.s Reputation eingriff und für ihn [...] ein virtuelles Strafregister schuf [...].

(122) Der GH befindet, dass die Einschätzung des Berufungsgerichts in diesem Punkt nicht als willkürlich oder offenkundig unangemessen angesehen werden kann. Mit dem Verlauf der Zeit muss eine Person die Möglichkeit haben, ein neues Leben zu beginnen, ohne von der Öffentlichkeit mit ihren Fehlern aus der Vergangenheit konfrontiert zu werden. Die Suche nach Personen aufgrund ihres Namens ist in der heutigen Gesellschaft eine gängige Praxis, wobei es sich meistens um eine Suche handelt, die durch Gründe motiviert ist, die mit möglichen Strafverfolgungen oder strafrechtlichen Verurteilungen der betreffenden Person überhaupt nichts zu tun haben.

Schwere der gegenüber dem Bf. verhängten Maßnahme

(123) Was schließlich die Schwere der gegenüber dem Bf. verhängten Maßnahmen angeht, muss untersucht werden, ob die innerstaatlichen Gerichte die Auswirkungen der Maßnahmen für den Bf. und Le Soir berücksichtigten und ob sie [...] prüften, ob weniger in die Meinungsäußerungsfreiheit eingreifende Maßnahmen denkbar waren.

(124) [...] Vor den innerstaatlichen Gerichten brachte der Bf. vor, dass das Gleichgewicht zwischen den fraglichen Rechten durch die Gewährung eines Berichtigungsrechts [falls die Informationen unrichtig waren] oder eines Rechts auf Mitteilung [falls die Informationen unvollständig waren] erreicht werden könnte, das heißt durch Hinzufügen einer Zusatzinformation zum strittigen Artikel. Das Berufungsgericht erachtete ein solches Vorgehen im vorliegenden Fall nicht für angemessen, da es den stigmatisierenden Effekt [...] zeitlich unbegrenzt andauern hätte lassen und die Entscheidung, mit der G. rehabilitiert worden war, sinnlos gemacht hätte.

(125) Vor dem GH brachte der Bf. sodann vor, dass das Berufungsgericht nicht erklärt hätte, warum eine Blockade der Indexierung [...] des Artikels unzureichend gewesen wäre, (Anm: Damit wäre der Artikel nicht als Ergebnis aufgeschienen, wenn jemand G.s Namen in die Suchmaschine auf der Seite der Zeitung eingegeben hätte.) um G.s Recht auf Achtung des Privatlebens zu garantieren. Zudem behauptete er insbesondere unter Bezugnahme auf das Urteil Google Spain des EuGH (Anm: EuGH 13.5.2014, C-131/12 (Google Spain SL und Google Inc.) = NLMR 2014, 254.), dass G. von Suchmaschinen wie Google die Entfernung des strittigen Artikels verlangen hätte können. Vor dem Berufungsgericht brachte der Bf. im Übrigen vor, dass alleine die Suchmaschinen die Möglichkeit hätten, auf ein entsprechendes Ersuchen zu reagieren. G. hätte sein Verlangen fälschlich an ihn gerichtet.

(126) Was [...] eine Verhinderung der Indexierung des strittigen Artikels durch Le Soir angeht, ergibt sich aus den Akten des innerstaatlichen Verfahrens [...] nicht, dass der Bf. vor den Gerichten behauptet hat, eine solche Verhinderung wäre ausreichend, um die Achtung von G.s Privatleben zu garantieren. Jedenfalls hat das Berufungsgericht festgehalten, dass der strittige Artikel zum Zeitpunkt des Erlasses seines Urteils auf der Seite von Le Soir mit keiner solchen Blockade versehen war.

(127) Was die Entfernung des strittigen Artikels durch Suchmaschinen angeht, befindet der GH [...], dass es – da G. [...] eine solche nicht verlangte und sie vom Bf. auch nicht als eine Alternative zur Anonymisierung des Artikels angesehen wurde –, nicht angezeigt ist, abstrakt zu untersuchen, ob eine solche Entfernung zu einem gerechten Ausgleich zwischen den auf dem Spiel stehenden Rechten führen kann. Soweit dies nicht Gegenstand einer Diskussion vor den innerstaatlichen Gerichten war, obliegt es dem GH gleichermaßen nicht, von Amts wegen mögliche weitere weniger in das Recht des Bf. auf Meinungsäußerungsfreiheit eingreifende Mittel zu prüfen, die im vorliegenden Fall eingesetzt werden hätten können.

(128) Das Berufungsgericht befand, dass der wirksamste Weg, um G.s Privatleben zu schützen, ohne dabei auf unverhältnismäßige Weise in die Meinungsäußerungsfreiheit des Bf. einzugreifen, darin bestand, den Artikel auf der Internetseite von Le Soir zu anonymisieren, indem G.s Name durch den Buchstaben »X.« ersetzt wurde. [...] Es betonte den Umstand, dass in keiner Weise verlangt wurde, den Artikel aus dem Archiv zu löschen, sondern nur, seine elektronische Version zu anonymisieren. [...]

(129) Was die Archive betrifft, misst der GH dem Umstand große Bedeutung bei, dass die Natur der angeordneten Maßnahme es im vorliegenden Fall erlaubte, die Unversehrtheit des archivierten Artikels zu gewährleisten, da es einzig darum ging, die online gestellte Version des Artikels zu anonymisieren. Es war dem Bf. erlaubt, das digitale und Papierarchiv zu behalten. [...] Das bedeutete insbesondere, dass interessierte Personen immer noch Zugang zur Originalversion des Artikels verlangen konnten, sogar in digitaler Form. Durch die Maßnahme war somit nicht der Artikel selbst betroffen, sondern der Zugang zu ihm auf der Webseite von Le Soir.

(131) Angesichts des Vorgesagten ist der GH der Ansicht, dass die nationalen Gerichte zum Schluss kommen konnten, dass die Voraussetzung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in das Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit erfüllt war.

Ergebnis

(132) In Anbetracht der obigen Erwägungen befindet der GH, dass die innerstaatlichen Gerichte G.s Recht auf Achtung des Privatlebens und das Recht des Bf. auf Meinungsäußerungsfreiheit im Einklang mit den Kriterien aus seiner Rechtsprechung abgewogen haben. Insbesondere maß das Berufungsgericht dem Schaden eine besondere Bedeutung bei, den G. aufgrund des online Stellens des strittigen Artikels erlitt. Dabei berücksichtigte es insbesondere einerseits die seit der erstmaligen Veröffentlichung des Artikels verstrichene Zeit und andererseits den Umstand, dass die Anonymisierung des strittigen Artikels auf der Webseite von Le Soir die Archive als solche unangetastet ließ und unter den im vorliegenden Fall denkbaren die wirksamste Maßnahme darstellte, ohne jedoch auf unverhältnismäßige Weise in die Meinungsäußerungsfreiheit des Bf. einzugreifen. Der GH ist der Ansicht, dass die von den innerstaatlichen Gerichten vorgenommene Begründung stichhaltig und ausreichend war. Er sieht keine schwerwiegenden Gründe, um seine Ansicht an die Stelle jener der innerstaatlichen Gerichte zu setzen und das Ergebnis der von ihnen vorgenommenen Abwägung zu verwerfen. Er kommt daher zum Schluss, dass die erlassene Maßnahme als zum verfolgten legitimen Ziel verhältnismäßig angesehen werden kann und einen gerechten Ausgleich zwischen den auf dem Spiel stehenden konkurrierenden Interessen schuf.

(133) Deshalb erfolgte unter den besonderen Umständen des Falles keine Verletzung von Art. 10 EMRK (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Pavli).

(134) Der GH legt Wert darauf zu präzisieren, dass seine Schlussfolgerung nicht so ausgelegt werden darf, dass sie eine Verpflichtung für die Medien implizieren würde, ihre Archive systematisch und permanent zu überprüfen. Unbeschadet ihrer Pflicht zur Achtung des Privatlebens bei der erstmaligen Veröffentlichung eines Artikels haben sie im Zusammenhang mit der Archivierung des Artikels nur auf ausdrückliches Verlangen eine Überprüfung und daher eine Abwägung der auf dem Spiel stehenden Rechte vorzunehmen.

Vom GH zitierte Judikatur:

Wegrzynowski und Smolczewski/PL v. 16.7.2013 = NLMR 2013, 268

Satakunnan Markkinapörssi Oy und Satamedia Oy/FIN v. 27.6.2017 (GK) = NLMR 2017, 264

M. L. und W. W./D v. 28.6.2018 = NLMR 2018, 257

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 22.6.2021, Bsw. 57292/16, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2021, 271) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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