JudikaturJustizBsw45245/15

Bsw45245/15 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
13. Februar 2020

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Gaughran gg. das Vereinigte Königreich, Urteil vom 13.2.2020, Bsw. 45245/15.

Spruch

Art. 8 EMRK - Speicherung biometrischer Daten auf unbestimmte Zeit.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Feststellung einer Verletzung stellt für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung für den vom Bf. erlittenen immateriellen Schaden dar (einstimmig). Ein Antrag auf Ersatz der Kosten und Auslagen wurde nicht gestellt.

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. ist britischer Staatsangehöriger und lebt in Nordirland. Am 14.10.2008 wurde er bei einer Verkehrskontrolle der Polizei angehalten und wegen Fahrens nach übermäßigem Konsum von Alkohol (Anm: Hierbei handelt es sich um ein »recordable offence«, also um eine Straftat, die von der Polizei in das Strafregister einzutragen ist und mit Freiheitsentzug geahndet werden kann.) iSd. Road Traffic (Northern Ireland) Order 1995 festgenommen. Der Bf. wurde zur örtlichen Polizeistation gebracht, wo er einer Atemluftprobe unterzogen wurde, die sich als positiv erwies. Ferner wurde ein Foto von ihm gemacht und wurden ihm Fingerabdrücke sowie eine DNA-Probe abgenommen, von der dann ein DNA-Profil erstellt wurde.

Im November 2008 bekannte sich der Bf. gegenüber dem lokalen Magistrates Court schuldig, was zu seiner Verurteilung wegen des oben genannten Vergehens führte. Das Gericht verhängte eine Geldstrafe in der Höhe von GBP 50,– über ihn und entzog ihm für ein Jahr den Führerschein. Eine Freiheitsstrafe wurde nicht ausgesprochen.

Im Jänner 2009 wandte sich der Anwalt des Bf. an die nationale Polizeidirektion (NPD) und brachte vor, sie hätte das Foto, die Fingerabdrücke und die DNA-Probe seines Mandanten widerrechtlich einbehalten. Er verlangte deren Vernichtung oder sofortige Herausgabe. Am 27.2.2009 antwortete die NPD, sie werde sich an die datenschutzrechtlichen Bestimmungen halten.

In der Folge ersuchte der Bf. den nordirischen High Court um Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Entscheidung der NPD. Mit Urteil vom 13.11.2012 kam dieser zu dem Ergebnis, dass die Speicherung der biometrischen Daten zwar einen Eingriff in Art. 8 EMRK darstelle, dies allerdings im vorliegenden Fall gerechtfertigt und aus diesem Grund nicht unverhältnismäßig sei. Eine Beschwerde des Bf. an den Supreme Court blieb erfolglos.

Die DNA-Probe des Bf. wurde 2015 offiziell vernichtet. Von der NPD werden jedoch nach wie vor die Fingerabdrücke, das DNA-Profil sowie das Foto des Bf. gespeichert und sie beabsichtigt, diese Daten zu behalten.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügte eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

(58) Der Bf. beklagt sich über die zeitlich unbefristete Speicherung seines DNA-Profils, seiner Fingerabdrücke und seines Fotos [...].

(59) Der GH [...] erklärt die Beschwerde für zulässig (einstimmig).

Lag ein Eingriff vor?

(63) [...] [Mit Blick auf sein Grundsatzurteil im Fall S. und Marper/GB – vgl. die Rn. 67-86] kommt der GH zu dem Ergebnis, [...] dass die Speicherung des DNA-Profils und der Fingerabdrücke des Bf. einen Eingriff in sein Privatleben darstellte.

(64) Die Regierung akzeptierte, dass die Aufbewahrung des Fotos des Bf. ebenfalls einen Eingriff in sein Privatleben darstellte. [...]

(65) Während diese Frage von der Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte und zwischen den Parteien geklärt sein dürfte, bleibt sie aus der Perspektive der Rechtsprechung des GH in gewisser Weise neu. So hat die ehemalige EKMR in früheren Fällen die Meinung vertreten, dass die Speicherung und der Gebrauch von im Zuge der Festnahme angefertigten Fotos seitens der Sicherheitsbehörden keinen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens iSv. Art. 8 EMRK darstellten. (Anm: Vgl. EKMR 12.10.1973, 5.877/72 (X. gg. das Vereinigte Königreich); 7.12.1992, 18.395/92 (Lupker gg. die Niederlande); 15.5.1996, 24.950/94 (Kinnunen gg. Finnland); 16.5.1996, 15.225/89 (Friedl gg. Österreich).

(66) Der oben zitierte Fall S. und Marper/GB betraf nicht die Speicherung von Fotografien. Allerdings analysierte die GK (in Rn. 66) ihre bisherige Rechtsprechung zum Konzept des Privatlebens und kam zu dem Schluss, dass dieses Elemente umfasse, welche das Recht einer Person auf ihr eigenes Bild miteinschlössen. Sie hielt fest, dass der GH bei der Entscheidung, ob die von den Behörden aufbewahrten Informationen einen der oben erwähnten Aspekte des Privatlebens betrafen, den spezifischen Kontext, in dem die gegenständlichen Informationen gewonnen und gespeichert wurden, ebenso berücksichtigen sollte wie die Natur der Speicherung, die Art und Weise, wie die Aufzeichnungen verwendet und verarbeitet wurden, und die dadurch gewonnenen Resultate (vgl. Rn. 67).

(67) In diesem Zusammenhang vermerkt der GH, dass die vom Bf. während seiner Anhaltung gemachten Fotos dazu ausersehen waren, auf unbestimmte Zeit im polizeilichen Datenspeicherungssystem aufbewahrt zu werden. [...] Der Supreme Court hatte festgehalten, dass sich das Arrestfoto des Bf. in einer eigenständigen Datenbank befand, die nur dem Polizeipersonal zur Verfügung stand und nicht über die Eigenschaft verfügte, Fotos im Wege der Gesichtserkennung oder sonstwie abzugleichen.

(68) Im Anschluss an das Urteil des High Court im Fall RMC (Anm: Im Fall RMC and FJ v. Commissioner of Police for the Metropolis and Secretary of State for the Home Department (2012), EWHC 1681, kam der High Court mit Blick auf das Urteil des EGMR im Fall S. und Marper/GB zu dem Ergebnis, dass die Speicherung der Fotografien von nicht verurteilten Individuen unter dem Police and Criminal Evidence Act bzw. dem Code of Practice on the Management of Police Information and accompanying guidance unrechtmäßig sei.) veröffentlichte das britische Innenministerium jedoch einen Bericht für England und Wales (mit dem Titel »Überblick über den Gebrauch und die Speicherung von Arrestfotos«), in dem die Funktionsweise der relevanten Datenbank und die Anwendung der Gesichtserkennungstechnik auf den Inhalt solcher Datenbanken relativ detailliert skizziert wurden. Der genannte Bericht vermerkte, dass sich die Technologie seit der Entscheidung des Supreme Court weiterentwickelt hatte und die Nationale Datenbank der Polizei (im Folgenden: NDP) dazu geschaffen worden sei, das Teilen von Informationen zu erleichtern. Die NDP-Gesichtssuchfunktion gestattet es einem autorisierten Benutzer (gewöhnlich ist das ein Polizeibeamter) auf der NDP gesicherte Arrestfotos mit Bildern abzugleichen, die vorübergehend von ihrer lokalen Datenbank heruntergeladen wurden. Laut dem Bericht führen auch die Polizeibehörden von Nordirland solche Suchen über die NDP durch.

(69) Die Regierung hat – in Beantwortung einer Anfrage seitens des GH über die Funktionsweise der Datenbank in Nordirland – die im Bericht des Innenministeriums getroffene Schlussfolgerung bestätigt. Sie gab an, dass sich das vom Bf. angefertigte Foto in einer lokalen Datenbank befände, welche nicht über eine Gesichtserkennungs- bzw. Gesichtszuordnungssoftware verfüge, jedoch könnten in dieser Datenbank befindliche Fotos in die NDP geladen werden, welche mit einer solchen Software ausgestattet sei.

(70) [...] Im vorliegenden Fall hegt der GH mit Blick darauf, dass das Arrestfoto des Bf. im Zuge seiner Festnahme gemacht wurde und für unbestimmte Zeit in einer von der Polizei genutzten Datenbank gespeichert ist, wobei die Polizei auf dieses auch Gesichtserkennungs- bzw. Gesichtszuordnungstechniken anwenden darf, keine Zweifel, dass die Anfertigung und die Speicherung des Fotos des Bf. einen Eingriff in sein Recht auf Achtung des Privatlebens iSv. Art. 8 EMRK darstellten.

War der Eingriff gerechtfertigt?

(71) Damit ein Eingriff nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt ist, muss er dem geltenden Recht entsprechen, eines der in dieser Konventionsbestimmung aufgezählten legitimen Ziele verfolgen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein.

Vorliegen einer gesetzlichen Grundlage

(72) Laut der Regierung habe der Eingriff auf einer gesetzlichen Grundlage beruht.

(73) Gesetzliche Basis für die Abnahme und Speicherung der biometrischen Daten des Bf. war die Police and Criminal Evidence (Northern Ireland) Order 1989. Die Speicherungsbefugnis wird näher in § 64 (1A) geregelt and enthält denselben Wortlaut wie der vormalige – für England und Wales bis zum 31.10.2013 in Geltung stehende – § s.64 (1A) Police and Criminal Evidence Act. Hinsichtlich von § s.64 (1A) des Police and Criminal Evidence Act befand der GH in S. und Marper/GB, dass die Speicherung der Fingerabdrücke und der DNA-Proben des Bf. eine klare gesetzliche Basis im innerstaatlichen Recht hatten, wenngleich § 64 weit weniger präzise hinsichtlich der Bedingungen und Vorkehrungen für eine Speicherung und Verwendung dieser personenbezogenen Informationen sei. Im Ergebnis kam er zu dem Schluss, dass diese Fragen eng mit der umfassenderen Frage verknüpft seien, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sei. Er hielt daher eine Entscheidung darüber nicht für notwendig, ob der Wortlaut von § 64 die Erfordernisse des Art. 8 Abs. 2 EMRK an die »Rechtsqualität« erfüllte. Da die Gesetzesbestimmungen im Wesentlichen dieselben sind wie die in S. und Marper/GB [von der GK] untersuchten, sieht der GH keinen Grund, im gegenständlichen Fall zu einem anderen Ansatz zu kommen.

Vorhandensein eines legitimen Ziels

(75) Was die Existenz eines legitimen Ziels anbelangt, hält der GH es für angemessen, den Ansatz der GK in S. und Marper/GB zu verfolgen. Folglich vertritt er die Ansicht, dass die Speicherung von biometrischen Daten und Fotos das legitime Ziel der Aufklärung und damit der Verhütung von Verbrechen verfolgte. [...]

Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft

(76) Die relevanten Konventionsprinzipien sind im Urteil der GK in S. und Marper/GB zusammengefasst (Rn. 101-104). Im Gegensatz zu diesem, der die Speicherung von persönlichen Daten von Personen betraf, die nicht wegen Verübung einer Straftat verurteilt worden waren, stellt sich im vorliegenden Fall die Frage, ob die Speicherung der biometrischen Daten und des Fotos des Bf. [...] unter Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt war.

Zum staatlichen Ermessensspielraum

[Zum Ausmaß des Konsenses in den Vertragsstaaten]

(78) Die Regierung hat bezüglich der Speicherung der biometrischen Daten und des Fotos drei Gründe vorgebracht, warum – basierend auf dem Ausmaß des Konsenses unter den Vertragsstaaten – der dem Staat eingeräumte Ermessensspielraum im vorliegenden Fall weit sein sollte. Erstens bestehe unter den Staaten keine Einigkeit dahingehend, welchen Ansatz man für die Speicherung von biometrischen Daten betreffend wegen einer Straftat verurteilte Personen wählen sollte. Zweitens sei das Speicherungsschema in Nordirland nicht ungewöhnlich eingreifend, würden doch in mehreren anderen europäischen Jurisdiktionen biometrische Daten, in manchen Fällen inklusive DNA-Proben, auf unbestimmte Zeit oder für sehr lange Zeitspannen bis hin zum Lebensende der betroffenen Person gespeichert. Drittens würden laut dem in Nordirland existierenden Schema Proben nur von Leuten genommen, die eines »recordable offence« für schuldig befunden worden wären, also eines Delikts, welches mit Freiheitsstrafe geahndet werden könne. Dementsprechend nehme das Speicherungsregime Bezug auf einen Mindestgrad an Schwere, was die Deliktsbegehung betreffe.

(79) Das Vorbringen der Regierung, wonach zwischen den Vertragsstaaten über den bei der Speicherung von biometrischen Daten verurteilter Personen zu verfolgenden Ansatz kein Konsens bestehe, basiert auf der Annahme, dass ein Regime, welches die Speicherung [von Daten] für die gesamte biologische Lebensspanne oder eine Reihe von Jahren darüber hinaus vorsieht, mit einem Speicherungsregime auf unbestimmte Zeit vergleichbar ist. Der GH ist jedoch der Ansicht, dass – bevor man zu dem Schluss kommen sollte, beide Arten von Regimen könnten gleichgesetzt werden – dem Charakter der Daten und den Auswirkungen der Speicherung der Daten einer Person bis nach ihrem Tod Augenmerk geschenkt werden sollte.

(80) Hinsichtlich von Fingerabdrücken hat der GH bereits [in S. und Marper/GB] befunden, dass sie nicht so viele Informationen wie DNA-Profile enthalten. Außerdem wurde nicht vorgebracht, dass es möglich wäre, Beziehungen zwischen Individuen anhand von Daten betreffend Fingerabdrücke oder Fotografien zu identifizieren. Der GH akzeptiert daher, dass hinsichtlich von Fingerabdrücken und Fotografien Speicherungsperioden, welche bei oder kurz nach dem Tod enden, mit einer Speicherung auf unbestimmte Zeit verglichen werden können, auch wenn ihm bewusst ist, dass auf diesem Gebiet rasche technologische Fortschritte insbesondere betreffend die Techniken bei der Gesichtserkennung bzw. -zuordnung durchaus möglich sind. Jedenfalls kann sowohl in Bezug auf Fingerabdrücke als auch Fotografien festgehalten werden, dass die Mehrheit der vom GH untersuchten Staaten Regime mit zeitlich begrenzten Speicherungsperioden festgelegt hat.

(81) Der GH ist allerdings der Ansicht, dass die Situation hinsichtlich von DNA-Profilen eine andere ist und dass eine Unterscheidung getroffen werden muss zwischen der Speicherung von DNA-Profilen auf unbestimmte Zeit und der Festlegung einer zeitlichen Begrenzung der Speicherungsdauer, welche an die biologische Lebensspanne der betroffenen Person anknüpft, mag auch die vorgesehene Zeitspanne für die Aufbewahrung beträchtlich sein. Dies deshalb, weil die Aufbewahrung genetischer Daten nach dem Tod des »Datensubjekts« weiterhin Auswirkungen auf Individuen hat, die in biologischer Hinsicht mit ihm verbunden sind. Der GH hat bereits [im Fall S. und Marper/GB, Rn. 75] im Zuge der Erörterung des Charakters des Eingriffs in die Privatsphäre im Fall der Speicherung von DNA-Profilen festgehalten, dass deren Verwendung für eine Suche nach Verwandtschaftsbeziehungen zwecks Ermittlung einer möglichen genetischen Verbindung zwischen Individuen von hochsensibler Natur ist und dass es in dieser Hinsicht einer sehr strikten Kontrolle bedarf. Seiner Ansicht nach ist die Eigenschaft von DNA-Profilen als Mittel der Identifizierung genetischer Beziehungen zwischen Individuen für sich bereits ausreichend um zum Schluss zu gelangen, dass deren Speicherung einen Eingriff in das Recht auf Privatsphäre der betroffenen Individuen darstellt. [...] Da die Suche nach Verwandtschaftsbeziehungen über DNA-Profile nach dem Tod des »Datensubjekts« fortgeführt werden kann, vermag er das Vorbringen [der Regierung] nicht zu akzeptieren, wonach es möglich sei, die Speicherung biometrischer Daten bis zu einem gesetzlich fixierten Zeitpunkt, bezogen auf den Tod jener Person, der sie entnommen wurden, mit einer Aufbewahrung auf unbestimmte Zeit gleichzusetzen.

(82) Es trifft zwar zu, dass der GH (in S. und Marper/GB, Rn. 112) zur Feststellung kam, dass das Vereinigte Königreich das einzige Land sei, welches die DNA von nicht verurteilten Personen auf unbestimmte Zeit speichere, und daher darauf schloss, dass der zwischen den Vertragsstaaten existierende starke Konsens von beträchtlicher Bedeutung sei und den dem belangten Staat verbleibenden Ermessensspielraum einenge, was die Beurteilung der zulässigen Schranken des Eingriffs in das Privatleben in diesem Bereich angehe. Im vorliegenden Fall ist die Situation nicht genau dieselbe, wo – mag man auch den Unterschied zwischen einer Speicherung, gekoppelt an den Tod des »Datensubjekts«, und einer solchen auf unbestimmte Zeit im Hinblick auf DNA-Profile berücksichtigen – eine kleine Zahl der untersuchten Staaten ein zeitlich unbegrenztes Speicherungsregime verwendet. (Anm: Es handelt sich dabei um Irland, Nordmazedonien, Zypern und Montenegro.) Der GH ist allerdings der Ansicht, dass diese Staaten in einer eindeutigen Minderheit sind. Die Mehrheit der Staaten hat Regime, in denen für die Dauer der Aufbewahrung von Daten zeitliche Grenzen existieren. Der GH nimmt auch Kenntnis vom Verweis der Regierung auf in Österreich und Litauen existierende gesetzliche Regelwerke, die eine unbefristete Speicherung von biometrischen Daten verurteilter Personen gestatten würden. Beide Staaten haben ihre einschlägigen Gesetze jedoch mittlerweile geändert und sehen nunmehr eine befristete Aufbewahrungsdauer vor.

(83) Die Regierung erstattete ein separates Vorbringen zum Ermessensspielraum insofern, als das in Nordirland existierende Regelwerk zur Folge habe, dass DNA-Proben nur dann entnommen (und gespeichert) werden dürften, wenn es sich um wegen eines »recordable offence« verurteilte Personen handle [...]. Folglich berücksichtige das Speicherungsregime einen Mindestgrad an Schwere, was das Ausmaß des anstößigen Verhaltens angehe. Der GH vermerkt in dieser Hinsicht, dass die GK ein ähnliches Vorbringen in S. und Marper/GB (Rn. 26, 110, 119) zurückgewiesen hat [...]. Er sieht keinen Grund, in dieser Frage einen anderen Standpunkt [als die GK] einzunehmen.

(84) Im Lichte des oben Gesagten vermag der GH nicht zu dem Schluss zu gelangen, dass der staatliche Ermessensspielraum im vorliegenden Fall in dem von der belangten Regierung behaupteten Ausmaß erweitert ist. Das Vereinigte Königreich ist einer der wenigen Europaratsstaaten, welcher die unbefristete Speicherung von DNA-Profilen, Fingerabdrücken und Fotos von verurteilten Personen gestattet. Das Ausmaß des unter den Vertragsstaaten existierenden Konsenses insbesondere hinsichtlich der Speicherung von DNA-Profilen hat aus den oben genannten Gründen (vgl. Rn. 81-82) den dem belangten Staat auf diesem Gebiet zustehenden Ermessensspielraum eingeengt.

[Zur Kontrolle durch die Gerichte]

(85) [...] Die Regierung brachte vor, die Frage der Notwendigkeit der Speicherung der Daten des Bf. falle in den staatlichen Ermessensspielraum und nicht in die Entscheidungsgewalt des EGMR. In dieser Hinsicht möchte der GH daran erinnern, dass er in Fällen betreffend Art. 8 EMRK den Ermessensspielraum generell dahingehend verstanden hat, dass – wenn die unabhängigen und unparteiischen Gerichte die Fakten sorgfältig geprüft, die relevanten Menschenrechtsstandards im Einklang mit der Konvention und der Rechtsprechung des GH angewendet und schließlich die persönlichen Interessen des Bf. gegen das allgemeine öffentliche Interesse in angemessener Weise gegeneinander abgewogen haben – es nicht an ihm liegt, eine eigene Bewertung in der Sache [...] anstelle der zuständigen nationalen Behörden vorzunehmen, außer es sollten zwingende Gründe vorhanden sein, welche dies nahelegen würden.

(86) Im vorliegenden Fall ist der GH allerdings der Ansicht, dass derartige Gründe existieren. In diesem Zusammenhang möchte er darauf hinweisen, dass die Verhältnismäßigkeit der strittigen Maßnahme von den nationalen Gerichten bis hin zum [...] Supreme Court einer Überprüfung unterzogen wurde. Letztere führten ihre Bewertung jedoch in Bezug auf die Speicherung des Fotos des Bf. hauptsächlich in der Annahme durch, dieses befände sich in einer lokalen Datenbank und könne nicht mit anderen Fotos abgeglichen werden – eine Schlussfolgerung, die von der technischen Weiterentwicklung überholt worden sein dürfte. In diesem Zusammenhang möchte der GH auch an die Wichtigkeit einer Prüfung der Befolgung der Grundsätze des Art. 8 EMRK erinnern, wenn die dem Staat eingeräumten Befugnisse undurchsichtig sind, was insbesondere dann ein Risiko von Willkür mit sich bringt, wenn die verfügbare Technologie immer ausgeklügelter wird (vgl. Catt/GB, Rn. 114). Der Supreme Court führte seine Analyse auch unter der Prämisse durch, dass sehr wenige Staaten über einen Überprüfungsmechanismus verfügten, wohingegen es so sein dürfte, dass von den vom GH untersuchten Staaten die meisten eine Form von verwaltungsrechtlicher und/oder gerichtlicher Überprüfung bereitstellen. Was schließlich die DNA-Profile betrifft, vertrat der Supreme Court die Ansicht, das kein Unterschied zwischen mit dem Tod des »Datensubjekts« verknüpfter Speicherung und zeitlich unbefristeter Aufbewahrung ausgemacht werden könne. Der GH hat das auf derselben Argumentation fußende Vorbringen der Regierung jedoch zurückgewiesen (vgl. Rn. 81 oben).

Schlussfolgerung

(87) Der GH erinnert daran, dass er die Beschwerde im Fall Peruzzo und Martens/D wegen offensichtlicher Unbegründetheit für unzulässig erklärte. Die Bf. waren wiederholt wegen schwerer Delikte zu Haftstrafen verurteilt worden. Das Gesetz sah die Aufbewahrung ihrer biometrischen Daten für unbestimmte Zeit vor. Solche Daten wurden im Hinblick auf Personen gespeichert, die wegen schwerer Delikte und/oder wegen Rückfalls verurteilt worden waren. Das Bundeskriminalamt war verpflichtet, in regelmäßigen Abständen nachzuprüfen, ob die anhaltende Aufbewahrung der Daten zur Erfüllung seiner Aufgaben noch notwendig war oder ob diese spätestens nach jeweils zehn Jahren gelöscht werden sollten. Der GH hat jedoch auch befunden, dass ein Regime mit einer gesetzlich fixierten Speicherungsdauer von 40 Jahren, was aber in der Praxis auf eine unbefristete Zeitspanne hinauslief, eine Verletzung der Konvention darstelle (vgl. Aycaguer/F). In diesem Fall war der Bf. eines geringfügigen Vergehens schuldig gesprochen und zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Seine biometrischen Daten waren unter gesetzlichen Voraussetzungen gespeichert worden, welche nicht nach der Natur und/oder Schwere des begangenen Delikts unterschieden, ferner war es ihm nicht möglich, die Löschung der Daten zu beantragen (vgl. Rn. 43-47). Im oben zitierten Fall Peruzzo und Martens/D gab sich der GH damit zufrieden, dass nichts darauf hindeute, dass die innerstaatlichen Behörden bzw. Gerichte im strittigen Verfahren nicht die relevanten Garantien beachtet hätten (Rn. 48). Hingegen hatte in Aycaguer/F das Versäumnis der Behörden, einen Erlass umzusetzen, zu einer gewissen Mehrdeutigkeit bei [der Auslegung] der die Aufbewahrung von Daten regelnden Gesetzesbestimmungen geführt, und sie unterließen es auch, entsprechende Schritte nach der das damals geltende Regime in Frage stellenden Entscheidung des Conseil constitutionnel vom 16.9.2010 zu setzen.

(88) Der GH hat bereits festgehalten, dass Staaten ein eingeschränkter Beurteilungsspielraum offensteht, wenn es um die Festlegung von Aufbewahrungsfristen für die biometrischen Daten verurteilter Personen geht (vgl. Rn. 84 oben). Im Lichte der oben angestellten Erwägungen (siehe Rn. 87) vertritt er jedoch die Ansicht, dass [...] die Dauer der Aufbewahrungsspanne bei der Beurteilung, ob ein Staat den akzeptablen Ermessensspielraum im Zusammenhang mit der Errichtung des relevanten Speicherungsregimes überschritten hat, nicht notwendigerweise ausschlaggebend ist. In diesem Zusammenhang möchte er unterstreichen, dass hier nicht dasselbe Risiko einer Stigmatisierung im Fall der Speicherung von Daten existiert wie im Fall S. und Marper/GB (vgl. Rn. 122). Ebenso von Bedeutung ist, ob das betreffende Regime der Schwere des anstößigen Verhaltens, der Notwendigkeit der Aufbewahrung von Daten und den dem betroffenen Individuum zur Verfügung stehenden rechtlichen Sicherheiten Rechnung trägt. Reizt der Staat die Grenzen seines Ermessensspielraums aus, indem er für sich die besonders extensive Befugnis unbefristeter Speicherung beansprucht, kommt der Existenz und Wirksamkeit gewisser Sicherungen entscheidende Bedeutung zu (vgl. Catt/GB, Rn. 119).

(89) Was die Frage angeht, ob die von den nationalen Behörden angeführten Gründe zur Rechtfertigung der unbefristeten Maßnahme der Speicherung [von Daten] »relevant« und »ausreichend« waren, [...] brachte die Regierung anhand von verschiedenen Fallstudien vor, dass je mehr Daten aufbewahrt, desto mehr Verbrechen verhindert werden könnten. Würde der GH im Zusammenhang mit dem unbefristeten Speicherungssystem eine solche Argumentation akzeptieren, würde dies in der Praxis auf die Aufbewahrung von Informationen über die gesamte Bevölkerung und ihre verstorbenen Angehörigen hinauslaufen, was sich definitiv als exzessiv und irrelevant erweisen würde. [...] Zudem hob die Regierung hervor, dass bei den bereits verurteilten Personen in der Tat eine große Wahrscheinlichkeit bestehe, nach einer relativ kurzen Periode von zwei Jahren erneut verurteilt zu werden.

(90) Die Regierung betonte auch die besondere Notwendigkeit einer Aufbewahrung von DNA-Proben in Nordirland, wo die Untersuchung von historischen Fällen Teil der Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs unter Art. 46 EMRK [...] sei.

(91) [In dieser Hinsicht] möchte der GH in Erinnerung rufen, dass die Frage der Befolgung seiner Urteile durch die Hohen Vertragsparteien außerhalb seines Zuständigkeitsbereichs liegt, sofern sie nicht im Kontext des in Art. 46 Abs. 4 und 5 EMRK geregelten »Verletzungsverfahrens« aufgeworfen wird. Die Regierung legte nun dar, dass die Handhabung der nordirischen DNA-Datenbank praktischen Erwägungen diene [...], um ihren Verpflichtungen unter Art. 46 Abs. 2 EMRK nachkommen zu können. [Dazu möchte der GH anmerken], dass das Ministerkomittee [des Europarats] in einer besseren Lage ist, die zu ergreifenden erforderlichen Maßnahmen zu bewerten.

(92) Insofern das Vorbringen der Regierung [...] den Verhältnismäßigkeitstest unter Art. 8 EMRK betreffen sollte, ist der GH der Ansicht, dass die Notwendigkeit, Teile der DNA-Datenbank zum Zweck von historischen Untersuchungen aufrechtzuerhalten, sich nicht signifikant von ihrer allgemein gehaltenen Argumentation unterscheidet, wonach die Speicherung von biometrischen Daten für die Untersuchung anderer Typen von ungeklärten Verbrechen hilfreich sei [...].

(93) Der GH ruft allgemein in Erinnerung, dass er im Kontext der positiven Verpflichtungen unter Art. 2 EMRK die Ansicht vertreten hat, dass das öffentliche Interesse an der Untersuchung und [...] strafrechtlichen Verfolgung bzw. Verurteilung von Personen, die unrechtmäßige Tötungen begangen haben, viele Jahre nach den jeweiligen Geschehnissen voll anerkannt ist. Die Untersuchung von ungeklärten Fällen steht auch im öffentlichen Interesse, und zwar im generellen Sinn der Verbrechensbekämpfung. Allerdings hat der GH im Zusammenhang mit unrechtmäßigen Tötungen auch unterstrichen, dass die Polizei ihre Pflichten in einer mit den Rechten und Freiheiten anderer Individuen vereinbaren Weise erfüllen muss. [...]

(94) Indem sich der Staat für die Schaffung eines unbefristeten Speicherungsregimes entschieden hat, hätte er dafür Sorge tragen müssen, dass für den Bf. in seiner Eigenschaft als Delinquent gewisse Sicherheiten vorhanden und effektiv waren. Seine biometrischen Daten und Fotos wurden jedoch ohne Bezug auf die Schwere des von ihm begangenen Delikts aufbewahrt, ferner wurde nicht in Betracht gezogen, ob für deren Aufbewahrung auf unbestimmte Zeit ein anhaltendes Bedürfnis bestand. Dazu kommt, dass die Polizei zur Vernichtung von biometrischen Daten und Fotos nur unter außergewöhnlichen Umständen befugt ist. Es existiert keinerlei gesetzliche Bestimmung, die es dem Bf. erlauben würde, um Vernichtung der ihn betreffenden Daten anzusuchen, falls deren Aufbewahrung angesichts des Charakters des Delikts, des Alters der betroffenen Person, der Dauer der verstrichenen Zeit und der gegenwärtigen Persönlichkeitsstruktur nicht länger notwendig erscheint (vgl. Gardel/F). [Im vorliegenden Fall] ist eine Individuen zur Verfügung stehende [gerichtliche] Überprüfung dermaßen eingeschränkt, dass sie beinahe als hypothetisch einzustufen ist.

(95) [...] In Bezug auf Fotografien ist es aus Sicht des GH von Interesse, dass das in England und Wales existierende Regime nach dem Urteil im Fall RMC dahingehend geändert wurde, dass es wegen weniger ernster »recordable offences« verurteilten Personen gestattet ist, die Vernichtung ihrer Fotos nach sechs Jahren zu beantragen [...].

(96) Aus den oben dargelegten Gründen kommt der GH zu dem Ergebnis, dass es durch die wahllose und beliebige [...] Befugnis zur Speicherung des DNA-Profils, der Fingerabdrücke und des Fotos des verurteilten Bf. (mag die Strafe auch nicht mehr im Verkehrsstrafenregister aufscheinen), ohne dass auf die Schwere des Delikts und die Notwendigkeit einer zeitlich unbefristeten Speicherung Bezug genommen worden wäre und ohne dass irgendeine reale Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung bestanden hätte, verabsäumt wurde, eine gerechte Abwägung der widerstreitenden öffentlichen und privaten Interessen vorzunehmen. Der GH erinnert an seine Schlussfolgerung, wonach der Staat im Hinblick auf die Aufbewahrung von Fingerabdrücken und Fotos nur einen geringfügig größeren Ermessensspielraum für sich in Anspruch nehmen kann (vgl. Rn. 84 oben). Dieser erweiterte Spielraum ist allerdings nicht ausreichend um zum Schluss zu gelangen, dass die Speicherung dieser Daten unter den Umständen des Falles verhältnismäßig sein konnte, ist doch hierbei auch das Fehlen jedweder Sicherheiten einschließlich fehlender realer Überprüfungsmöglichkeiten zu berücksichtigen.

(97) Der belangte Staat hat somit in dieser Hinsicht den akzeptablen Ermessensspielraum überschritten. Die strittige Speicherung stellte daher einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht des Bf. auf Achtung seines Privatlebens dar, der in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig war.

(98) Dementsprechend liegt eine Verletzung von Art. 8 EMRK vor (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

Die Feststellung einer Verletzung stellt für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung für den vom Bf. erlittenen immateriellen Schaden dar (einstimmig). Ein Antrag auf Ersatz der Kosten und Auslagen wurde nicht gestellt.

Vom GH zitierte Judikatur:

S. und Marper/GB v. 4.12.2008 (GK) = NL 2008, 356 = EuGRZ 2009, 299

Gardel/F v. 17.12.2009

M. K./F v. 18.4.2013

Peruzzo und Martens/D v. 4.6.2013 (ZE)

Aycaguer/F v. 22.6.2017 = NLMR 2017, 243

Catt/GB v. 24.1.2019 = NLMR 2019, 59

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 13.2.2020, Bsw. 45245/15, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2020, 37) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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