JudikaturJustiz5Os964/55

5Os964/55 – OGH Entscheidung

Entscheidung
14. Oktober 1955

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 14. Oktober 1955 unter dem Vorsitze des Senatspräsidenten Dr. Sommer, in Gegenwart des Rates des Obersten Gerichtshofes Dr. de Pers-Susans sowie der Räte des Oberlandesgerichtes Wien Dr. Lachout und Dr. Estl und des OLGR Dr. Spernoga als Richter, dann des Richteramtsanwärters Dr. Schmieger als Schriftführers, in der Strafsache gegen Karl S***** wegen des Verbrechens nach dem § 11 VG über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss des Volksgerichtes Wien vom 5. Juli 1954, GZ Vg 12i Vr 1505/47-Hv 684/48, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung, nach Anhörung des Vortrages des Berichterstatters - Rates des Obersten Gerichtshofes Dr. de Pers-Susans und der Ausführungen des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwaltes Rehm, zu Recht erkannt:

Spruch

Durch den Beschluss des Volksgerichtes Wien vom 5. Juli 1954, GZ Vg 12i Vr 1505/47-Hv 684/48, mit dem der Antrag der Staatsanwaltschaft Wien auf Rekonstruktion der in Verlust geratenen Akten Vg 12i Vr 1505/47-Hv 684/48, betreffend das Strafverfahren gegen Karl S***** wegen Verbrechens nach dem § 11 VG 1947 und nach dem § 6 KVG 1947 abgewiesen wurde, ist das Gesetz in den Bestimmungen des § 81 Abs 1 GOG, Gesetz vom 27. November 1896, RGBl Nr. 217, und des § 174 Abs 1 Z 8 Geo, Geschäftsordnung für die Gerichte erster und zweiter Instanz in der Fassung der Verordnung vom 9. Mai 1951, BGBl Nr. 264, verletzt.

Dieser Beschluss wird aufgehoben.

Dem Volksgerichte Wien wird aufgetragen, über den Antrag der Staatsanwaltschaft Wien neuerlich zu entscheiden.

Gründe:

Rechtliche Beurteilung

I.) Das Bundesministerium für Inneres hat mit einem als „2. Anforderung" bezeichneten Schreiben vom 28. Jänner 1954 das Volksgericht Wien um Mitteilungen über den Stand des Strafverfahrens gegen Karl S***** wegen Verbrechens nach dem § 6 KVG 1947 ersucht. Wie aus dem Schreiben des Bundesministeriums für Inneres hervorgeht, ist dieses Verfahren aus dem zu GZ Vg 12i Vr 1505/47-Hv 684/48 anhängig gewesenen Verfahren gegen Karl S***** ausgeschieden worden. Das Volksgericht Wien hat das Schreiben des Bundesministeriums für Inneres nicht beantwortet.

Das Bundesministerium für Inneres hat hierauf mit einem als „3. Anforderung" bezeichneten Schreiben vom 26. Februar 1954 neuerlich um Mitteilungen über den Stand des Verfahrens gegen Karl S***** wegen Verbrechens nach dem § 6 KVG 1947 ersucht.

Die vorliegenden Teilakten enthalten sodann einen nicht datierten Vermerk der Geschäftsabteilung, aus dem sich ergibt, dass die Akten Vg 12i Vr 1505/47-Hv 684/48 nicht auffindbar seien. Am 23. März 1954 verfügte der Richter die Abfertigung eines Schreibens an das Präsidium des Landesgerichtes für Strafsachen Wien zwecks Einleitung einer „Suchaktion" und die Feststellung des Ergebnisses des Strafverfahrens gegen S***** wegen § 6 KVG 1947 durch eine Anfrage bei der Staatsanwaltschaft.

Ein undatierter Vermerk der Geschäftsabteilung besagt Folgendes:

„Laut fernmündlicher Auskunft des Aktenlagers der Staatsanwaltschaft wurde der § 6 KVG in der Hauptverhandlung am 28. September 1948 ausgeschieden. Am 15. Oktober 1948 hat die Staatsanwaltschaft die Erklärung nach dem § 34 Abs 2 StPO hinsichtlich des § 6 KVG abgegeben."

Am 28. März 1954 verfügte der Richter, es sei das Bundesministerium für Inneres zu verständigen, dass das Verfahren gegen Karl S***** auf Grund einer Erklärung der Staatsanwaltschaft vom 15. Oktober 1948 nach dem § 34 Abs 2 StPO „abgeschlossen" sei.

Diese richterliche Verfügung wurde von der Geschäftsabteilung nicht befolgt.

Mit Schreiben vom 27. April 1954 teilte das Präsidium des Landesgerichtes für Strafsachen Wien der Gerichtsabteilung VG 12 mit, dass die eingeleitete „Suchaktion" ergebnislos geblieben sei. Hierauf wurden die Akten der Staatsanwaltschaft Wien „zur eventuellen Antragstellung über Rekonstruktion" übermittelt; die Staatsanwaltschaft beantragte am 11. Juni 1954 die Rekonstruktion der Akten.

Mit dem Beschluss vom 5. Juli 1954, VG 12i Vr 1505/47-Hv 684/48 hat das Volksgericht Wien den Antrag der Staatsanwaltschaft abgewiesen und in der Begründung des Beschlusses ausgeführt, dass gemäß dem § 38 Abs 1 der Verordnung vom 9. August 1927, BGBl Nr. 248, in Verlust geratene Akten nur dann zu rekonstruieren seien, wenn in einer Strafsache eine Entscheidung oder Verfügung zu treffen sei, für die die Kenntnis des vernichteten Aktes unentbehrlich ist oder aber wenn die Erneuerung des Aktes zur Fortführung oder Durchführung einer anderen Strafsache oder für amtliche Zwecke erforderlich ist (§ 46 der zit. VO). In weitwendiger und im vorliegenden Fall durchaus überflüssiger Weise befasst sich das Volksgericht sodann mit der Frage, ob die Rekonstruktion von Akten als Justizverwaltungssache zu betrachten sei, und verneint diese Frage.

Mit einem Schreiben vom 15. Juli 1954 hat das Volksgericht Wien das Bundesministerium für Inneres endlich verständigt, in welcher Weise das Verfahren gegen Karl S***** wegen Verbrechens nach dem § 6 KVG 1947 abgeschlossen worden ist.

Der Beschluss des Volksgerichtes Wien vom 5. Juli 1954, Vg 12i Vr 1505/47-Hv 684/48, steht mit dem Gesetze nicht im Einklang. II.) Die Strafprozessordnung enthält zwar Vorschriften über die Gewährung der Einsicht in Strafakten und über die Vorlage der Akten an übergeordnete Gerichte, jedoch keine unmittelbaren Vorschriften über die Bildung und Führung von Akten sowie über die Erneuerung in Verstoß geratener Akten. Durch die Bestimmung des § 81 Abs 1 des Gesetzes vom 27. November 1896, RGBl Nr. 217 (GOG), ist der Justizminister ermächtigt worden, im Verordnungswege Vorschriften darüber zu erlassen, wie mit den bei Gericht einlangenden Schriften zu verfahren ist, wie also die Akten zu bilden sind; im § 81 Abs 2 GOG wird ferner bestimmt, dass alle Schriftstücke, die dieselbe Rechtssache betreffen, in einem Aktenhefte (Aktenbunde) zu sammeln und unter der gleichen gemeinsamen Bezeichnung zu vereinigen sind. Von der im § 81 Abs 1 GOG erteilten Ermächtigung hat das Bundesministerium für Justiz Gebrauch gemacht, allerdings ohne Bezugnahme auf diese Ermächtigung, und in der Geschäftsordnung für die Gerichte erster und zweiter Instanz (Geo in der Fassung der Verordnung vom 9. Mai 1951, BGBl Nr. 264) Vorschriften über die Registerführung und Aktenbildung (V. Hauptstück) sowie über die Aufbewahrung und Vernichtung der Akten (II. Hauptstück, 8. und 9. Kapitel) erlassen. Diesen Vorschriften zufolge sind die Akten über rechtskräftig erledigte Rechtssachen spätestens zwei Jahre nach rechtskräftiger Erledigung an das Aktenlager abzugeben (§ 171 Abs 1 Geo), wo selbst Strafakten im Allgemeinen dreißig Jahre hindurch, wenn aber eine Verurteilung wegen eines Verbrechens erfolgt ist, fünfzig Jahre hindurch aufzubewahren sind (§ 174 Abs 1 Z 8 Geo). Weder die Strafprozessordnung noch das Gerichtsorganisationsgesetz noch die Geschäftsordnung enthalten demnach ausdrückliche Vorschriften über die Erneuerung von Strafakten, die in Verlust geraten sind. Solche Vorschriften wurden vielmehr erst aus Anlass des Brandes des Justizpalastes im Juli des Jahres 1927 auf Grund des Bundesverfassungsgesetzes vom 2. August 1927 über die infolge des Brandes im Wiener Justizpalast erforderlichen Maßnahmen, BGBl Nr. 239, durch die Verordnung des Bundeskanzleramtes vom 9. August 1927 über die infolge des Brandes des Wiener Justizpalastes erforderlichen Maßnahmen, BGBl Nr. 248, in den Bestimmungen des 3. und 5. Teiles dieser Verordnung erlassen. Wiewohl diese Vorschriften aus Anlass eines bestimmten Ereignisses erlassen wurden, sind sie doch nach der Rechtslehre (vgl Lohsing-Serini, Österr. Strafprozeßrecht, S 459) sinngemäß ganz allgemein auf die Erneuerung in Verlust geratener Akten anzuwenden.

Nach den Bestimmungen des 3. Teiles dieser Verordnung sind nun vernichtete Akten nicht schlechthin von Amts wegen, sondern nur dann zu erneuern, wenn in einer Strafsache eine Entscheidung oder Verfügung zu treffen ist, für die die Kenntnis dieser Akten unentbehrlich ist. Durch die Bestimmungen des 5. Teiles der erwähnten Verordnung erfahren diese Vorschriften noch eine Erweiterung dahin, dass die Bestimmungen dieser Verordnung über die Erneuerung von Akten auch dann anzuwenden sind, wenn dies zur Fortführung oder Durchführung einer anderen Sache oder überhaupt für amtliche Zwecke erforderlich ist (§ 46 dieser Verordnung). Obgleich sich also aus den Bestimmungen der Geschäftsordnung, insbesondere aus jenen des § 174 Abs 1 Z 8, ohne Weiteres denkrichtig der Schluss ziehen ließe, dass in Verlust geratene Strafakten, soweit die Fristen für ihre Aufbewahrung noch nicht abgelaufen sind, jederzeit von Amts wegen zu erneuern sind, ergibt sich doch aus den gegenteiligen Vorschriften der Verordnung vom 9. August 1927, die als lex specialis durch die Bestimmungen der späteren Geschäftsordnung vom 9. Mai 1951 keineswegs abgeändert wurde, dass nach dem Willen des Gesetzgebers die Erneuerung in Verlust geratener Strafakten, auch wenn die Frist zu ihrer Aufbewahrung noch nicht verstrichen ist, nicht jederzeit von Amts wegen, sondern nur dann zu erfolgen hat, wenn dies notwendig ist, um eine Entscheidung oder Verfügung treffen oder eine andere Sache fort- oder durchführen zu können, oder überhaupt wenn amtliche Zwecke dies erforderlich machen, die Bestimmung des § 174 Abs 1 Z 8 Geo, soweit hiedurch grundsätzlich die Erneuerung in Verstoß geratener Strafakten angeordnet wird, also insoweit einschränkend auszulegen ist. Allerdings wird im Interesse nicht nur eines geordneten Dienstbetriebes der Gerichte, der verlangt, dass Akten, die voraussichtlich nochmals benötigt werden, jederzeit zur Verfügung stehen, ohne dass in solchen Fällen durch die nachträgliche Erneuerung erst in dem Moment, wo die Akten tatsächlich benötigt werden, mitunter kostbare Zeit verloren wird, sondern auch im Interesse der rechtssuchenden Bevölkerung, die Anspruch darauf hat, dass von ihr benötigte Akten jederzeit zur Verfügung stehen, bei Beantwortung der Frage, ob die Erneuerung in Verlust geratener Akten für amtliche Zwecke erforderlich ist, ein strenger Maßstab angelegt werden müssen und von der sofortigen Erneuerung von Akten, deren Verlust festgestellt wird, nur dann abgesehen werden können, wenn mit großer Wahrscheinlichkeit feststeht, dass die Benützung dieser Akten auch in Zukunft nicht mehr erforderlich werden wird. Je geringer also die allgemeine Bedeutung von Akten ist und je länger ihre Bildung zurückliegt, desto eher wird sich der Standpunkt vertreten lassen, dass sie für amtliche Zwecke nicht mehr erforderlich sind und daher ihre Erneuerung, wenn sie in Verlust geraten sind, unterbleiben kann. So wäre es zB gewiss sinnlos und nicht der erkennbaren ratio legis entsprechend, in Verstoß geratene Akten mit einem erheblichen Aufwand an Zeit und Mühe zu erneuern, wenn in diesem Zeitpunkt kein konkreter Anhaltspunkt dafür gegeben ist, dass man die Akten noch jemals für amtliche Zwecke benötigen werde, und der Zeitraum, während dessen sie nach den Bestimmungen des § 174 Abs 1 Z 8 Geo noch aufzubewahren wären, nur noch kurz ist. Aus dem Grunde allein also, weil ein Strafakt in Verstoß geraten ist, hat seine Erneuerung noch nicht zu erfolgen. Es wird vielmehr immer auf die praktischen Bedürfnisse und die Besonderheiten des einzelnen Falles Bedacht zu nehmen sein. Ergibt sich aber, dass in Verstoß geratene Akten für amtliche Zwecke noch erforderlich sind, weil von ihnen voraussichtlich noch einmal amtlich Gebrauch zu machen sein wird, dann sind sie sogleich und ohne erst den Eintritt dieses Ereignisses abzuwarten, zu erneuern, damit sie gegebenenfalls sofort zur Verfügung stehen. Um so mehr gilt dies daher, wenn sich ein solches Bedürfnis in Form einer amtlichen Anfrage über den Inhalt der Akten, des begründeten Begehrens einer Partei um Einsicht oder Bestätigung über ihren Inhalt oder des Ersuchens einer Behörde oder eines Amtes um ihre Übersendung bereits ergeben hat.

III.) Im vorliegenden Falle hätte daher das Volksgericht Wien die in Verlust geratenen Akten jedenfalls insoweit erneuern müssen, als dies zu einer verlässlichen Auskunft an das Bundesministerium für Inneres erforderlich war. Insbesondere wären zu diesem Zwecke Auszüge aus den Registern Vr, Ur und Hv anzufertigen und zu den Akten zu nehmen gewesen. Notfalls wären überdies die Parteien und ihre Vertreter zur Vorlage noch in ihren Händen befindlicher Aktenstücke aufzufordern gewesen. Die vom „Aktenlager" der Staatsanwaltschaft fernmündlich erteilte und in einem nicht datierten Vermerk der Geschäftsabteilung festgehaltene Auskunft über die Art der Erledigung des ausgeschiedenen Verfahrens kann nicht als geeignete Grundlage für die Erteilung einer Auskunft an eine andere Behörde oder eine Partei angesehen werden.

Zu der vom Volksgericht Wien aufgeworfenen Frage, inwieweit die Erneuerung von Akten im Wege der Justizverwaltung aufgetragen werden kann, ist auf die im EvBl 1953 unter der Nr. 418 auch veröffentlichte Entscheidung des Obersten Gerichtshofes vom 1. Juni 1953, 5 Os 537, zu verweisen.

Der unter I.) näher bezeichnete Beschluss des Volksgerichtes Wien verletzt somit das Gesetz in den Bestimmungen des § 81 Abs 1 GOG, Gesetz vom 27. November 1896, RGBl Nr. 217, und des § 174 Abs 1 Z 8 der Geschäftsordnung für die Gerichte erster und zweiter Instanz in der Fassung der Verordnung vom 9. Mai 1951, BGBl Nr. 264. Dieser Beschluss war daher aufzuheben, dem Volksgerichte Wien war aufzutragen, über den Antrag der Staatsanwaltschaft Wien auf Rekonstruktion der Akten neuerlich zu entscheiden.