JudikaturJustiz15Os17/24z

15Os17/24z – OGH Entscheidung

Entscheidung
17. April 2024

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 17. April 2024 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl als Vorsitzenden, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel Kwapinski, Dr. Mann und Dr. Sadoghi sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Riffel in Gegenwart der Mag. Weißmann als Schriftführerin in der Strafsache gegen C* P* H* wegen des Verbrechens der staatsfeindlichen Verbindungen nach § 246 Abs 1 und 2 erster, zweiter und vierter Fall StGB und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 4 HR 151/19y des Landesgerichts für Strafsachen Graz, über die von der Generalprokuratur gegen die Beschlüsse dieses Gerichts vom 30. März 2023 und vom 28. Juli 2023 (ON 731, ON 732 und ON 742 der Akten [nunmehr] AZ 280 Hv 32/23d dieses Gerichts) erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Oberstaatsanwalt Dr. Sprajc, und des Verteidigers des Angeklagten, Mag. Ibesich, LL.M., zu Recht erkannt:

Spruch

Im Verfahren AZ 4 HR 151/19y des Landesgerichts für Strafsachen Graz verletzen die Beschlüsse dieses Gerichts vom 30. März 2023 und vom 28. Juli 2023 (ON 731, ON 732 und ON 742 der Akten [nunmehr] AZ 280 Hv 32/23d dieses Gerichts) § 86 Abs 1 StPO iVm Art 14 EuAlÜ idF BGBl 1969/320.

Diese Beschlüsse werden aufgehoben und es wird die Sache zu neuer Entscheidung an das Landesgericht für Strafsachen Graz verwiesen.

Text

Gründe:

[1] Gegenstand der im gegen C* P* H* geführten (Ermittlungs-)Verfahren AZ 15 St 27/18g der Staatsanwaltschaft Graz (AZ 4 HR 151/19y des Landesgerichts für Strafsachen Graz) ergangenen gerichtlich bewilligten Festnahmeanordnung vom 24. September 2021 (ON 597) und des darauf basierenden Europäischen Haftbefehls (ON 598) waren (zusammengefasst)

das Verbrechen der staatsfeindlichen Verbindungen nach § 246 Abs 1 und 2 erster, zweiter und vierter Fall StGB (I. und II. – Gründung und anschließende führende Beteiligung an der staatsfeindlichen Verbindung „Global Common Law Court“ [GCLC] bzw „Global Court of the Common Law“ [GCCL] samt Anwerbung von Mitgliedern und Leistung sonstiger erheblicher Unterstützung) sowie

mehrere als im Verdacht stehend angenommene Taten, die „nicht-politischen“ strafbaren Handlungen subsumiert wurden (III. bis VII.).

[2] Mit Beschluss vom 2. November 2021, GZ 13 RS.2021.199 60, erklärte das Fürstliche Obergericht des Fürstentums Liechtenstein die Auslieferung des Beschuldigten infolge Einschränkung des Auslieferungsbegehrens (nur) zur Verfolgung der „nicht-politischen“ strafbaren Handlungen – unter dem Vorbehalt der Spezialität – für zulässig (III. bis VII.; vgl ON 685 S 7 ff, 50 ff).

[3] Am 8. Juni 2022 wurde der Beschuldigte nach Österreich ausgeliefert (ON 686). Mit Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 9. Juni 2022, AZ 4 HR 151/19y, wurde über ihn die Untersuchungshaft verhängt (ON 689), wobei als hafttragend die „Auslieferungssachverhalte“ IV. bis VII. (BS 2 ff) herangezogen wurden.

[4] Nach mehrfacher Haftfortsetzung durch das Landesgericht für Strafsachen Graz (ON 697, ON 705 und ON 715) hob das Oberlandesgericht Wien über Beschwerde des Beschuldigten die Untersuchungshaft mit Beschluss vom 16. November 2022, AZ 23 Bs 277/22m, wegen Verneinung eines dringenden hafttragenden Tatverdachts auf (ON 722). Der Beschuldigte wurde enthaftet (ON 723).

[5] Am 4. Jänner 2023 beantragte die Staatsanwaltschaft Graz neuerlich die Bewilligung der Festnahme des Beschuldigten (ON 731) und eines darauf gegründeten Europäischen Haftbefehls (ON 732). Dieser Antrag bezog sich der Sache nach auf denselben als Verbrechen der staatsfeindlichen Verbindungen nach § 246 Abs 1 und 2 erster, zweiter und vierter Fall StGB subsumierten Sachverhalt, der bereits Gegenstand der früheren Festnahmeanordnung und des früheren Europäischen Haftbefehls (I. und II. der ON 597 und ON 598), aber nicht Teil jener Taten war, zu deren Verfolgung das Fürstentum Liechtenstein den Beschuldigten unter Spezialitätsvorbehalt ausgeliefert hatte. Eine Begründung, warum ein diesbezüglicher Spezialitätsschutz nicht mehr bestehen sollte, ist den Anträgen nicht zu entnehmen.

[6] Mit Beschlüssen vom 30. März 2023 bewilligte das Landesgericht für Strafsachen Graz die Festnahme und den Europäischen Haftbefehl jeweils antragskonform „aus den darin angeführten Gründen“ (ON 731 S 11, ON 732 S 11; vgl RIS Justiz RS0124017).

[7] Dies gilt auch für den nachfolgend am 28. Juli 2023 von der Staatsanwaltschaft ausgestellten und vom Gericht bewilligten inhaltsgleichen Haftbefehl gemäß Anhang 43 des Handels- und Kooperationsabkommens zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich (ON 742 S 15).

[8] Sachverhaltsannahmen zum bisherigen Gang des Verfahrens (insbesondere zur Auslieferung aus Liechtenstein) und zum Verhalten des Beschuldigten nach seiner Enthaftung am 16. November 2022 (vgl Art 14 EuAlÜ idF BGBl 1969/320) enthalten diese (ohne Ergänzungen auf die Begründung der Staatsanwaltschaft verweisenden; vgl 15 Os 25/14m) Beschlüsse nicht.

[9] Aufgrund des zuletzt genannten Haftbefehls wurde der Beschuldigte am 5. August 2023 in England festgenommen und befindet sich nun dort in Auslieferungshaft (ON 748).

[10] In Ansehung dieser Vorwürfe brachte die Staatsanwaltschaft Graz (mittlerweile AZ 15 St 35/22i) am 10. November 2023 die Anklageschrift beim Landesgericht für Strafsachen Graz als Geschworenengericht (AZ 280 Hv 32/23d) ein. Über den dagegen erhobenen Einspruch hat das Oberlandesgericht Graz (AZ 9 Bs 414/23k) noch nicht entschieden.

Rechtliche Beurteilung

[11] Zutreffend zeigt die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes auf, dass die Beschlüsse des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 30. März 2023 und vom 28. Juli 2023 mit dem Gesetz nicht im Einklang stehen:

[12] Zwischen Österreich und dem Fürstentum Liechtenstein gelangt das Europäische Auslieferungsübereinkommen 1957 (EuAlÜ) zur Anwendung. Dieses regelt, soweit hier relevant, in seinem Art 14 (idF BGBl 1969/320) den Spezialitätsgrundsatz für vor der Übergabe begangene Handlungen abschließend, sodass in dessen Anwendungsbereich ein ergänzender Rückgriff auf § 70 ARHG nicht stattfindet (§ 1 ARHG; vgl RIS Justiz RS0111531; Martetschläger in WK² ARHG § 1 Rz 4).

[13] Gemäß Art 14 Abs 1 legcit ist aufrechter Spezialitätsschutz ein prozessuales Hindernis unter anderem für freiheitsbeschränkende Zwangsmaßnahmen. Nach dieser Bestimmung entfällt der Schutz, wenn der ausliefernde Staat zustimmt (lit a) oder die ausgelieferte Person, obwohl sie die Möglichkeit dazu hatte, das Hoheitsgebiet des Staates, dem sie ausgeliefert wurde, innerhalb von 45 Tagen nach ihrer endgültigen Freilassung nicht verlassen hat oder sie nach Verlassen dieses Gebiets dorthin zurückgekehrt ist (lit b).

[14] Aufgrund der Aktenlage war in den Entscheidungszeitpunkten der neuen gerichtlichen Bewilligung der Festnahme (ON 731) sowie der beiden darauf basierenden „internationalen“ Haftbefehle (ON 732 und ON 742) jeweils Spezialitätsschutz indiziert (vgl Ratz , WK StPO § 281 Rz 600, 611).

[15] Das Gericht, das nach §§ 105 Abs 1, 170 Abs 1 und 171 Abs 1 StPO die beantragte Zwangsmaßnahme der Festnahme und die darauf basierenden Haftbefehle bewilligte, hätte daher das Bestehen von Spezialitätsschutz zu prüfen und in den Bewilligungsbeschlüssen jene Sachverhaltsannahmen anzuführen gehabt, anhand derer beurteilbar ist, warum dieses prozessuale Hindernis verneint wurde (§ 86 Abs 1 vierter Satz StPO; vgl RIS Justiz RS0126648; Tipold , WK StPO § 86 Rz 8). Indem die genannten Beschlüsse die Vornahme dieser Prüfung und die sachverhaltsmäßige Basis für die Verneinung des Spezialitätsschutzes nicht erkennen lassen, verletzen sie § 86 Abs 1 StPO iVm Art 14 EuAlÜ (idF BGBl 1969/320).

[16] Da nachteilige Auswirkungen dieser Gesetzesverletzungen für den (nunmehr) Angeklagten nicht auszuschließen sind, wurde deren Feststellung mit der im Spruch ersichtlichen konkreten Wirkung verbunden (§ 292 letzter Satz StPO; vgl Ratz , WK StPO § 292 Rz 35).