JudikaturJustiz22R150/23y

22R150/23y – LG Korneuburg Entscheidung

Entscheidung
14. September 2023

Kopf

IM Namen der Republik

Das Landesgericht Korneuburg als Berufungsgericht hat durch die Richter Mag Iglseder als Vorsitzenden sowie Mag Rak und Mag Jarec LLM in der Rechts-sache der klagenden Partei A***** GmbH , vertreten durch Stanonik Rechtsanwälte in Wien, wider die beklagte Partei A***** A***** AG , vertreten durch Brenner Klemm, Rechtsanwälte in Wien wegen EUR 1.200,-- sA, infolge Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Bezirksgerichts Schwechat vom 19.04.2023, 24 C 374/22p 11, in nicht öffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Berufung wird Folge gegeben, und das angefochtene Urteil dahin abge-ändert, dass es zu lauten hat:

„Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen

[a] EUR 1.200,-- zu zahlen;

[b] die mit EUR 1.330,24 (darin EUR 114,-- Barauslagen) bestimmten Kosten des Verfahrens zu Handen der Klagevertreter zu ersetzen.“

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit EUR 468,92 (darin EUR 154,-- Barauslagen) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens binnen 14 Tagen zu Handen der Klagevertreter zu ersetzen.

Die Revision ist jedenfalls unzulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSgründ E:

Die Fluggäste P***** B***** und Y***** B***** verfügten über eine bestätigte Buchung für die von der Beklagten durchzuführende Flugverbindung am 29.07.2019 [alle Zeitangaben, sofern nicht anders angegeben, in Lokalzeit]

– OS 9762 Keflavík (KEF) nach Wien (VIE) 01:10 Uhr bis 07:20 Uhr, und

– OS 857 von VIE nach Tel Aviv (TLV), 10:25 Uhr bis 14:55 Uhr.

Der Flug OS 9762 wurde verspätet, und zwar erst um 11:23 Uhr bis 17:30 Uhr durchgeführt, womit die Fluggäste keine Möglichkeit mehr hatten, ihren Anschlussflug OS 857 wahrzunehmen. Sie wurden in der Folge von der Beklagten auf die Flugverbindung

– OS 115 von VIE nach München (MUC), 17:30 Uhr 1 bis 18:30 Uhr, und

– LY 352 von MUC nach TLV, 21:35 Uhr bis 02:15 Uhr (des Folgetags)

umgebucht und mit dieser Verbindung auch tatsächlich an ihr Endziel befördert. Die Flugstrecke KEF – TLV beträgt mehr als 3.500 km. Die Fluggäste traten ihre Ansprüche auf Ausgleichsleistung an die Klägerin ab.

Die Klägerin begehrte den Zuspruch einer Ausgleichsleistung gemäß Art 7 [Abs 1 lit c] der Verordnung (EG) Nr 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.02.2004 (EU-FluggastVO) von jeweils EUR 600,--, insgesamt daher EUR 1.200,-- (ohne Zinsen). Sie brachte im Wesentlichen vor, dass der verspäteten Durchführung des Fluges OS 9762 keine außergewöhnlichen Umstände zugrunde gelegen seien. Es sei nicht nachvollziehbar, weshalb eine kurze wetterbedingte Einstellung des Abfertigungsbetriebs in VIE zu einer solch großen Verspätung geführt habe. Die Beklagte habe auch nicht alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen, um die Fluggäste schnellstmöglich an ihr Endziel zu befördern. Insbesondere wären diverse (nicht über VIE führende) – von der Klägerin konkret bezeichnete – Umsteigeverbindungen von KEF an das Endziel TLV zur Verfügung gestanden; und zwar zusammengefasst über London (LTN, LHR oder LGW), Paris (CDG), Warschau (WAW), München (MUC) und Frankfurt (FRA).

Die Beklagte beantragte die Klagsabweisung, bestritt und brachte – soweit im Berufungsverfahren noch von Interesse – im Wesentlichen Folgendes vor: Für die Durchführung des Fluges OS 9762 sei das Fluggerät mit der Kennung OE-LBM vorgesehen gewesen, das auch den unmittelbaren Vorflug OS 9761 von VIE nach KEF mit den Flugzeiten 19:50 Uhr bis 00:25 Uhr durchführen hätte sollen. Seit Mittag hätten in VIE jedoch widrige Wetterbedingungen mit Gewittern und Cumulonimbus-Wolken geherrscht, die in der Zeit von 21:08 Uhr bis 21:20 Uhr zur Einstellung der Boden- abfertigung ( Handling Suspension ) geführt hätten. Aufgrund dessen habe sie erst für 23:25 Uhr einen Abflugslot erhalten. Bei dessen Wahrnehmung wäre jedoch die zulässige Arbeitszeit der Crew für die Rotation OS 9761/9762 überschritten worden, was zur Einreichung eines neuen Flugplans für 07:10 Uhr des Folgetages geführt habe. Auf den von der Klägerin genannten Ersatzverbindungen seien überwiegend keine freien Plätze verfügbar gewesen. Hinsichtlich der Ersatzverbindung über WAW brachte die Beklagte vor, dass die Fluglinie W***** 2 keine Flugverbindungen mit Anschlussflügen, sondern lediglich einzelne Flüge anbiete; damit würde – wie sie an Beispielen demonstrierte – das hohe Schutzniveau der EU-FluggastVO unterlaufen; Flüge mit W***** würden daher keine gleichwertige Alternativverbindung darstellen. Überdies wäre eine Umbuchung auf Flüge der W***** für sie mit untragbaren Opfern verbunden, weil sich diese Flüge „aus eigenem Ermessen“ nicht in ihrem Umbuchungssystem abbilden ließen. Eine Umbuchung müsse daher „händisch“ durchgeführt werden, was dazu führen würde, dass sie „mehrere hundert Mitarbeiter“ in Reserve halten müsse, um bei kurzfristigen Annullierungen Fluggäste „händisch“ umbuchen zu können.

Mit dem angefochtenen Urteil wies das Erstgericht das Klagebegehren zur Gänze ab und verhielt die Klägerin zum Ersatz der Prozesskosten an die Beklagte. In rechtlicher Hinsicht beurteilte es den eingangs dargestellten – teils unstrittigen, teils unbekämpfbar festgestellten – Sachverhalt – wiederum soweit im Berufungsverfahren noch von Interesse – zusammengefasst dahin, dass gemäß Art 5 Abs 1 lit c iVm Art 7 Abs 1 lit c EU-FluggastVO bei der Annullierung eines Fluges über eine Entfernung von über 3.500 km eine Ausgleichsleistung von EUR 600,-- gebühre. Nach der Rechtsprechung des EuGH seien Fluggäste verspäteter Flüge im Hinblick auf die Anwendung des Ausgleichsanspruchs den Fluggästen annullierter Flüge gleichgestellt und könnten einen Ausgleichsanspruch somit ebenfalls geltend machen, wenn sie wegen eines verspäteten Fluges einen Zeitverlust von drei Stunden oder mehr erleiden. Gemäß Art 5 Abs 3 EU-FluggastVO könne sich das ausführende Luftfahrtunternehmen von der Verpflichtung zur Zahlung eines Ausgleichsanspruchs befreien, wenn es nachweise, dass die Annullierung [ hier: große Verspätung] auf außergewöhnliche Umstände zurückgehe, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Es beurteilte die am 28.10.2019 in VIE konkret aufgetretene, mit einer Handling Suspension verbundene Wettersituation als außergewöhnlichen Umstand. Die Beklagte habe aber auch alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen; zum einen sei keine einsatzbereite Ersatzcrew zur Verfügung gestanden; zum anderen sei der Beklagten der Nachweis gelungen, dass sie die Fluggäste auf die frühestmögliche Alternativverbindung umgebucht habe.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der Klägerin aus dem Berufungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil dahin abzuändern, dass dem Klagebegehren zur Gänze stattgegeben werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte beantragt, der Berufung nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Berufung ist berechtigt.

[1] Mag der Schwerpunkt der Berufung auch auf der Frage der Umbuchung auf die frühestmögliche Ersatzbeförderung liegen, so zeigt die Berufungswerberin doch auch zutreffend auf, dass sich aus dem festgestellten Sachverhalt nicht ableiten lässt, dass die gesamte mehr als zehnstündige Verspätung des Fluges OS 9762 auf einen außergewöhnlichen Umstand iSd Art 5 Abs 3 EU-FluggastVO zurückzuführen ist.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Berufungsgerichts stellen widrige Wetter-bedingungen (nur) dann einen außergewöhnlichen Umstand iSd Art 5 Abs 3 EU-FluggastVO dar, wenn sie aus den üblichen und zu erwartenden Abläufen des Luftverkehrs herausragen und geeignet sind, die Betriebstätigkeit eines oder mehrerer Luftfahrtunternehmen zum Erliegen zu bringen (RKO0000046). Aus dem festgestellten Sachverhalt ergibt sich nun, dass die Gewitter in VIE zwar kurz nach 19:00 Uhr zu einer elfminütigen Handling Suspension geführt haben, dass danach aber für den Vorflug OS 9761 (VIE – KEF) ein Abflugslot um 21:25 Uhr (Lokalzeit KEF = UTC) bestanden hätte. Damit ging die weitaus spätere Durchführung des Vorfluges, wie auch des hier gegenständlichen Fluges nicht mehr unmittelbar auf die Schlechtwettersituation, sondern vielmehr darauf zurück, dass der Beklagten für die Wahrnehmung des Abflugslots um 21:25 Uhr keine Crew – und zwar auch keine Ersatzcrew – mehr zur Verfügung stand.

Der Ursächlichkeitszusammenhang zwischen dem Schlechtwetter als außergewöhnlichem Umstand und der erheblich verspäteten Durchführung aufgrund der – durch die wetterbedingte kurzfristige Flugverschiebung – fehlenden Crew kann daher im Rahmen des Befreiungstatbestandes des Art 5 Abs 3 EU-FluggastVO nur dann berücksichtigt werden, wenn der Beklagten keine zumutbaren Maßnahmen zur Verfügung standen, um dem Umstand der fehlenden Crew abzuhelfen. Zu den zumutbaren Maßnahmen, die ein Luftfahrtunternehmen – will es sich bei Vorliegen eines außer- gewöhnlichen Umstands von der Verpflichtung zur Zahlung einer Ausgleichsleistung befreien – zu ergreifen hat, zählen nämlich insbesondere auch Maßnahmen zur Vermeidung des Ursächlichwerdens des außergewöhnlichen Umstands für die Annullierung oder Verspätung des Fluges (vgl Iglseder , der fehlerfreie Umgang mit dem „außergewöhnlichen Umstand“, ZVR 2021, 257 [259]). Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Ursachen ist deshalb relevant, weil die Beklagte auf das Schlechtwetter und die Verhängung von Handling Suspensions keinen Einfluss nehmen konnte, sehr wohl aber auf den Umstand, ob ihr nach Beendigung der schlechtwetterbedingten Ausnahmesituation eine Crew zur Durchführung des zunächst an sich nur geringfügig verspäteten Fluges zur Verfügung steht oder nicht.

Die erstgerichtlichen Feststellungen zu diesem Thema beschränken sich darauf, dass die Beklagte zwar in VIE über einsatzbereite Ersatzcrews verfüge, dass jedoch am 28.07.2019 keine Ersatzcrew mehr zur Verfügung gestanden sei.

Allerdings erweist sich schon das diesbezügliche Vorbringen der Beklagten als ungenügend. Die bloße Prozessbehauptung „sämtliche Ersatzcrews“ seien im Einsatz gewesen, reicht nicht aus, um sich erfolgreich auf das Ergreifen sämtlicher zumutbarer Maßnahmen berufen zu können. Dazu zählen insbesondere auch vorbeugende Maßnahmen, um dem Auftreten eines außergewöhnlichen Umstands begegnen zu können, sofern die Maßnahme unter Berücksichtigung der Wahrscheinlichkeit, mit der mit dem Eintritt eines solchen Umstands gerechnet werden muss, nicht angesichts der Kapazitäten des Luftfahrtunternehmens untragbare Opfer abverlangt (vgl EuGH C 501/17 Germanwings/Pauels Rn 31 ff).

Zu den zumutbaren Maßnahmen gehört es daher nicht nur, eine (noch) vorhandene Ersatzcrew einzusetzen, sondern schon zuvor eine ausreichende Anzahl an Ersatzcrews bereitzuhalten, wobei ganz maßgeblich ins Gewicht fällt, dass es sich beim Flughafen VIE um den Heimatflughafen der Beklagten handelt. Da es immer wieder zu wetterbedingten Beeinträchtigungen des Flugverkehrs kommen kann (die überdies aufgrund der Genauigkeit moderner Wettervorhersagen in den seltensten Fällen völlig unerwartet kommen werden), die Verschiebungen der Flugpläne zur Folge haben können, was wiederum dazu führen kann, dass es zu potentiellen Überschreitungen der zulässigen Arbeitszeit der Crew kommt, kann sich ein Luftfahrtunternehmen nur dann darauf berufen, alle zumutbaren Maßnahmen iSd Art 5 Abs 3 EU-FluggastVO ergriffen zu haben, wenn es behauptet und nachweist, eine im Verhältnis zur Anzahl der durchzuführenden Flüge angemessene Anzahl an Ersatzcrews bereit gehalten zu haben. Mag die Beurteilung, ob das Luftfahrtunternehmen dieses angemessene Verhältnis gewahrt hat, im Einzelfall durchaus schwierig sein (wobei jedoch kein allzu strenger Maßstab anzulegen sein wird), so kann dies anhand der rudimentären Behauptungen im vorliegenden Fall nicht einmal ansatzweise geprüft werden: dass keine Ersatzcrew mehr zur Verfügung stand, kann theoretisch auch bedeuten, dass angesichts zu erwartender Wetter- und (daraus folgend) Arbeitszeitprobleme für eine Vielzahl von Flügen im betroffenen Zeitraum lediglich eine Crew in Reserve gehalten wurden, was keinesfalls als ausreichend anzusehen wäre.

[2] Damit kommt es im Ergebnis auch nicht mehr darauf an, ob die Beklagte den Fluggästen die schnellstmöglich Ersatzbeförderung angeboten hat. Ergänzend – und aufgrund der Bedeutung für vergleichbare Fälle – ist jedoch Folgendes anzumerken:

Nur scheinbar zutreffend weist die Berufungswerberin darauf hin, dass das Erst- gericht keine Feststellungen zu den von ihr behaupteten Möglichkeiten einer früheren Ersatzbeförderung (als der tatsächlich stattgefundenen) getroffen hat. Zwar enthält der als „entscheidungsrelevanter Sachverhalt“ bezeichnete Teil des angefochtenen Urteils tatsächlich keine Konstatierungen zu den von der Klägerin im Schriftsatz ON 7 vorgetragenen möglichen Ersatzbeförderungen. Allerdings lassen sich die vermissten Feststellungen – disloziert – der Beweiswürdigung in ausreichendem Ausmaß entnehmen. Dem Erstgericht kann lediglich der Vorwurf gemacht werden, nicht den gesamten zu beurteilenden Sachverhalt als „Feststellungen“ wiedergegeben und stattdessen den ergänzenden Sachverhalt gemeinsam mit den rechtlichen Erwägungen, aus welchen Gründen diese von der Klägerin vorgetragenen Möglichkeiten der Ersatzbeförderung von der Beklagten nicht anzubieten gewesen wären, gleichsam in die Beweiswürdigung „verschoben“ zu haben.

Den Ausführungen im angefochtenen Urteil lässt sich entnehmen, dass die Ersatz- verbindungen über London, Paris, München und Frankfurt letztlich aufgrund jeweils zumindest eines für diese Verbindung alternativlosen, jedoch ausgebuchten Fluges nicht möglich gewesen wären. Damit verbleibt letztlich nur die Verbindung über Warschau (WAW; gemäß den Flügen laut Beilagen ./M bis ./O 3 ), zu der das Erst- gericht keine Feststellungen getroffen hat.

[a] Sofern sich die Beklagte darauf berufen hat, dass Flugverbindungen über WAW keine gleichwertige Ersatzverbindung darstellen würden, ist auf folgende Unterscheidung hinzuweisen: Das Postulat der Gleichwertigkeit der Ersatzverbindung ergibt sich lediglich aus Art 8 Abs 1 lit a und b EU-FluggastVO. Diese Bestimmung regelt Rechts- ansprüche der Fluggäste, somit gegen das Luftfahrtunternehmen durchsetzbare Verpflichtungen für den Fall der Annullierung (bzw einer großen Verspätung; Art 5) oder der Nichtbeförderung (Art 4). Hingegen handelt es sich beim Anbieten einer „ zumutbaren, zufriedenstellenden und frühestmöglichen “ anderweitigen Beförderung (iSd Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 11.06.2020, C-74/19 TAP Rn 58) um eine – unter dem Gesichtspunkt des Ergreifens zumutbarer Maßnahmen zu qualifizierende – Obliegenheit des Luftfahrtunternehmens, das die Verpflichtung zur Zahlung einer Ausgleichsleistung gemäß Art 7 abwenden möchte. Weder der oben genannten Entscheidung des EuGH noch der Folgeentscheidung vom 14.01.2020, C 264/20 Airhelp/Austrian lässt sich die Einschränkung entnehmen, dass das ausführende Luftfahrtunternehmen als „frühestmögliche“ lediglich gleichwertige Ersatzverbindungen anzubieten hat. Beide Entscheidungen sprechen nur von der Suche nach anderen direkten oder indirekten Flügen, die gegebenenfalls von anderen Luftfahrtunternehmen, die derselben Fluggesellschaftsallianz angehören oder auch nicht, durchgeführt werden und mit weniger Verspätung als der nächste Flug des betreffenden Luftfahrtunternehmens ankommen. Dass beide Definitionen nebeneinander bestehen können, zeigt sich schon daran, dass der Fluggast, der auf einer gleichwertigen Ersatzverbindung iSd Art 8 besteht, einen wesentlich später durchgeführten (dann aber gleichwertigen) Ersatzflug in Anspruch nimmt; sich das ausführende Luftfahrtunternehmen aber dennoch von der Zahlung einer Ausgleichsleistung befreien kann, wenn es dem Fluggast eine früher durchgeführte – zumindest „zumutbare und zufriedenstellende“ – Ersatzbeförderung angeboten hat. Dass die frühestmögliche Ersatzbeförderung schon deshalb – als nicht zumutbar oder nicht zufriedenstellend – nicht angeboten werden muss, wenn auf dieser das Schutzniveau der EU-FluggastVO herabgesetzt oder gänzlich ausgeschlossen ist, überzeugt nicht, weil das Interesse des Fluggastes an einer möglichst raschen Ersatzbeförderung an sein Endziel das Interesse, den vollen Schutz der EU-FluggastVO zu genießen, durchaus übersteigen kann; oder mit anderen Worten: Das primäre Interesse des Fluggastes wird in aller Regel auf eine rasche Weiterbeförderung gerichtet sein und nicht auf die potentielle Inanspruchnahme von subsidiären Leistungen für den Fall, dass (auch) die Ersatz- beförderung von Leistungsstörungen betroffen ist.

[b] Der Rechtsansicht des Erstgerichts, dass die Beklagte nicht die Obliegenheit gehabt hätte, den Fluggästen eine Flugverbindung anzubieten, bei der der erste Teilflug „rund eine Stunde“ vor dem ursprünglich gebuchten Flug abgegangen wäre, kann angesichts der Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs im Urteil vom 21.12.2021 in den verbundenen Rechtssachen C-146/20, C-188/20, C 196/20 und C 270/20 nicht gefolgt werden: Der Unionsgesetzgeber – so der EuGH – habe erkannt, dass eine erhebliche Vorverlegung eines Fluges in gleicher Weise wie dessen Verspätung für die Fluggäste zu schwerwiegenden Unannehmlichkeiten führen könne, da eine solche Vorverlegung ihnen die Möglichkeit nehme, frei über ihre Zeit zu verfügen und ihrer Reise oder ihren Aufenthalt nach Maßgabe ihrer Erwartungen zu gestalten. Dies sei insbesondere dann der Fall, wenn ein Fluggast, der alle erforderlichen Vorkehrungen getroffen habe, aufgrund der Vorverlegung des von ihm gebuchten Fluges das Flugzeug nicht nehmen könne. Es sei auch dann der Fall, wenn die neue Abflugzeit den Fluggast zwinge, erhebliche Anstrengungen zu unternehmen, um seinen Flug zu erreichen (Rn 76 f). Insoweit sei zu unterscheiden zwischen Situationen, in denen die Vorverlegung keine oder nur eine unerhebliche Auswirkung auf die Möglichkeit für die Fluggäste habe, frei über ihre Zeit zu verfügen, und Situationen, die aufgrund der erheblichen Vorverlegung eines Fluges zu schwerwiegenden Unannehmlichkeiten führen. Zur Abgrenzung zwischen einer erheblichen und einer unerheblichen Vorverlegung eines Fluges seien die in Art 5 Abs 1 lit c Nr ii und iii der Verordnung vorgesehenen Schwellenwerte heranzuziehen (Rn 81 f). Folglich sah der EuGH die Erheblichkeitsschwelle ab einer Vorverlegung von einer Stunde überschritten (Rn 84).

Nach Ansicht des Berufungsgerichts kann diese Erheblichkeitsschwelle aufgrund der parallelen Interessenslage auch für die Beantwortung der Frage, welche „frühestmögliche“ Ersatzverbindung das ausführende Luftfahrtunternehmen den Fluggästen anzubieten hat, herangezogen werden.

Im Ergebnis würde dies bedeuten, dass die Beklagte – vorbehaltlich möglicher untragbarer Opfer – nur dann alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen hätte, wenn es den Fluggästen auch die mit dem Flug W6 1540 beginnende Ersatzbeförderung über WAW angeboten hätte.

Wie bereits unter Punkt [1] aufgezeigt, erweist sich die Berufung jedoch schon aus einem anderen Grund im Sinne einer gänzlichen Klagsstattgebung berechtigt, sodass auf die Behauptung der Beklagten, eine Umbuchung auf eine Fluglinie, die nicht in ihrem Umbuchungssystem registriert sei, sei aus personellen bzw wirtschaftlichen Gründen nicht zumutbar, nicht mehr eingegangen werden muss.

Die Abänderung der Sachentscheidung hat auch eine Neufassung der erstinstanzlichen Kostenentscheidung zur Folge. Diese beruht – nunmehr jedoch zugunsten der Klägerin – auf § 41 Abs 1 ZPO. Gegen das Kostenverzeichnis der Klägerin wurden keine Einwendungen (§ 54 Abs 1a ZPO) erhoben; es weist auch keine offenbaren Unrichtigkeiten auf.

Die Kostenentscheidung für das Berufungsverfahren gründet auf §§ 41 Abs 1, 50 Abs 1 ZPO.

Der Ausspruch über die Unzulässigkeit der Revision beruht auf §§ 500 Abs 2 Z 2, 502 Abs 2 ZPO.