JudikaturJustiz9Bs357/15s

9Bs357/15s – OLG Graz Entscheidung

Entscheidung
29. Oktober 2015

Kopf

Das Oberlandesgericht Graz hat durch den Senatspräsidenten DI Dr.Luger als Vorsitzenden, die Richterin Mag a .Berzkovics und den Richter Mag.Ohrnhofer in der Strafsache gegen H***** F***** wegen der Verbrechen der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 StGB und anderer strafbarer Handlungen über die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Graz gegen den Beschluss des Landesgerichtes für Strafsachen Graz vom 27. August 2015, 20 HR 122/15w-9, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Beschwerde wird Folge gegeben, der angefochtene Beschluss aufgehoben und dem Einzelrichter des Landesgerichtes für Strafsachen Graz die Durchführung der kontradiktorischen Vernehmung der Zeugin R***** T***** aufgetragen.

Gegen diese Entscheidung steht ein weiterer Rechtszug nicht zu (§ 89 Abs 6 StPO).

Text

begründung:

In dem von der Staatsanwaltschaft Graz gegen den am ***** geborenen österreichischen Staatsbürger H***** F***** wegen der Verbrechen der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 StGB und anderer strafbarer Handlungen (jeweils zum Nachteil von R***** T*****) geführten Ermittlungsverfahren beantragte die Anklagebehörde am 25. Juli 2015 beim Einzelrichter des Landesgerichtes für Strafsachen Graz die Durchführung einer kontradiktorischen Vernehmung der Zeugin R***** T*****. Nach einem Verlangen des Einzelrichters um tatsächliche Aufklärung aus den Akten gemäß § 105 Abs 2 (zweiter Satz) StPO, aus welchen tatsächlichen oder rechtlichen Gründen gegenständlich zu besorgen sei, dass die Vernehmung der Zeugin in der Hauptverhandlung nicht möglich sein werde, hielt die Staatsanwaltschaft ihren Antrag insbesondere unter Hinweis auf das Aussagebefreiungsrecht gemäß § 156 Abs 1 Z 2 StPO aufrecht (ON 1, AS 5f).

Mit dem nunmehr angefochtenen Beschluss wies der Einzelrichter des Landesgerichtes für Strafsachen Graz den Antrag der Staatsanwaltschaft Graz auf Durchführung der kontradiktorischen Vernehmung der genannten Zeugin nach der Bestimmung des § 165 StPO gemäß § 104 Abs 1 zweiter Satz StPO ab. Begründend wurde insbesondere festgehalten, dass dem Gericht in Bezug auf den Antrag der Staatsanwaltschaft zwar keine Zweckmäßigkeitsprüfung, wohl aber eine Zulässigkeitsprüfung zustehe. Anhaltspunkte für tatsächliche Gründe, wie etwa eine Krankheit der Zeugin oder ein längerer Auslandsaufenthalt bei fehlender Bereitschaft, einer Ladung nach Österreich Folge zu leisten, gingen aus dem Akteninhalt nicht hervor. Auch aus rechtlichen Gründen sei nicht zu besorgen, dass eine Vernehmung der beantragten Zeugin in der Hauptverhandlung nicht möglich sein werde. Ein Aussagebefreiungsrecht der Zeugin nach § 156 Abs 1 Z 1 StPO sei insbesondere im Hinblick darauf, dass die Zeugin in ihrer letzten polizeilichen Einvernahme das Bestehen einer Lebensgemeinschaft in Abrede gestellt habe, nicht indiziert. Das Aussagebefreiungsrecht nach § 156 Abs 1 Z 2 StPO werde erst durch eine kontradiktorische Vernehmung erlangt, was zur Folge haben müsse, dass für die Durchführung einer kontradiktorischen Vernehmung die Grundvoraussetzung des § 165 Abs 1 StPO vorliegen müsse. Der von der Staatsanwaltschaft Graz erwähnte § 165 Abs 4 StPO behandle nur die Voraussetzungen, unter denen ein Zeuge schonend im Sinne des Abs 3 leg.cit. zu vernehmen sei. Zu einer Verminderung des mit § 165 StPO intendierten Opferschutzes komme es dadurch nicht, weil gemäß § 250 Abs 3 StPO bei Vorliegen der Voraussetzungen auch in der Hauptverhandlung eine abgesonderte bzw schonende Vernehmung im Sinne des § 165 Abs 3 StPO durchzuführen sei (ON 9).

Gegen diesen Beschluss richtet sich die rechtzeitige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Graz, mit der beantragt wird, den angefochtenen Beschlusses aufzuheben und dem Erstgericht die Durchführung der kontradiktorischen Einvernahme im Sinne ihres Antrages aufzutragen. Begründend wird unter anderem darauf hingewiesen, dass Voraussetzung der Zulässigkeit einer kontradiktorischen Vernehmung nach § 165 Abs 1 StPO allein die Besorgnis sei, eine Vernehmung werde in der Hauptverhandlung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht möglich sein. Der Begriff „zu besorgen“ sei keineswegs nur im Sinne einer gesteigerten Wahrscheinlichkeit zu verstehen; die Möglichkeit, dass ein Zeuge in der Hauptverhandlung aus den angeführten Gründen nicht mehr aussagen werde, genüge (RIS-Justiz RS0124478). Die Argumentation des Erstrichters würde dazu führen, dass Opfer von Sexualdelikten lediglich bei Vorliegen eines Angehörigenverhältnisses im Rahmen des Ermittlungsverfahrens kontradiktorisch einvernommen werden dürften. Dies widerspreche der wörtlichen Interpretation des § 156 Abs 1 Z 2 StPO, welche sich ausdrücklich auf eine vorausgegangene kontradiktorische Einvernahme gemäß § 165 StPO beziehe. Auch könne § 165 Abs 4 StPO nicht völlig außer Betracht bleiben, da dieser wiederum ausdrücklich auf § 156 Abs 1 Z 2 StPO Bezug nehme (ON 10).

Die Beschwerde ist berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Nach § 165 Abs 1 StPO ist eine kontradiktorische Vernehmung sowie die Ton- oder Bildaufnahme einer solchen Vernehmung eines Beschuldigten oder eines Zeugen zulässig, wenn zu besorgen ist, dass die Vernehmung in einer Hauptverhandlung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht möglich sein werde. § 165 Abs 3 StPO regelt den (Sonder)Fall einer sogenannten „schonenden Vernehmung“. § 165 Abs 4 StPO bestimmt, dass das Gericht einen Zeugen, der das vierzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat und durch die dem Beschuldigten zur Last gelegte Straftat in seiner Geschlechtssphäre verletzt worden sein könnte, in jedem Fall auf die in Abs 3 beschriebene Art und Weise [schonend] zu vernehmen hat, die übrigen in § 156 Abs 1 Z 1 und 2 StPO erwähnten Zeugen dann, wenn sie oder die Staatsanwaltschaft dies beantragen.

Gemäß § 156 Abs 1 Z 2 StPO sind Personen von der Pflicht zur Aussage befreit, die durch die dem Beschuldigten zur Last gelegte Straftat verletzt worden sein könnten und zur Zeit ihrer Vernehmung das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder in ihrer Geschlechtssphäre verletzt worden sein könnten, wenn die Parteien Gelegenheit hatten, sich an einer vorausgegangenen kontradiktorischen Einvernahme zu beteiligen (§§ 165, 247 StPO).

Neben diesen auch im angefochtenen Beschluss und der Beschwerde relevierten Bestimmungen ist auf das in § 70 Abs 2 Z 3 StPO normierte Informationsrecht, hinzuweisen, wonach Opfer, die in ihrer sexuellen Integrität verletzt worden sein könnten, spätestens vor ihrer ersten Befragung über das ihnen zustehende Recht zu informieren sind, zu verlangen, im Ermittlungsverfahren und in der Hauptverhandlung auf schonende Weise einvernommen zu werden (§§ 165, 250 Abs 3 StPO).

Gegenständlich sind für die Zulässigkeit einer kontradiktorischen Vernehmung nach der Aktenlage nur rechtliche Gründe, und hier – auch im Sinne der Ausführungen in der Beschwerde der Staatsanwaltschaft – nur das Aussagebefreiungsrecht nach § 156 Abs 1 Z 2 StPO von Relevanz. Wie im angefochtenen Beschluss zutreffend erkannt wird, handelt es sich bei dem Aussagebefreiungsrecht nach § 156 Abs 1 Z 2 StPO um ein „bedingtes Zeugnisentschlagungsrecht“, weil erst eine vorausgehende kontradiktorische Vernehmung des Opfers das Aussagebefreiungsrecht (für weitere Vernehmungen) entstehen lässt (vgl Hinterhofer, Zeugenschutz und Zeugnisverweigerungsrechte im österreichischen Strafprozess, 349). Das „Zeugnisverweigerungsrecht“ des § 156 Abs 1 Z 2 StPO dient insbesondere dem Opferschutz unter Wahrung der Verteidigungsrechte (vgl Kirchbacher in WK-StPO § 156 Rz 18). Auch einer kontradiktorischen Vernehmung liegt vor allem der Opferschutz zugrunde (vgl Kirchbacher in WK-StPO § 165 Rz 4). Nach den Gesetzesmaterialien zum Strafprozessreformgesetz zu § 156 StPO liegt den in § 152 Abs 1 Z 2a und 3 StPO (in der bis zum 31. Dezember 2007 geltenden damaligen Fassung) geregelten Fällen insgesamt das Konzept der bloß einmaligen Vernehmung eines schonungsbedürftigen Zeugen zugrunde (ErläutRV 25 BlgNR 22. GP 202, im Rahmen derer unter anderem auf die Gesetzesmaterialien zum Strafrechtsänderungsgesetz 1998 RV 1230 BlgNR 20. GP 33 f verwiesen wird). Bereits in den Gesetzesmaterialien zum Strafprozessänderungsgesetz 1993, mit dem die kontradiktorische Vernehmung (§ 162a StPO idF BGBl Nr. 526/1993) eingeführt wurde, wird auf den zugrundeliegenden Gedanken des Zeugenschutzes verwiesen, wobei etwa angemerkt ist, dass eine richterliche Vernehmung unter Beachtung der Vorschriften der kontradiktorischen Vernehmung im einem möglichst frühen Verfahrensstadium durchgeführt werden soll (vgl 924 BlgNR 18.GP 29 ff, insbesondere 32 f). Vor dem Hintergrund der in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck gebrachten Gesetzesintention in Verbindung mit dem (bereits) aus § 70 Abs 2 Z 3 StPO ableitbaren Recht eines allenfalls in seiner sexuellen Integrität verletzten Opfers, (zumindest) auf sein Verlangen bereits im Ermittlungsverfahren auf schonende Weise vernommen zu werden (unter ausdrücklichem Verweis auf den die kontradiktorische Einvernahme regelnden § 165 StPO), ist eine kontradiktorische Einvernahme – auch wenn im Gesetzestext selbst eine Erweiterung des § 165 Abs 1 StPO durch dessen Abs 4 nicht deutlich zum Ausdruck gebracht wird – aus rechtlichen Gründen geboten, wenn dies bei einem solchen Opfer im Ermittlungsverfahren von diesem oder von der Staatsanwaltschaft beantragt wird (so - ohne nähere Begründung - im Ergebnis offenbar auch Kirchbacher in WK-StPO § 165 Rz 11, 16; vgl auch Pilnacek/Pleischl, Das neue Vorverfahren, Rz 644, 686).

Es war daher der angefochtene Beschluss aufzuheben und dem Einzelrichter des Landesgerichtes für Strafsachen Graz die Durchführung der beantragten kontradiktorischen Vernehmung der Zeugin aufzutragen.

Oberlandesgericht Graz, Abteilung 9

Rechtssätze
0

Keine verknüpften Rechtssätze zu diesem Paragrafen