JudikaturJustizBsw38369/09

Bsw38369/09 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
21. Juli 2015

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Schipani u.a. gg. Italien, Urteil vom 21.7.2015, Bsw. 38369/09.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK - Keine Begründung der Nichteinholung einer Vorabentscheidung beim EuGH durch Höchstgericht.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 39.000,– für immateriellen Schaden, € 5.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Bei den Bf. handelt es sich um Ärzte, die sich vor dem Studienjahr 1991/92 für Spezialisierungskurse eingeschrieben hatten.

Am 20.7.1996 ließen sie den Vorsitzenden des Ministerrats vor das Gericht von Rom vorladen, um eine Wiedergutmachung von Schäden zu erhalten, die sie ihrer Ansicht nach durch die Untätigkeit des Staates bei der Umsetzung der RL Nr. 363 vom 16.6.1975 (Anm: Richtlinie 75/363/EWG des Rates vom 16. Juni 1975 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Tätigkeiten des Arztes, ABl. 1975 L 167, S. 14.) und der RL Nr. 82 vom 26.1.1976 ins nationale Recht erlitten hatten. Sie behaupteten, dass die Ärzte laut diesen RL während der Zeit ihrer beruflichen Ausbildung ein Recht auf angemessene Entlohnung hätten und dass die Mitgliedstaaten die in der RL angeführten Grundsätze bis 31.12.1982 in ihr Rechtssystem übernehmen mussten. Italien wäre dieser Verpflichtung jedoch erst mit dem Gesetzesdekret Nr. 257 vom 8.8.1991 nachgekommen. Durch die verspätete Umsetzung seien sie daher vor 1991 der Rechte aus den RL beraubt worden.

Mit Urteil vom 21.2.2000 wies das Gericht von Rom den Antrag der Bf. zurück. Die Bf. beriefen gegen diese Entscheidung, doch wies das Berufungsgericht das Rechtsmittel mit Urteil vom 18.9.2003 zurück. Dagegen erhoben die Bf. eine Kassationsbeschwerde, mit der sie für den Fall der Nichtstattgebung subsidiär beantragten, dem EuGH die Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, ob (a) die Nichtumsetzung der RL Nr. 363 vom 16.6.1975 und der RL Nr. 82 vom 26.1.1976 in der dafür vorgesehenen Frist durch den italienischen Staat einen schweren und offenkundigen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht darstellte, der zur Verpflichtung des Staates führte, den von den benachteiligten Personen erlittenen Schaden wiedergutzumachen; und (b) ob die vom Gesetzesdekret Nr. 257 aus 1991 vorgesehenen Voraussetzungen den Erhalt dieser Entschädigung unmöglich oder übermäßig schwierig machten.

Mit Urteil vom 14.11.2008 wies das Kassationsgericht die Beschwerde zurück. Das Urteil enthielt keine Bezugnahme auf die von den Bf. subsidiär beantragte Vorabentscheidung.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. rügen insbesondere eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK

Nichterschöpfung des Instanzenzugs

(41) Die Regierung erhob die Einrede der Nichterschöpfung des Instanzenzugs. Sie argumentierte, dass – wenn das Kassationsgericht die »Acte clair-Doktrin« fehlerhaft angewendet hat und seiner Verpflichtung nicht nachgekommen ist, dem EuGH eine Vorabentscheidungsfrage vorzulegen – die Bf. eine Schadenersatzklage gegen den Staat vor dem Zivilrichter erheben konnten, wie es die EuGH-Urteile Köbler (Anm: EuGH 30.9.2003, Gerhard Köbler/Republik Österreich, C-224/01, Slg. 2003 I 10239 = NL 2003, 270.) und Traghetti del Mediterraneo (Anm: EuGH 13.6.2006, Traghetti del Mediterraneo SpA/Republik Italien, C-173/03, Slg. 2006 I 05177.) vorsehen.

(46) [...] Der GH [...] hebt hervor, dass der EuGH in den vorgenannten Urteilen bestätigt hat, dass Privatpersonen Entschädigung für Schäden erhalten können müssen, die sich aus einem offenkundigen Verstoß eines letztinstanzlichen Gerichts gegen das anwendbare Gemeinschaftsrecht ableiten lassen. Der EuGH hat auch eine nationale Gesetzgebung für mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar gehalten, die – wie jene Italiens zur damaligen Zeit – die staatliche Verantwortung mit der Begründung ausschloss, dass sich die betreffende Verletzung aus der Auslegung von Rechtsvorschriften ergab, oder sie allein auf Fälle von Vorsatz oder grobem Fehlverhalten beschränkte. Zudem missachtete eine solche Einschränkung laut dem EuGH das Gemeinschaftsrecht, wenn sie zum Ausschluss der Verantwortung des Staates in anderen Fällen führte, in denen ein offenkundiger Verstoß gegen das anwendbare Recht erfolgte.

(47) Der GH leitet daraus ab, dass der EuGH nicht bejahte, dass die damalige italienische Gesetzgebung mit einem ausreichenden Maß an Sicherheit das Recht auf Schadenersatz im Fall eines »offenkundigen Verstoßes« des letztinstanzlichen Gerichts gegen das anwendbare Gemeinschaftsrecht garantierte. Nach dem Wortlaut des Gesetzes Nr. 117 aus 1988 [über die Wiedergutmachung von bei der Ausübung richterlicher Funktionen erlittener Schäden und die zivilrechtliche Verantwortlichkeit von Richtern] – so wie es zum Zeitpunkt der Ereignisse in Kraft stand – konnte eine Privatperson nur Entschädigung für erlittene Schäden erlangen, wenn der behauptete Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht auf Vorsatz oder grobes Fehlverhalten des Richters zurückzuführen war oder einer Rechtsverweigerung gleichkam. Jedenfalls konnte nach dem Wortlaut von Art. 2 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 117 aus 1988 »die Auslegung von Rechtsvorschriften keine Verantwortung bewirken«.

(48) Angesichts des Vorangegangenen hat der GH Zweifel an den vernünftigen Aussichten auf Erfolg, der einer möglichen Schadenersatzklage der Bf. unter Stützung auf einen offenkundigen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht durch das Kassationsgericht beschieden gewesen wäre. Insbesondere hätten die Betroffenen sich entgegenhalten lassen müssen, dass das Unterlassen der Vorlage einer Vorabentscheidung an den EuGH durch das Kassationsgericht aus der »Auslegung von Rechtsvorschriften« folgte oder nicht auf Vorsatz oder grobes Fehlverhalten des Richters zurückzuführen war. Zudem brachte die Regierung kein Beispiel eines Falles vor, wo eine solche Klage unter analogen Umständen wie im vorliegenden Fall mit einem positiven Ergebnis angestrengt worden wäre.

(49) Schließlich muss festgehalten werden, dass die Reform des Gesetzes Nr. 117 aus 1988 erst am 19.3.2015 in Kraft trat, also mehr als sechs Jahre nach der Urteilsverkündung durch das Kassationsgericht im Fall der Bf. Mit diesem Datum lief die von Art. 4 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 117 aus 1988 vorgesehene Frist zur Erhebung einer Schadenersatzklage gegen den Staat aus. Im Übrigen behauptete die Regierung nicht, dass die Bf. sich auf neue, durch das Gesetz Nr. 18 aus 2015 eingeführte Bestimmungen berufen können.

(50) Daraus folgt, dass die Einrede der Regierung wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs zurückgewiesen werden muss.

Zur Zulässigkeit im Übrigen

(60) Der GH hat die Rügen der Bf. im vorliegenden Fall, mit denen sie den ausreichenden und stichhaltigen Charakter der vom Kassationsgericht zur Zurückweisung ihres Rechtsmittels vorgebrachten Argumente nach nationalem Recht und Unionsrecht in Frage gezogen haben, untersucht, und keinen Anschein einer Verletzung der von Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierten Grundsätze des fairen Verfahrens oder der Rechtssicherheit festgestellt. Diesbezüglich bemerkt er insbesondere, dass das italienische Höchstgericht nicht ausdrücklich von seiner gefestigten Rechtsprechung abging, sondern dass es die strittige Zurückweisung begründete, indem es sich auf die Natur des von den Bf. gestellten Antrags stützte (siehe auch die Überlegungen in den Rn. 79 und 80 unten).

(61) Daraus folgt, dass diese Rügen offensichtlich unbegründet und [...] [als unzulässig] zurückzuweisen sind (einstimmig).

(62) Der GH befindet demgegenüber, dass die Beschwerde wegen fehlender Beantwortung ihres Antrags auf Vorabentscheidung durch das Kassationsgericht nicht offensichtlich unbegründet [...] und im Übrigen auch aus keinem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären ist (einstimmig).

In der Sache

(69) Der GH erinnert daran, dass er in der Entscheidung Vergauwen u.a./B die folgenden Grundsätze festgelegt hat:

– Art. 6 Abs. 1 EMRK erlegt den nationalen Gerichten eine Pflicht auf, die Entscheidungen, mit der sie die Vorlage einer Vorabentscheidungsfrage verweigern, im Hinblick auf das anwendbare Recht zu begründen;

– wenn er in diesem Bereich wegen einer angeblichen Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK angerufen wird, besteht die Aufgabe des GH darin, sich zu vergewissern, dass die vor ihm kritisierte zurückweisende Entscheidung ordnungsgemäß mit den erforderlichen Gründen versehen ist;

– wenn es ihm auch zusteht, diesbezüglich eine sehr genaue Prüfung vorzunehmen, ist es nicht seine Sache, über mögliche Fehler zu erkennen, die die nationalen Gerichte bei der Auslegung oder Anwendung des anwendbaren Rechts begangen haben;

– im speziellen Rahmen von Art. 234 Abs. 3 EG-V (nunmehr Art. 267 AEUV) bedeutet das, dass die nationalen Gerichte, deren Entscheidungen nach nationalem Recht nicht mehr mit einem gerichtlichen Rechtsbehelf bekämpft werden können, verpflichtet sind, wenn sie sich weigern, dem EuGH eine vor ihnen aufgeworfene Frage zur Auslegung des EU-Rechts zur Vorabentscheidung vorzulegen, ihre Weigerung im Lichte der in der Rechtsprechung des EuGH vorgesehenen Ausnahmen zu begründen. Sie müssen daher die Gründe angeben, warum sie der Ansicht sind, dass die Frage nicht erheblich ist oder die betreffende Bestimmung des EU-Rechts bereits Gegenstand einer Auslegung durch den EuGH war oder die korrekte Anwendung des EU-Rechts derart offenkundig ist, dass sie keinen Raum für vernünftigen Zweifel lässt.

(70) Im vorliegenden Fall haben die Bf. für den Fall, dass ihrem Rechtsbehelf nicht stattgegeben wird, beim Kassationsgericht beantragt, dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, ob (a) die Nichtumsetzung der RL Nr. 363 vom 16.6.1975 und Nr. 82 vom 26.1.1976 in der dafür vorgesehenen Frist durch den italienischen Staat einen schweren und offenkundigen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht darstellte, der zur Verpflichtung des Staates führte, den von den benachteiligten Personen erlittenen Schaden wiedergutzumachen; und (b) ob die vom Gesetzesdekret Nr. 257 aus 1991 vorgesehenen Voraussetzungen den Erhalt dieser Entschädigung unmöglich oder übermäßig schwierig machten. Da seine Entscheidungen nach nationalem Recht mit keinem gerichtlichen Rechtsbehelf mehr bekämpft werden konnten, war das Kassationsgericht verpflichtet, seine Weigerung zur Vorlage der Vorabentscheidung im Hinblick auf die in der Rechtsprechung des EuGH vorgesehenen Ausnahmen zu begründen.

(71) Der GH hat das Urteil des Kassationsgerichts vom 14.11.2008 untersucht, ohne dort irgendeine Bezugnahme auf den Antrag der Bf. auf Einholung eines Vorabentscheidungsersuchens und die Gründe zu finden, aus denen erwogen wurde, dass die aufgeworfene Frage es nicht verdiente, an den EuGH übermittelt zu werden. Es trifft zu, dass das Kassationsgericht in der Begründung seines Urteils angab, dass die Verzögerung bei der Umsetzung der strittigen RL nach der Rechtsprechung des EuGH ein Recht auf Wiedergutmachung für die von den Privatpersonen erlittenen Schäden schuf. Die Regierung behauptet im Wesentlichen, dass diese Aussage als implizite Begründung der Zurückweisung des ersten Teils des von den Bf. beantragten Vorabentscheidungsersuchens gesehen werden könne. Doch selbst wenn dies der Fall sein sollte, erklärt die betreffende Aussage nicht die Gründe, aus denen der zweite Teil des Vorabentscheidungsersuchens [...] unzulässig war.

(72) Die Begründung des strittigen Urteils erlaubt es aus diesem Grund nicht festzustellen, ob dieser letztere Teil der Frage als nicht erheblich oder als eine klare Bestimmung betreffend oder als bereits vom EuGH ausgelegt angesehen oder ob sie einfach ignoriert wurde [...].

(73) Diese Feststellung reicht aus um zu befinden, dass eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK erfolgte (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Wojtyczek).

Zu den übrigen behaupteten Verletzungen

(74) Die Bf. behaupten, dass die unter Art. 6 EMRK vorgebrachten Rügen auch eine Diskriminierung und eine Verletzung ihres Rechts auf Achtung des Eigentums darstellen würden.

(80) Selbst unter der Annahme, dass Art. 14 EMRK im vorliegenden Fall Anwendung findet, entdeckt der GH in der Auslegung des Antrags der Bf. durch das italienische Höchstgericht keinen Anschein einer Verletzung des Rechts der Betroffenen auf Achtung ihres Eigentums. Im Übrigen zeigten die Bf. nicht, dass sie von anderen Personen verschieden behandelt worden wären, die einen identischen oder analogen Antrag einbrachten.

(81) Daraus folgt, dass diese Rügen offensichtlich unbegründet und [...] [als unzulässig] zurückzuweisen sind (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 39.000,– für immateriellen Schaden; € 5.000,– für Kosten und Auslagen, jeweils an die Bf. gemeinsam (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Vergauwen u.a./B v. 10.4.2012 (ZE)

Dhahbi/I v. 8.4.2014

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 21.7.2015, Bsw. 38369/09, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2015, 328) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/15_4/Schipani.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.