JudikaturJustizBsw28328/03

Bsw28328/03 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
10. Mai 2012

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Aigner gg. Österreich, Urteil vom 10.5.2012, Bsw. 28328/03.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. Abs. 3 lit. d EMRK - Verurteilung eines Sexualstraftäters auf Basis der Aussage des Opfers vor dem Untersuchungsrichter.

Keine Verletzung von Art. 6 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Gegen den Bf. wurde ein Strafverfahren eingeleitet, da eine gewisse Frau K. ihn beschuldigte, sie vergewaltigt zu haben, nachdem sich die beiden am Nachmittag des 20.3.2001 in einem Lokal getroffen hatten.

Am 18.4.2001 wurde K. vom Untersuchungsrichter in Anwesenheit des Bf., seiner Anwältin, eines Psychiaters und des Gerichtsstenografen befragt. Der Bf. und seine Anwältin hatten dabei die Möglichkeit, Fragen an K. zu stellen. Die Anhörung wurde auf Video aufgezeichnet.

Das LG Graz nahm in mehreren Tagsatzungen Aussagen vom Bf. und weiteren Zeugen auf. K. weigerte sich jedoch unter Berufung auf § 152 Abs. 1 Abs. 2a StPO, eine Aussage zu machen und verlangte, dass die Äußerungen verlesen werden sollten, die sie gegenüber der Polizei und dem Untersuchungsrichter gemacht hatte. Das anlässlich der Anhörung vor dem Untersuchungsrichter aufgenommene Video stellte sich als leeres Band heraus. Am 19.11.2002 verurteilte das LG den Bf. wegen versuchter Vergewaltigung mit Waffengewalt zu drei Jahren Haft und ordnete seine Unterbringung in einer Einrichtung für psychisch kranke Straftäter an. Das Strafmaß wurde später auf vier Jahre erhöht.

Der Bf. brachte beim OGH eine Nichtigkeitsbeschwerde ein, worin er sich unter anderem über die Abweisung seiner Anträge auf die Aufnahme weiterer Beweise beschwerte und auch eine Verletzung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der Beweise rügte. Sein Recht auf wirksame Verteidigung nach Art. 6 EMRK sei daher verletzt. Der OGH wies die Nichtigkeitsbeschwerde am 20.2.2003 zurück.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügt eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und von Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK (Fragerecht und Recht auf Waffengleichheit im Zeugenbeweis).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Abs.  3 lit. d EMRK

Bei den Garantien des Art. 6 Abs. 3 EMRK handelt es sich um besondere Aspekte des Rechts auf ein faires Verfahren nach Abs. 1. Deshalb untersucht der GH die beiden Beschwerdepunkte gemeinsam.

Die Zulässigkeit von Beweisen wird in erster Linie durch das nationale Recht geregelt. Der GH hat lediglich darüber zu befinden, ob das Verfahren als Ganzes und damit auch der Weg, auf dem die Beweise aufgenommen wurden, fair war.

Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. d EMRK erfordern, dass der Beschuldigte eine angemessene und geeignete Möglichkeit erhält, einen Belastungszeugen in Zweifel zu ziehen und zu befragen – entweder, wenn der Zeuge seine Aussage macht, oder zu einem späteren Zeitpunkt. Die Verwendung von Aussagen zu Beweiszwecken, die im Stadium der polizeilichen Untersuchungen und der gerichtlichen Ermittlungen erlangt worden sind, ist nicht per se mit den genannten Bestimmungen unvereinbar, wenn die Verteidigungsrechte gewahrt worden sind. Auch wenn eine solche Aussage den alleinigen oder entscheidenden Beweis gegen einen Beschuldigten darstellt, führt ihre Zulassung als Beweismittel nicht automatisch zu einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK. Der GH untersucht allerdings in jedem Fall, ob ausreichende ausgleichende Umstände gegeben waren, darunter auch Maßnahmen, die eine faire und richtige Einschätzung der Zuverlässigkeit des Beweises ermöglichen.

Der GH muss auch die besonderen Eigenschaften von strafrechtlichen Verfahren, die Sexualstraftaten betreffen, berücksichtigen. Solche Verfahren werden vom Opfer häufig als Qual empfunden. Bei der Beurteilung, ob einem Beschuldigten ein faires Verfahren zuteil geworden ist, muss das Recht auf Achtung des Privatlebens des angeblichen Opfers berücksichtigt werden. In strafrechtlichen Verfahren, in denen es um sexuellen Missbrauch geht, können daher bestimmte Maßnahmen ergriffen werden, um das Opfer zu schützen, solange diese Maßnahmen in Einklang mit einer angemessenen und effektiven Ausübung der Verteidigungsrechte gebracht werden können.

Im vorliegenden Fall wurde der Bf. wegen versuchter Vergewaltigung angeklagt und war K. das angebliche Opfer. Diese nahm jedoch am Verfahren gegen den Bf. nicht teil. Der GH wiederholt diesbezüglich, dass für die Nichtteilnahme eines Zeugen ein guter Grund vorliegen muss und dass dieses Erfordernis für die Zulassung der Aussage eines abwesenden Zeugen eine Vorfrage ist, die untersucht werden muss, bevor irgendeine Überlegung dahingehend angestellt wird, ob diese Aussage die einzige oder entscheidende war.

Im gegenständlichen Fall lagen gute Gründe für eine Nichtteilnahme von K. am Verfahren gegen den Bf. vor. Weiters bemerkt der GH, dass die Beschreibung der Vorfälle durch K. den entscheidenden Beweis darstellte, der den Feststellungen des Gerichts zugrundegelegt wurde, da die anderen von ihm gehörten Zeugen keine Augenzeugen waren, sondern lediglich Aussagen hinsichtlich ihrer Wahrnehmung von K. und Ereignissen vor und nach der Begehung der fraglichen Straftat betrafen. Es kommt daher darauf an, ob dem Bf. eine angemessene Möglichkeit zukam, seine Verteidigungsrechte iSd. Art. 6 EMRK hinsichtlich der Aussage von K. auszuüben.

K. wurde vom Untersuchungsrichter in Anwesenheit des Bf. und seiner Anwältin, die ihr auch Fragen stellte, angehört. Der Bf. argumentiert allerdings, dass diese Befragung die Erfordernisse des Art. 6 EMRK nicht erfüllte, da die Videoaufzeichnung dieser Anhörung im Prozess nicht zur Verfügung stand und die Aussagen anderer Zeugen im Verfahren in Widerspruch zu K.’s Darstellung der Ereignisse standen. Das Gericht weigerte sich auch, dem Ansuchen des Bf. nachzukommen, weitere Fragen an einen psychiatrischen Experten zu stellen und suchte auch den Ort des angeblichen Verbrechens nicht auf.

Die Verteidigung musste sich bei der Befragung von K. im Vorverfahren bewusst sein, dass K. nach österreichischem Recht nach der kontradiktorischen Anhörung von der Aussage im Verfahren befreit sein würde, da es im Verfahren um eine Sexualstraftat ging. Nachdem K. von ihrem Recht Gebrauch gemacht hatte, keine Aussage zu tätigen, wurden die Protokolle der kontradiktorischen Anhörung verlesen. Dies wurde von der Verteidigung nicht angefochten. Der GH anerkennt, dass es für das Gericht wünschenswert gewesen wäre, auch die Videoaufzeichnung der Anhörung in Augenschein nehmen zu können, um einen unmittelbaren Eindruck von K.’s Verhalten bei der Befragung zu erhalten. Angesichts des Umstands, dass K. zum Zeitpunkt der Anhörung volljährig und im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte war, kann der GH der Ansicht des Bf. jedoch nicht folgen, dass dies für die faire Führung des Verfahrens unabdingbar war.

Weiters schränkte die fehlende Möglichkeit für den Bf., K. mit den Aussagen der weiteren Zeugen im Verfahren zu konfrontieren, dessen Verteidigungsrechte nicht in einem inakzeptablen Ausmaß ein. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass es dem Bf. möglich war, dem LG seine eigene Darstellung der Ereignisse zu schildern und Ungereimtheiten in der Aussage von K. oder Widersprüche zu den Aussagen der anderen Zeugen aufzuzeigen. Er tat dies auch tatsächlich vor dem LG.

Was die Entscheidung anbelangt, keine weiteren Fragen an den Experten zuzulassen oder den Tatort nicht in Augenschein zu nehmen, ist das LG aufgrund von logischen und stichhaltigen Argumenten zum Schluss gekommen, dass dies für das Verfahren ohne Bedeutung war. Es verurteilte den Bf. in der Folge auf Grundlage der von K. getätigten Äußerungen, die es als glaubhaft und als durch andere Beweise bestätigt ansah und begründete detailliert, warum es der Darstellung der Ereignisse durch den Bf. nicht folgte.

Diese Vorgehensweise fiel in das gewöhnliche Ermessen der nationalen Gerichte hinsichtlich der Entscheidung über die Relevanz und Zulässigkeit von Beweisen und enthüllt kein Versäumnis der österreichischen Gerichte, dem Bf. eine faire Anhörung iSd. Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. d EMRK zu gewähren. Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. d EMRK (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Saïdi/F v. 20.9.1993 = ÖJZ 1994, 322

García Ruiz/E v. 21.1.1999 (GK) = NL 1999, 12 = EuGRZ 1999, 10

S. N./S v. 2.7.2002 = NL 2002, 139

Al-Khawaja und Tahery/GB v. 15.12.2011 (GK) = NL 2011, 375

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 10.5.2012, Bsw. 28328/03 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2012, 161) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/12_3/Aigner.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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