JudikaturJustizBsw53028/14

Bsw53028/14 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
28. Juli 2022

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Monica Macovei gg. Rumänien, Urteil vom 28.7.2020, Bsw. 53028/14.

Spruch

Art. 10 EMRK - Gegen Parlamentsabgeordneten gerichteter Korruptionsvorwurf.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 10 EMRK (5:2 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 4.505,– für materiellen Schaden; € 2.000,– für immateriellen Schaden; € 3.000,– für Kosten und Auslagen (5:2 Stimmen).

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf. war zur Zeit der Ereignisse, die ihrer Beschwerde zugrunde liegen, Mitglied des Europäischen Parlaments. Zuvor war sie Justizministerin Rumäniens.

Am 7.9.2009 berichteten zwei rumänische Tageszeitungen über Äußerungen der Bf. im Rahmen einer von der Demokratisch-Liberalen Partei, der sie angehörte, organisierten Sommerschule. Demnach hatte sie behauptet, dass die beiden sozialdemokratischen Abgeordneten zum rumänischen Parlament, V. P. und D. S., korrupt wären. Diesen Vorwurf hätte sie darauf gestützt, dass beide als Anwälte Beratungsverträge mit staatseigenen Unternehmen, die ihren Sitz in ihren Wahlkreisen hatten, geschlossen und so Millionen verdient hätten. Dies sei ein typisches Beispiel für Korruption. Die Bf. hatte zwar zunächst keine Namen genannt, aber auf Nachfrage der Journalisten bestätigt, dass V. P. und D. S. gemeint waren.

Die Bf. hatte sich bereits zuvor um ein Gesetz bemüht, das die Ausübung des Anwaltsberufs für unvereinbar mit einem Abgeordnetenmandat erklären sollte. Die Geschäftsbeziehungen zwischen der Kanzlei »D. S. und Partner« und Energieunternehmen in Staatsbesitz waren schon vor diesen Berichten wiederholt Gegenstand medialer Berichterstattung gewesen.

D. S. brachte eine Schadenersatzklage gegen die Bf. ein, mit der er eine Schädigung seines öffentlichen, politischen und beruflichen Ansehens geltend machte und eine Entschädigung in der Höhe von umgerechnet circa € 117.000,– sowie die Veröffentlichung eines Widerrufs verlangte. Nachdem das Landgericht Bukarest die Klage abgewiesen hatte, gab das Berufungsgericht dem Rechtsmittel des Klägers statt und verurteilte die Bf. zur Zahlung einer Entschädigung in der Höhe von circa € 2.300,– sowie zur Veröffentlichung des Urteils in den drei auflagenstärksten Tageszeitungen Rumäniens sowie in jenen beiden Zeitungen, in denen die Berichte über ihre Vorwürfe erschienen waren. Das Berufungsgericht qualifizierte ihre Äußerungen als unwahre Tatsachenbehauptungen über die Aktivitäten des Klägers. Der von beiden Parteien angerufene Oberste Gerichts- und Kassationshof bestätigte dieses Urteil am 7.11.2013. Die von der Bf. erhobenen Vorwürfe hätten die Grenzen legitimer Kritik überschritten und sowohl die politische und berufliche Reputation des Klägers als auch sein Ansehen in der Öffentlichkeit geschädigt.

Nach Angaben der Bf. wurde D. S. mittlerweile zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, weil er seinen politischen Einfluss gegen Geldleistungen für private Zwecke ausgeübt hatte.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK

(48) Die Bf. brachte vor, ihre mit dem Urteil des Obersten Gerichts- und Kassationshofs vom 7.11.2013 rechtskräftig gewordene Verurteilung habe sie in ihrem [...] Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt [...].

Zulässigkeit

(49) [...] Die Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

(69) [...] Die Urteile [...] begründeten einen Eingriff in das Recht der Bf. auf Freiheit der Meinungsäußerung.

(70) [...] Der Eingriff war gesetzlich vorgesehen, nämlich in den Art. 998 f. des Zivilgesetzbuchs [...] und er diente einem legitimen Ziel [...], nämlich dem »Schutz des guten Rufs oder der Rechte anderer«.

(71) Zu entscheiden bleibt daher, ob der Eingriff »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« war.

(84) Als die Bf. die umstrittenen Äußerungen machte, war sie Politikerin, Mitglied der Demokratisch-Liberalen Partei und Abgeordnete zum Europäischen Parlament. Ihre Behauptungen richteten sich gegen D. S. und V. P., zwei Politiker, die einer anderen Partei angehörten und Abgeordnete zum rumänischen Parlament waren. Die Äußerungen fielen bei einer von der Demokratisch-Liberalen Partei organisierten Sommerschule und waren Gegenstand von Berichten nationaler Tageszeitungen. Obwohl die von den Zeitungen zitierten eigentlichen Äußerungen der Bf. keine Namen enthielten, bestritt sie die Berichte nicht, wonach es sich bei den von ihr gemeinten Personen um D. S. und V. P. handelte. Es gibt auch keine Hinweise darauf, dass der Bf. die Anwesenheit von Journalisten [...] entgangen wäre oder dass sie nicht vorhersehen hätte können, dass jede ihrer bei diesem Anlass gemachten Äußerungen ihren Weg in die Presse finden würde.

(85) Die Äußerungen der Bf. betrafen Handlungen von D. S., die sie als »typische Beispiele für Korruption durch politischen Einfluss« betrachtete. Die Behauptungen der Bf. waren nicht nur geeignet, den guten Ruf von D. S. zu trüben, sondern konnten ihm auch erhebliche Nachteile in seinem beruflichen und gesellschaftlichen Umfeld zufügen. Folglich erreichten die Anschuldigungen gegen D. S. den erforderlichen Schweregrad, um seine durch Art. 8 EMRK geschützten Rechte untergraben zu können. Der GH muss sich daher vergewissern, ob die innerstaatlichen Behörden einen angemessenen Ausgleich zwischen den beiden von der Konvention garantierten Werten trafen, nämlich auf der einen Seite der durch Art. 10 EMRK geschützten Meinungsäußerungsfreiheit der Bf. und auf der anderen Seite dem Recht von D. S. auf Achtung seines guten Rufs gemäß Art. 8 EMRK.

(86) [...] Die innerstaatlichen Gerichte scheinen anerkannt zu haben, dass die Kritik in den Äußerungen der Bf. nicht gegen die privaten Aktivitäten von D. S. gerichtet war, sondern gegen sein Verhalten in seiner Eigenschaft als Politiker, also als gewählter parlamentarischer Vertreter. Der GH sieht [...] keinen Grund für eine andere Ansicht. An diesem Verhalten in dieser Eigenschaft bestand als solchem eindeutig ein legitimes Interesse der allgemeinen Öffentlichkeit. [...]

(87) Folglich hatten die Behörden einen besonders engen Ermessensspielraum bei der Einschätzung der Notwendigkeit, in die Meinungsäußerungsfreiheit der Bf. einzugreifen.

(88) Was den Inhalt der umstrittenen Äußerungen betrifft, bemerkt der GH, dass das Gericht erster Instanz die Kommentare der Bf. als bloße Anspielungen – indirekte Andeutungen, die von unterschiedlichen Menschen missverstanden werden konnten – auslegte. Nach Ansicht des Berufungsgerichts hatte die Bf. hingegen eine unwahre Tatsachenbehauptung über D. S. geäußert, nämlich dass dieser in seinen gleichzeitigen Funktionen als Anwalt und Abgeordneter eine Korruptionshandlung begangen hatte. [...] Die innerstaatlichen Gerichte sind grundsätzlich besser in der Lage als ein internationaler Gerichtshof, die Absicht hinter umstrittenen Phrasen und Äußerungen einzuschätzen und zu beurteilen, wie die Öffentlichkeit sie verstehen und auf sie reagieren wird. Wie der GH allerdings feststellt, lieferten die Rechtsmittelgerichte keine überzeugenden Gründe für ihre Schlussfolgerung über die Art der fraglichen Äußerungen. Angesichts des beschränkten Umfangs ihrer Begründung in dieser Hinsicht ist der GH nicht von ihrem Zugang überzeugt und kann aus den folgenden Gründen ihre Schlussfolgerungen nicht teilen.

(89) In Anbetracht des Wortlauts der Äußerungen der Bf., der in den Presseberichten enthaltenen Erklärungen und der widersprüchlichen Feststellungen der innerstaatlichen Gerichte [...] ist der GH der Ansicht, dass die Kommentare der Bf. eine Kombination aus Werturteilen und Tatsachenbehauptungen enthielten. Er ist davon überzeugt, dass die Stoßrichtung ihrer Äußerungen darin bestand, das spezifische Verhalten von D. S. und V. P., das sie als »typischen Akt der Korruption durch politische Einflussnahme« ansah, im Kontext des breiteren Konzepts von Interessenskonflikten als Beispiel zu verwenden. Damit wollte sie eine Idee unterstützen, die sie seit längerem verfolgte, nämlich die Einführung eines Gesetzes, das die gleichzeitige Ausübung der Funktionen eines Anwalts und eines Abgeordneten für unvereinbar erklärte. Die Frage ist daher, ob eine ausreichend richtige und verlässliche Tatsachengrundlage festgestellt werden kann, die verhältnismäßig zu Art und Schwere der Äußerungen und Behauptungen der Bf. ist.

(90) Wie der GH anerkennt, könnte die Ansicht vertreten werden, dass es manchen der Behauptungen der Bf., wie jenen über das spezielle Verhalten von D. S. – nämlich das Unterzeichnen sehr lukrativer Verträge mit staatseigenen Unternehmen, die ihren Sitz in seinem Wahlkreis hatten –, an einer Tatsachengrundlage mangelt. Wie das Berufungsgericht bemerkt der GH, dass keine der Informationen, auf die sich die Bf. in ihren Vorbringen stützte [...], auf die Unterzeichnung von Verträgen zwischen D. S. oder der von ihm gegründeten Kanzlei und einem staatseigenen Unternehmen [...] während der Zeit, zu der er sowohl Anwalt als auch Abgeordneter war, hinweist.

(91) Der GH kann allerdings den kollektiven Charakter der Äußerungen und Behauptungen der Bf. nicht übersehen, die sowohl D. S. als auch V. P. betrafen und bloß darauf abzielten, ein Beispiel für ein System politischer Korruption zu liefern, das in der Vergabe von Verträgen für Rechtsberatung durch öffentliche Unternehmen bestand, und nicht darauf, D. S. und V. P. wirklicher Korruption zu bezichtigen. Zudem wiesen die verfügbaren Informationen darauf hin, dass V. P. zur Zeit des Abschlusses lukrativer Rechtsberaterverträge zwischen staatseigenen Unternehmen mit Sitz in seinem Wahlkreis und der Kanzlei sowohl Abgeordneter als auch Partner dieser Kanzlei war.

(92) In diesem Kontext konnten die von der Bf. erhobenen Vorwürfe und insbesondere die verwendeten Ausdrücke, obwohl sie vielleicht unangemessen kräftig waren, nach Ansicht des GH als polemisch und einen gewissen Grad der Übertreibung einschließend angesehen werden.

(93) [...] An einer öffentlichen Debatte über eine Angelegenheit von allgemeinem Interesse teilnehmenden Personen ist es gestattet, auf einen gewissen Grad der Übertreibung oder sogar der Provokation zurückzugreifen oder in anderen Worten etwas unangemessene Äußerungen zu tätigen.

(94) Unter diesen Umständen ist der GH angesichts der Stellung der Bf. und von D. S. als Politiker und gewählte Volksvertreter, des kollektiven Charakters der Äußerungen und Vorwürfe der Bf., des in den Presseberichten widergespiegelten Gesamtkontexts – nämlich des Hinweises auf die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung über die Unvereinbarkeit der Funktionen eines Anwalts und eines Parlamentsabgeordneten – und des Bestehens von zumindest eines gewissen Tatsachenhintergrunds ihrer kollektiv verstandenen Äußerungen und Vorwürfe nicht der Ansicht, dass es sich bei den Kommentaren der Bf. um einen unbegründeten persönlichen Angriff auf D. S. handelte.

(95) [...] Es ist immer zu bedenken, dass sich politische Schmähungen oft auf den persönlichen Bereich durchschlagen können. Dies sind die Gefahren der Politik und der freien Debatte über Ideen, die eine demokratische Gesellschaft garantieren.

(96) [...] Die Bf. wurde dazu verurteilt, eine Entschädigung in der Höhe von € 2.300,– an D. S. zu zahlen und das Urteil auf eigene Kosten [...] zu veröffentlichen. [...] Auch wenn die Bf. nicht dargelegt hat, ob sie Schwierigkeiten hätte, diese zur Befolgung des Urteils [...] erforderlichen Beträge zu bezahlen, ist der GH unter den gegebenen Umständen der Meinung, dass die verhängte Sanktion geeignet war, einen abschreckenden Effekt auf die Ausübung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung zu haben.

(97) Im Licht der obigen Überlegungen [...] stellt der GH fest, dass es die innerstaatlichen Gerichte verabsäumten, einen gerechten Ausgleich zwischen den berührten Interessen zu treffen und ein dringendes gesellschaftliches Bedürfnis dafür nachzuweisen, dem Schutz des guten Rufs von D. ?. Vorrang gegenüber dem Recht der Bf. auf freie Meinungsäußerung einzuräumen [...]. [...] Der Eingriff in das Recht der Bf. auf freie Meinungsäußerung war somit in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig.

(98) Folglich hat eine Verletzung von Art. 10 EMRK stattgefunden (5:2 Stimmen; abweichende Sondervoten von Richter Ranzoni und Richterin Mourou-Vikström; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Wojtycezk).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 4.505,– für materiellen Schaden; € 2.000,– für immateriellen Schaden; € 3.000,– für Kosten und Auslagen (5:2 Stimmen; abweichende Sondervoten von Richter Ranzoni und Richterin Mourou-Vikström).

Vom GH zitierte Judikatur:

Sürek/TR (Nr. 1) v. 8.7.1999 (GK)

Von Hannover (Nr. 2)/D v. 7.2.2012 (GK) = NLMR 2012, 45 = EuGRZ 2012, 278

Axel Springer AG/D v. 7.2.2012 (GK) = NLMR 2012, 42 = EuGRZ 2012, 294

Morice/F v. 23.4.2015 (GK) = NLMR 2015, 153

Bédat/CH v. 29.3.2016 (GK) = NLMR 2016, 152

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 28.7.2020, Bsw. 53028/14, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2020, 280) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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