JudikaturJustiz60R101/17h

60R101/17h – LG HG Wien Entscheidung

Entscheidung
16. April 2018

Kopf

Das Handelsgericht Wien als Berufungsgericht hat durch den Richter Hofrat Dr. Schmidt (Vorsitzender), die Richterin Dr. in Wittmann-Tiwald und den KR Werner, MA in der Rechtssache der klagenden Partei S***** , vertreten durch Tischler Tischler Rechtsanwälte GmbH in Klagenfurt, wider die beklagte Partei E***** Aktiengesellschaft , *****, vertreten durch Schönherr Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen EUR 4.940,-- samt Anhang, über die Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Bezirksgerichtes für Handelssachen Wien vom 18. September 2017, 19 C 123/17b-14, in nicht öffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Berufung wird n i c h t Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit EUR 418,78 bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens (darin enthalten EUR 69,80 USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Die Revision ist jedenfalls unzulässig.

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e

Die Klägerin, slowenische Staatsbürgerin mit Wohnsitz in Slowenien, schloss mit der Beklagten zu Polizze Nr. 1.317.664 eine fondsgebundene Lebensversicherung, beginnend mit 1.4.2002 und einer Versicherungsdauer von 27 Jahren. Wegen Nichtzahlung der Folgeprämien beendete die Beklagte den Versicherungsvertrag nach § 39 VersVG zum 1.3.2004. Bis dahin hatte die Klägerin Prämien von zumindest EUR 4.940,-- bezahlt. Rund 12 ½ Jahre später, mit Schreiben vom 5.12.2016 erklärte die Klägerin den Rücktritt vom Versicherungsvertrag gemäß § 165a VersVG.

Die Klägerin begehrte die Rückzahlung der Prämien von EUR 4.940,-- samt Anhang. Bei Abschluss des Lebensversicherungsvertrags sei sie nicht rechtzeitig und ordnungsgemäß über ihr Rücktrittsrecht belehrt worden. Ihr stehe somit ein Rücktrittsrecht nach § 165a VersVG zu.

Die Beklagte beantragte die Abweisung der Klage und brachte im Wesentlichen vor, die Klägerin sei gesetzeskonform über ihr Rücktrittsrecht belehrt worden; die zweiwöchige Rücktrittsfrist sei längst abgelaufen. Ein Rücktritt von einem bereits beendeten Vertrag sei nicht möglich. Das Rücktrittsrecht werde rechtsmissbräuchlich geltend gemacht und sei überdies verjährt. Selbst im Fall eines Rücktritts seien nicht die Prämien zurückzuerstatten, sondern es sei gemäß § 176 VersVG der Rückkaufswert zu zahlen.

Mit dem angefochtenen Urteil wies das Erstgericht das Klagebegehren ab.

Ausgehend von den auf den Seiten 2 und 3 der Urteilsausfertigungen festgestellten Sachverhalt erachtete es rechtlich: Die Beklagte habe die Klägerin zutreffend und in der dafür vorgesehenen Form über das Rücktrittsrecht nach § 165a VersVG belehrt. Nach österreichischem Recht habe die Belehrung auf Deutsch erfolgen müssen. Auf die Anwendung slowenischen Rechts bzw eine danach geltende Bestimmung, die eine Belehrung in slowenischer Sprache vorschreiben würde, habe sich die Klägerin nicht berufen. Mangels einer fehlerhaften Belehrung, welche dem Beginn des Fristenlaufs entgegengestanden wäre, sei die Rücktrittsfrist bereits abgelaufen.

Gegen dieses Urteil wendet sich die Berufung der Klägerin aus dem Berufungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Abänderungsantrag im Sinne einer Stattgebung des Klagebegehrens; hilfsweise stellt sie einen Aufhebungsantrag.

Die Beklagte beantragt, der Berufung nicht Folge zu geben.

Die Berufung ist nicht berechtigt .

1. Die Berufungswerberin bringt zusammengefasst vor, ihr Rücktritt sei wirksam, weil die Belehrung fehlerhaft gewesen sei. Die Belehrung hätte noch vor Unterschrift auf dem Antragsformular festgehalten und sie hätte belehrt werden müssen, dass sie auch mündlich innerhalb der Frist zwischen 14 und 30 Tagen vom Lebensversicherungsvertrag zurücktreten dürfe. Da die Klägerin der deutschen Sprache nicht mächtig ist, hätte sie der Versicherungsvermittler „ausdrücklich“ über das Rücktrittsrecht belehren müssen. Es liege ein Verbrauchergeschäft vor.

2. Auf die Argumente der Berufung ist nicht einzugehen, weil der Anspruch auf Rückzahlung der eingeklagten Prämien samt Zinsen selbst bei einem wirksamen Rücktritt gemäß § 165a VersVG mit Wirkung ex tunc verneint wird. Die Rechtsfolgen des Rücktritts sind nach Ansicht des erkennenden Senats nach der Spezialnorm des § 176 VersVG zu beurteilen, wie im Folgenden erläutert wird.

3. Zum Rücktritt nach § 165a VersVG

3.1 Im vorliegenden Fall ist § 165a VersVG idF BGBl I 1997/6, gültig vom 1.1.1997 bis 30.9.2014 anzuwenden, er lautete:

„(1) Der Versicherungsnehmer ist berechtigt, binnen zwei Wochen nach dem Zustandekommen des Vertrags von diesem zurückzutreten (…).

(2) Hat der Versicherer der Verpflichtung zur Bekanntgabe seiner Anschrift (§ 9 Abs 1 Z 1 VAG) nicht entsprochen, so beginnt die Frist zum Rücktritt nach Abs 1 nicht zu laufen, bevor dem Versicherungsnehmer diese Anschrift bekannt wird.

(3) Die vorstehenden Absätze gelten nicht für Gruppenversicherungsverträge und für Verträge mit einer Laufzeit von höchstens sechs Monaten.“

3.2 Unionsrechtliche Grundlagen zum Rücktrittsrecht

3.2.1 Artikel 15 der Zweiten Richtlinie Lebensversicherung (90/619/EWG) idF Dritte Richtlinie Lebensversicherung (92/96/EWG):

„(1) Jeder Mitgliedsstaat schreibt vor, dass der Versicherungsnehmer eines individuellen Lebensversicherungsvertrags von dem Zeitpunkt an, zu dem der Versicherungsnehmer davon in Kenntnis gesetzt wird, dass der Vertrag geschlossen ist, über eine Frist verfügt, die zwischen 14 und 30 Tagen betragen kann, um von dem Vertrag zurückzutreten.

Die Mitteilung des Versicherungsnehmers, dass er vom Vertrag zurücktritt, befreit ihn für die Zukunft von allen aus diesem Vertrag resultierenden Verpflichtungen.

Die übrigen rechtlichen Wirkungen des Rücktritts und die dafür erforderlichen Voraussetzungen werden gemäß dem auf den Versicherungsvertrag nach Artikel 4 anwendbaren Recht geregelt, insbesondere, was die Modalitäten betrifft, nach denen der Versicherungsnehmer davon in Kenntnis gesetzt wird, dass der Vertrag geschlossen ist.

(2) Bei Verträgen mit einer Laufzeit von höchstens sechs Monaten ... können die Mitgliedsstaaten von der Anwendung von Abs. 1 absehen.“

3.2.2 Die Dritte Richtlinie Lebensversicherung führte zusätzlich zahlreiche Informationen des Versicherers gegenüber dem Versicherungsnehmer ein. Artikel 31 Abs. 1 lautet: „Vor Abschluss des Versicherungsvertrages sind dem Versicherungsnehmer mindestens die im Anhang II Buchstabe A angeführten Angaben mitzuteilen.“

Anhang II Aa 13 lautet: „Modalitäten der Ausübung des Widerrufs und Rücktrittsrechts“.

4. Höchstgerichtliche Entscheidungen zur Dauer und Wirkung des Rücktrittsrechts

4.1 Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) erklärte über Vorlage des deutschen Bundesgerichtshofs (BGH) in der Sache Endress/Allianz (Urteil vom 19.12.2013, C-209/12), dass Artikel 15 Abs 1 der Zweiten Richtlinie Lebensversicherung idF der Dritten Richtlinie Lebensversicherung einer nationalen Regelung (damals § 5a dVVG aF) „entgegensteht, nach der ein Rücktrittsrecht spätestens ein Jahr nach Zahlung der ersten Versicherungsprämie erlischt, wenn der Versicherungsnehmer nicht über das Recht zum Rücktritt belehrt worden ist.“

4.2 Der BGH entschied im Anlassfall Endress , dass das Widerspruchsrecht fortbesteht, wenn der Versicherungsnehmer nicht ordnungsgemäß über sein Recht zum Widerspruch belehrt wurde. Weder die vorherige Kündigung noch die vollständige Erbringung der Leistungen stehe einem späteren Widerspruch entgegen. Dessen Wirkungen seien nicht auf eine Wirkung ex nunc (ab Zugang des Widerspruchs) zu beschränken, weil allein die Rückwirkung dem Effektivitätsgebot entspreche. (BGH 7.5.2014, IV ZR 76/11; ähnlich BGH 27.1.2016, IV ZR 488/14 und 29.7.2015, IV ZR 384/14 ua).

4.3 Der Oberste Gerichtshof gelangte in seiner Entscheidung vom 2.9.2015 (7 Ob 107/15h) unter Berufung auf das Urteil Endress zum Ergebnis, dass eine fehlerhafte Belehrung über die Dauer der Rücktrittsfrist (dort: 14 Tage statt richtig 30 Tage) zu einem unbefristeten Rücktrittsrecht führt.

5. Bereicherungsrechtliche Rückabwicklung

5.1 Der Oberste Gerichtshof bejahte in der bereits angesprochenen Entscheidung 7 Ob 107/15h implizit eine bereicherungsrechtliche Rückabwicklung des Lebensversicherungsvertrags, indem er das Begehren auf Rückzahlung des allein geltend gemachten Sparanteils für berechtigt erachtete; mit den Rechtsgrundlagen einer Rückabwicklung setzte er sich aber nicht weiter auseinander.

5.2 Der BGH bejahte im Anlassfall Endress ebenfalls grundsätzlich einen Bereicherungsanspruch des Versicherungsnehmers und eine Rückabwicklung des Vertrags ex tunc. Er führte aus, die Wirkungen seien nicht auf eine Wirkung ex nunc (ab Zugang des Widerspruchs) zu beschränken, weil allein die Rückwirkung dem Effektivitätsgebot entspreche. Das sei nur gewährleistet, wenn der Versicherungsnehmer bei nicht ordnungsgemäßer Belehrung im Fall des Widerspruchs die von ihm bereits gezahlten Prämien zurückerhalte. Dies gelte umso mehr, als es bei dem in § 5a dVVG vorgesehenen Widerspruch nicht um einen Rücktritt vom bereits geschlossenen Vertrag gehe, sondern darum, das Zustandekommen des Vertrags zu verhindern. Der nicht ordnungsgemäß belehrte Versicherungsnehmer müsse so gestellt werden, als sei er ordnungsgemäß belehrt worden. Dann hätte er sein Widerspruchsrecht ausüben können und mangels wirksamen Vertrags keine Prämien bezahlt. Bei der Rückforderung der Prämie müsse sich der Versicherungsnehmer jedoch den bis zur Vertragskündigung genossenen Versicherungsschutz anrechnen lassen. Bei der Regelung der Rechtsfolge dürfe ein vernünftiger Ausgleich und eine gerechte Risikoverteilung hergestellt werden (siehe auch BGH 27.1.2016, IV ZR 488/14 und 29.7.2015, IV ZR 384/14 ua).

Bei der Rechtsprechung des BGH ist zum einen zu beachten, dass nach deutschem Recht der Widerruf das Zustandekommen des Vertrags verhindert; zum anderen gibt es inhaltliche Unterschiede zu den bereicherungs-rechtlichen Rückforderungsansprüchen nach deutschem Recht.

5.3 Die Gerichte in Österreich gehen – soweit bekannt – von einer bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung (und nicht von einer Anwendung des § 176 VersVG) aus, etwa OLG Graz 5 R 124/16v, HG Wien als Berufungsgericht 1 R 62/16p, 50 R 12/17x, 50 R 44/17b, 60 R 44/16z, zuletzt 50 R 8/18k ua. Eingehend begründete das Oberlandesgericht Wien in seiner Entscheidung 2 R 148/17z den Zuspruch von bereicherungsrechtlichen Rückabwicklungsansprüchen. Unter Hinweis auf die Literatur, und zwar auch zur Gegenmeinung, die eine Anwendung des § 176 VersVG befürwortet, führt das OLG Wien aus (Seite 21 f):

„4.3. Ausschlaggebend erscheint auch, dass § 176 Abs 1 VersVG durch die Gleichstellung des dort unspezifisch genannten Rücktritts mit der Kündigung des Vertrags offensichtlich auf eine Vertragsaufhebung ex nunc abstellt, wohingegen der Rücktritt nach § 165a VersVG den Vertrag ex tunc beseitigt, was nach allgemeinen zivilrechtlichen Regeln zur Rückabwicklung führt. Dass § 176 VersVG den Versicherungsnehmer benachteiligen und seine nach allgemeinem Zivilrecht zustehenden Ansprüche beschneiden wollte, ist nicht anzunehmen. Wenn der Oberste Gerichtshof in seiner Entscheidung zu 3 Ob 526/58 (VersSlg 305 = VersE 118 = RIS-Justiz RS0064407; dort war der Rücktritt eines Masseverwalters nach § 21 Abs 1 KO zu beurteilen; siehe dazu unten) aussprach, dass sich die Folgen eines Rücktritts vom Versicherungsvertrag ausschließlich nach den §§ 173 ff VersVG bestimmen, so ist anzumerken, dass § 165a VersVG zum Zeitpunkt der genannten Entscheidung noch gar nicht bestand und daher auch nicht berücksichtigt werden konnte. Dass sich aus den Erläuterungen der Regierungsvorlage zur VersVG-Novelle 1994 (ErlRV 1553 BlgNR 18 GP 59) eine Anwendbarkeit des § 176 Abs 1 VersVG auch auf Rücktritte nach § 165a VersVG ergebe, kann nicht nachvollzogen werden. Auch der Hinweis der Berufung auf den Rücktritt des Insolvenzverwalters nach § 21 IO überzeugt nicht, weil durch einen Rücktritt nach dieser Bestimmung der Vertrag nach herrschender Ansicht nur mit ex-nunc-Wirkung beendet wird ( Widhalm-Budak in Konecny/Schubert, Insolvenzgesetze § 21 KO Rz 183 mwN). Dass hinsichtlich des Veranlagungsteils auf Grund des bereits eingetretenen Beginns des Dauerschuldverhältnisses besondere Rückabwicklungs- Schwierigkeiten bestünden, welche eine ex-tunc-Rückabwicklung ausschließen würden, ist den getroffenen Feststellungen nicht zu entnehmen. Letztlich würde ein bloßer Ersatz des Rückkaufswerts hinsichtlich des europarechtlich vorgezeichneten Rücktrittsrechts dem unionsrechtlichen Effektivitätsgebot widersprechen (idS etwa BGH IV ZR 76/11; IV ZR 384/14), zumal die Möglichkeit durch einen Rückkauf der Lebensversicherung den Rückkaufswert ausbezahlt zu bekommen, dem Versicherungsnehmer auch unabhängig von § 165a VersVG zusteht.“

5.4 So sehr es auf den ersten Blick naheliegt, bei einer Vertragsauflösung ex tunc den Vertrag nach Bereicherungsrecht rückabzuwickeln, sind nach Ansicht des erkennenden Senates bei der Rückabwicklung die Besonderheiten eines Versicherungsverhältnisses miteinzubeziehen.

6. Rückkaufswert nach § 176 VersVG

6.1 § 176 VersVG lautet auszugsweise:

„(1) Wird eine Kapitalversicherung für den Todesfall, die in der Art genommen ist, dass der Eintritt der Verpflichtung des Versicherers zur Zahlung des vereinbarten Kapitals gewiss ist, durch Rücktritt, Kündigung oder Anfechtung aufgehoben, so hat der Versicherer den auf die Versicherung entfallenden Rückkaufswert zu erstatten.

(3) Der Rückkaufswert ist nach den anerkannten Regeln der Versicherungsmathematik auf Grund der Rechnungsgrundlagen der Prämienkalkulation für den Schluss der laufenden Versicherungsperiode als Zeitwert der Versicherung zu berechnen. Prämienrückstände werden vom Rückkaufswert abgesetzt. (…)“

Die Bestimmung war durch die Novelle BGBl 1994/509 neu gefasst worden und wurde seither mehrfach novelliert, wobei die zitierten Absätze von diesen Novellen nicht betroffen waren. Diese Regelung ist eine Spezialbestimmung im „Dritten Abschnitt. Lebensversicherungen“, §§ 159 bis 178 VersVG. Sie ist auf alle Arten der Vertragsauflösung – ex nunc, ex tunc, durch den Versicherer oder durch den Versicherungsnehmer anzuwenden. § 176 VersVG gilt seinem Wortlaut nach – mangels einer Differenzierung des Begriffs „Rücktritt“ auch für einen Rücktritt nach § 165a VersVG und auch für einen sogenannten Spätrücktritt. Er gilt aber auch für eine Anfechtung des Vertrags wegen Irrtums oder wegen List oder Arglist, für die die 30-jährige Verjährungsfrist gilt und somit eine sehr späte Vertragsaufhebung ermöglicht, wie eben auch im Fall eines Spätrücktritts ( Konwitschka , § 176 VersVG: Der „echte Wert“ als faire Lösung, Lebensversicherung, VbR 2016/134, 194 f; Fill , Das „ewige“ Rücktrittsrecht in der Lebensversicherung und dessen Rechtsfolgen, VR 2016 H 3, 38 f; Schauer , Spätrücktritt in der Lebensversicherung, VR 2017 H 1-2, 33 [55 ff]; Rebhahn , Der prolongierte Rücktritt in der Lebensversicherung [2017] 49; aA Loipold, § 176 VersVG: (K)ein Nullsummenspiel, VbR 1016/135, 195 f; Armbrüster , Rückabwicklung von Lebensversicherungen in Deutschland und Österreich im Forum Verbraucherrecht 2017, 1 [12]).

Der Rückkaufswert des § 176 VersVG ist der nach den anerkannten Regeln der Versicherungsmathematik berechnete Zeitwert der Versicherung. Dieser kann – je nach vereinbarter Verzinsung und den zugewiesenen Gewinnanteilen – höher, aber auch niedriger sein als die vom Versicherungsnehmer geleisteten Prämien abzüglich deren Risikoanteilen.

Die Ratio des § 176 VersVG liegt in der besonderen Rechtsnatur der kapitalbildenden Lebensversicherung. Zwar besteht der Vertrag nur zwischen dem Versicherer und dem Versicherungsnehmer. Allerdings strahlen die Wirkungen dieses Vertrages auch auf die im Rahmen der selben Risikogemeinschaft versicherten Personen aus. Bei der Bemessung des Rückkaufswerts geht es darum, die durch den jeweiligen Vertrag hervorgerufenen Kosten lediglich diesem Vertrag zuzuordnen und nicht die übrigen Teilhaber dieser Risikogemeinschaft zu belasten. Würde man dem Versicherungsnehmer die Summe aller geleisteten Prämien zurückstellen, so würden alle mit dem Vertrag und seiner vorzeitigen Auflösung verbundenen Kosten zu Lasten des Deckungsstocks gehen. Die Nachteile wären dann von jenen Versicherten zu tragen, die vertragstreu sind, während der die vorzeitige Beendigung anstrebende Versicherungsnehmer einseitig profitieren würde. § 176 VersVG bezweckt nicht bloß einen bilateralen Interessenausgleich zwischen Versicherer und Versicherungsnehmer, sondern es wird trilateral auch die versicherte Gemeinschaft einbezogen ( Schauer, VR 2017 H 1 bis 2, 55 und - diesem folgend - Rebhahn, Rücktritt 54 f).

Die Abgeltung des Rückkaufswerts nach § 176 VersVG hat damit zur Folge, dass der Vertrag auch bei einer Auflösung ex tunc mit einer Wirkung ex nunc abgewickelt wird.

6.2 Der Ersatz (bloß) des Rückkaufswerts steht aber in einem Spannungsverhältnis zum Gebot der praktischen Wirksamkeit (effet utile) des Rücktrittsrechts nach § 165a VersVG bei der Umsetzung des Unionsrechts. Entscheidend ist, ob die Anwendung des § 176 VersVG dem Wirksamkeitsgebot entspricht.

6.2.1 Ein wesentliches Argument für die Zulässigkeit der Anwendung des § 176 VersVG ist der ihm zu Grunde liegende trilaterale Interessenausgleich innerhalb der Risikogemeinschaft.

Bemerkenswert dazu ist die Entscheidung des EuGH vom 15.4.2010 (C-215/08 E.Fritz GmbH/von der Haiden ). Darin anerkannte er den Schutz von Drittinteressen bei der sich aus dem innerstaatlichen Recht ergebenden Rechtsfolgen des Rücktritts im Verbraucherschutzrecht. Der Entscheidung lag ein Beitritt zu einem geschlossenen Immobilienfonds in Form einer Personengesellschaft zu Grunde, wobei die gebotene Belehrung über das voraussetzungslose Rücktrittsrecht (bei einem Haustürgeschäft) unterblieben war. Der EuGH billigte für den Fall eines späten Rücktritts, dass die vom nationalen Recht bei Auflösung der Gesellschaft vorgesehene Wirkung ex nunc eingreift (Lehre von der fehlerhaften Gesellschaft) und nicht die bereicherungsrechtliche Rückabwicklung. Entscheidend sei, ob/dass die nationale „Regel entsprechend den allgemeinen Grundsätzen des Zivilrechts für einen vernünftigen Ausgleich und eine gerechte Risikoverteilung zwischen den einzelnen Beteiligten sorgen [soll]“. Dann sei es im Hinblick auf das Rücktrittsrecht und dessen praktische Wirksamkeit bei einem späten Rücktritt zulässig, dass der Anleger auch bei diesem Rücktritt „gleichzeitig einen Teil der Risken [übernimmt], die untrennbar mit jeder Kapitalanlage der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Art verbunden sind.“

Diese Entscheidung lässt sich auf einen späten Rücktritt von einem Lebensversicherungsvertrag übertragen, auch wenn die Risikogemeinschaft der Versicherten nicht mit Gesellschaftern einer Gesellschaft gleichzustellen ist. Diese Entscheidung dokumentiert, dass die im innerstaatlichen Recht entwickelten Rechtsinstitute, die dem Schutz von Drittinteressen dienen, nicht zwangsläufig gegenüber dem unionsrechtlichen Verbraucherschutz zurücktreten müssen ( Schauer , VR 2017 H 1 bis 2, 56; Rebhahn , Rücktritt 57 f).

6.2.2 Die Aufwendungen des Versicherers für eine bereicherungsrechtliche Rückabwicklung, die über den Zeitwert (Rückkaufswert) des Versicherungsvertrags hinausgeht, belasten – wie erwähnt - das Versicherungskollektiv. Sie mindert bei gewinnberechtigten Lebensversicherungen den Mindestgewinn von 85 %, der dem Versichertenkollektiv zuzuweisen ist (LV-GBV Lebensversicherung-Gewinnbeteiligungsverordnung 2006 und 2015). Dementsprechend gehen 85 % der Differenz zwischen der bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung und dem Rückkaufswert zu Lasten des Deckungsfonds der versicherten Gemeinschaft (vgl Rebhahn , Rücktritt 59). Die Belastung des Versichertenkollektivs mit einer bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung spricht gegen die Ansicht, dass das Wirksamkeitkeitsgebot für das Rückcktrittsrecht eine bereicherungsrechtliche Rückabwicklung erfordert.

6.2.3 Weiters ist in diesem Zusammenhang zu betonen, dass § 176 VersVG im Einklang mit dem unionsrechtlichen Gebot steht, ausreichend „versicherungstechnische Rückstellungen“ zu bilden und dafür der „Grundsatz der Vorsicht“ gilt. Gerade die Dritte Richtlinie Lebensversicherung enthält detaillierte Regelungen zu den versicherungstechnischen Rückstellungen. Angesichts der unzähligen Lebensversicherungsverträge, die wegen fehlender oder fehlerhafter Rücktrittsbelehrungen aufgelöst wurden bzw noch unbefristet aufgelöst werden können, könnte eine Überbetonung des Wirksamkeitsgebots betreffend dieses Rücktrittsrechts – unbefristeter Rücktritt und bereicherungsrechtliche Rückabwicklung - das Wirksamkeitsgebot der Dritten Richtlinie Lebensversicherung betreffend die „ausreichende versicherungstechnische Rückstellung“ empfindlich beeinträchtigen.

6.2.4 Gegen die Notwendigkeit einer bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung für eine Wirksamkeit des Rücktritts spricht auch, dass die Kombination mit einem unbefristeten Rücktrittsrecht zu einer Verlagerung des Anlagerisikos vom Versicherungsnehmer auf das Versichertenkollektiv führt. Dies steht aber nicht im Einklang mit dem Zweck des Rücktrittsrechts oder eines Widerrufsrechts. Diese dienen einem Übereilungsschutz und/oder einem Schutz vor Überforderung in der Abschlusssituation wegen komplizierter Vertragsinhalte. Demnach sollen sie, eine vollständige Belehrung darüber vorausgesetzt, die Möglichkeit einräumen, innerhalb von 14 bis 30 Tagen, in der sogenannten „Cooling off“-Periode, die Vertragsentscheidung in einer ex-ante-Betrachtung und unter Vergleich anderer Produkte noch einmal zu überdenken. Hingegen bezwecken das Rücktrittsrecht/Widerrufsrecht und die Regelungen über die Belehrung nicht, die Ausübung des Rücktrittsrechts im Fall einer fehlenden oder fehlerhaften Belehrung mitunter auch Jahre hinauszögern zu können, um in einer ex-post-Betrachtung die wirtschaftliche Entwicklung des geschlossenen Lebensversicherungsvertrags zu beurteilen. Eine derartige Verlagerung des Anlagerisikos vom Versicherungsnehmer auf die Versicherungsgemeinschaft widerspricht vielmehr einem angemessenen Ausgleich ( Rebhan, Rücktritt 60f ).

6.2.5 Schließlich wird die praktische Wirksamkeit des Rücktrittsrechts auch unter Anwendung des § 176 VersVG durch folgende Umstände und Handlungsmöglichkeiten gestützt:

Zum einen besteht die Möglichkeit eines späten, unbefristeten Rücktritts bei fehlender oder fehlerhafter Belehrung;

zum anderen sind beim Rücktritt gemäß § 165a VersVG zum Unterschied von einer Kündigung nach § 165 VersVG weder eine Frist noch kein Kündigungstermin einzuhalten (nämlich zum Ende der laufenden Versicherungsperiode, gemäß § 9 VersVG dauert diese ein Jahr); die Prämienzahlungspflicht entfällt sofort, wobei auch ein Rückkaufsabschlag gemäß § 176 Abs 4 VersVG entfällt ( Rebhahn, Rücktritt 61 ) .

Schließlich wird der Versicherungsnehmer durch das Schadenersatzrecht geschützt. Die unterbliebene oder fehlerhafte Belehrung über das Rücktrittsrecht gemäß § 165a VersVG ist rechtswidrig, sei es aus dem Grund einer Verletzung vertraglicher Aufklärungspflichten, aber auch wegen einer Verletzung eines Schutzgesetzes nach § 1311 ABGB. In Folge des Vertragsverhältnisses verlagert sich die Beweislast für das mangelnde Verschulden gemäß § 1298 ABGB auf den Versicherer. Der Versicherungsnehmer hat daher lediglich den Schaden und die Kausalität zu beweisen, dass er bei korrekter Information innerhalb der Frist von 30 Tagen vom Vertrag zurückgetreten wäre.

6.3 Zusammengefasst sprechen stärkere Argumente für die Anwendung des § 176 VersVG auch im Fall des Rücktritts vom Lebensversicherungsvertrag gemäß § 165a VersVG; das Gebot der praktischen Wirksamkeit des Rücktrittsrechts steht einer solchen Anwendung nicht entgegen.

6.4 In der Literatur werden zur Rückabwicklung folgende Differenzierungen vorgenommen: Im Fall des fristgerechten Rücktritts innerhalb von 30 Tagen soll es zur bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung kommen, sodass der Versicherungsnehmer eine allenfalls bereits geleistete Prämie zurückerhalten soll. Erst bei einem Rücktritt nach Ablauf der 30-tägigen Frist ist § 176 VersVG anzuwenden ( Schauer , VR H 1-2 57f).

Weiters wird im Fall eines unbefristeten Rücktrittsrechts eine Mittellösung vorgeschlagen: Zwar könne der Versicherungsnehmer zeitlich unbegrenzt zurücktreten. Zu einer bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung komme es aber nur in den ersten drei Jahren nach Vertragsabschluss; danach sei § 176 VersVG anzuwenden ( Fenyves , VR H 7-8, 49). Da diese Varianten für die Lösung des vorliegenden Falls nicht relevant sind, wird hierauf nicht weiter eingegangen.

7. Zum Fall

Die Klägerin begehrte, gestützt auf Bereicherung, die Rückzahlung der Prämien von insgesamt EUR 4.940,-- samt Zinsen. Wie aufgezeigt, steht ihr ein solcher bereicherungsrechtlicher Rückzahlungsanspruch nicht zu. Den Rückzahlungswert selbst hat sie nicht begehrt.

Die hier vertretene Rechtsansicht ist nicht überraschend, weil die Beklagte bereits im erstinstanzlichen Verfahren vorbrachte, dass die Klägerin nur Anspruch auf Zahlung des Rückkaufswertes nach § 176 Abs 1 VersVG hat.

Da die eingeklagten Bereicherungsansprüche aus den angeführten Gründen nicht zu Recht bestehen, erübrigt es sich, auf die weiteren angesprochenen Rechtsfragen einzugehen.

Rechtliche Beurteilung

Die Berufung erweist sich somit als nicht berechtigt.

8. Kostenentscheidung, Ausspruch zur Revisionszulässigkeit

Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf den §§ 41 und 50 ZPO.

Die Revision ist gemäß § 502 Abs 2 ZPO jedenfalls unzulässig.

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