JudikaturJustizBsw21928/93

Bsw21928/93 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
21. Februar 1996

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer, Beschwerdesachen Hussain gegen das Vereinigte Königreich und Singh gegen das Vereinigte Königreich, Urteile vom 21.2.1996, Bsw. 21928/93 und 23389/94.

Spruch

Art. 5 Abs. 4 EMRK - Ausschuß zur Haftüberprüfung (parole board) und Art. 5 Abs. 4 EMRK.

Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

In beiden Fällen wurden Minderjährige wegen Mordes zu einer Haftstrafe auf Lebenszeit (during Her Majesty's pleasure) verurteilt. Nachdem sie den unbedingten Teil ihrer Haftstrafe (tariff) verbüßt hatten, beriet ein Ausschuss (parole board) darüber, ob er eine bedingte Haftentlassung empfehlen sollte. Den Bf. wurde in diesen Verfahren weder Einsicht in die Akten noch rechtliches Gehör gewährt, über die Entscheidungsgründe wurden sie nicht informiert.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 5 (4) EMRK (Recht auf eine gerichtliche Haftkontrolle), da sie keine Möglichkeit hatten, die Rechtmäßigkeit ihrer Haft von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht iSv. Art. 6 EMRK überprüfen zu lassen.

Wesentlich ist die Beantwortung der Frage, ob die Haftstrafen der Bf. (during Her Majesty's pleasure) mit solchen vergleichbar sind, die auf bestimmte Zeit festgelegt und obligatorisch sind (mandatory life sentences) oder mit jenen, die für unbestimmte Zeit gelten und unter bestimmten Voraussetzungen wieder aufgehoben werden können (discretionary life sentences): Die Haftstrafen during Her Majesty's pleasure wurden aufgrund des Alters der Bf. ausgesprochen. Nach Verbüßung des unbedingten Teils der Strafe (tariff) konnte unter bestimmten Voraussetzungen eine bedingte Haftentlassung ausgesprochen werden. Die Haftstrafen der Bf. sind daher eher mit jenen auf unbestimmte Zeit (discretionary life sentences) vergleichbar, die Bf. somit zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit des bedingten Teils ihrer Haft gemäß Art. 5 (4) EMRK berechtigt. Die Zuständigkeit des Ausschusses (parole board), hier nur Empfehlungen abzugeben, erfüllte nicht die Anforderungen des Art. 5 (4) EMRK: Dieser verlangt eine mündliche Verhandlung in einem Verfahren, in dem die Parteien durch einen Rechtsanwalt vertreten sind und die Möglichkeit zur Zeugenbenennung und -befragung haben. Das Fehlen dieser prozessualen Garantien lässt den Ausschuss nicht als Gericht oder gerichtsähnliche Behörde iSv. Art. 5 (4) EMRK erscheinen. Art. 5 (4) EMRK wurde verletzt (einstimmig).

Anm: Die Kms. hatte in ihrem Ber. v. 11.10.1994 (vgl. NL 95/1/09) eine Verletzung von Art. 5 (4) EMRK festgestellt (einstimmig).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über die Urteile des EGMR vom 21.2.1996, Bsw. 21928/93 und 23389/94, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 1996,81) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Die Urteile im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/96_3/Hussain.pdf

www.menschenrechte.ac.at/orig/96_3/Singh.pdf

Die Originale der Urteile sind auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.