JudikaturJustizBsw13341/14

Bsw13341/14 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
01. September 2015

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Da Silva Carvalho Rico gg. Portugal, Zulässigkeitsentscheidung vom 1.9.2015, Bsw. 13341/14.

Spruch

Art. 1 1. Prot. EMRK - Reduktion der Pension im Rahmen von Sparmaßnahmen aufgrund der Wirtschaftskrise.

Unzulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf. ist Pensionistin und hat Anspruch auf Leistungen des öffentlichen Pensionssystems. 2009 wurde ihr eine Alterspension von € 1.980,72 brutto monatlich gewährt.

Im April 2011 beantragte Portugal eine Finanzhilfe der Euroraum-Mitgliedstaaten und des Internationalen Währungsfonds (IWF). Im Mai 2011 wurde ein wirtschaftliches Reformprogramm zwischen den portugiesischen Behörden und den Beamten der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank (EZB) und des IWF verhandelt. Portugal erhielt ein Finanzierungspaket in Höhe von € 78 Mrd. Am 17.5.2011 wurde das Programm offiziell mit spezifischen wirtschaftspolitischen Auflagen verabschiedet.

Am 31.12.2012 wurde im Amtsblatt das Gesetz über den Staatshaushalt 2013 kundgemacht. Durch dessen §  78 wurde der außerordentliche Solidaritätsbetrag (ao. Sb.) erweitert, sodass Pensionisten einbezogen wurden, die eine Pension in Höhe von € 1.350,– brutto erhalten. Diese Bestimmung sollte nur für 2013 gelten.

Die Pension der Bf. wurde in der Folge mit 3,5?% bis zur Höhe von € 1800,– und 16?% im darüber hinausgehenden Teil besteuert. Mit dem Inkrafttreten des Staatshaushaltsgesetzes 2013 wurde der Bf. die Pension entsprechend reduziert, was zu einem Verlust in Höhe von € 1.286,88 im Jahr 2013 führte. Dieser Verlust belief sich auf 4,6?% der gesamten jährlichen Sozialversicherungsleistungen der Bf.

Mit dem Staatshaushaltsgesetz 2014 wurde für das Jahr 2014 dieselbe Regelung wieder eingeführt. Folglich wurde der ao. Sb. erneut auf die Pension der Bf. angewendet.

Im Jahr 2014 erlitt die Bf. daher ebenfalls einen Gesamtverlust von € 1.286,88 in Höhe von 4,6?% ihrer gesamten jährlichen Pension.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. rügte, dass die Erhebung des ao. Sb. von einem Teil ihrer Pension im Jahr 2014 eine Verletzung des Art. 1 1. Prot. EMRK (Recht auf Achtung des Eigentums) darstellt. Insbesondere behauptete sie, dass der ao. Sb. wegen seiner Wiedereinführung im Jahr 2014 keine vorübergehende Maßnahme mehr sei.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK

(28) Die Bf. behauptet eine Verletzung ihres Rechts auf Achtung des Eigentums aufgrund der Anwendung des ao. Sb. auf ihren monatlichen Pensionsanspruch 2014, welcher einen Jahresverlust von € 1.286,88 bedeutete. Sie behauptete ferner, dass der ao. Sb. durch die erneute Anwendung im Jahr 2014 eine permanente Natur erworben hätte. [...]

(30) Alle Grundsätze, die allgemein in Fällen des Art.  1  1. Prot. EMRK gelten, sind gleichermaßen relevant, wenn es um Pensionsansprüche geht. Insbesondere beinhaltet Art. 1 1. Prot. EMRK nicht das Recht, Eigentum zu erwerben. Noch garantiert er als solcher ein Recht auf eine Pension in einer bestimmten Höhe. [...]

(31) Art. 1 1. Prot. EMRK schränkt die Freiheit der Konventionsstaaten nicht ein, zu entscheiden, ob sie ein System der sozialen Sicherheit einführen und Leistungen welcher Art oder Höhe sie in diesem gewähren. Wenn aber die Gesetze eines Vertragsstaates eine Zahlung als einen Rechtsanspruch auf eine Sozialleistung vorsehen – mag dies von vorherigen Beitragszahlungen abhängen oder nicht –, schafft diese Gesetzgebung für Personen, welche die Voraussetzungen erfüllen, ein vermögenswertes Interesse, das in den Anwendungsbereich von Art. 1 1. Prot. EMRK fällt […]. Die Verringerung oder der Wegfall der Pension kann somit einen Eingriff in das Eigentum begründen, der gerechtfertigt werden muss.

(32) Im vorliegenden Fall hatte die Bf. einen gesetzlichen Anspruch auf eine Alterspension in Höhe von € 1.980,72 brutto pro Monat, die sie [...] von 2009 bis 2013 erhalten hatte, als ihre Pension zum ersten Mal dem ao. Sb. unterworfen wurde. Mit Inkrafttreten der Staatshaushaltsgesetze 2013 und 2014 belief sich die jährliche Reduzierung der Pension der Bf. in den Jahren 2013 und 2014 auf je € 1.286,88 (4,6?% ihres früheren Pensionsanspruchs […]). Dementsprechend hatte die Bf. ein vermögenswertes Interesse in Hinblick auf ihren Pensionsanspruch, das in den Anwendungsbereich des Art. 1 1. Prot. EMRK fällt.

(33) Darüber hinaus betrachtet der GH eine jährliche Reduzierung der Pension der Bf. von € 1.286,88 als eine Verminderung, welche ihren Lebensstandard beeinträchtigen konnte. Der GH hält daher fest, dass ein Eingriff in das Recht der Bf. auf Achtung ihres Eigentums erfolgte, welches durch den ersten Satz von Art.  1 1.  Prot. EMRK geschützt ist.

(34) Um mit Art. 1 1. Prot. EMRK vereinbar zu sein, muss ein Eingriff drei grundlegende Voraussetzungen erfüllen: er muss »unter den durch das Gesetz vorgesehenen Bedingungen« erfolgen, was jede willkürliche Handlung seitens der nationalen Behörden ausschließt; er muss »im öffentlichen Interesse« liegen und er muss einen gerechten Ausgleich zwischen den Rechten des Eigentümers und der Interessen der Allgemeinheit herstellen.

Gesetzliche Grundlage für den Eingriff

(35) Im Fall der Bf. stellt der GH fest, dass der ao. Sb. im Staatshaushaltsgesetz 2014 vorgesehen war. Darüber hinaus bezieht sich der GH auf die Begründung des Verfassungsgerichts in seinen Urteilen von 2013 und 2014, in welchen es entschied, dass der ao. Sb. im Allgemeinen nicht verfassungswidrig war und damit das Erfordernis der gesetzlichen Grundlage erfüllt.

(36) Der GH stellt daher fest, dass der Eingriff in die Eigentumsrechte der Bf. in einem Gesetz vorgesehen war, so wie es von Art. 1 1. Prot. EMRK gefordert wird.

Öffentliches Interesse

(37) [...] In diesem Zusammenhang ist üblicherweise ein weiter Ermessensspielraum des Staates durch die Konvention zulässig, wenn es um allgemeine Maßnahmen der Wirtschafts- und Sozialpolitik geht. [...] Dieser Spielraum ist umso größer, wenn die Fragen die Bewertung der Prioritäten betreffend der Zuteilung von beschränkten Staatsmitteln einschließen. [...]

(39) Im vorliegenden Fall stellt der GH fest, dass die Einführung des ao. Sb. und die wiederholte Anwendung 2012, 2013 und 2014, die im jeweiligen Staatshaushaltsgesetz vorgesehen war, den Zweck hatte, die öffentlichen Ausgaben zu reduzieren und als Teil eines umfassenderen Programms von den nationalen Behörden und ihren Gegenübern auf Seiten der EU und des IWF entwickelt wurde, um es Portugal zu ermöglichen, die notwendige und kurzfristige Liquidität für den Staatshaushalt mit Blick auf die Erreichung mittelfristiger wirtschaftlicher Erholung zu sichern.

(40) […] Der GH stellt fest, dass die im Staatshaushaltsgesetz 2014 vorgesehene Anwendung des ao. Sb. auf Pensionen vorgesehen und eindeutig im öffentlichen Interesse iSv. Art. 1 1. Prot. EMRK war und als eine Übergangsmaßnahme in einer extremen wirtschaftlichen Situation angenommen wurde.

Verhältnismäßigkeit

(41) Der GH muss nun prüfen, ob ein gerechter Ausgleich zwischen den Erfordernissen der Allgemeininteressen und den Anforderungen des Schutzes der Grundrechte der Bf. geschaffen wurde.

(42) Bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen, welche durch den Staat im Hinblick auf Pensionsansprüche angenommen wurden, ist eine wichtige Überlegung, ob das Recht der Bf. auf Leistungen aus dem fraglichen Sozialversicherungssystem auf eine Weise beeinträchtigt wurde, welche eine Beeinträchtigung des Wesensgehalts dieses Rechts bewirkte. Die Art der entzogenen Leistung – insbesondere, ob sie aus einem besonders vorteilhaften Pensionssystem nur für bestimmte Personengruppen resultierte – kann ebenfalls berücksichtigt werden. Die Beurteilung wird je nach den besonderen Umständen des Einzelfalls und der persönlichen Situation des Bf. variieren; während der gesamte Entzug der Ansprüche, der auf den Verlust der Unterhaltsmittel hinauslaufen würde, grundsätzlich eine Verletzung des Rechts auf Eigentum bedeuten würde, würde die Auferlegung einer angemessenen und verhältnismäßigen Verminderung dies nicht. […]

(43) Der GH hält die Schlussfolgerungen des portugiesischen Verfassungsgerichts in seinen Entscheidungen von 2013 und 2014 fest, dass der ao. Sb. verhältnismäßig war, insbesondere angesichts der außergewöhnlichen und vorübergehenden Art.

(44) Diesbezüglich nimmt der GH bei der Prüfung, ob ein gerechter Ausgleich getroffen wurde, den Umstand zur Kenntnis, dass der ao. Sb. und andere Sparmaßnahmen vor dem Hintergrund einer aktuellen und unvorhergesehenen Haushaltskrise in Portugal angenommen wurden. In dieser Hinsicht stellt er ferner fest, dass das portugiesische Verfassungsgericht verschiedene Urteile über die Frage sozialer Rechte abgegeben hat, in welchen es seine Entscheidung auf dem Grundsatz des »Vorbehalts des Möglichen« gründet, wonach ein Staat nicht gezwungen werden kann, seinen Verpflichtungen im Rahmen der sozialen Rechte zu entsprechen, wenn er die wirtschaftlichen Mittel nicht besitzt, um dies zu tun. In diesem Zusammenhang können die budgetären Beschränkungen bei der Umsetzung der sozialen Rechte solange akzeptiert werden, als diese verhältnismäßig zum verfolgten öffentlichen Ziel sind und Ansprüche auf soziale Rechte nicht auf rein symbolische Summen reduzieren. Die internationale Anerkennung der wirtschaftlichen Situation des Landes lässt erkennen, dass die derzeitigen Haushaltszwänge eine Notwendigkeit darstellen, welche jedoch nicht das Eigentum, das gesetzlich vorgesehenen sozialrechtlichen Ansprüchen entsprang, auf eine Weise reduzierte, dass dem Recht sein Wesensgehalt geraubt wurde.

(45) Der GH merkt an, dass der ao. Sb. die jährliche Pension der Bf. 2013 und 2014 um € 1.286,88 (4,6?% ihrer gesamten jährlichen Sozialversicherungsleistung) reduzierte, was auf einen Gesamtverlust in beiden Jahren von € 2.573,56 hinauslief. Ferner war der ao. Sb. nur auf einen Zeitraum von zwei Jahren (2013-2014) auf ihre Rente anwendbar, auf einer jährlichen Basis. Der Eingriff durch § 76 des Staatshaushaltsgesetzes 2014 in das Recht auf Eigentum der Bf. war daher sowohl zeitlich als auch in der Höhe begrenzt. Der GH nimmt ferner zur Kenntnis, dass das portugiesische Verfassungsgericht in seinen Untersuchungen des ao. Sb. der Auffassung war, dass es keine anderen Alternativen gab, welche die selben öffentlichen Ziele verfolgen könnten, die die Inhaber sozialer Rechte in geringerem Maße beeinträchtigen würden. Darüber hinaus blieb der Gesetzgeber innerhalb der Grenzen seines Ermessensspielraums und es ist daher nicht Sache des GH zu entscheiden, ob bessere alternative Maßnahmen angestrebt hätten werden können, um das Haushaltsdefizit zu verringern und die Finanzkrise zu überwinden. In Bezug auf die persönliche Last, welche die Bf. aufgrund der strittigen Maßnahme, welche 2014 in Kraft war, zu tragen hatte, stellt der GH fest, dass sie keinen wesentlichen Verlust ihres Einkommens erlitt.

(46) Im Lichte der oben genannten Ausführungen und der gesamten öffentlichen Interessen, welche zu dieser Zeit in dem belangten Staat auf dem Spiel standen, und angesichts des geringen Ausmaßes und der vorübergehenden Wirkung der Anwendung des ao. Sb. auf die Pensionsansprüche der Bf., stellt der GH fest, dass die beanstandete Maßnahme verhältnismäßig war.

(47) Daraus folgt, dass die Beschwerde offensichtlich unbegründet und daher unzulässig ist (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Kjartan Ásmundson/IS v 12.10.2004 = NL 2004, 238

Stec u.a./GB v. 12.4.2006 (GK) = NL 2006, 90

Tatar/RO v. 27.1.2009 = NL 2009, 28

Moskal/PL v. 15.9.2009 = NL 2009, 257

Scoppola/I (Nr. 2) v. 17.9.2009 (GK) = NL 2009, 260

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über die Zulässigkeitsentscheidung des EGMR vom 1.9.2015, Bsw. 13341/14, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2015, 456) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Die Zulässigkeitsentscheidung im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/15_5/DaSilvaCarvalho.pdf

Das Original der Zulässigkeitsentscheidung ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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