JudikaturJustiz23Rs16/23h

23Rs16/23h – OLG Innsbruck Entscheidung

Entscheidung
30. Mai 2023

Kopf

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Oberlandesgericht Innsbruck hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Oberlandesgerichts Dr. Kohlegger als Vorsitzenden und die Richterin des Oberlandesgerichts Dr. Pirchmoser sowie den Richter des Oberlandesgerichts MMag. Dr. Dobler und die fachkundigen Laienrichter Mag. Stefan Wanner (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. a Dr. in Silvia Zangerle-Leberer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Mitglieder des Senats in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A* , geb am **, Servicetechniker in **, **, vertreten durch Dr. Hansjörg Mader, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, gegen die beklagte Partei B* , C*, **, **-Straße **, vertreten durch ihren Mitarbeiter Mag. Arnold Machacek, wegen Invaliditätspension, über die Berufung der klagenden Partei (ON 33) gegen das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Arbeits- und Sozialgericht vom 10.3.2023, 76 Cgs 24/22d 30, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Berufung wird k e i n e Folge gegeben.

Ein Kostenersatz findet im Berufungsverfahren nicht statt.

Die (ordentliche) Revision ist n i c h t zulässig.

Text

entscheidungsgründe:

Der Kläger war während des maßgeblichen Zeitraums vor dem Stichtag 1.1.2022 als Servicetechniker beschäftigt.

In diesem Zeitraum hat er 484 Leistungsmonate, davon 333 Beitragsmonate in der Pflichtversicherung zur Erwerbstätigkeit erworben. Zuletzt war er 39 Monate als Servicetechniker tätig.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 21.1.2022 wies die Beklagte den Antrag des Klägers vom 22.12.2021 auf Zuerkennung einer Invaliditätspension mit der zusammengefassten Begründung ab, es liege keine dauernde Invalidität vor. Es bestehe auch kein Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung, weil es auch an einer vorübergehenden Invalidität im Ausmaß von mindestens sechs Monaten gebreche. Zudem bestehe weder Anspruch auf medizinische noch auf berufliche Maßnahmen der Rehabilitation.

Von diesem - in der Berufung unberührten - Sachverhalt muss das Berufungsgericht gemäß den §§ 2 Abs 1, 498 ZPO ausgehen.

Mit seiner (fristgerechten) Bescheidklage begehrt der Kläger die Verpflichtung der Beklagten, ihm die Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab dem Stichtag zu gewähren; hilfsweise die Feststellung, wonach Invalidität im Ausmaß von zumindest sechs Monaten vorliege und ihm Anspruch auf Rehabilitationsgeld zukomme. Der Kläger sei aufgrund diverser in der Klage im Detail aufgezählter Leidenszustände nicht mehr dazu in der Lage, durch eine auf dem Arbeitsmarkt noch bewertete Tätigkeit die Lohnhälfte zu erlösen. Seine bisherige Tätigkeit als Maschinenschlosser ohne Berufsschutz (Servicetechniker) könne er nicht mehr ausüben. Derzeit beziehe er Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung.

Die Beklagte bestreitet, beantragt Klagsabweisung und wendet ein, der Kläger sei nicht überwiegend in einem erlernten (angelernten) Beruf tätig gewesen. Er sei auf dem allgemeinen österreichischen Arbeitsmarkt noch auf zahlreiche Tätigkeiten vermittelbar, die ihm die Lohnhälfte garantierten. Daher bestehe weder Anspruch auf Invaliditätspension noch auf Rehabilitationsgeld oder Maßnahmen der medizinischen oder beruflichen Rehabilitation.

Mit dem bekämpften Urteil wies das Erstgericht das Haupt- und das Eventualbegehren ab.

Diesem Erkenntnis legte das Erstgericht die auf den S 4 9 der Urschrift bzw der Ausfertigungen ON 30 enthaltenen Sachverhaltsfeststellungen zugrunde. Auf diese, insbesondere die Feststellungen zu den Anforderungsprofilen der Verweisungsberufen wie Portier:innen, Museumswärter-/Aufseher:innen sowie Parkgaragenkassier:innen und der Anzahl der in diesen Verweisungsberufen auf dem allgemeinen österreichischen Arbeitsmarkt verfügbaren Arbeitsstellen kann gemäß §§ 2 Abs 1 ASGG, 500a ZPO verwiesen werden. Darüber hinaus traf das Erstgericht folgende weitere für das Verständnis der Berufungsentscheidung erforderliche Feststellungen:

Der Kläger kann unter den üblichen Bedingungen eines Arbeitsverhältnisses vollschichtig leichte körperliche Arbeiten mit durchschnittlichem psychischen Anforderungsprofil einschließlich Umschulbarkeit unter halbzeitig diskontinuierlich besonderem Zeitdruck ausüben. Er kann Mengenleistungstätigkeiten und Aufsichtstätigkeiten erfüllen. Diese Arbeiten können im Gehen, Stehen und Sitzen sowie im Wechsel dieser Körperhaltungen verrichtet werden. Nach ununterbrochenem Einhalten einer dieser Körperhaltungen ist nach maximal einer Stunde ein Wechsel der Körperhaltung für die Dauer einiger Minuten erforderlich. Eine Unterbrechung der Arbeitstätigkeit ist dafür nicht gefordert. Die Arbeiten können in geschlossenen Räumen und im Freien bei entsprechendem Schutz vor Kälte, Nässe und Zugluft verrichtet werden.

Der Kläger muss folgende Arbeiten vermeiden:

in überwiegend gebückter Körperhaltung (Kopfposition unter Tischniveau) und mit häufigem routinemäßigen Bücken sowie in kniender Arbeitsposition

in Zwangshaltung der Lendenwirbelsäule

auf Leitern, Gerüsten oder anderen exponierten Stellen

in Überkopfposition

mit häufigem Treppensteigen

an Maschinen mit Vibrationen oder Verletzungsgefahr

mit feinmotorischen Arbeiten.

Beschränkungen beim Anmarschweg zur Arbeitsstätte bestehen nicht. Eine Gehstrecke von 500 m kann in angemessener Zeit bewältigt werden. Öffentliche Verkehrsmittel können benutzt werden. Wohnsitzwechsel sowie Tages- und Wochenpendeln sind zumutbar.

Regelmäßige Krankenstände im Ausmaß von 7 oder mehr Wochen pro Jahr sind bei Einhaltung des gegebenen gesamtmedizinischen Leistungskalküls mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten. Der gegenwärtige Zustand ist durch eine zumutbare Therapie und orthopädische Schuhzurichtung verbesserbar, eine Änderung im gesamtmedizinischen Leistungskalkül ergibt sich dadurch aber nicht.

Dieser Gesundheitszustand besteht seit zumindest dem Stichtag 1.1.2022.

Von 4.4. bis Mitte Mai 2022 bestand beim Kläger Arbeitsunfähigkeit. Aufgrund einer Operation an der rechten Schulter im September 2022 bestand Arbeitsunfähigkeit im Ausmaß von 6 bis 8 Wochen.

Durch einen im September 2022 durchgeführten Eingriff an der Schulter ist eine leichte Beschwerdebesserung zu erwarten, jedoch nicht in einem Ausmaß, das sich in einer Änderung des gesamtmedizinischen Leistungskalküls niederschlagen würde.

In rechtlicher Beurteilung vertrat das Erstgericht die Auffassung, dass der Kläger keinen Berufsschutz genieße. Da der Kläger zum Stichtag erst 56 Jahre alt gewesen sei, könne er von der Tätigkeitsschutzbestimmung des § 255 Abs 4 ASVG nicht profitieren. Da der Kläger noch Tätigkeiten verrichten könne, die über den Umfang der in § 255 Abs 3b ASVG genannten hinausgingen, insbesondere auch halbzeitig (diskontinuierlich) Tätigkeiten im Stehen und im Gehen und unter fallweise überdurchschnittlichem Zeitdruck, unterfalle er auch nicht der Härtefallregelung des § 255 Abs 3a und 3b ASVG. Sein Begehren sei daher nach § 255 Abs 3 ASVG zu beurteilen. Dabei genüge ein einziger zumutbarer Verweisungsberuf, um ihm die Invaliditätspension zu verwehren. Mangels gesundheitsbedingter Einschränkung könne er auf die Tätigkeiten eines Aufsehers, Platzanweisers, Adressenverlagsarbeiters oder Büro-/Hausboten verwiesen werden (10 ObS 7/16a). Daraus folge, dass Invalidität des Klägers weder auf Dauer noch über sechs Monate hinaus gegeben sei, denn die gesundheitlichen Einschränkungen resultierend aus seinen Operationen an der rechten Schulter erreichten addiert maximal dreieinhalb Monate. Das Haupt- und das Eventualklagebegehren des Klägers müssten daher der Abweisung verfallen. Eine Kostenentscheidung unterließ das Erstgeicht, weil bezüglicher Aufwand von den Parteien im erstinstanzlichen Verfahren nicht verzeichnet wurde.

Gegen diese Entscheidung wendet sich nunmehr die (fristgerechte) Berufung des Klägers aus dem Rechtsmittelgrund der Mangelhaftigkeit des Verfahrens mit dem Antrag, die bekämpfte Entscheidung aufzuheben und die Sozialrechtssache an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückzuverweisen (ON 33 S 3).

Die Beklagte hat von der Erstattung einer Berufungsbeantwortung abgesehen, jedoch beantragt, dem gegnerischen Rechtsmittel den Erfolg zu versagen (ON 35 S 2).

Nach Art und Inhalt des geltend gemachten Anfechtungsgrunds war die Anberaumung einer öffentlichen, mündlichen Berufungsverhandlung entbehrlich. Über das Rechtsmittel war daher in nichtöffentlicher Sitzung zu befinden (§§ 2 Abs 1 ASGG, 480 Abs 1 ZPO). Dabei erwies es sich aus nachstehenden Erwägungen als unbegründet:

Rechtliche Beurteilung

1.: In der Berufung wird - unter verschiedenen Aspekten - der Standpunkt vertreten, das erstinstanzliche Verfahren leide an einer gravierenden, die Rechte des Klägers beschneidenden Mangelhaftigkeit, weil dieser im gesamten Verfahren nicht als Partei einvernommen und von „dem beigezogenen Sachverständigen“ nicht persönlich befragt und untersucht worden wäre. Diese Vorwürfe treffen aber in Wahrheit nicht zu:

1.1.: Die Berufung geht hier möglicherweise von der Rechtslage im allgemeinen Zivilverfahren aus: Dort muss der Sachverständige zur Befundaufnahme zumindest mangels gegenteiligen gerichtlichen Auftrags beide Parteien beiziehen. Auch dort erfolgt die Befundaufnahme durch den Sachverständigen (§ 359 ZPO) etwa bei der medizinischen Untersuchung einer Partei im Interesse deren Intimsphäre jedoch ohne Beteiligung des Prozessgegners (für viele: Schneider in Fasching/Konecny ZPO³ III/1 [2017] § 359 ZPO Rz 8 mwH). Das auch bei der Befundaufnahme grundsätzlich zu wahrende Parteiengehör (für viele 3 Ob 27/06a, EFSlg 115.168 = JBl 2007, 255) zwingt aber dazu, dass über entscheidungswesentliche gesundheitsbezogene Aspekte zB in Artzhaftungsverfahren etwa über Vorbereitung, Ablauf und Folgen eines ärztlichen Eingriffs oder in Verkehrsunfallprozessen etwa über Schmerzperioden und Dauerfolgen einer erlittenen Verletzung üblicherweise die betroffenen Personen förmlich vernommen werden. Im sozialgerichtlichen Verfahren besteht aber die in der Lehre gebilligte Rechtsprechung insbesondere zur Sondervorschrift des § 75 ASGG, wonach medizinische Fachfragen grundsätzlich nicht durch ua förmliche Parteienvernehmung geklärt werden können. Das Unterbleiben der Parteienvernehmung zu diesen medizinischen Fachfragen stellt daher keinen Verfahrensmangel dar, sofern der Partei Gelegenheit dazu geboten wurde, die maßgeblichen Umstände ihres Leidens im weitesten Sinn auf andere Weise in aller Regel im Zug der sog „Anamnese“ mit dem Sachverständigen in das Verfahren einzubringen (OLG Linz 20.10.2009, 12 Rs 154/09, SVSlg 59.683; OLG Innsbruck zB 5.6.2019, 23 Rs 20/19s ErwGr 2.7.; Neumayr in ZellKomm³ II [2018] § 75 ASGG Rz 8 und Rz 11 je mwH).

1.2.: Im vorliegenden Verfahren wurde aber von beiden im erstinstanzlichen Verfahren beigezogenen medizinischen Sachverständigen nämlich dem neurologischen und psychiatrischen Sachverständigen (Hauptgutachten ON 14 und Ergänzungsgutachten ON 21) sowie dem orthopädischen und zusammenfassenden Gutachter (Haupt- und zusammenfassendes Gutachten ON 16 sowie Ergänzungsgutachten [betreffend die Schulter-OP vom 29./30.9.2022] ON 26) jeweils eine ausführliche persönliche Anamnese mit dem Kläger durchgeführt: Am 25.4.2022 vom orthopädisch-rheumatologischen Sachverständigen (ON 16 S 2 und 3) und vom neurologischen und psychiatrischen Sachverständigen am 6.12.2022 (ON 14 S 1, S 3 10 insb S 8). Darüber hinaus hat der orthopädisch-rheumatologische Sachverständige eine röntgenologische Befundung des Klägers am 25.4.2022 durchführen lassen (ON 5). Bei beiden Anamnesegesprächen hatte der Kläger Gelegenheit dazu, seine persönlichen Leidenszustände und Befindlichkeiten den beiden begutachtenden Sachverständigen ausführlich vorzutragen. Dass und aus welchen konkreten Gründen der Kläger bei diesen beiden Terminen, die in den beiden genannten Gutachten ausführlichst dokumentiert sind, konkret gehindert gewesen wäre, alle Aspekte seiner Leiden und Beschwerden bei den beiden Sachverständigen vorzubringen (was uU einen primären Verfahrensmangel verwirklichen könnte: OLG Linz 20.10.2009, 12 Rs 154/09, SVSlg 59.683), wird in der Berufung mit keinem Wort dargelegt. Es kann daher nach dem Aktenstand mit Grund davon ausgegangen werden, dass die Sachverständigen entsprechend dem gerichtlichen Auftrag, entsprechend ihrem Berufsethos und entsprechend ihrer Zertifizierung dem Kläger im Rahmen der dokumentierten Anamnesen Gelegenheit zur Erörterung aller dem Kläger erheblich erscheinenden Aspekte geboten haben.

2.: Schließlich ist noch hervorzuheben, dass das Erstgericht zu Recht zur Lösung der Rechtsfrage der (zumutbaren) Verweisung des Klägers auf den für ihn in Betracht kommenden gesamtösterreichischen Arbeitsmarkt ein berufskundliches Gutachten aufgenommen hat (ON 19), in dem die Anforderungen für einen Teil der (nicht ohnehin offenkundigen) Verweisungsberufe, die der Kläger ausgehend von seinem (von den medizinischen Sachverständigen ermittelten) gesamtmedizinischen Leistungskalkül noch ohne Beeinträchtigung seines schon angegriffenen gesundheitlichen Zustands gefahrlos verrichten kann. Diese Ergebnisse des berufskundlichen Gutachtens hat das Erstgericht auch in korrespondierende Tatsachenfeststellungen übernommen und darauf aufbauend die Rechtsfrage der Verweisung - die in der Berufung ausdrücklich nicht mehr kritisiert wird - richtig gelöst.

2.1.: Zu erörtern bleibt nur der in das Angriffsfeld der Berufung wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens fallende verfahrensrechtliche Aspekt, dass das Erstgericht ein sozialgerichtlicher, also auch mit Berufs- und Laienrichtern besetzter „berufsständiger“ erkennender Senat war. Ein solcher erstinstanzlicher sozialgerichtlicher Senat kann in Anwendung der §§ 2 Abs 1 ASGG, 269 ZPO bei jenen weit verbreiteten Verweisungsberufen, die weitgehend vor den Augen der Öffentlichkeit ausgeübt werden, deren Anforderungsprofil und ob sie auf dem allgemeinen österreichischen Arbeitsmarkt mindestens 100 Mal vorkommen, als offenkundig im Sinn der §§ 2 Abs 1 ASGG, 269 ZPO annehmen. Begründet wird dies vor allem im Hinblick auf gleichartige solchen Senaten bereits bekannte Fälle und auf die besondere Zusammensetzung dieser Senate mit Laienrichtern aus dem Kreis der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer. Auf diese Art und Weise wird die Aufnahme von berufskundlichen Gutachten zu diesen Punkten nach der ständigen Rechtsprechung entbehrlich (10 ObS 16/16z ErwGr 3.2.; 10 ObS 184/10x, SSV NF 25/6; vgl Neumayr § 75 ASGG Rz 8 und Rz 10 mwH). Es liegt also eine besondere Form der Gerichtsnotorietät bzw allgemeiner formuliert Offenkundigkeit im Sinn des § 269 ZPO (hier iVm § 2 Abs 1 ASGG) vor (OLG Wien zB 16.4.2013, 8 Rs 41/13b, SVSlg 61.106), die auf dem weiten Erkenntnishorizont des laienrichterlich besetzten Dreier- bzw in „höheren Instanzen“ Fünfer-Senats beruht, und eigentlich kein manchmal sog „besonderes Fachwissen“ (OLG Innsbruck 23.11.2018, 25 Rs 32/18v, SVSlg 67.407) darstellt. Diese (korrekte) Definitionsfrage ist jedoch für die Anfechtbarkeit mit Mängelrüge im Berufungsverfahren, wie das im vorliegenden Fall versucht wurde, unerheblich.

2.2.: Diese besondere Form der Offenkundigkeit (10 ObS 16/16z ErwGr 3.2.; 10 ObS 184/10x, SSV NF 25/6 je mwH) hat das Erstgericht in einer der beiden dafür in Betracht kommenden Formen (nämlich entweder in Form von Tatsachenfeststellung oder durch Einbringung im Rahmen der rechtlichen Beurteilung) verwertet, nämlich im konkreten Fall dadurch, dass es über das Anforderungsprofil diverser Verweisungsberufe ausführliche Tatsachenfeststellungen getroffen hat (ON 30 S 6 ff). Diese Tatsachenfeststellungen hat der Berufungswerber nicht mit dem grundsätzlich in Betracht kommenden Rechtsmittelgrund der unrichtigen Tatsachenfeststellung aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung (zu den dabei bestehenden Anfechtungserfordernissen zB RIS Justiz RS0041835 [T4, T5]), sondern bei weitem Verständnis seiner Rechtsmittelausführungen im Rahmen einer Mängelrüge kritisiert.

2.3.: Die Mängelrüge könnte aber nur dann erfolgreich sein, wenn die Berufung die Notorietät der vom Erstgericht verwerteten Tatsachen in Zweifel zöge und geltend machte, dass diese nicht gänzlich außer Zweifel stünden; denn dann müsste das Erstgericht auch offenkundige Tatsachen mit den Parteien (zB dem Berufungswerber) erörtern (zB 8 Ob 48/17t ErwGr 2.1.; 4 Ob 189/14v ErwGr 1.2.; RIS Justiz RS0110714 [T10]). Das Gericht müsste den Parteien dann die Gelegenheit bieten, den Beweis der Unrichtigkeit einer vom Gericht als offenkundig beurteilten Tatsache anzutreten (10 ObS 6/20k ErwGr 3.4.). Eine diesbezügliche Verletzung der Erörterungspflicht könnte dann einen Verfahrensmangel begründen (4 Ob 189/14v ErwGr 1.2.). Dass beim Kläger aber ganz besondere Einschränkungen des gesamtmedizinischen Leistungskalküls vorlägen oder dass das Erstgericht ganz unübliche Verweisungsberufe angewendet hätte (10 ObS 2050/96k, ARD 4775/28/96; OLG Linz 12 Rs 43/97, SVSlg 44.365 je mwH), wird in der Berufung gar nicht geltend gemacht.

2.4.: Darüber hinaus müsste für eine erfolgreiche Mängelrüge die abstrakte Erheblichkeit des Erörterungsmangels richtig dargestellt werden. Der Rechtsmittelwerber muss wohl nicht die konkrete Nachteiligkeit des Mangels für seinen Prozessstandpunkt nachweisen; er muss aber - wenn dies nicht ausnahmsweise offenkundig ist - aufzeigen, dass der gerügte Verfahrensmangel abstrakt erheblich und damit geeignet war, das ihn belastende Ergebnis auch konkret verursacht zu haben (RIS Justiz RS0043027 [T1, T6, T10]). Der Berufungswerber ist daher dazu aufgerufen, in seiner Verfahrensrüge nachvollziehbar auszuführen, welche für ihn günstigen Verfahrensergebnisse zu erwarten gewesen wären, wenn der Verfahrensfehler nicht unterlaufen wäre (1 Ob 61/18d ErwGr 4.; 2 Ob 110/17s ErwGr 2.) bzw wenn er die Tatsachenfeststellung des Erstgerichts angreifen wollte, nachvollziehbar darlegen, in welcher Hinsicht sich bei Unterbleiben des Mangels eine abweichende Sachverhaltsgrundlage ergeben hätte (7 Ob 213/18a ErwGr 2.; 1 Ob 61/18d ErwGr 4.; Lovrek in Fasching/Konecny ZPO³ IV/1 [2019] § 503 ZPO Rz 45). Denn andernfalls kann die Eignung des Mangels zur Behinderung der erschöpfenden Erörterung und gründlichen Beurteilung der Streitsache vom Rechtsmittelgericht - letztlich im Sinn eines Vergleichs zwischen dem tatsächlichen und dem im Rechtsmittel abstrakt zu behauptenden hypothetischen Verfahrensablauf - nicht beurteilt werden ( Lovrek § 503 ZPO Rz 45; vgl Kodek in Rechberger/Klicka [Hrsg] ZPO 5 [2019] § 471 Rz 11). Der Rechtsmittelwerber muss also darlegen, welchen Verlauf das Verfahren genommen hätte, wenn der gerügte Fehler unterblieben wäre (1 Ob 204/07t VersE 2198 = RdW 2008/209, 262). Das ist bei einer in Betracht kommenden Verletzung der Erörterungspflicht nach den §§ 2 Abs 1 ASGG, 182, 182a ZPO - § 39 Abs 2 Z 1 ASGG kommt hier nicht in Betracht, weil der Kläger im erstinstanzlichen Verfahren gemäß § 40 ASGG qualifiziert vertreten war - die Darstellung, welches zusätzliche oder andere Vorbringen er nach pflichtgemäßer Erörterung (10 Ob 54/17i ErwGr 1.4.), was insoweit ohne Verstoß gegen das Neuerungsverbot zulässig ist (8 Ob 62/16z ErwGr 2.2.), erstattet hätte (8 ObA 62/16z ErwGr 2.2.; RIS Justiz RS0037095 [T5]; RS0037300 [T48]; RS0120056 [T12]).

2.5.: Da die Mängelrüge die Frage, ob tatsächlich eine besondere Einschränkung des gesamtmedizinischen Leistungskalküls oder ein unüblicher Verweisungsberuf vorliegt, wie gleich dargelegt wird, mit Grund, überhaupt nicht anspricht, ist die Mängelrüge in diesem Sinn nicht judikaturkonform ausgeführt (vgl Neumayr § 75 ASGG Rz 10), sodass das Berufungsgericht diese Problemkreise inhaltlich weder überprüfen darf noch überprüfen kann. Es ist allerdings anzumerken, dass in Wahrheit bei den unbekämpften Feststellungen des Erstgerichts über das Anforderungsprofil in den Verweisungsberufen in ON 30 S 6 f weder unübliche Verweisungsberufe gewählt wurden, noch beim Kläger im Rahmen des unbekämpft festgestellten gesamtmedizinischen Leistungskalküls (ON 30 S 5) eine unübliche Einschränkung enthalten ist. Aus diesen nachvollziehbaren Gründen enthält die Berufung daher in diesem Punkt keine weiteren konkreten Ausführungen, weil sie nur aktenwidrig sein könnten und sich der Berufungswerber dazu offensichtlich nicht verleiten lassen wollte.

3.: Entgegen dem Standpunkt der Berufung blieb das erstinstanzliche Verfahren auch unter dem Aspekt des in der Berufung gerügten unterbliebenen arbeitsmedizinischen Gutachtens mängelfrei: Aufgabe der Arbeitsmedizin ist es, die Gesundheit der Arbeitnehmer zu fördern, aufrecht zu erhalten und insbesondere Schäden, die durch Arbeitsbedingungen entstehen können, zu verhindern. Das Sonderfach Arbeitsmedizin umfasst die Beschäftigung mit den Wechselbeziehungen zwischen Arbeit, Beruf und Gesundheit mit dem Ziel der Erhaltung und Förderung von Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter, wobei sich das Aufgabengebiet der Arbeitsmedizin insbesondere auf die Erkennung gesundheits- und leistungsrelevanter Faktoren im betrieblichen Geschehen, die Bewertung der Auswirkung dieser Faktoren auf den Menschen und den betrieblichen Ablauf, die Entwicklung und Umsetzung von Präventionsmaßnahmen, die Abklärung von Gesundheitsstörungen hinsichtlich ihrer möglichen arbeitsbedingten Ursachen sowie auf die Mitwirkung bei medizinischen Maßnahmen bei durch Arbeitsunfälle und durch das Arbeitsgeschehen verursachten Einschränkungen einschließlich der Durchführung berufsfördernder Rehabilitation erstreckt. Aufgabe des Sachverständigen für Arbeitsmedizin könnte daher nur sein, die Wirkungen zu beurteilen, die eine ganz bestimmte berufliche Tätigkeit auf den Gesundheitszustand der Arbeitnehmer im Allgemeinen hat (zB OLG Wien 7 Rs 19/02, SVSlg 48.691; OLG Innsbruck zB 23 Rs 19/21x ErwGr B.3.4.3.). Ein Gutachten aus der Arbeitsmedizin kann kein auf den konkreten Versicherten persönlich abgestelltes medizinisches Sachverständigengutachten ersetzen. Ein arbeitsmedizinischer Sachverständiger kann daher nicht klären, ob der Kläger eine ganz bestimmte Tätigkeit ausüben kann oder nicht. In das Fachgebiet der Arbeitsmedizin fällt es auch nicht, ein Leistungskalkül eines Arbeitnehmers zu erheben und zu erstellen (siehe etwa OLG Innsbruck 23 Rs 45/20v ErwGr A.4.4.; OLG Wien 32 Rs 35/94, SVSlg 41.541).

4.: Auch des bereits im erstinstanzlichen Verfahren gestellten (ON 1 S 2) und in der Berufung wiederholten Antrags auf Einholung eines informierten Vertreters des zuständigen Arbeitsmarktservices bedarf es nicht: Dieses Gutachten entspricht schon formal nicht den von den §§ 2 Abs 1 ASGG, 226 Abs 1 ZPO aufgestellten Erfordernissen: Insbesondere wird der Zeuge nicht durch konkreten Namen und Anschrift ladungsfähig identifiziert, zumal ua zwischen dem Sitz des Erstgerichts und dem Wohnsitz(gericht) des Klägers mehrere der derzeit insgesamt 105 regionalen Geschäftsstellen des AMS in Betracht kommen, in denen derzeit ca 6.500 Mitarbeiter beschäftigt sind. Ohne individualisierten Namen könnte eine allfällige Ladung auch gar nicht erzwungen werden (LGZ Wien 40 R 253/06m, RIS Justiz RWZ0000100). Dieser Antrag ist daher entgegen dem Standpunkt der Berufung schon formal nicht zu berücksichtigen (5 Ob 218/09h; RIS Justiz RS0040305; Frauenberger in Fasching/Konecny ZPO³ II/3 [2017] § 329 Rz 2; Pochmarski/Tanczos/Kober Berufung in der ZPO 4 [2023] 135 FN 498; Pochmarski/Lichtenberg/Tanczos/Kober Berufung in der ZPO³ [2017] 110 FN 453; siehe zur Abgrenzung zum ausschließlich für die Parteien[vernehmung] konzipierten fakultativen informierten Vertreter nach § 258 ZPO: RIS Justiz RS0126084). Darüber hinaus könnte sich durch die Einvernahme eines solchen informierten Vertreters keine hier relevante Feststellung über den für die Beurteilung der Verweisung des Klägers maßgeblichen Arbeitsmarkt im gesamtösterreichischen Bundesgebiet (auf dem sog „gesamtösterreichischen Arbeitsmarkt) ergeben (OLG Wien 35 R 308/84, SSV 25/31; OLG Innsbruck zB 23 Rs 55/14f ErwGr A.5.). Ganz abgesehen davon ist nur ein gerichtlich beeideter Sachverständiger - hier für Berufskunde, der wie erwähnt, ohnedies hier bestellt wurde - dazu berufen Gutachten über die Verhältnisse auf dem gesamtösterreichischen (OLG Wien und OLG Innsbruck wie vor; OLG Wien 5 Rs 1020/87 bestätigt durch 10 ObS 23/87, SSV NF 1/32) oder den allenfalls (aber nicht hier) in Betracht kommenden regionalen Arbeitsmarkt des betroffenen Pensionswerbers zu erstellen. Somit erweist sich auch dieser in der Berufung erneuerte erstinstanzliche Beweisantrag als inhaltlich unbegründet.

5.: Schließlich entspricht es entgegen dem Standpunkt des Rechtsmittels ständiger Rechtsprechung, wonach eine weitere Begutachtung unterbleiben kann, wenn ein vom Gericht beigezogener Sachverständiger ausdrücklich anführt, dass eine weitere Begutachtung aus einem anderen medizinischen Fachgebiet nicht erforderlich ist (OLG Linz 12 Rs 92/17m, SVSlg 65.710 unter Verweis auf OLG Wien 7 Rs 177/02, SVSlg 50.079; 7 Rs 40/04, SVSlg 52.443; ebenso OLG Graz 6 Rs 35/17i, SVSlg 65.717; OLG Innsbruck zB 23 Rs 7/23k ErwGr 4.3.). Grundsätzlich kann nämlich davon ausgegangen werden, dass medizinische Sachverständige die Notwendigkeit allfälliger weiterer Untersuchungen oder weiterer Gutachten aus anderen medizinischen Fachgebieten beurteilen können (OLG Graz wie vor; OLG Wien 8 Rs 75/01, SVSlg 50.069; OLG Innsbruck wie vor). Das Gericht kann sich somit darauf verlassen, dass keine notwendige oder zweckdienliche Erweiterung der Untersuchung unterbleibt, wenn sie vom Sachverständigen nicht angeregt oder selbst vorgenommen wird (OLG Wien 7 Rs 177/02, SVSlg 50.079; 8 Rs 149/03, SVSlg 52.435; OLG Innsbruck wie vor) und somit davon ausgehen, dass ein Sachverständiger über so weitreichende Kenntnisse verfügt, um beurteilen zu können, ob diese im Einzelfall zur endgültigen Einschätzung ausreichen oder die Beiziehung von weiteren Sachverständigen geboten ist (OLG Wien 7 Rs 63/18p, SVSlg 67.408; 8 Rs 75/01, SVSlg 50.069; 9 Rs 38/96, SVSlg 44.357; zu alledem auch: OLG Wien 9 Rs 113/15a, SVSlg 65.846; weiters OLG Linz 11 Rs 104/19x; OLG Innsbruck wie vor).

6.: Zusammengefasst schlägt daher die Mängelrüge der Berufung nicht durch.

7.: Die bekämpfte Entscheidung war daher als rechtsrichtig zu bestätigen.

8.: Die Kosten entscheidung im Berufungsverfahren gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Ein Kostenersatzanspruch nach Billigkeit gemäß dieser Regelung scheitert schon daran, dass der Kläger zu keinem Zeitpunkt rechtliche oder tatsächliche Schwierigkeiten und die wirtschaftlichen Voraussetzungen für einen solchen Kostenzuspruch dargelegt hat (RIS Justiz RS0085829).

9.: Das Berufungsgericht konnte sich - wie durch mehrere Zitate belegt - in allen erheblichen Rechtsfragen auf eine einheitliche Judikatur stützen, von der es nicht abgewichen ist. Eine erhebliche Rechtsfrage in der von den §§ 2 Abs 1 ASGG, 502 Abs 1 ZPO geforderten Qualität war daher in diesem Berufungsverfahren nicht zu klären. Der weitere Rechtszug nach dieser Gesetzesstelle erweist sich daher als nicht zulässig, worüber gemäß den §§ 2 Abs 1 ASGG, 500 Abs 2 Z 3 ZPO ein eigener Ausspruch in den Tenor der Berufungsentscheidung aufzunehmen war.

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