JudikaturJustizBsw3599/18

Bsw3599/18 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
05. Mai 2020

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache M. N. u.a. gg. Belgien, Zulässigkeitsentscheidung vom 5.5.2020, Bsw. 3599/18.

Spruch

Art. 1 EMRK, Art. 3 EMRK, Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 13 EMRK - Anwendung der EMRK auf Visaanträge bei Botschaften oder Konsulaten.

Unzulässigkeit der Beschwerde (mehrheitlich).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Bei den Bf. handelt es sich um ein syrisches Ehepaar und dessen beiden minderjährigen Kinder.

Am 22.8.2016 reiste das Ehepaar in Begleitung eines seiner Kinder zur belgischen Botschaft in Beirut, um Visa mit begrenzter territorialer Gültigkeit auf der Grundlage von Art. 25 des Visakodex für sich und ihre beiden Kinder zu beantragen. In Bezug auf die zwingenden humanitären Gründe, die für die Anwendung dieser Bestimmung erforderlich sind, gaben die Bf. an, dass sie sich sowohl hinsichtlich der Sicherheit als auch der Lebensbedingungen aufgrund des bewaffneten Konflikts in Syrien und insbesondere des intensiven Bombardements von Aleppo in einer absoluten Notsituation befänden. Aufgrund dessen wollten sie Aleppo verlassen, um nach Belgien zu reisen und dort Asyl zu beantragen.

Das Ausländeramt als für die Erteilung von Visa zuständige Verwaltungsbehörde lehnte die Ausstellung von »humanitären Visa« für die Bf. in der Folge mehrmals (insbesondere auch mit einer Entscheidung vom 17.10.2016) ab und informierte sie darüber per E-Mail über die belgische Botschaft in Beirut.

Die Bf. wandten sich gegen diese Entscheidungen an die Ausländerbeschwerdekammer – die gerichtliche Beschwerdestelle gegen Entscheidungen des Ausländeramtes – und beantragten die Aussetzung ihrer Vollstreckung.

Mit Urteil vom 20.10.2016 ordnete die Ausländerbeschwerdekammer die Aussetzung der Vollstreckung der ablehnenden Entscheidung vom 17.10.2016 an und wies den Staat an, den Bf. binnen 48 Stunden für drei Monate gültige Passierscheine bzw. entsprechende Visa auszustellen.

Die Bf. wandten sich anschließend an die ordentlichen Gerichte, um die Vollstreckung des Urteils der Ausländerbeschwerdekammer vom 20.10.2016 zu erwirken. In seinem Urteil vom 7.12.2016 ordnete das Brüsseler Berufungsgericht an, dass der belgische Staat das Urteil der Ausländerbeschwerdekammer vom 20.10.2016 zu vollstrecken habe, und verhängte für den Fall der Nichtvollstreckung ein Zwangsgeld. Dennoch erhielten die Bf. bislang keine Aufenthaltsgenehmigung für Belgien.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. rügten, dass die Weigerung der belgischen Behörden, ihnen sogenannte »humanitäre« Visa auszustellen, sie einer Situation ausgesetzt habe, die mit Art. 3 EMRK (Verbot der Folter und unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung) unvereinbar sei, ohne dass sie zudem über die Möglichkeit einer wirksamen Beschwerde gemäß Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde) verfügt hätten, mit der sie diesbezüglich Abhilfe schaffen hätten können.

Ferner machten die Bf. eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und Art. 13 EMRK geltend, da es ihnen unmöglich war, die Vollstreckung des Urteils des Brüsseler Berufungsgerichts vom 7.12.2016 weiterzuverfolgen, welches dem belgischen Staat gegenüber anordnete, das Urteil der Ausländerbeschwerdekammer vom 20.10.2016 zu vollstrecken.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 und Art. 13 EMRK

(78) Die belangte Regierung machte geltend, die Beschwerden seien hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 3 und Art. 13 EMRK ratione loci unzulässig, da die Bf. nicht unter ihre Hoheitsgewalt iSv. Art. 1 EMRK fielen [...].

Zusammenfassung der anzuwendenden Rechtsprechung

(96) Der GH wiederholt, dass Art. 1 EMRK den Geltungsbereich der Konvention auf »Personen« beschränkt, die unter die »Hoheitsgewalt« der Vertragsstaaten fallen.

(101) Als eine Ausnahme vom Territorialitätsprinzip können Handlungen der Vertragsstaaten, die außerhalb ihres Hoheitsgebiets durchgeführt werden oder Auswirkungen haben, eine Ausübung der Hoheitsgewalt iSv. Art. 1 EMRK darstellen. Dies gilt als herrschende Rechtsprechung.

(102) In jedem Fall prüfte der GH unter Bezugnahme auf die spezifischen Tatsachen, ob außergewöhnliche Umstände vorlagen, die eine Feststellung rechtfertigten, dass der betreffende Staat die Hoheitsgewalt extraterritorial ausübte.

(103) Eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass die Hoheitsgewalt nach Art. 1 EMRK auf das eigene Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats beschränkt ist, liegt vor, wenn dieser Staat eine wirksame Kontrolle über ein Gebiet außerhalb seines Staatsgebiets ausübt. Die Verpflichtung zur Sicherung der in der Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten in einem solchen Gebiet ergibt sich aus der Tatsache, dass eine solche Kontrolle direkt, durch die eigenen Streitkräfte des Vertragsstaats oder durch eine untergeordnete lokale Verwaltung ausgeübt wird.

(105) Darüber hinaus kann die Anwendung von Macht durch Organe eines Staates, die außerhalb seines Hoheitsgebiets tätig sind, Personen, die sich dadurch unter der Kontrolle der staatlichen Behörden befinden, unter bestimmten Umständen in die Hoheitsgewalt dieses Staates iSv. Art. 1 EMRK bringen. Die gleiche Schlussfolgerung wurde gezogen, wenn eine Person im Ausland in die Obhut staatlicher Organe genommen wird. Ebenso wurde die extraterritoriale Hoheitsgewalt als Ergebnis von Situationen anerkannt, in denen die Beamten eines außerhalb seines Hoheitsgebiets tätigen Staates durch Kontrolle über Gebäude, Flugzeuge oder Schiffe, in denen Personen festgehalten wurden, Macht und physische Kontrolle über diese Personen ausübten.

(106) Wie der GH im Urteil Al-Skeini u.a./GB bekräftigt hat, kann sich die Hoheitsgewalt eines Vertragsstaats aus den Handlungen oder Unterlassungen seiner diplomatischen oder konsularischen Beamten ergeben, wenn sie im Ausland in ihrer offiziellen Eigenschaft ihre Befugnisse in Bezug auf Staatsangehörige dieses Staates oder deren Eigentum ausüben (siehe die Entscheidungen der EKMR in X./D, X./GB und S./D), oder wenn sie physische Macht und Kontrolle über bestimmte Personen ausüben (siehe die Entscheidungen der EKMR in M./DK).

Anwendung im vorliegenden Fall

(110) Der GH stellt zunächst fest, dass die angefochtenen Entscheidungen von den belgischen Behörden in Belgien getroffen wurden. Sie wurden als Antwort auf Visaanträge erlassen, die von den Bf. bei den konsularischen Diensten der belgischen Botschaft in Beirut eingereicht worden waren, um eine Einreisegenehmigung für Belgien zu erhalten, damit sie in diesem Land Asyl beantragen und einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung entgehen konnten, der sie in Aleppo angeblich ausgesetzt gewesen wären. Die Entscheidungen, die die Ausstellung der beantragten Visa verweigerten, wurden später durch die konsularischen Dienste der Botschaft weitergeleitet, die die Bf. benachrichtigten.

(111) Die Bf. haben vorgebracht, dass sich die Frage der »Hoheitsgewalt« iSv. Art. 1 EMRK im vorliegenden Fall nicht nur aus dem extraterritorialen Geltungsbereich der angefochtenen Entscheidungen ergibt. Ihrer Ansicht nach hätten die belgischen Behörden bei der Bearbeitung ihrer Visaanträge über die Frage der Bedingungen für die Einreise in das Staatsgebiet entschieden. Dabei hätten diese Behörden nationale Entscheidungen in Bezug auf die Bf. getroffen und sie somit unter die belgische Hoheitsgewalt gebracht.

(112) Der GH akzeptiert, dass die belgischen Behörden bei der Entscheidung über die Visaanträge der Bf. Entscheidungen über die Bedingungen für die Einreise in das belgische »Hoheitsgebiet« getroffen und damit eine öffentliche Befugnis ausgeübt haben. Diese Feststellung allein reicht jedoch nicht aus, um die Bf. unter die »territoriale« Hoheitsgewalt Belgiens iSv. Art. 1 EMRK zu bringen. Die bloße Tatsache, dass auf nationaler Ebene getroffene Entscheidungen Auswirkungen auf die Situation der im Ausland ansässigen Personen hatten, begründet auch nicht die Hoheitsgewalt des betreffenden Staates für diese Personen außerhalb seines Hoheitsgebiets.

(113) Um festzustellen, ob die Konvention auf den vorliegenden Fall anwendbar ist, muss der GH prüfen, ob außergewöhnliche Umstände vorliegen, die zu dem Schluss führen könnten, dass Belgien in Bezug auf die Bf. extraterritoriale Hoheitsgewalt ausübte. Es handelt sich in erster Linie um eine Tatsachenfrage, die es erforderlich macht, die Art der Verbindung zwischen den Bf. und dem belangten Staat zu untersuchen und festzustellen, ob dieser tatsächlich Macht oder Kontrolle über sie ausübte.

(114) In diesem Zusammenhang ist es unerheblich, dass die diplomatischen Vertreter im vorliegenden Fall lediglich eine Rolle als »Briefkasten« innehatten, oder festzustellen, wer für das Fällen von Entscheidungen verantwortlich war – die belgischen Behörden im Inland oder die diplomatischen Vertreter im Ausland.

(115) Zu Beginn befindet der GH, dass sich die Bf. nie auf belgischem Staatsgebiet befunden haben und auch nicht behaupten, bereits bestehende familiäre oder private Beziehungen zu diesem Land zu unterhalten.

(116) Ferner wird nicht behauptet, dass die Verbindung im Hinblick auf die Hoheitsgewalt aus einer Kontrolle resultierte, die von den belgischen Behörden auf syrischem oder libanesischem Gebiet ausgeübt wurde.

(117) Die Bf. bestreiten das Ergebnis der Verfahren zur Prüfung ihrer Visaanträge und nicht die Handlungen oder Unterlassungen der diplomatischen Vertreter der belgischen Botschaft in Beirut. Dennoch betrachten sie die konsularischen Funktionen zur Entgegennahme und zur Ausstellung von Visa als eine Form der Kontrolle oder Autorität, die ihnen gegenüber mit dem Vorrecht einer Behörde ausgeübt wurde, und versuchen auf dieser Grundlage Unterstützung in der Rechtsprechung der EKMR zu finden, welche die Ausübung der extraterritorialen Hoheitsgewalt als Folge der Handlungen und Unterlassungen von diplomatischen Vertretern anerkannte.

(118) In diesem Zusammenhang akzeptiert der GH das Argument der belangten Regierung [...], dass keiner der in Rn. 106 genannten Präzedenzfälle der Rechtsprechung auf den vorliegenden Fall anwendbar ist, da dieser keines der Verbindungsglieder enthält, die die oben genannten Fälle charakterisierten. Erstens sind die Bf. keine belgischen Staatsangehörigen, die vom Schutz ihrer Botschaft profitieren möchten. Zweitens übten die diplomatischen Vertreter zu keinem Zeitpunkt de facto Kontrolle über die Bf. aus. Letztere entschieden sich frei, bei der belgischen Botschaft in Beirut vorstellig zu werden und dort ihre Visaanträge einzureichen. Tatsächlich hätten sie sich dazu entscheiden können, sich an jede andere Botschaft zu wenden. Es stand ihnen sodann frei, die Räumlichkeiten der belgischen Botschaft ungehindert zu verlassen.

(119) Auch unter der Annahme, dass alternativ mit der vom belgischen Staat ausgeübten Verwaltungskontrolle über die Räumlichkeiten seiner Botschaften argumentiert werden kann, weist die vorstehende Rechtsprechung (Rn. 105) darauf hin, dass dieses Kriterium nicht ausreicht, um jede Person, die diese Räumlichkeiten betritt, in die Hoheitsgewalt Belgiens zu bringen.

(120) Im Übrigen betont der GH [...], dass sich der vorliegende Fall grundlegend von den zahlreichen Ausweisungsfällen unterscheidet, die er seit dem Urteil Soering/GB geprüft und in denen er festgestellt hat, dass eine Verantwortung des Vertragsstaates gemäß Art. 3 EMRK einsetzen konnte, wenn die Entscheidung eines Staates, eine Person auszuweisen, sie einem echten Risiko aussetzt, im Bestimmungsland einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung unterworfen zu werden. Im Gegensatz zu den Bf. befinden sich Personen in Fällen, in denen sie aus dem Hoheitsgebiet eines Staates verwiesen werden, theoretisch im Hoheitsgebiet des betreffenden Staates oder an dessen Grenze, und fallen somit eindeutig in seine Hoheitsgewalt.

(121) Schließlich machen die Bf. geltend, sie hätten sich unter die »Hoheitsgewalt« des belgischen Staates begeben, indem sie ein Verfahren auf innerstaatlicher Ebene eingeleitet hätten, um ihre Einreise nach Belgien zu sichern, und dass die zuständigen nationalen Stellen im Verlauf dieses Verfahrens ihre vollständige und absolute Autorität ausgeübt hätten. Der GH hat dieses Argument bereits insoweit zurückgewiesen, als dadurch versucht wurde, gegenüber den Bf. eine territoriale Zuständigkeit von Seiten Belgiens zu begründen. Es muss jedoch noch festgestellt werden, ob die Tatsache, dass auf nationaler Ebene ein Verfahren eingeleitet wurde, einen außergewöhnlichen Umstand schaffen konnte, der ausreichte, um einseitig eine extraterritoriale Verbindung im Hinblick auf die Hoheitsgewalt zwischen den Bf. und Belgien iSv. Art. 1 EMRK herzustellen.

(122) Nach Ansicht des GH wird dieser Ansatz von der Rechtsprechung nicht unterstützt. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass im […] Fall Markovic u.a./I die [...] Rügen der Bf. unter den Bestimmungen der Konvention – mit Ausnahme jener unter Art. 6 EMRK – aufgrund fehlender Hoheitsgewalt für unzulässig erklärt wurden. Auch kann das Verfahren, das zur Zuständigkeit der Türkei im […] Fall Güzelyurtlu u.a./CY und TR führte, nicht mit dem Verwaltungsverfahren verglichen werden, das die Bf. im vorliegenden Fall eingeleitet haben. Das einschlägige Verfahren im Fall Güzelyurtlu u.a./CY und TR, welches eine Verbindung zur Türkei im Hinblick auf die Hoheitsgewalt herstellte, war ein Strafverfahren, das auf Initiative der türkischen Behörden (die die Kontrolle über die »Türkische Republik Nordzypern« hatten) eröffnet wurde. Das Verfahren entsprach somit einer Handlung eines Vertragsstaates im Rahmen seiner Verfahrenspflichten nach Art. 2 EMRK. Dies unterscheidet sich stark von Verwaltungsverfahren, die auf Initiative von Privatpersonen eingeleitet wurden, die – mit Ausnahme des Verfahrens, das sie selbst freiwillig eingeleitet haben – keine Verbindung zum betreffenden Staat aufweisen und denen die Wahl dieses Staates [...] durch keine vertragliche Verpflichtung auferlegt wird.

(123) Im Gegensatz dazu werden die Ausführungen der belangten Regierung und der drittbeteiligten Regierungen von der Entscheidung im Fall Abdul Wahab Khan/GB gestützt. Der GH hat in dieser Entscheidung klargestellt, dass die bloße Tatsache, dass ein Bf. ein Verfahren in einem Vertragsstaat einleitet, mit dem er keine Verbindung hat, nicht ausreichen kann, um die Hoheitsgewalt dieses Staates über ihn zu begründen. Der GH ist der Ansicht, eine andere Feststellung würde eine nahezu universelle Anwendung der Konvention auf der Grundlage von einseitigen Entscheidungen eines Einzelnen verankern, unabhängig davon, wo auf der Welt sich dieser befindet, und daher eine unbegrenzte Verpflichtung für die Vertragsstaaten schaffen, die Einreise einer Person zuzulassen, bei der außerhalb ihrer Hoheitsgewalt das Risiko einer Misshandlung besteht, die gegen die Konvention verstößt. Wenn die Tatsache, dass ein Vertragsstaat über einen Einwanderungsantrag entscheidet, ausreicht, um die Person, die den Antrag stellt, unter seine Hoheitsgewalt zu bringen, würde genau eine solche Verpflichtung geschaffen werden. Die betroffene Person könnte durch Einreichung eines Antrags eine Verbindung im Hinblick auf die Hoheitsgewalt herstellen und so in bestimmten Szenarien eine Verpflichtung nach Art. 3 EMRK hervorrufen, die ansonsten nicht existieren würde.

(124) Eine solche Ausweitung des Anwendungsbereichs der Konvention hätte auch zur Folge, dass der vom GH anerkannte allgemeine Grundsatz des Völkerrechts negiert wird, wonach die Vertragsstaaten gemäß ihren vertraglichen Verpflichtungen – einschließlich jenen aus der Konvention – das Recht auf Kontrolle der Einreise, des Aufenthalts und der Ausweisung von Ausländern haben. In diesem Kontext stellt der GH fest, dass der EuGH in einem ähnlichen Fall wie dem vorliegenden entschieden hat, dass die Ausstellung von Visa für Langzeitaufenthalte nach derzeit geltendem EU-Recht ausschließlich in den Geltungsbereich des nationalen Rechts der Mitgliedstaaten fällt.

(125) Zusammenfassend ist der GH der Ansicht, dass die Bf. in Bezug auf die Umstände, unter denen sie sich nach Art. 3 EMRK beschweren, nicht unter die Hoheitsgewalt Belgiens fielen. In Anbetracht dieser Schlussfolgerung gilt die gleiche Feststellung für die Beschwerde nach Art. 13 EMRK.

(126) Diese Schlussfolgerung beeinträchtigt nicht die Bemühungen der Vertragsstaaten, den Zugang zu Asylverfahren durch ihre Botschaften und/oder konsularischen Vertretungen zu erleichtern.

[Im Ergebnis ist dieser Teil der Beschwerde daher für unzulässig zu erklären (mehrheitlich).]

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 und Art. 13 EMRK

(129) Der GH ist der Auffassung, dass die Rüge der Bf. als eine Beschwerde über das Recht auf Vollstreckung einer gerichtlichen Entscheidung iSv. Art. 6 EMRK zu untersuchen ist. In diesem Zusammenhang wird betont, dass die Anforderungen von Art. 6 EMRK strenger sind als jene von Art. 13 EMRK und diese somit absorbieren.

(130) Vorab erhob die belangte Regierung eine Reihe von Einwänden gegen die Zulässigkeit dieses Teils der Beschwerde, einerseits aufgrund ihrer Unvereinbarkeit ratione materiae mit der Konvention und andererseits wegen Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe.

(131) Es stellt sich die Frage, ob Belgien Hoheitsgewalt im Hinblick auf die Bf. iSv. Art. 1 EMRK ausgeübt hat, was das auf seinem Hoheitsgebiet eingeleitete Verfahren angeht. Der GH befindet jedoch, dass es angesichts seiner Feststellungen zur Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht erforderlich ist, über diese Frage zu entscheiden (siehe Rn. 141).

(132) In diesem Zusammenhang brachte die belangte Regierung vor, dass die Rüge der Bf., die formell die Nichteinhaltung des Urteils vom 7.12.2016 betraf, in Wirklichkeit die Entscheidungen über die Genehmigung der Visa und folglich ein politisches Recht betreffe, auf das Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht anwendbar wäre.

(134) Da es unstreitig ist, dass es einen »Streit« gab, beschränkt sich die Aufgabe des GH darauf festzustellen, ob dieser sich um »zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen« drehte.

(135) Wie in diesem Fall vom Brüsseler Berufungsgericht in seinem Urteil vom 7.12.2016 betont und unter Berücksichtigung des belgischen Rechts, hatten die belgischen Behörden – in diesem Fall insbesondere der stellvertretende Minister für Asyl und Migration und das Ausländeramt – nach Art. 25 des Visakodex einen Ermessensspielraum bei der Entscheidung über die Ausstellung von Visa für Kurzaufenthalte. Die Bf. konnten sich jedoch an ein Gericht wenden, nämlich an die Ausländerbeschwerdekammer, welche mit Urteil vom 20.10.2016 die Vollstreckung der behördlichen Entscheidungen aussetzte und befugt war, diese aufzuheben.

(136) In einer solchen Situation kann Art. 6 Abs. 1 EMRK zwar anwendbar sein, allerdings unter der Bedingung, dass der einmal gewährte Vorteil oder das einmal gewährte Privileg ein »civil right« begründet.

(137) In Bezug auf die Art des besagten Rechts im vorliegenden Fall ist der GH ebenso wie die belgische Regierung der Auffassung, dass die Einreise in das belgische Hoheitsgebiet, welche sich aus der Ausstellung der Visa ergeben hätte, kein »civil right« iSv. Art. 6 Abs. 1 EMRK darstellt, so wie dies auch bei jeder anderen Entscheidung hinsichtlich Einwanderung und Einreise, Aufenthalt und Abschiebung von Ausländern der Fall ist. Nach ständiger Rechtsprechung fallen diese Bereiche nicht in den Anwendungsbereich von Art. 6 EMRK.

(138) Anerkanntermaßen betraf das später von den Bf. vor den ordentlichen Gerichten – in diesem Fall dem Brüsseler Berufungsgericht – verfolgte Verfahren zur Sicherstellung der Vollstreckung des Urteils der Ausländerbeschwerdekammer vom 20.10.2016 die Weigerung des Staates, eine von einem Verwaltungsgericht erlassene Entscheidung zu vollstrecken. Das Berufungsgericht befand bei der Feststellung seiner Zuständigkeit nach innerstaatlichem Recht, dass die Streitsache vor ihm ein »civil right« betraf. Dennoch ist der GH der Auffassung, dass der Gegenstand dieses Verfahrens ausschließlich darin bestand, das Verfahren fortzusetzen, mit dem die Begründetheit der Entscheidungen der Behörden in Frage gestellt wurde, durch welche die Ausstellung der Visa abgelehnt wurde.

(139) Das zugrunde liegende Verfahren wird nicht deshalb »zivilrechtlich«, nur weil vor Gericht seine Vollstreckung beantragt wird und dies zu einer gerichtlichen Entscheidung führt. Ebenso hatte das Verfahren zur Sicherstellung der Vollstreckung des Urteils des Brüsseler Berufungsgerichts vom 7.12.2016 den gleichen Charakter wie das Verfahren zur Ausstellung der von den Bf. beantragten Visa.

(140) Dementsprechend ist Art. 6 Abs. 1 EMRK im vorliegenden Fall nicht anwendbar. Diese Schlussfolgerung wird durch die Tatsache nicht berührt, dass die belgischen Gerichte die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK auf das fragliche Verfahren nicht bestritten haben. Die Konvention hindert die Vertragsstaaten nicht daran, in Bezug auf die in ihr garantierten Rechte und Freiheiten einen umfassenderen gerichtlichen Schutz als den von ihr vorgesehenen zu gewähren (Art. 53 EMRK).

(141) Dieser Teil der Beschwerde muss daher als mit den Bestimmungen der Konvention ratione materiae unvereinbar und [...] für unzulässig erklärt werden (mehrheitlich).

(142) In jedem Fall macht es die Feststellung, dass Art. 6 EMRK nicht anwendbar ist, unnötig, eine [...] Prüfung durchzuführen, ob Hoheitsgewalt iSv. Art. 1 iVm. Art. 6 EMRK besteht.

Vom GH zitierte Judikatur:

X./D v. 25.9.1965 (EKMR)

X./GB v. 15.12.1977 (EKMR)

S./D v. 5.10.1984 (EKMR)

Soering/GB v. 7.7.1989 = EuGRZ 1989, 314

M./DK v. 14.10.1992 (EKMR)

Bankovic u.a./B u.a. v. 12.12.2001 (GK) = NL 2002, 48 = EuGRZ 2002, 133

Markovic u.a./I v. 14.12.2006 (GK) = NL 2007, 5

Al-Skeini u.a./GB v. 7.7.2011 (GK) = NLMR 2011, 219

Abdul Wahab Khan/GB v. 28.1.2014 (ZE) = NLMR 2014, 103

Regner/CZ v. 19.9.2017 (GK) = NLMR 2017, 425

Güzelyurtlu u.a./CY und TR v. 29.1.2019 (GK) = NLMR 2019, 13

N. D. und N. T./E v. 13.2.2020 (GK) = NLMR 2020, 53

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über die Zulässigkeitsentscheidung des EGMR vom 5.5.2020, Bsw. 3599/18, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2020, 163) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original der Zulässigkeitsentscheidung ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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