JudikaturJustizBsw47621/13

Bsw47621/13 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
08. April 2021

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Vavricka u.a. gg. Tschechien, Urteil vom 8.4.2021, Bsw. 47621/13.

Spruch

Art. 8 EMRK, Art. 9 EMRK - Gesetzliche Pflicht zur Impfung von Kindern.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 9 EMRK (mehrheitlich).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Das vorliegende Urteil bezieht sich auf sechs Beschwerden, mit denen das in Tschechien geltende System obligatorischer Impfungen angefochten wird.

Zum Hintergrund

In Tschechien sind gemäß § 46 Abs. 1 und Abs. 4 des Gesetzes über den Schutz der öffentlichen Gesundheit alle Einwohner dazu verpflichtet, sich bestimmten Routineimpfungen zu unterziehen. Im Hinblick auf Kinder unter 15 Jahren sind die gesetzlichen Vertreter für die Einhaltung dieser Verpflichtung verantwortlich. § 46 Abs. 6 und § 80 des Gesetzes ermächtigen den Gesundheitsminister, nähere Details über die Impfungen zu regeln. Dies erfolgte in Form der Verordnung über Impfungen gegen Infektionskrankheiten. (Anm: Die Verordnung in der zur für die vorliegenden Beschwerden relevanten Zeit geltenden Fassung sah Impfungen gegen folgende Infektionskrankheiten vor: Diphtherie, Tetanus, Keuchhusten, Haemophilus-Influenza Typ B, Poliomyelitis, Hepatitis B, Masern, Mumps und Röteln. Auch das Alter, in dem zu impfen war, wurde in den Verordnungen festgelegt.) Die Kosten für die Impfungen werden von der öffentlichen Krankenkasse getragen. Die vom Ministerium empfohlenen Impfstoffe sind kostenlos, doch kann jeder auf eigene Kosten andere Impfstoffe verwenden, die von der zuständigen Behörde zugelassen sind. Für Gesundheitsschäden, die durch eine vorgeschriebene Impfung verursacht wurden, haftet der Staat.

Gemäß § 50 des Gesetzes über den Schutz der öffentlichen Gesundheit dürfen vorschulische Bildungseinrichtungen nur Kinder aufnehmen, welche die vorgesehenen Impfungen erhalten haben. Ein Verstoß gegen die Impfpflicht kann als Verwaltungsübertretung mit einer Geldbuße von bis zu CZK 10.000,– (umgerechnet ca. € 400,–) geahndet werden.

Zu den einzelnen Beschwerden

Über den ErstBf. (Herr Vavricka) wurde am 13.12.2003 von der zuständigen Behörde eine Geldstrafe idH. von CZK 3.000,– verhängt, weil er einer Anordnung nicht entsprochen hatte, seine beiden damals 13 bzw. 14 Jahre alten Kinder gegen Poliomyelitis, Hepatitis B und Tetanus impfen zu lassen. Seine dagegen erhobene Beschwerde wurde zunächst vom Obersten Verwaltungsgerichtshof abgewiesen, doch hielt diese Entscheidung der verfassungsgerichtlichen Überprüfung nicht stand. Der Verfassungsgerichtshof behob die Entscheidung, weil der Oberste Verwaltungsgerichtshof nicht auf das Vorbringen des Bf. eingegangen war, die Impfpflicht verstoße gegen seine Glaubens- und Gewissensfreiheit. Der Gerichtshof stellte fest, dass der mit der gesetzlichen Impfpflicht einhergehende Eingriff in dieses Grundrecht zwar grundsätzlich verhältnismäßig sei, die Behörde jedoch im Einzelfall von einer Bestrafung absehen müsse, wenn dies im Hinblick auf die persönlichen Motive für die Verweigerung der Impfung geboten sei. Im zweiten Rechtsgang wies der Oberste Verwaltungsgerichtshof die Beschwerde erneut zurück, weil der Bf. keine konkreten Argumente hinsichtlich seiner Glaubens- oder Gewissensfreiheit vorgebracht hatte. Die gegen dieses zweite Urteil erhobene Beschwerde wurde vom Verfassungsgerichtshof am 30.9.2011 abgewiesen.

Die übrigen Bf. wurden als Kinder nicht im Kindergarten aufgenommen, weil sie die vorgesehenen Impfungen nicht erhalten hatten. Sie wandten sich alle in gesonderten Verfahren an die ordentlichen Gerichte sowie an die Verwaltungsgerichte und letztlich an den Verfassungsgerichtshof, der ihren Beschwerden nicht stattgab. Der Verfassungsgerichtshof erachtete die Verordnungsermächtigung als unproblematisch und die Impfpflicht als gerechtfertigten Eingriff, der dem Schutz der Gesundheit anderer diente.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupteten insbesondere Verletzungen von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens), Art. 9 EMRK (hier: Gewissensfreiheit) und von Art. 2 1. Prot. EMRK (Recht auf Bildung).

Verbindung der Beschwerden

(159) Angesichts ihres ähnlichen Gegenstands erachtet es der GH als angemessen, die Beschwerden gemeinsam in einem einzigen Urteil zu behandeln (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

(160) Die Bf. brachten vor, es wäre willkürlich gewesen, eine Geldbuße über Herrn Vavricka zu verhängen und den minderjährigen Bf. wegen des Versäumnisses ihrer Eltern, sie gemäß ihrer gesetzlichen Verpflichtung dem vorgeschriebenen Plan entsprechend impfen zu lassen, die Aufnahme in den Kindergarten zu verweigern. [...]

Zulässigkeit

Beschwerde von Herrn Vavricka

(161) Die Regierung wies auf die Geringfügigkeit der [...] Geldbuße (umgerechnet € 110,–) hin. Der Bf. habe daher keinen erheblichen Nachteil iSv. Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK erlitten. [...]

(163) [...] Diese Einrede kann nicht akzeptiert werden. Die Beschwerde [...] liegt nun der GK vor, weil davon ausgegangen wurde, dass sie bedeutende Fragen hinsichtlich der Auslegung der Konvention [...] aufwirft [...]. Zudem betrifft die Beschwerde von Herrn Vavricka einen gesonderten Aspekt, weil nur ihm eine Geldbuße wegen Missachtung der Impfpflicht auferlegt wurde. Daher sind die Voraussetzungen des Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK nach Ansicht des GH nicht erfüllt, da jedenfalls die Achtung der Menschenrechte [...] eine Prüfung dieses Teils der Beschwerde [...] in der Sache verlangt.

(164) Die auf Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK gestützte Einrede [...] ist daher zu verwerfen.

Beschwerden von Herrn Brožík und Herrn Dubský

(165) Die Regierung machte [...] die fehlende Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsmittel geltend, weil [...] die Bf. [...] Kassationsbeschwerde und Verfassungsbeschwerde einlegen hätten können und müssen.

(169) [...] Nach Ansicht des GH [...] wirft die Einrede bezüglich der Beschwerden von Herrn Brožík und Herrn Dubský Fragen auf, die eng mit der Berechtigung ihrer Vorbringen unter Art. 8 EMRK zusammenhängen.

(170) Soweit sie sich auf diesen Aspekt der beiden Beschwerden bezieht, wird die Einrede der Regierung daher mit der Prüfung der Vorbringen zu Art. 8 EMRK in der Sache verbunden (einstimmig).

Schlussfolgerung zu allen Beschwerden

(171) [...] Die Beschwerden unter Art. 8 EMRK sind weder offensichtlich unbegründet [...] noch aus einem anderen Grund unzulässig. Sie müssen daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

Gegenstand der Beschwerden

(258) [...] Die Bf. bezogen sich in ihren Vorbringen zu Art. 8 EMRK hauptsächlich auf die gegen Herrn Vavricka verhängte Geldbuße und die Verweigerung der Aufnahme der minderjährigen Bf. in den Kindergarten. Mit anderen Worten beschwerten sie sich über die Konsequenzen der Nichtbefolgung der Impfpflicht.

(259) Nach Ansicht des GH können jedoch die von den Bf. getragenen Konsequenzen nicht sinnvoll von der diesen zugrunde liegenden Pflicht getrennt werden. Im Gegenteil, sie ergaben sich unmittelbar und direkt aus dem Verhalten der Bf. ihr gegenüber und sind daher untrennbar mit ihr verbunden.

(260) Unter diesen Umständen bilden [...] die Impfpflicht und die Konsequenzen ihrer Missachtung den Gegenstand der Beschwerden [...].

Anwendbarkeit

(261) Es steht außer Streit [...], dass sich das Vorbringen zu Art. 8 EMRK auf das Recht auf Achtung des Privatlebens der Bf. bezieht. Der GH stimmt dem zu, ist doch allgemein anerkannt, dass die physische Integrität einer Person einen Teil ihres Privatlebens iSv. Art. 8 EMRK bildet [...].

Eingriff

(263) Nach der Rechtsprechung des GH stellt eine verpflichtende Impfung als unfreiwillige medizinische Behandlung einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens iSv. Art. 8 EMRK dar (Solomakhin/UA). Im Hinblick auf die Bf. [...] wurde keine der umstrittenen Impfungen durchgeführt. Angesichts des oben dargelegten Gegenstands der Rechtssache (siehe Rn. 260) und der Tatsache, dass die minderjährigen Bf. die direkten Konsequenzen der Nichtbefolgung der Impfpflicht tragen mussten, indem sie nicht in den Kindergarten aufgenommen wurden, ist der GH davon überzeugt, dass in Hinblick auf sie ein Eingriff in ihr Recht auf Achtung des Privatlebens stattgefunden hat.

(264) Was Herrn Vavricka betrifft, geht es zwar um die Impfung seiner Kinder, doch führt dies [...] zu keiner anderen Schlussfolgerung. Nach innerstaatlichem Recht war er persönlich verpflichtet, seine Kinder impfen zu lassen und die Folgen der Missachtung, nämlich die Geldbuße, waren direkt von ihm [...] zu tragen. Er erklärte, [...] sein Widerstand gegen die Impfung sei grundsätzlich durch Sorge um das Wohlergehen der Kinder motiviert, da er befürchte, die Impfungen könnten ihre Gesundheit schwer schädigen. Unter diesen Umständen zeigen [...] auch die Umstände des Falls von Herrn Vavricka einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens [...].

Rechtfertigung des Eingriffs

(265) Um zu entscheiden, ob dieser Eingriff eine Verletzung von Art. 8 EMRK bedeutete, muss der GH prüfen, ob er [...] gesetzlich vorgesehen war, ein [...] legitimes Ziel verfolgte und zu diesem Zweck in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.

Gesetzliche Grundlage

(267) [...] Die Impfpflicht hat ihre spezifische Grundlage in § 46 Abs. 1 und Abs. 4 des Gesetzes über den Schutz der öffentlichen Gesundheit, der in Verbindung mit der vom Gesundheitsminister in Ausübung seiner ihm durch § 46 Abs. 6 und § 80 Abs. 1 leg. cit. übertragenen Befugnis erlassenen Verordnung angewendet wurde. Die Folgen der Missachtung der Pflicht ergaben sich für Herrn Vavricka aus § 29 Abs. 1 lit. f und Abs. 2 des Gesetzes über Übertretungen und für die minderjährigen Bf. aus § 34 Abs. 5 des Unterrichtsgesetzes iVm. § 50 des Gesetzes über den Schutz der öffentlichen Gesundheit. Die Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit dieser Bestimmungen wurden von den Bf. nicht in Abrede gestellt.

(268) Die konkrete Anfechtung der Rechtmäßigkeit des umstrittenen Eingriffs beruht vielmehr in erster Linie auf ihrer Behauptung [...], der Ausdruck »gesetzlich« müsse im vorliegenden Zusammenhang dahingehend verstanden werden, dass er sich ausschließlich auf einen Akt des Parlaments bezieht. In diesem Sinne würde der Begriff »Gesetz« (zákon) auf der innerstaatlichen Ebene im Allgemeinen verstanden. Sie nehmen daran Anstoß, dass das tschechische Impfschema auf einer Kombination aus Gesetzen und Verordnungen beruht.

(269) Der GH erinnert daran, dass der Begriff »Gesetz«, wie er in der Formulierung »gesetzlich vorgesehen« [...] in Art. 8 bis Art. 11 EMRK aufscheint, in seinem »materiellen« und nicht in einem »formellen« Sinn zu verstehen ist. Er umfasst daher unter anderem »geschriebenes Recht« nicht nur der primären Gesetzgebung, sondern schließt auch rechtliche Akte und Instrumente von niedrigerem Rang mit ein. Das »Gesetz« ist die geltende Bestimmung, wie sie von den zuständigen Gerichten ausgelegt wurde.

(270) Zudem bemerkt der GH, dass die Verfassungskonformität der fraglichen legislativen Regelung sowohl vom Obersten Verwaltungsgericht als auch vom Verfassungsgerichtshof eingehend geprüft und bestätigt wurde.

(271) Der Eingriff war somit [...] gesetzlich vorgesehen iSv. Art. 8 Abs. 2 EMRK.

Legitimes Ziel

(272) [...] Das Ziel der relevanten Gesetzgebung besteht darin, vor Krankheiten zu schützen, die ein ernstes Gesundheitsrisiko mit sich bringen können. Dies bezieht sich sowohl auf jene, die die Impfungen erhalten, als auch auf jene, die nicht geimpft werden können und wegen ihres dadurch begründeten Zustands der Verwundbarkeit auf einen hohen Grad der Impfung in der Gesellschaft insgesamt angewiesen sind, um vor den fraglichen ansteckenden Krankheiten geschützt zu sein. Dieses Ziel entspricht jenen des Schutzes der Gesundheit und der Rechte und Freiheiten anderer, die von Art. 8 EMRK anerkannt werden.

Angesichts dessen ist es nicht erforderlich zu entscheiden, ob andere legitime Ziele iSv. Art. 8 Abs. 2 EMRK relevant sein können, wenn ein Staat Maßnahmen zum Schutz vor schwerwiegenden Störungen der Gesellschaft durch ernste Krankheiten ergreift, nämlich die Interessen der öffentlichen Sicherheit, des wirtschaftlichen Wohls des Landes oder der Aufrechterhaltung der Ordnung.

Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft

(275) [...] Der Ermessensspielraum des belangten Staats ist idR. weit, wenn er einen gerechten Ausgleich zwischen widerstreitenden privaten und öffentlichen Interessen oder zwischen Konventionsrechten treffen muss.

(276) Da der vorliegende Fall eine verpflichtende medizinische Behandlung betrifft, kann ein Bezug der Impfpflicht zur wirksamen Ausübung höchstpersönlicher Rechte hergestellt werden. Das Gewicht dieser Überlegung wird allerdings durch die Tatsache gemindert, dass keine Impfungen gegen den Willen der Bf. verabreicht wurden und dies auch nicht möglich gewesen wäre, da das innerstaatliche Recht eine zwangsweise Durchsetzung der Verpflichtung nicht erlaubt.

(277) Im Hinblick auf das Bestehen eines Konsenses unterscheidet der GH zwei Aspekte. Erstens besteht zwischen den Vertragsstaaten ein von den spezialisierten internationalen Organen unterstützter, allgemeiner Konsens darüber, dass Impfungen zu den erfolgreichsten und kosteneffizientesten Gesundheitsvorkehrungen zählen und dass jeder Staat den höchstmöglichen Grad von Impfungen seiner Bevölkerung anstreben sollte. Es besteht demnach kein Zweifel an der relativen Wichtigkeit des auf dem Spiel stehenden Interesses.

(278) Was zweitens die besten Mittel zum Schutz dieses Interesses betrifft, stellt der GH fest, dass es keinen Konsens über ein einziges Modell gibt. In den Mitgliedstaaten der Konvention besteht vielmehr ein Spektrum von Strategien zur Impfung von Kindern, das von einer völlig auf Empfehlungen beruhenden über jene, die eine oder mehrere Impfungen verpflichtend machen, bis zu denen reicht, welche die Sicherstellung der vollständigen Impfung von Kindern zu einer rechtlichen Verpflichtung erklären. Tschechien hat sich an jenem Ende dieses Spektrums angesiedelt, das eher durch bindende Vorgaben geprägt ist. Diese Position wird von drei der drittbeteiligten Regierungen [Frankreich, Polen und Slowakei] unterstützt und geteilt. Überdies nimmt der GH zur Kenntnis, dass es in jüngerer Zeit in einigen weiteren Konventionsstaaten wegen des Rückgangs freiwilliger Impfungen und folglich der Herdenimmunität zu einer Änderung der Strategie in Richtung eines bindenderen Ansatzes gekommen ist [...].

(279) Auch wenn die Impfung im Kindesalter als fundamentaler Aspekt der modernen Gesundheitspolitik für sich selbst keine sensiblen moralischen oder ethischen Fragen aufwirft, akzeptiert der GH, dass dies hinsichtlich der Einführung einer rechtlichen Impfpflicht sehr wohl angenommen werden kann, was anhand von Beispielen aus der Rechtsprechung der Verfassungsgerichte [...] deutlich wird. [...] Der jüngsten Änderung der Strategie in Deutschland gingen ausführliche gesellschaftliche und parlamentarische Debatten über diese Frage voraus. Allerdings beschränkt sich diese anerkannte Sensibilität nicht auf die Perspektive jener, die eine Impfpflicht ablehnen. [...] Sie umfasst auch den Wert der gesellschaftlichen Solidarität, da die Pflicht darauf abzielt, die Gesundheit aller Mitglieder der Bevölkerung zu schützen, insbesondere jener, die hinsichtlich bestimmter Krankheiten besonders verletzlich sind und zu deren Gunsten die übrige Bevölkerung aufgefordert wird, ein minimales Risiko in Form der Impfung auf sich zu nehmen. [...]

(280) [...] Wie der GH bereits bei früheren Gelegenheiten festgehalten hat, fallen Angelegenheiten der Gesundheitspolitik in den Ermessensspielraum der innerstaatlichen Behörden. Angesichts der obigen Überlegungen und in Anwendung der Grundsätze seiner ständigen Rechtsprechung vertritt der GH die Meinung, dass der Spielraum im vorliegenden Fall [...] weit sein muss.

(281) Nachdem die generelle Bedeutung der Impfung von Kindern als Schlüsselmaßnahme der Gesundheitspolitik anerkannt wurde, muss als nächstes geprüft werden, ob die Entscheidung des tschechischen Gesetzgebers, die Impfung von Kindern zur Pflicht zu machen, einem dringenden gesellschaftlichen Bedürfnis entspricht.

(282) In diesem Zusammenhang ist an die positive Verpflichtung der Vertragsstaaten nach [...] Art. 2, 3 und 8 EMRK zu erinnern, angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um das Leben und die Gesundheit jener zu schützen, die ihrer Hoheitsgewalt unterstehen. Ähnliche Verpflichtungen ergeben sich aus anderen breit anerkannten internationalen menschenrechtlichen Instrumenten, die in der Praxis der zuständigen Überwachungsorgane weiterentwickelt wurden [...].

(283) Der GH verweist auf das von der belangten Regierung vorgelegte Expertenmaterial, das die feste Überzeugung der relevanten tschechischen Gesundheitsgremien vermittelt, die Impfung von Kindern müsse Gegenstand einer rechtlichen Verpflichtung bleiben, und das Risiko für die individuelle und die öffentliche Gesundheit betont, das mit einem möglichen Rückgang der Impfquoten einherginge, wenn diese nur noch empfohlen würden. Bedenken hinsichtlich des mit einem Rückgang der Impfungen verbundenen Risikos wurden auch von den drittbeteiligten Regierungen [...] sowie auf europäischer und internationaler Ebene geäußert.

(284) Angesichts dieser Stellungnahmen und des klaren Standpunkts der Expertengremien [...] kann gesagt werden, dass die Impfpflicht in Tschechien die Antwort der innerstaatlichen Behörden auf das dringende gesellschaftliche Bedürfnis darstellt, die individuelle und die öffentliche Gesundheit vor den fraglichen Erkrankungen zu schützen und einem Abwärtstrend bei den Impfquoten bei Kindern vorzubeugen.

(285) Was die Gründe betrifft, die für die zwingenden Impfungen in Tschechien vorgebracht wurden, hat der GH bereits die gewichtigen Überlegungen hinsichtlich der öffentlichen Gesundheit anerkannt, die dieser Entscheidung zugrunde liegen, insbesondere im Hinblick auf die Effizienz und Sicherheit der Impfung von Kindern. Er hat auch einen allgemeinen Konsens festgestellt, der das Ziel für jeden Staat unterstützt, die höchstmöglichen Impfquoten zu erreichen. [...] Die Regierung hat die Gründe für ihre Entscheidung klar dargelegt. Der GH nimmt weiters die Schlussfolgerung des tschechischen Verfassungsgerichtshofs zur Kenntnis, wonach die relevanten Daten von internationalen und nationalen Experten zu dieser Frage diese Strategie rechtfertigen. Auch wenn ein System verpflichtender Impfungen weder das einzige noch das in Europa am weitesten verbreitete Modell ist, bekräftigt der GH, dass in Angelegenheiten der Gesundheitspolitik die innerstaatlichen Behörden am besten dazu in der Lage sind, Prioritäten, Ressourcenverwendung und gesellschaftliche Bedürfnisse einzuschätzen. Alle diese Aspekte sind im vorliegenden Kontext relevant und sie fallen in den weiten Ermessensspielraum, den der GH dem belangten Staat einräumen muss.

(286) Zudem wirft der Gegenstand der Rechtssache die Frage des Kindeswohls auf. [...]

(287) Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des GH, dass in allen Entscheidungen, die Kinder betreffen, deren Interessen von vorrangiger Bedeutung sind. Dies spiegelt den breiten Konsens in dieser Frage wider, der insbesondere in Art. 3 der UN-Kinderrechtskonvention (KRK) zum Ausdruck kommt [...].

(288) Folglich gibt es eine Verpflichtung der Staaten, die Interessen des Kindes und auch jene von Kindern als Gruppe in den Mittelpunkt aller Entscheidungen zu stellen, die ihre Gesundheit und ihre Entwicklung betreffen. Wenn es um eine Immunisierung geht, sollte das Ziel darin bestehen, alle Kinder vor schwerwiegenden Erkrankungen zu schützen. In der großen Mehrheit der Fälle wird dies dadurch erreicht, dass Kinder in ihren ersten Lebensjahren das volle Impfprogramm erhalten. Jene, denen eine solche Behandlung nicht verabreicht werden kann, sind vor ansteckenden Krankheiten indirekt geschützt, solange die erforderliche Impfrate in ihrer Gemeinschaft aufrechterhalten wird, d.h. ihr Schutz leitet sich aus der Herdenimmunität ab. Wenn daher die Ansicht vertreten wird, dass eine Strategie der freiwilligen Impfung nicht ausreicht, um eine Herdenimmunität herzustellen oder aufrechtzuerhalten, oder eine Herdenimmunität aufgrund der Art der Krankheit (z.B. Tetanus) keine Rolle spielt, können die innerstaatlichen Behörden vernünftigerweise eine Strategie der Impfpflicht einführen, um einen angemessenen Grad des Schutzes vor schwerwiegenden Krankheiten zu erreichen. Die Gesundheitspolitik des belangten Staats beruht [...] auf solchen Überlegungen, in deren Licht sie als mit dem Kindeswohl vereinbar angesehen werden kann, das in ihrem Mittelpunkt steht.

(289) Der GH anerkennt daher, dass die Entscheidung des tschechischen Gesetzgebers, einen verpflichtenden Ansatz zu Impfungen anzuwenden, von relevanten und ausreichenden Gründen unterstützt wird. Diese Feststellung erstreckt sich auf die spezifischen Eingriffe, die von den Bf. behauptet wurden, da die [...] verhängte Geldbuße und die Nichtaufnahme [...] in den Kindergarten direkt aus der Anwendung des gesetzlichen Rahmens resultierten.

(290) Zuletzt muss der GH die Verhältnismäßigkeit der [...] Eingriffe im Lichte des verfolgten Ziels beurteilen.

(291) [...] Die Impfpflicht bezieht sich auf neun Krankheiten, gegen die eine Impfung von der Wissenschaft als wirksam und sicher angesehen wird [...]. Während sich das tschechische Modell auf eine obligatorische Impfung stützt, handelt es sich nicht um eine absolute Pflicht. Eine Ausnahme [...] ist insbesondere für Kinder mit einer permanenten Kontraindikation vorgesehen. [...] Keiner der Bf. [...] stützte sich [...] auf eine solche Kontraindikation [...]. [...] Der GH kann daher auf die [von den Bf. vorgebrachte] Kritik an den gesetzlichen Ausnahmen [...] nicht eingehen.

(292) [...] Eine Ausnahme kann auch aufgrund eines [von der Judikatur] entwickelten Rechts auf eine »weltliche Gewissensentscheidung« gewährt werden. [...] Auch hier kann der GH nur feststellen, dass sich die minderjährigen Bf. im innerstaatlichen Verfahren nicht auf diese Ausnahme berufen haben. Das Vorbringen von Herrn Vavricka wird im Zuge der Prüfung seiner Beschwerde unter Art. 9 EMRK behandelt.

(293) Während im belangten Staat eine rechtliche Pflicht zur Impfung besteht, [...] kann ihre Befolgung nicht direkt erzwungen werden, da keine Bestimmung eine zwangsweise Verabreichung einer Impfung vorsieht. [...] Die Verpflichtung wird indirekt durch die Anwendung von Sanktionen durchgesetzt. Die Sanktion in Tschechien kann als vergleichsweise moderat angesehen werden, da sie in einer nur einmal zu verhängenden Verwaltungsstrafe besteht. [...]

(294) Was die minderjährigen Bf. betrifft, hat der GH ihre Nichtaufnahme in den Kindergarten als »Eingriff« iSv. Art. 8 Abs. 2 EMRK qualifiziert. Die Bf. empfanden dies als Form einer ihnen auferlegten Sanktion oder Strafe. Der GH erachtet diese im innerstaatlichen Gesetzesrecht eindeutig vorgesehene Konsequenz der Nichtbefolgung einer allgemeinen rechtlichen Verpflichtung, die auf den Schutz der Gesundheit insbesondere von jungen Kindern abzielt, jedoch ihrer Art nach eher als beschützend denn als bestrafend. [...]

(295) Der GH nimmt die verfahrensrechtlichen Sicherungen im innerstaatlichen Recht zur Kenntnis. [...] Den Bf. standen sowohl verwaltungsrechtliche Berufungen als auch gerichtliche Rechtsbehelfe vor den Verwaltungsgerichten und schließlich dem Verfassungsgerichtshof zur Verfügung. Es stand ihnen daher frei, die Folgen ihrer Nichtbefolgung der Impfpflicht zu bekämpfen. [...]

(296) [...] Der Widerstand der Bf. gegen die Strategie der verpflichtenden Impfung von Kindern stützt sich [...] im Wesentlichen auf zwei Einwände. Erstens kritisierten sie die institutionellen Vorkehrungen in Tschechien auf diesem Gebiet und behaupteten, das den Gesundheitsbehörden eingeräumte Ermessen wäre unangemessen weit und es würden Interessenskonflikte und ein Mangel an Transparenz und öffentlicher Debatte bestehen. Der GH ist von dieser Kritik nicht überzeugt. Was den der Exekutive bei der Ausarbeitung und Umsetzung der Gesundheitspolitik eingeräumten Spielraum betrifft, hat der GH bereits festgehalten, dass dieser kein Problem hinsichtlich der Qualität des Rechts aufwirft (siehe oben Rn. 267 ff.). Zudem erachtet er die Feststellung des Obersten Verwaltungsgerichtshofs für angemessen, wonach es der gewählte legislative Zugang den Behörden ermöglicht, flexibel auf die epidemiologische Situation und die medizinischen und pharmakologischen Entwicklungen zu reagieren. [...]

(297) Was die Integrität des Entscheidungsfindungsprozesses betrifft, [...] haben die Bf. ihre Behauptungen, das innerstaatliche System sei durch Interessenskonflikte beeinträchtigt [...], nicht ausreichend untermauert.

(298) Im Hinblick auf die Transparenz des innerstaatlichen Systems und die [...] öffentlichen Debatten [...] kann nicht gesagt werden, dass das geltende Arrangement, in dem die Strategie gemäß dem vom Gesetzgeber gewählten und letztlich verantworteten Modell einem unter der Ägide des Gesundheitsministeriums arbeitenden Expertengremium anvertraut ist, an einem schwerwiegenden Transparenzdefizit leidet, das die Gültigkeit der tschechischen Impfstrategie in Frage stellen könnte.

(299) Die Bf. nehmen [...] auch Anstoß an der Wirksamkeit und Sicherheit von Impfungen und äußern schwere Bedenken hinsichtlich der potentiellen nachteiligen Effekte auf die Gesundheit [...]. [...]

(300) Was die Wirksamkeit des Impfens betrifft, verweist der GH einmal mehr auf den allgemeinen Konsens hinsichtlich der zentralen Bedeutung dieses Mittels zum Schutz der Bevölkerung vor Krankheiten, die schwere Folgen für die individuelle Gesundheit haben und im Fall ernster Ausbrüche Beeinträchtigungen der Gesellschaft verursachen können.

(301) Im Hinblick auf die Sicherheit steht außer Streit, dass Impfungen, auch wenn sie für die überwiegende Mehrheit der Empfänger völlig sicher sind, in seltenen Einzelfällen schädlich für den Einzelnen sein und schwere und anhaltende Gesundheitsschäden nach sich ziehen können. [...] Nach Angaben der belangten Regierung [...] erleiden von rund 100.000 Kindern, die jährlich in Tschechien geimpft werden (was 300.000 Impfungen entspricht), fünf oder sechs schwerwiegende, potentiell lebenslange Gesundheitsschäden. Angesichts dieses sehr seltenen aber zweifellos sehr schwerwiegenden Risikos für die Gesundheit des Einzelnen [...] kommt der Ergreifung der notwendigen Sicherheitsvorkehrungen vor einer Impfung besondere Bedeutung zu. Dies betrifft die Untersuchung jedes einzelnen Falls auf das Vorliegen möglicher Kontraindikationen und die Überwachung der Sicherheit der verwendeten Impfstoffe. Der GH sieht im Hinblick auf keinen dieser beiden Aspekte einen Grund, die Angemessenheit des innerstaatlichen Systems in Frage zu stellen. Impfungen werden von Ärzten nur durchgeführt, wenn keine Kontraindikation vorliegt, was zuvor anhand eines Routineprotokolls überprüft wird. Impfstoffe unterliegen der Registrierung durch die staatliche Agentur für Medikamentenkontrolle und alle Angehörigen von Gesundheitsberufen sind verpflichtet, jeden Verdacht schwerwiegender oder unerwarteter Nebenwirkungen zu melden. Die Sicherheit von Impfstoffen steht somit unter fortlaufender Überwachung durch die zuständigen Behörden.

(302) Was die Frage der Verfügbarkeit einer Entschädigung aufgrund einer [...] verschuldensunabhängigen Haftung für Impfschäden betrifft [...], bemerkt der GH, dass die Verfügbarkeit einer Entschädigung [...] für die Gesamteinschätzung eines Systems der Impfpflicht tatsächlich relevant ist. [...] Im Kontext der vorliegenden Beschwerden kann dieser Frage allerdings kein entscheidendes Gewicht beigemessen werden, weil keine Impfungen gegen den Willen oder ohne Zustimmung der Bf. verabreicht wurden. [...] Außerdem wurde die Frage einer Entschädigung in keinem der innerstaatlichen Verfahren aufgeworfen. [...] Der GH leitet daraus ab, dass die Frage der Entschädigung keine Rolle für die Ablehnung der Impfungen durch die Bf. spielte [...].

(303) Der GH muss auch die Intensität der umstrittenen Eingriffe in den Genuss des Rechts auf Achtung des Privatlebens durch die Bf. berücksichtigen.

(304) Zum ErstBf. hat der GH bereits festgestellt, dass die über ihn verhängte Verwaltungsstrafe [...] nicht unverhältnismäßig war (siehe oben Rn. 293). [...]

(306) [...] Der Ausschluss der Bf. vom Kindergarten bedeutete den Verlust einer wichtigen Gelegenheit für diese jungen Kinder, ihre Persönlichkeit zu entwickeln und damit zu beginnen, sich in einem pädagogischen Umfeld wichtige soziale Kompetenzen und Lernfähigkeiten anzueignen. Dies war allerdings die direkte Konsequenz der von ihren jeweiligen Eltern getroffenen Entscheidung, die Erfüllung einer gesetzlichen Pflicht zu verweigern, deren Zweck im Schutz der Gesundheit – insbesondere in dieser Altersgruppe – besteht. [...] Die frühe Kindheit ist die optimale Zeit zum Impfen. Zudem hängt die Möglichkeit des Kindergartenbesuchs von Kindern, die aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden können, zu einem sehr hohen Grad von der Impfung anderer Kinder gegen ansteckende Krankheiten ab. Es kann [...] nicht als unverhältnismäßig angesehen werden, wenn ein Staat von jenen, für die eine Impfung ein geringes Gesundheitsrisiko darstellt, in Form einer rechtlichen Pflicht und im Namen der gesellschaftlichen Solidarität verlangt, diese universell praktizierte Schutzmaßnahme zugunsten der geringen Zahl vulnerabler Kinder, die nicht geimpft werden können, hinzunehmen. Nach Ansicht des GH stand es dem tschechischen Gesetzgeber zu, diese Entscheidung zu treffen, die mit dem Ziel des Schutzes der Gesundheit der Bevölkerung völlig vereinbar ist. [...]

(307) Auch wenn die von den minderjährigen Bf. versäumten Erziehungsgelegenheiten nicht zu unterschätzen sind, bemerkt der GH weiters, dass sie nicht jeglicher Möglichkeit zur persönlichen, sozialen und intellektuellen Entwicklung beraubt wurden. [...] Außerdem waren die Auswirkungen auf sie zeitlich begrenzt. Mit Erreichen des Pflichtschulalters war ihre Aufnahme in die Grundschule nicht von ihrem Impfstatus abhängig. [...]

(309) Aus diesen Gründen stehen die von den Bf. in Beschwerde gezogenen Maßnahmen, im Kontext des innerstaatlichen Systems beurteilt, nach Ansicht des GH in einem angemessenen Verhältnis zu den vom belangten Staat mit der Impfpflicht verfolgten legitimen Zielen.

(310) Der GH möchte klarstellen, dass die zu entscheidende Frage letztlich nicht lautet, ob eine andere, weniger bindende Strategie gewählt hätte werden können, so wie dies in manchen anderen europäischen Staaten der Fall ist. Es geht vielmehr darum, ob die tschechischen Behörden bei der von ihnen getroffenen Abwägung innerhalb des in diesem Bereich geltenden weiten Ermessensspielraums blieben. Der GH gelangt zu der Schlussfolgerung, dass sie ihren Ermessensspielraum nicht überschritten und die umstrittenen Maßnahmen somit als »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« angesehen werden können.

(311) Folglich hat keine Verletzung von Art. 8 EMRK stattgefunden (16:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Wojtyczek; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Lemmens).

(312) Angesichts dieser Schlussfolgerung besteht keine Notwendigkeit, die Einrede [...] der Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe in Bezug auf die Beschwerden der Bf. Brožík und Dubský unter Art. 8 EMRK zu behandeln.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 9 EMRK

(313) Die Bf. Vavricka, Novotná und Hornych brachten auch vor, die verhängte Geldbuße [...] und die Nichtaufnahme [...] in den Kindergarten wären mit ihren Rechten unter Art. 9 EMRK unvereinbar gewesen [...].

(330) Die drei Bf. haben versucht, den Schutz von Art. 9 EMRK für ihren kritischen Standpunkt gegenüber dem Impfen geltend zu machen. Es gibt keinen Hinweis darauf [...], dass ihr Standpunkt in dieser Angelegenheit religiös motiviert ist. Daher ist nicht ihre Religionsfreiheit potentiell betroffen, sondern ihre Gewissensfreiheit.

(332) Der GH [...] verweist auf seine Begründung im Fall Bayatyan/AM, in dem er die Anwendbarkeit von Art. 9 EMRK auf die Wehrdienstverweigerung des Bf. aus religiös motivierten Gewissensgründen geprüft hat. Er stellte fest, dass »Wehrdienstverweigerung, wenn sie von einem ernsthaften und unüberwindbaren Konflikt zwischen der Wehrpflicht und dem Gewissen einer Person oder ihren tiefen und aufrichtigen religiösen oder anderweitigen Überzeugungen motiviert ist [...], die Garantien des Art. 9 EMRK auf den Plan ruft.« Wie er weiters feststellte, muss die Frage, ob und in welchem Umfang eine solche Weigerung in den Anwendungsbereich von Art. 9 EMRK fällt, im Lichte der besonderen Umstände des Einzelfalls eingeschätzt werden.

(333) Der GH möchte auch auf seine Begründung im Fall Pretty/GB hinweisen, in der er die Festigkeit der Ansichten der Bf. betreffend den unterstützten Suizid nicht in Frage stellte, aber darlegte, dass nicht alle Meinungen oder Überzeugungen eine durch Art. 9 EMRK geschützte Weltanschauung darstellen.

(334) Was den Bf. Vavricka betrifft, [...] stellte der Verfassungsgerichtshof in seiner ersten Entscheidung in seinem Fall fest, dass es die Möglichkeit eines ausnahmsweisen Verzichts auf die Geldbuße wegen Missachtung der Impfpflicht geben muss, wenn die Umstände in grundlegender Weise die Achtung der Autonomie des Einzelnen verlangen. Er betonte die Wichtigkeit der Schlüssigkeit und Glaubwürdigkeit des diesbezüglichen Vorbringens und bemerkte die fehlende Schlüssigkeit seitens Herrn Vavrickas im bisherigen Verfahren. Er hatte vorgebracht, seine Ablehnung der Impfungen beziehe sich primär auf Gesundheitsgründe und philosophische oder religiöse Gründe wären zweitrangig. [...]

(335) [...] Der Ansatz der innerstaatlichen Gerichte war sachlich und entsprach der Interpretation des Art. 9 EMRK durch den GH [...]. Angesichts der Schlussfolgerungen der innerstaatlichen Gerichte zu diesem Punkt und des Fehlens einer näheren Untermauerung oder Präzisierung dieses Vorbringens unter Art. 9 EMRK durch den Bf. stellt der GH fest, dass seine kritische Meinung über das Impfen keine Weltanschauung oder Überzeugung von ausreichender Schlüssigkeit, Ernsthaftigkeit und Bedeutung darstellt, um die Garantien des Art. 9 EMRK auf den Plan zu rufen.

(336) Dasselbe gilt a fortiori für die Vorbringen der Bf. Novotná und Hornych, die vor den nationalen Gerichten nicht einmal entsprechende Argumente vorbrachten.

(337) Der GH stellt daher fest, dass diese Beschwerdepunkte [...] ratione materiae unvereinbar mit Art. 9 EMRK sind und daher [als unzulässig] zurückgewiesen werden müssen (mehrheitlich).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 1. Prot. EMRK

(345) Angesichts des Umfangs seiner Prüfung und seiner Feststellungen zu den Vorbringen der minderjährigen Bf. unter Art. 8 EMRK erachtet der GH eine gesonderte Prüfung ihrer Beschwerden unter Art. 2 1. Prot. EMRK nicht für erforderlich (16:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Lemmens).

Zu den weiteren behaupteten Verletzungen

(346) Einige der Bf. rügten auch eine Verletzung von Art. 2, 6, 13 und 14 EMRK.

(347) Im Lichte des ihm vorliegenden Materials und insofern als die in Beschwerde gezogenen Angelegenheiten in seine Zuständigkeit fallen, sieht der GH jedoch keinen Anschein einer Verletzung der EMRK [...].

Folglich sind die Beschwerden in dieser Hinsicht offensichtlich unbegründet und müssen daher [als unzulässig] zurückgewiesen werden (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Association of Parents/GB v. 12.7.1978 (ZE)

Boffa u.a./SM v. 15.1.1998 (ZE)

Pretty/GB v. 29.4.2002 = NL 2002, 91 = EuGRZ 2002, 234 = ÖJZ 2003, 311

Bayatyan/AM v. 7.7.2011 (GK) = NLMR 2011, 211

Solomakhin/UA v. 15.3.2012

Baytüre u.a./TR v. 12.3.2013 (ZE)

Dubska und Krejzova/CZ v. 15.11.2016 (GK) = NLMR 2016, 532

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 8.4.2021, Bsw. 47621/13, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2021, 156) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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