JudikaturJustizBsw36037/17

Bsw36037/17 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
02. März 2021

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache R. R. u.a. gg. Ungarn, Urteil vom 2.3.2021, Bsw. 36037/17.

Spruch

Art. 3 EMRK, Art. 5 Abs. 1 EMRK, Art. 5 Abs. 4 EMRK, Art. 13 EMRK, Art. 34 EMRK - Anhaltung einer Familie in Transitzone ohne Rücksicht auf Bedürfnisse der Kinder.

Zulässigkeit der Beschwerden (einstimmig).

Verletzung von Art. 3 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (6:1 Stimmen).

Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK (6:1 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Je € 4.500,– an den ErstBf. und die ZweitBf. sowie je € 6.500,– an die bf. Kinder für immateriellen Schaden; € 5.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die vorliegende Beschwerde betrifft eine fünfköpfige Familie mit iranisch-afghanischen Wurzeln. Die ZweitBf. (S. H.) floh mit ihren beiden aus erster Ehe stammenden Töchtern aus Afghanistan in den Iran, wo sie eine religiöse Ehe mit R. R. (dem ErstBf.) einging. Anfang 2016 verließ die Familie den Iran in Richtung Griechenland, wo sie getrennt wurden. R. R. wurde beim Versuch, die Grenze zu Österreich zu überqueren, in Ungarn festgenommen, woraufhin er internationalen Schutz beantragte. Am 21.3.2016 zog er den Antrag zurück, was die Einstellung des Verfahrens mit sich brachte. Nachdem er in Abschiebehaft genommen worden war, stellte er einen zweiten Asylantrag, verließ Ungarn jedoch vor Abschluss des Verfahrens. In weiterer Folge traf die Familie in Serbien wieder zusammen, wo sie mehrere Monate in unterschiedlichen Lagern lebte. Am 16.10.2016 kam das gemeinsame Kind von R. R. und S. H. in Serbien zur Welt.

Am 19.4.2017 reisten die Bf. an die ungarische Grenze, wo sie in der Transitzone Röszke Asyl beantragten. Noch am selben Tag ordnete die ungarische Asyl- und Einwanderungsbehörde die Unterbringung der Familie in der Transitzone an. (Anm: Diese Anordnung stützte sich auf § 80/J Abs. 5 des Asylgesetzes, wonach »das Gebiet der Transitzone für die Zeit bis zur Entscheidung über den Asylantrag von der Asylbehörde als Aufenthaltsort zu bestimmen ist.«)

Zunächst wurden der Familie Plätze in der Familienabteilung der Transitzone zugewiesen, wo es einen kleinen Spielplatz und andere Freizeitmöglichkeiten gab und Unterricht für die Kinder angeboten wurde. Ende Juni wurde die Familie wegen einer Hepatitis-Infektion in die Isolationsabteilung verlegt, wo sie keine Einrichtungen für Kinder benutzen konnte.

Der ErstBf. hatte keinen Anspruch auf materielle Versorgung, weil er bereits früher einen Asylantrag gestellt hatte. Daher wurde er zwar gemeinsam mit seiner Familie untergebracht, er erhielt jedoch keine Mahlzeiten, weshalb er auf die Unterstützung durch NGOs und andere Bewohner angewiesen war. Die übrigen Bf. erhielten Hygieneartikel und drei Mahlzeiten täglich sowie medizinische Versorgung. S. H. wurde aufgrund einer Schwangerschaft und wegen gesundheitlicher Probleme wiederholt in ein Krankenhaus gebracht.

Am 15.8.2017 wurde den Bf. die Einreise nach Ungarn und der vorübergehende Aufenthalt genehmigt. Die Anerkennung als Asylberechtigte oder subsidiär Schutzberechtigte wurde ihnen jedoch verwehrt. Aufgrund eines Rechtsmittels der Bf. erfolgte im September 2017 die Zuerkennung des Status als subsidiär Schutzberechtigte. In der Zwischenzeit hatten sie Ungarn jedoch bereits verlassen und sich nach Deutschland begeben, wo sie als Asylberechtigte anerkannt wurden.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupteten eine Verletzung von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung) alleine und iVm. Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz), Art. 5 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit) und Art. 34 EMRK (Individualbeschwerderecht).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK

(36) Die Bf. brachten vor, die Bedingungen ihrer Anhaltung in der Transitzone Röszke wären mit [...] Art. 3 EMRK unvereinbar gewesen [...].

Zulässigkeit

(39) [...] Das Vorbringen der Bf. unter Art. 3 EMRK hinsichtlich ihrer Lebensbedingungen in der Transitzone wirft komplexe Rechts- und Tatsachenfragen auf, deren Beantwortung eine Prüfung in der Sache erfordert.

(40) Folglich ist dieser Teil der Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...]. Er ist auch nicht aus einem anderen Grund unzulässig und muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Entscheidung in der Sache

Allgemeine Grundsätze

(48) [...] Eine Misshandlung muss ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um in den Anwendungsbereich von Art. 3 EMRK zu fallen. Die Einschätzung dieser Schwelle ist relativ und hängt von der Gesamtheit der Umstände des Einzelfalls ab [...]. Im Hinblick auf die Anhaltung und die Lebensbedingungen von Asylwerbern hat der GH die relevanten allgemeinen Grundsätze im Fall Khlaifia u.a./I zusammengefasst.

(49) Allerdings ist anzumerken, dass die Anhaltung von Minderjährigen in dieser Hinsicht besondere Fragen aufwirft, da Kinder – egal ob begleitet oder nicht – als besonders vulnerabel anzusehen sind und besondere Bedürfnisse haben, die insbesondere mit ihrem Alter und ihrer Abhängigkeit zusammenhängen, aber auch mit ihrem Status als Asylwerber. Art. 22 Abs. 1 der UN-Kinderrechtskonvention (KRK) fordert die Staaten dazu auf, angemessene Maßnahmen zu ergreifen um sicherzustellen, dass asylsuchende Kinder unabhängig davon, ob sie von ihren Eltern oder anderen begleitet werden, angemessenen Schutz und humanitäre Unterstützung erhalten. Auch die Richtlinien der EU über die Anhaltung von Migranten vertreten die Ansicht, dass Minderjährige [...] eine vulnerable Kategorie darstellen, die der besonderen Aufmerksamkeit der Behörden bedarf. In den vergangenen Jahren hat der GH in einigen Fällen untersucht, ob die Bedingungen, unter denen begleitete Minderjährige in Anhaltezentren für Migranten interniert waren, den Anforderungen von Art. 3 EMRK entsprachen. Er hat eine Verletzung dieser Bestimmung insbesondere aufgrund eines Zusammentreffens von drei Faktoren festgestellt: des jungen Alters des Kindes, der Dauer der Anhaltung und der Unangemessenheit der Einrichtungen für die Unterbringung von Kindern.

(50) [...] Aus Art. 3 EMRK kann keine generelle Verpflichtung abgeleitet werden, Flüchtlinge finanziell zu unterstützen, um ihnen einen gewissen Lebensstandard zu ermöglichen. Dennoch bekräftigt der GH, dass sich die Verantwortlichkeit des Staates nach Art. 3 EMRK für eine »Behandlung« ergeben kann, wenn sich ein Bf., der völlig von staatlicher Unterstützung abhängig ist und sich in einer ernsten, mit der Menschenwürde unvereinbaren Mangel- oder Notsituation befindet, mit staatlicher Gleichgültigkeit konfrontiert sieht.

Anwendung auf den vorliegenden Fall

(51) Die Lebensbedingungen [...] erwachsener Asylwerber in der Transitzone Röszke wurden vom GH bereits im Fall Ilias und Ahmed/H analysiert. Angesichts insbesondere der zufriedenstellenden materiellen Bedingungen in der Zone, der vergleichsweise kurzen Dauer des Aufenthalts der Bf. [...] und der Möglichkeit von Kontakten zu anderen Asylwerbern, Vertretern von UNHCR und NGOs sowie zu einem Anwalt kam er zu dem Ergebnis, dass die Bedingungen, unter denen die Bf. 23 Tage in der Transitzone Röszke verbracht hatten, nicht die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten.

(52) Die Lebensbedingungen in der Transitzone waren im Hinblick auf Unterbringung, Hygiene und Zugang zu Nahrung und medizinischer Versorgung generell für die kurzfristige Unterbringung von Asylwerbern annehmbar [...]. Allerdings unterschied sich die Situation der Bf. von jener im Fall Ilias und Ahmed/H, der erwachsene Asylwerber betraf, für deren Grundbedürfnisse von den ungarischen Behörden gesorgt wurde, durch den Status des ErstBf. als Folgeantragsteller, das junge Alter der bf. Kinder sowie die Schwangerschaft und die ernsten gesundheitlichen Probleme der bf. Mutter. [...]

Zum ErstBf.

(53) [...] Die Situation, in welcher sich der Bf. wiederfand, war besonders ernst. Auch wenn er eine Unterkunft hatte und über keine Schwierigkeiten beim Zugang zu medizinischer Versorgung berichtete, verbrachte er seinem Vorbringen zufolge beinahe vier Monate in einem Zustand extremer Armut, in dem er eines seiner grundlegenden Bedürfnisse – jenes nach Nahrung – nicht stillen konnte. Die Unterlagen geben keinen genauen Aufschluss darüber, welche Nahrungsmittel dem Bf. in der Transitzone Röszke wie oft zugänglich waren. Unbestritten ist allerdings, dass es die ungarischen Behörden ablehnten, ihn während seines Aufenthalts in der Zone mit kostenlosen Mahlzeiten zu versorgen.

(54) [...] Nach der AufnahmeRL (Anm: Richtlinie 2013/33/EU des Europñischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Neufassung), ABl. L 2013/180, 96.)

sind die Behörden grundsätzlich verpflichtet sicherzustellen, dass Asylwerber materiell versorgt werden. [...] Zur relevanten Zeit bearbeiteten die ungarischen Behörden den dritten Asylantrag des Bf., weshalb sie ihn als Folgeantragsteller betrachteten. Wie der GH in diesem Zusammenhang bemerkt, war Ungarn grundsätzlich berechtigt, die dem Bf. im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen einzuschränken oder zu entziehen, weil er einen Folgeantrag gestellt hatte (Art. 20 Abs. 1 lit. c AufnahmeRL). Allerdings hätte jede solche Entscheidung angesichts der für die ungarischen Behörden aus der RL erwachsenden Verpflichtungen eine Begründung für die Entziehung oder Einschränkung enthalten und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachten müssen (Art. 20 Abs. 5 AufnahmeRL). Der GH wurde nicht über irgendeine derartige Entscheidung [...] informiert.

(55) Der GH nimmt das Vorbringen der Regierung zur Kenntnis, wonach an die Angehörigen des ErstBf. genug haltbare Lebensmittel verteilt worden wären, die sie mit ihm teilen konnten; er mit der Unterstützung von Sozialarbeitern in der Zone Lebensmittel kaufen hätte können und sich wohltätige Organisationen um seine Grundbedürfnisse, einschließlich jenem nach Nahrung, gekümmert hätten. Der ErstBf. stellt dies in Abrede [...] und behauptet, die genannten Arrangements wären in der Praxis schwer zugänglich gewesen. Wie der UNHCR in seiner Stellungnahme als Drittbeteiligter bestätigte, war es Folgeantragstellern [...] zwar erlaubt, von gewissen wohltätigen Organisationen kalte Lebensmittelrationen zu erhalten, doch wurde eine solche Unterstützung nicht immer geliefert. Auch wenn sich NGOs tatsächlich um die essentiellen Bedürfnisse von Asylwerbern in der Transitzone gekümmert haben mögen, ist der GH besorgt über das scheinbare Fehlen jeglicher rechtlichen Vereinbarung oder Garantie zwischen der Regierung und den Organisationen, die angeblich in der Transitzone Nahrungsmittel verteilten [...]. Angesichts des [...] Fehlens genauer Angaben der Regierung über Qualität, Häufigkeit und Art der Versorgung des Bf. mit Lebensmitteln [...] müssen seine Behauptungen hinsichtlich der Verfügbarkeit von Nahrung in der Transitzone als ausreichend untermauert angesehen werden.

(56) Zudem kann der GH die Tatsache nicht außer Acht lassen, dass der Bf. die Transitzone nur Richtung Serbien verlassen hätte können und damit auf eine Prüfung seines Asylantrags in Ungarn verzichtet hätte. [...] Während er sich in der Transitzone Röszke aufhielt, war er hinsichtlich seiner grundlegendsten menschlichen Bedürfnisse völlig abhängig von den ungarischen Behörden und befand sich unter deren Kontrolle.

(57) [...] Die voranstehenden Überlegungen sind für den GH ausreichend um zu dem Schluss zu gelangen, dass sich der ErstBf. aufgrund der Versäumnisse der ungarischen Behörden, in der Transitzone seine Versorgung mit dem Nötigsten sicherzustellen, mehrere Monate lang in einer mit Art. 3 EMRK unvereinbaren Situation wiederfand.

Folglich hat eine Verletzung von Art. 3 EMRK stattgefunden (einstimmig).

Zur ZweitBf. und den bf. Kindern

(58) [...] Nach der AufnahmeRL sind die Behörden grundsätzlich verpflichtet, die spezielle Situation von Minderjährigen und Schwangeren zu berücksichtigen [...] und besondere Bedürfnisse zu ermitteln, die sich aus dieser Situation ergeben [...]. Auch nach dem ungarischen Asylgesetz haben Minderjährige und Schwangere, bei denen in einer individuellen Prüfung besondere Bedürfnisse festgestellt wurden, Anspruch auf bevorzugte Behandlung. Der GH kann die Einschätzung der nationalen Behörden über die Lage der Bf. [...] nicht durch seine eigene ersetzen. Er stellt jedoch fest, dass von den ungarischen Behörden anscheinend keine individuelle Einschätzung der besonderen Bedürfnisse der bf. Kinder oder der ZweitBf., die alle nach dem Unionsrecht als besonders schutzbedürftig angesehen wurden, vorgenommen wurde.

(59) [...] Die bf. Kinder, die sieben Monate, sechs Jahre bzw. sieben Jahre alt waren, wurden während ihres Aufenthalts in der Transitzone Röszke von ihren Eltern begleitet. Diese Tatsache kann jedoch den ungarischen Staat nicht von seiner Pflicht befreien, sie zu beschützen und im Rahmen seiner positiven Verpflichtungen nach Art. 3 EMRK angemessene Maßnahmen zu ergreifen.

(60) Was die physischen Bedingungen des Aufenthalts der Bf. in der Transitzone betrifft, bemerkt der GH, dass sie nach ihrer Ankunft am 19.4.2017 als Familie gemeinsam untergebracht wurden. [...] Auch wenn die Bf. uneingeschränkten Zugang zum Außenbereich und einem klimatisierten Gemeinschaftsraum hatten, wurde ihnen erst in der Isolationsabteilung ein Wohncontainer mit Klimaanlage zugewiesen. Der GH ist besorgt über die Behauptung der Bf., sie hätten im Wohncontainer in der Familienabteilung unter Hitze gelitten [...]. Er erinnert daran, dass das Leiden unter Hitze nicht unterschätzt werden darf, da solche Zustände das Wohlbefinden und unter extremen Bedingungen sogar die Gesundheit beeinträchtigen können. Dies ist daher ein Faktor, der bei der Gesamteinschätzung der Zustände in der Transitzone nicht ignoriert werden darf.

(61) Zur Geeignetheit der Anlage für Kinder bemerkt der GH, dass die Wohncontainer der Bf. [...] Möbel und Ausstattung zur Kinderpflege enthielten. Die Regierung brachte jedoch keine Belege vor, um die Behauptung der Bf. zu entkräften, die Betten wären für [...] Kinder ungeeignet gewesen. Überdies wurden [...] nach der Verlegung in die Isolationsabteilung keine Aktivitäten für Kinder organisiert und es gab keinen Zugang zu einem Spielplatz. [...] In dieser Abteilung hatten die Bf. einschließlich der Kinder keinen Kontakt zu anderen [...] Familien oder zu Vertretern von NGOs [...].

(62) Was die medizinische Versorgung betrifft, bemerkt der GH, dass die bf. Kinder und ihre Mutter bei mehreren Gelegenheiten (fach)ärztliche Behandlung [...] erhielten [...]. [...] Der GH sieht keinen Hinweis darauf, dass die Sprachbarriere den effektiven Zugang zu einer Behandlung [...] behindert hätte. Was er jedoch befremdlich findet, ist das Fehlen einer medizinischen Dokumentation über das jüngste Kind und die unbestrittene Behauptung [...], die vom Bericht des CPT bestätigt wird, dass es nicht die empfohlenen Impfungen erhielt. Er anerkennt auch, dass die medizinische Behandlung außerhalb der Zone in Anwesenheit (männlicher) Polizisten einen gewissen Grad des Unbehagens bei den Bf. auslösen musste, insbesondere während der gynäkologischen Untersuchungen der ZweitBf.

(63) Bedenklich ist für den GH auch, dass traumatisierten Asylwerbern [...] in der Transitzone keine professionelle psychologische Unterstützung zur Verfügung stand. [...] Die ZweitBf. litt lange Zeit an psychischen Problemen wegen eines in Afghanistan erlittenen Traumas [...], erhielt aber in der Transitzone keine psychologische oder psychiatrische Behandlung. [...] Überdies müssen die an ein Gefängnis erinnernden Merkmale selbst in dem für Familien bestimmten Teil der Transitzone bei den bf. Kindern Angst und psychische Verstörung ausgelöst haben. Die Situation muss zudem in den Augen der Kinder eine Herabsetzung des Bildes von ihren Eltern bewirkt haben. So wurden die Bf., einschließlich der Kinder, beispielsweise von Wachen begleitet, wenn sie sich zwischen den Abteilungen bewegten, selbst wenn dies nur medizinischen Untersuchungen diente, und von bewaffneten Polizisten, wenn sie die Zone verlassen mussten. Außerdem wurden sie regelmäßigen Sicherheitskontrollen unterzogen.

(64) Zuletzt nimmt der GH die Dauer des Aufenthalts der Bf. zur Kenntnis. Sie wurden drei Monate und 27 Tage in der Transitzone Röszke angehalten. Das CPT sprach in seinem Bericht die Situation von Familien mit Kindern in der Transitzone an und stellte fest, dass die dortigen Lebensbedingungen nicht für eine längere Dauer angemessen waren [...]. Der GH ist der Ansicht, dass die oben geschilderten Bedingungen, abhängig von den Umständen des Falls, die für die Anwendbarkeit von Art. 3 EMRK erforderliche Schwelle nicht überschreiten mögen, wenn die Anhaltung von kurzer Dauer ist. Im Fall einer längeren Dauer führt ihre Wiederholung und ihr Zusammenwirken notwendigerweise zu schädlichen Folgen für jene, die ihnen ausgesetzt sind. Er erinnert an die Bedeutung des Verstreichens von Zeit für die Anwendbarkeit von Art. 3 EMRK.

(65) Angesichts des jungen Alters der bf. Kinder, der Schwangerschaft und des Gesundheitszustands der bf. Mutter und der Dauer des Aufenthalts der Bf. in der Transitzone unter den oben dargelegten Bedingungen, stellt der GH fest, dass die in Beschwerde gezogene Situation die bf. Kinder und die bf. Mutter einer Behandlung unterwarf, die die für die Anwendbarkeit von Art. 3 EMRK erforderliche Schwelle überschritt. Folglich hat im Bezug auf die bf. Kinder und die bf. Mutter eine Verletzung von Art. 3 EMRK stattgefunden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 iVm. Art. 3 EMRK

(66) Die Bf. behaupteten, es wäre ihnen kein effektiver Rechtsbehelf zur Verfügung gestanden, um sich über ihre Lebensbedingungen in der Transitzone zu beschweren. [...]

(68) Der GH hat die Beschwerde [...] unter Art. 3 EMRK im Hinblick auf die Anhaltebedingungen für zulässig erklärt und eine Verletzung dieser Bestimmung festgestellt. Die fraglichen Behauptungen sind daher im Hinblick auf Art. 13 EMRK »vertretbar« und die Beschwerde unter Art. 13 EMRK muss für zulässig erklärt werden (einstimmig).

(69) Angesichts der Feststellung einer Verletzung von Art. 3 EMRK und der Tatsache, dass die behaupteten prozessualen Versäumnisse unter diesem Artikel ausreichend geprüft wurden, erachtet der GH eine gesonderte Prüfung der Beschwerde unter Art. 13 EMRK nicht für notwendig (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK

(70) Die Bf. behaupteten, ihre Anhaltung in der Transitzone hätte gegen Art. 5 Abs. 1 EMRK verstoßen [...].

Zulässigkeit

(74) Der GH erinnert an die Faktoren, welche er bei der Unterscheidung zwischen einer Einschränkung der Bewegungsfreiheit und einer Freiheitsentziehung im Kontext der Anhaltung von Fremden in Transitzonen und Aufnahmezentren zur Identifikation und Registrierung von Migranten angewendet hat: (i) die individuelle Situation und die Entscheidungen der Bf.; (ii) das anwendbare rechtliche Regime des jeweiligen Staats und dessen Zweck; (iii) die Dauer, insbesondere im Licht des Zwecks und des verfahrensrechtlichen Schutzes, den die Bf. während der Ereignisse genossen; und (iv) die Art und den Grad der tatsächlichen Einschränkungen, die den Bf. auferlegt oder von ihnen erlebt wurden. Er ruft weiters in Erinnerung, dass die GK im Fall Ilias und Ahmed/H eine vergleichbare Beschwerde prüfte und feststellte, dass der 23-tägige Aufenthalt der Bf. in der Transitzone Röszke keine de facto-Freiheitsentziehung darstellte und Art. 5 EMRK folglich nicht anwendbar war. Der GH muss nun prüfen, ob die Anwendung der oben dargelegten Faktoren auf die spezifische Situation der Bf. im vorliegenden Fall eine andere Schlussfolgerung verlangt.

Die individuelle Situation und die Entscheidungen der Bf.

(75) Im Hinblick auf die Änderung des geltenden rechtlichen Regimes hinsichtlich des Umstands, dass die Bf. einen Asylantrag nur in der Transitzone stellen konnten, bleibt es nach Ansicht des GH eine Tatsache, dass sich die Bf. aus eigenem Antrieb mit dem Ziel in die Transitzone Röszke begaben, in Ungarn um Asyl zu ersuchen. Angesichts der bekannten Fakten über die Bf. und ihre jeweiligen Fluchtrouten bemerkt er insbesondere, dass sie in Serbien mehrere Monate warteten, bevor sie die Grenze aufgrund ihrer freien Entscheidung und nicht wegen einer direkten und unmittelbaren Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Gesundheit in diesem Land überquerten. Klar ist auch, dass die ungarischen Behörden berechtigt waren, die notwendigen Überprüfungen durchzuführen und ihre Behauptungen zu beurteilen, bevor sie über ihre Aufnahme entschieden.

Das anwendbare rechtliche Regime, sein Zweck und die relevante Dauer

(76) Der Zweck des innerstaatlichen Rechts betreffend die Transitzone Röszke bestand darin, eine Wartezone für die Zeit einzurichten, während der die Behörden über die formale Aufnahme von Asylwerbern in Ungarn entschieden. Die Bf. blieben in der Transitzone, weil sie den Ausgang ihres Asylverfahrens abwarteten.

(77) [...] Das Recht der Staaten, die Einreise von Fremden in ihr Hoheitsgebiet zu kontrollieren, bringt mit sich, dass die Genehmigung der Einreise von der Erfüllung gewisser Anforderungen abhängen kann. Die Situation einer Person, die die Einreise beantragt und kurze Zeit auf die Überprüfung ihres Rechts auf Einreise wartet, kann daher – solange keine anderen entscheidenden Faktoren hinzutreten – nicht als eine dem Staat zurechenbare Freiheitsentziehung angesehen werden, da die staatlichen Behörden in solchen Fällen gegenüber der betroffenen Person keine anderen Schritte gesetzt haben, als auf ihren Wunsch auf Einreise zu reagieren, indem sie die nötigen Überprüfungen durchführen.

(78) [...] Solange der Aufenthalt der Bf. in der Transitzone die für die Prüfung eines Asylantrags erforderliche Zeit nicht erheblich überschreitet und keine außergewöhnlichen Umstände vorliegen, sollte die Dauer als solche die Analyse der Anwendbarkeit von Art. 5 EMRK durch den GH nicht entscheidend beeinflussen. Dies gilt insbesondere, wenn die Personen [...] in den Genuss von Verfahrensrechten und Garantien gegen eine unverhältnismäßige Wartezeit kommen. Das Bestehen innerstaatlicher Bestimmungen, die die Aufenthaltsdauer in der Transitzone begrenzen, ist in dieser Hinsicht von besonderer Bedeutung.

(79) Anders als [...] im Fall Ilias und Ahmed/H war die Vorschrift, die den Aufenthalt eines Asylwerbers in der Transitzone mit maximal vier Wochen beschränkte, im vorliegenden Fall nicht anwendbar. Die Regierung konnte auf keine andere innerstaatliche Bestimmung verweisen, mit der die Aufenthaltsdauer der Bf. in der Transitzone begrenzt worden wäre. Außerdem [...] wurden im vorliegenden Fall die Fristen für die Erledigung eines Asylantrags (60 Tage für die Entscheidung erster Instanz) nicht eingehalten.

(80) Wie der GH zudem feststellt, war die Bearbeitung der Asylanträge der Bf. alles andere als zügig, verbrachten die Bf. doch beinahe vier Monate in der Transitzone, während sie auf den Abschluss ihres Asylverfahrens warteten. Er nimmt insbesondere die Verzögerung von beinahe zwei Monaten zur Kenntnis, zu der es im Zusammenhang mit der Einholung eines Gutachtens über die Heiratsurkunde der Bf. und einem DNA-Test kam, der erst zwei Monate nach Beginn ihrer Unterbringung in der Transitzone angeordnet worden war. Selbst wenn die Asylbehörde berechtigt war, Maßnahmen zu ergreifen, um das Bestehen familiärer Beziehungen zwischen den Bf. zu überprüfen, kann der GH vor diesem Hintergrund nicht akzeptieren, dass die Situation der Bf. nicht von einer Untätigkeit oder einer fehlenden Sorgfalt der ungarischen Behörden beeinflusst worden wäre. Der GH möchte hinzufügen, dass es keinen Hinweis darauf gibt [...], dass die Bf. die geltenden Bestimmungen nicht befolgt oder [...] die Prüfung ihres Asylantrags erschwert hätten.

Art und Grad der tatsächlichen Einschränkungen

(81) Während es den Bf. nicht gestattet war, die Transitzone Röszke in Richtung des übrigen Territoriums Ungarns zu verlassen, hätten sie sie jederzeit in Richtung Serbien verlassen können. Der GH bekräftigt in diesem Zusammenhang, dass das Risiko einer Verwirkung der Behandlung der Asylanträge der Bf. in Ungarn in Verbindung mit ihren Befürchtungen hinsichtlich eines unzureichenden Zugangs zum Asylverfahren in Serbien die Möglichkeit, die Transitzone in Richtung Serbien zu verlassen, nicht zu einer bloß theoretischen machte. Sie bewirkten daher aus dem Blickwinkel von Art. 5 EMRK nicht die Unfreiwilligkeit des Aufenthalts der Bf. in der Transitzone und konnten folglich für sich alleine nicht die Anwendbarkeit dieser Bestimmung auslösen.

(82) Was die Bedingungen betrifft, unter denen die Bf. in der Transitzone lebten, bemerkt der GH, dass [...] die Größe der Zone und die Art, wie sie überwacht wurde, dazu führte, dass die Bewegungsfreiheit der Bf. in einem sehr erheblichen Grad und in einer Weise eingeschränkt wurde, die jener in bestimmten Arten von Hafteinrichtungen [...] entspricht. In diesem Kontext kann der GH die Tatsache nicht außer Acht lassen, dass die Bf. eineinhalb Monate in der Isolationsabteilung der Transitzone verbrachten, in der [...] noch strengere Bedingungen herrschten. Der GH verweist auch auf seine Feststellung einer Verletzung von Art. 3 EMRK durch diese Bedingungen.

Schlussfolgerung zur Anwendbarkeit von Art. 5 EMRK

(83) Angesichts der obigen Überlegungen, insbesondere des Fehlens jeglicher innerstaatlichen Bestimmung über die Höchstdauer des Aufenthalts der Bf., dessen übermäßiger Dauer und der erheblichen Verzögerungen bei der innerstaatlichen Prüfung der Asylanträge der Bf. sowie der Bedingungen, unter denen die Bf. während dieser Zeit angehalten wurden, stellt der GH fest, dass der Aufenthalt der Bf. in der Transitzone unter den Umständen des vorliegenden Falls einer de facto-Entziehung der persönlichen Freiheit entsprach. Art. 5 Abs. 1 EMRK ist daher anwendbar.

(84) Folglich ist dieser Teil der Beschwerde nicht ratione materiae unvereinbar mit der Konvention. Er ist auch nicht offensichtlich unbegründet [...] oder aus einem anderen Grund unzulässig. Daher muss er für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Entscheidung in der Sache

(89) [...] Die Anhaltung der Bf. in der Transitzone dauerte von 19.4. bis 15.8.2017, also drei Monate und 27 Tage. Nach Angaben der Regierung bildete § 80/J des Asylgesetzes die rechtliche Grundlage der Maßnahme. Diese Bestimmung sieht vor, dass Asylanträge mit gewissen Ausnahmen nur in der Transitzone gestellt werden können und Asylwerber in dieser warten müssen, bis eine rechtskräftige Entscheidung über ihren Antrag getroffen wird. Der GH kann in dieser Bestimmung weder einen Verweis auf die Möglichkeit der Anhaltung in der Transitzone finden noch einen Hinweis auf die maximale Dauer der Anhaltung von Asylwerbern in der Zone. Folglich kommt er zum Schluss, dass es im vorliegenden Fall keine genau definierte gesetzliche Grundlage für die Anhaltung der Bf. gab.

(90) Der GH stellt weiters fest, dass die Anhaltung der Bf. de facto erfolgte, das heißt in Form praktischer Verfügungen. Die ungarischen Behörden erließen keine förmliche Entscheidung von rechtlicher Bedeutung, die eine Begründung für die Freiheitsentziehung einschließlich einer individuellen Einschätzung und einer Berücksichtigung möglicher gelinderer Alternativen [...] enthalten hätte.

(91) Es mag sein, dass die Motive für die Freiheitsentziehung der Bf. tatsächlich jene waren, auf welche die Regierung im Kontext von Art. 5 Abs. 1 lit. f EMRK verwiesen hat. Dies ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass den Bf. die Freiheit ohne eine förmliche Entscheidung der Behörden und nur aufgrund einer übermäßig weiten Auslegung einer allgemeinen rechtlichen Bestimmung entzogen wurde. Eine solche Vorgangsweise entspricht nach Ansicht des GH nicht den in seiner Rechtsprechung dargelegten Anforderungen.

(92) Folglich kann die Freiheitsentziehung [...] nicht als »rechtmäßig« iSv. Art. 5 Abs. 1 EMRK angesehen werden. Daher hat eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK stattgefunden (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richterin Mourou-Vikström).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK

(93) Die Bf. brachten weiters vor, es hätte keine richterliche Überprüfung ihrer Freiheitsentziehung in der Transitzone gegeben [...].

Zulässigkeit

(94) [...] Dieser Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet [...] noch aus einem anderen Grund unzulässig. Er muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

(97) Der GH erinnert an seine obige Feststellung, wonach die Freiheitsentziehung der Bf. eine de facto-Maßnahme darstellte, die auf keiner sich spezifisch auf die Frage der Freiheitsentziehung beziehenden Entscheidung beruhte. [...] Die Bf. konnten somit keine richterliche Überprüfung ihrer Freiheitsentziehung in der Transitzone beantragen [...].

(98) Der GH muss daher zu dem Schluss gelangen, dass den Bf. kein Verfahren zur Verfügung stand, in dem rasch von einem Gericht über die Rechtmäßigkeit ihrer Freiheitsentziehung entschieden hätte werden können.

(99) Folglich hat eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK stattgefunden (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richterin Mourou-Vikström).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 34 EMRK

(100) Die Bf. brachten [...] vor, die Behörden hätten es verabsäumt, der vom GH am 19.5.2017 empfohlenen vorläufigen Maßnahme zu entsprechen. [...]

(102) [...] Am 19.5.2017 erließ der GH eine erste Empfehlung gemäß Art. 39 VerfO [...], womit er die ungarische Regierung aufforderte, »die Bf. so schnell wie möglich in einer Umgebung unterzubringen, die den Anforderungen des Art. 3 EMRK entspricht [...].«

(106) Das Vorbringen der Bf. unter Art. 34 EMRK betrifft im Ergebnis die Verpflichtungen des Staates gemäß Art. 3 EMRK. Die Frage, ob die Regierung der vorläufigen Maßnahme entsprochen hat, hängt daher eng mit der Prüfung des Vorbringens der Bf. unter dieser Bestimmung zusammen.

(107) [...] Der GH ist der Ansicht, dass er die rechtliche Hauptfrage im Hinblick auf die Situation der Bf. in der Transitzone bereits geprüft hat und es nicht erforderlich ist, gesondert über das Vorbringen unter Art. 34 EMRK zu entscheiden (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

Je € 4.500,– an den ErstBf. und die ZweitBf. sowie je € 6.500,– an die bf. Kinder für immateriellen Schaden; € 5.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Muskhadzhiyeva u.a./B v. 19.1.2010 = NLMR 2010, 34

M. S. S./B und GR v. 21.1.2011 (GK) = NLMR 2011, 26 = EuGRZ 2011, 243

Popov/F v. 19.1.2012 = NLMR 2012, 31

A. B. u.a./F v. 12.7.2016 = NLMR 2016, 328

Khlaifia u.a./I v. 15.12.2016 (GK) = NLMR 2016, 511

S. F. u.a./BG v. 7.12.2017 = NLMR 2017, 534

Ilias und Ahmed/H v. 21.11.2019 (GK) = NLMR 2019, 474

Z. A. u.a./RUS v. 21.11.2019 (GK) = NLMR 2019, 483

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 2.3.2021, Bsw. 36037/17, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2021, 134) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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