JudikaturJustizBsw49933/20

Bsw49933/20 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
13. April 2021

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Terhes gg. Rumänien, Zulässigkeitsentscheidung vom 13.4.2021, Bsw. 49933/20.

Spruch

Art. 5 EMRK - Einklang von COVID-19-Ausgangsbeschränkungen mit dem Recht auf persönliche Freiheit.

Unzulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. wurde 2019 zum Abgeordneten des Europäischen Parlaments gewählt. Zur Zeit der gegenständlichen Ereignisse befand er sich in Rumänien.

Am 16.3.2020 erließ der rumänische Präsident das Dekret Nr. 195/2020, mit dem über Rumänien zur Bekämpfung von COVID-19 mit sofortiger Wirkung und zunächst für 30 Tage der Notstand verhängt und festgelegt wurde, dass die Ausübung näher bestimmter Grundrechte eingeschränkt werden konnte. Genannt wurde dabei die Bewegungsfreiheit, nicht aber das Recht auf persönliche Freiheit.

Am 21.3.2020 erließ der Innenminister auf dieser Basis die Verordnung Nr. 2/2020, gemäß der der Ausgang zwischen 22:00 Uhr und 6:00 Uhr untersagt und davon für die restliche Zeit abgeraten wurde. Am 24.3. erließ er zudem die militärische Anordnung Nr. 3/2020, womit das Verlassen des eigenen Zuhauses mit sofortiger Wirkung verboten wurde, sofern nicht einer der näher bezeichneten Ausnahmegründe (insbesondere berufliche Notwendigkeit, Kauf von Lebensmitteln, unaufschiebbare medizinische Behandlungen, Betreuung anderer Personen, Hilfeleistung und körperliche Betätigung, sofern diese nur für kurze Zeit und in der näheren Umgebung erfolgte) vorlag. Jede Person, die ihr Zuhause verließ, musste ein Dokument vorweisen können, um zu belegen, dass ihr Ausgang durch einen der Gründe gerechtfertigt werden konnte. Die Einhaltung der Ausgangsbeschränkungen wurde von der Polizei kontrolliert. Eine Missachtung konnte mit einer Geldstrafe belegt werden.

Der Präsident verlängerte den Notstand und die Maßnahmen des Dekrets Nr. 195/2020 am 14.4.2020 mit dem Dekret Nr. 240/2020 um weitere 30 Tage. Der Notstand endete schließlich am 14.5.2020.

Der Bf. gibt an, von den Maßnahmen zwischen dem 24.3.2020 und dem 14.5.2020 betroffen gewesen zu sein. Er wandte sich innerstaatlich vergeblich gegen die Erlässe Nr. 195/2020 und Nr. 240/2020 sowie die militärische Anordnung Nr. 3/2020.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptete, durch die Ausgangsbeschränkungen in seinem Recht nach Art. 5 EMRK (hier: Rechtmäßigkeit der Haft) verletzt worden zu sein.

(32) Er rügte, dass die Ausgangsbeschränkungen, die er für 52 Tage hatte hinnehmen müssen, eine administrative, nichtgerichtliche und nicht individualisierte Freiheitsentziehung dargestellt hätten [...]. Zur Stützung seiner These führte er aus, dass es ihm – abgesehen von Ausnahmegründen – untersagt worden wäre, sein Zuhause zu verlassen, die Einhaltung dieses Verbots durch die Polizei kontrolliert worden wäre und diese bei Missachtung des Verbots Sanktionen gegen ihn verhängen hätte können. [...]

(35) [...] Der GH hat zunächst zu prüfen, ob Art. 5 Abs. 1 EMRK im vorliegenden Fall anwendbar ist. Dazu muss er insbesondere entscheiden, ob die von den rumänischen Behörden auf dem gesamten Staatsgebiet verhängten allgemeinen Ausgangsbeschränkungen [...] eine Freiheitsentziehung darstellten [...].

Allgemeine Grundsätze

(36) [...] Um zu bestimmen, ob einem Individuum iSd. Art. 5 EMRK »seine Freiheit entzogen« wurde, ist von seiner konkreten Situation auszugehen und eine Reihe von Kriterien zu berücksichtigen wie Art, Dauer, Auswirkungen und Art und Weise der Durchführung der geprüften Maßnahme [...]. Im Übrigen stellt der Kontext, in dem die Maßnahme ergeht, einen bedeutenden Faktor dar, da in modernen Gesellschaften üblicherweise Situationen auftreten, in denen die Öffentlichkeit aufgerufen sein kann, im Interesse des Gemeinwohls Beschränkungen der Freizügigkeit oder der persönlichen Freiheit zu ertragen.

Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall

(38) Im vorliegenden Fall hält der GH zunächt fest, dass sich der Bf. vor ihm nicht auf Art. 2 4. Prot. EMRK berufen hat. Vielmehr bemühte sich der Bf. zu zeigen, dass die [...] Ausgangsbeschränkungen nicht eine bloße Beschränkung der Freizügigkeit dargestellt hätten, sondern eine Freiheitsentziehung. [...]

(39) Der GH bemerkt, dass die vom Bf. angefochtene Maßnahme in einem speziellen Kontext erging. [...] Sie wurde im Rahmen des in Rumänien am 16.3.2020 verhängten Notstands aus gesundheitlichen Gründen erlassen. Der Notstand ist nach rumänischem Recht ein spezielles Rechtsregime, das es erlaubt, eine Reihe von außerordentlichen Maßnahmen zu setzen, die der herrschenden Verfassungsordnung zuwiderlaufen. Er kommt im Fall einer unmittelbar bevorstehenden oder gegenwärtigen Gefahr für eine bestimmte Dauer zum Einsatz und gestattet es dem Staat, Maßnahmen zu setzen, die bewirken, dass die Ausübung von gewissen Grundrechten eingeschränkt wird. Nach Ansicht des GH besteht kein Zweifel daran, dass die COVID-19-Pandemie schwerwiegende Auswirkungen nicht nur auf die Gesundheit, sondern auch auf die Gesellschaft, die Wirtschaft, die Funktion des Staates und das Leben allgemein haben kann, und die Situation daher als »unvorhersehbare Ausnahmesituation« eingestuft werden muss (siehe die Präambel des Dekrets Nr. 195/2020).

(40) Weiters wurde die im vorliegenden Fall angefochtene Maßnahme mit dem Ziel der Isolierung und Beschränkung des Ausgangs der gesamten Bevölkerung verhängt. Begründet wurde dies mit der gesundheitlichen Situation, die von den zuständigen nationalen Behörden als schwerwiegend und dringlich beurteilt wurde. [...] Der rumänische Präsident entschied, [...] aufgrund einer unvorhersehbaren Ausnahmesituation, die der Entwicklung der internationalen Epidemielage geschuldet war, den Notstand zu verhängen: Das Coronavirus SARS-CoV-2 breitete sich in der Welt aus, wobei die Weltgesundheitsorganisation erklärt hatte, dass es sich um eine Pandemie handelte. Das Dekret Nr. 195/2020 präzisierte auch, dass – wenn die Behörden nicht dringend außergewöhnliche Maßnahmen setzen würden, um die Ausbreitung des Virus in der Bevölkerung zu beschränken – ihre Untätigkeit sehr schwerwiegende Auswirkungen haben würde, und zwar hauptsächlich auf das Recht auf Leben, aber auch auf das Recht auf Gesundheit. Um die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Epidemie abzuschwächen, führte Rumänien daher schrittweise Notmaßnahmen wie die Ausgangsbeschränkungen ein.

(41) Zur Bestimmung, ob die vom Bf. angefochtene Maßnahme eine Freiheitsentziehung darstellt, [...] hält der GH fest, dass [...] [sie] 52 Tage dauerte, nämlich vom 24.3. bis zum 14.5.2020. [...]

(42) Was die Art und Durchführungsmodalitäten [...] angeht, bemerkt der GH, dass der Bf. keiner individuellen Präventionsmaßnahme unterworfen wurde. Es handelte sich vielmehr um eine allgemeine Maßnahme, die durch legislative Vorschriften gegen alle verhängt wurde [...]. Als Folge der Anwendung dieser Maßnahme war der Bf. verpflichtet, zu Hause zu bleiben, es sei denn, er ging aus einem der gesetzlich ausdrücklich vorgesehenen Gründe nach draußen und war mit einer Ausgangsbescheinigung ausgestattet.

(43) Der GH hält daher fest, dass es dem Bf. frei stand, sein Zuhause aus verschiedenen Gründen zu verlassen, und er sich somit zu der Tageszeit, zu der dies notwendig war, an verschiedene Orte begeben konnte. Er war keiner individuellen Überwachung durch die Behörden unterworfen. Der Bf. hat nicht behauptet, gezwungen gewesen zu sein, an einem beengten Ort zu leben, und es war ihm nicht unmöglich, soziale Kontakte zu knüpfen [...]. Daher kann die angefochtene Maßnahme angesichts ihrer Eingriffsintensität nicht mit Hausarrest gleichgesetzt werden [...].

(44) Der GH misst auch dem Umstand Bedeutung bei, dass der Bf. nicht konkret erklärt hat, welche Auswirkungen die Maßnahme auf seinen Zustand hatte. Er hat nicht behauptet, dass keiner der gesetzlich vorgesehenen Ausgangsgründe auf ihn zugetroffen hätte und er daher zwangsläufig während der gesamten Dauer des Notstands in seinem Zuhause eingesperrt gewesen wäre. Allgemeiner gesagt hat er keine konkreten Beweise vorgelegt, um zu beschreiben wie er die Ausgangsbeschränkungen tatsächlich erlebte.

(45) Angesichts der oben dargelegten Elemente ist der GH der Ansicht, dass die Einschränkung der Bewegungsfreiheit des Bf. nicht von einer Intensität war, die es erlaubt zu befinden, dass die von den Behörden verhängten allgemeinen Ausgangsbeschränkungen eine Freiheitsentziehung darstellten. Der Bf. wurde daher keiner Freiheitsentziehung iSd. Art. 5 Abs. 1 EMRK unterworfen. Deshalb erachtet der GH es für unnötig, die Frage zu prüfen, ob die strittige Maßnahme mit Blick auf Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK gerechtfertigt war.

(47) Daraus folgt, dass die Beschwerde mit den Bestimmungen der Konvention [...] ratione materiae unvereinbar und [...] [als unzulässig] zurückzuweisen ist (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Austin u.a./GB v. 15.3.2012 (GK) = NLMR 2012, 80

Buzadji/MD v. 5.7.2016 (GK) = NLMR 2016, 342

De Tommaso/I v. 23.2.2017 (GK) = NLMR 2017, 63

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über die Zulässigkeitsentscheidung des EGMR vom 13.4.2021, Bsw. 49933/20, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2021, 232) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original der Zulässigkeitsentscheidung ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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