JudikaturJustiz12Os37/12a

12Os37/12a – OGH Entscheidung

Entscheidung
26. Juni 2012

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 26. Juni 2012 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Schroll als Vorsitzenden sowie durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. T. Solé und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner Foregger, Mag. Michel und Dr. Michel Kwapinski als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Temper als Schriftführerin in der Strafsache gegen Kevin K***** wegen des Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 StGB und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts Linz als Jugendschöffengericht vom 15. Dezember 2011, GZ 25 Hv 114/11v 26b, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

In teilweiser Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde wird das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, im Schuldspruch 3./ und demzufolge auch im Strafausspruch (einschließlich der Vorhaftanrechnung) aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht verwiesen.

Im Übrigen wird die Nichtigkeitsbeschwerde zurückgewiesen.

Mit seiner Berufung wird der Angeklagte auf die Aufhebung verwiesen.

Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde Kevin K***** der Verbrechen der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 StGB (1./), der schweren Nötigung nach §§ 15 Abs 1, 105 Abs 1, 106 Abs 1 Z 1 erster Fall StGB (2./) und des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 und 2 StGB (3./) schuldig erkannt.

Danach hat er in H***** (zusammengefasst)

1./ am 18. Juli 2011 Madeleine A***** mit Gewalt zur Duldung des Beischlafs und einer dem Beischlaf gleichzusetzenden geschlechtlichen Handlung genötigt, indem er sie an die Wand drückte, zu Boden stieß, mit einer Hand bzw mit seinem Körpergewicht am Boden fixierte, sich auf sie kniete bzw legte, diese gegen ihren Willen auszog und trotz ihrer Gegenwehr ihren Vaginalbereich abschleckte, mehrere Finger in ihre Vagina einführte, mit ihr den Vaginalverkehr vollzog und zuletzt seinen (strafunmündigen) Cousin Michal Ko***** aufforderte, Madeleine A***** an der Vagina zu berühren;

2./ am 19. Juli 2011 Madeleine A***** durch gefährliche Drohung mit dem Tod, und zwar mit dem Umbringen zu einer Unterlassung, nämlich jemandem von dem zu Punkt 1./ geschilderten Vorfall zu erzählen, zu nötigen versucht;

3./ am 18. Juli 2011 eine unmündige Person, nämlich den am 8. Februar 1999 geborenen Michal Ko***** außer dem Fall des § 206 StGB zu einer geschlechtlichen Handlung mit einer anderen Person verleitet, indem er ihn, wie zu 1./ dargestellt, aufforderte, mit seinem Finger die Vagina der Madeleine A***** zu berühren, was dieser auch tat.

Rechtliche Beurteilung

Der dagegen aus Z 2, 3, 4, 5, 5a, 9 lit a und 9 lit b des § 281 Abs 1 StPO erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten kommt teilweise Berechtigung zu.

Die Verfahrensrüge (Z 2) behauptet ein die polizeiliche Aussage des Zeugen Ko***** betreffendes Beweiserhebungsverbot, weil dieser der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig sei, zur Vernehmung aber dennoch lediglich dessen Mutter als „Dolmetscherin“ beigezogen worden sei.

Entgegen dem Vorbringen begründet die nicht unter ausdrücklicher Nichtigkeitssanktion stehende Unterlassung der Beiziehung eines gerichtlich beeideten Dolmetschers zur polizeilichen Vernehmung kein Beweiserhebungsverbot im Sinn eines „Vorkommensverbots“ für die Hauptverhandlung ( Kirchbacher , WK-StPO § 246 Rz 50 f). Vielmehr kommt die Prüfung der Zuverlässigkeit der Verwendung von Beweismitteln dem Gericht zu. Die Anerkennung einer gesetzwidrigen Beweisgewinnung als Nichtigkeitsgrund scheitert an der hier nicht gegebenen Gleichwertigkeit mit solchen Beweisverboten, die unter ausdrücklicher Nichtigkeitsdrohung stehen (RIS Justiz RS0124168 [T1]).

Ausgehend von der erfolgten Vernehmung des Zeugen in der Hauptverhandlung wurde durch die Verlesung auch kein durch § 252 Abs 1 StPO verpöntes Unmittelbarkeitssurrogat geschaffen. Vielmehr war die Vorsitzende zur Verlesung der polizeilichen Angaben berechtigt, weil der in der Hauptverhandlung Vernommene von seiner früher abgelegten Aussage in wesentlichen Punkten abwich und das Recht des Angeklagten auf Verteidigung iSd Art 6 Abs 3 lit d MRK durch die Möglichkeit der Befragung des Zeugen gewahrt wurde (vgl ON 26a S 3 f; § 252 Abs 1 Z 2 StPO; Kirchbacher , WK-StPO § 252 Rz 23).

Soweit die Beschwerde (aus dem Blickwinkel der Z 2 und Z 3) auf die Bestimmung des § 155 Abs 1 Z 4 StPO bzw auf den Vermerk der Polizei A***** verweist, wonach Madeleine A***** offensichtlich körperlich und geistig beeinträchtigt sei und dazu vorbringt, dass auch die Staatsanwaltschaft Widersprüche in den Angaben der Belastungszeugin eingeräumt und das Gericht Leichtgläubigkeit zufolge einer Entwicklungsverzögerung festgestellt habe, unterlässt sie es, Nichtigkeit bewirkende Umstände deutlich und bestimmt zu bezeichnen (§§ 285 Abs 1, 285a Z 2 StPO). Im Übrigen hat der Beschwerdeführer keinen die Legitimation nach Z 2 des § 281 Abs 1 StPO wahrenden Widerspruch gegen die Beweisaufnahme erhoben.

Der Vollständigkeit halber ist festzuhalten, dass eine Beeinträchtigung der Zeugnisfähigkeit, die nicht bis zur Zeugnisunfähigkeit reicht, der Vernehmung nicht entgegen steht ( Kirchbacher , WK-StPO § 155 Rz 32).

Auch der weitere Einwand aus Z 3 des § 281 Abs 1 StPO, bei Ablegung der Zeugenaussage sei Ko***** weder nach § 156 Abs 1 Z 2 StPO noch nach § 158 Abs 1 Z 1, 2 und 3 StPO belehrt worden, versagt. Die zur Auslösung der Belehrungspflicht nach § 156 Abs 1 Z 2 StPO erforderliche Voraussetzung einer kontradiktorischen Vernehmung lag nämlich gar nicht vor. Im Übrigen steht eine allfällige Missachtung der reklamierten aber lediglich dem Zeugenschutz dienenden Belehrungsvorschriften wie der Beschwerdeführer selbst erkennt unter keiner Nichtigkeitssanktion.

Entgegen der Verfahrensrüge (Z 4) durfte der Antrag auf „Einholung eines Glaubwürdigkeitsgutachtens“ hinsichtlich der Zeugin Madeleine A***** schon deshalb ohne Verletzung von Verteidigungsrechten abgewiesen werden, weil nicht einmal behauptet wurde, dass die Zeugin die erforderliche Zustimmung zu einer Exploration erteilt hätte oder erteilen würde (RIS Justiz RS0097584, RS0118956, RS0108614; Ratz , WK StPO § 281 Rz 350). Ein derartiges Gutachten ist darüber hinaus nur dann erforderlich, wenn das Gericht die ihm allein zukommende Aufgabe, die Glaubwürdigkeit einer Beweisperson aufgrund des gewonnenen persönlichen Eindrucks zu überprüfen, nicht ohne fremde Expertise erfüllen kann. Dies ist etwa bei abwegiger Veranlagung in psychischer oder charakterlicher Hinsicht, bei in der Hauptverhandlung zu Tage getretenen Entwicklungsstörungen oder bei Hinweisen auf eine Beeinflussung des Aussageverhaltens von unmündigen oder psychisch kranken Personen der Fall (RIS Justiz RS0097733). Derartige außergewöhnliche Umstände vermochte der Beschwerdeführer mit eigenständigen, nicht an den Kriterien der Z 5 oder 5a orientierten, sondern nach Art einer Berufung wegen Schuld angestellten Überlegungen zu Umständen, die das Schöffengericht bei seiner Entscheidung, ob die Zeugin ungeachtet der angenommenen Entwicklungsstörung in der Lage ist, Wahrnehmungen zu machen und diese gedächtnisgetreu wiederzugeben ( Hinterhofer , WK StPO § 126 Rz 10), ohnedies berücksichtigte (US 8 f; vgl RIS Justiz RS0118977), nicht aufzuzeigen. Welche der divergierenden Aussagen des Opfers den Tatsachen entsprach, hatte das Schöffengericht im Rahmen der ihm zukommenden freien Beweiswürdigung zu lösen.

Die Mängelrüge (Z 5 fünfter Fall) bekämpft unter Bezugnahme auf den Akteninhalt die das Alter des Michal Ko***** betreffende Feststellung des Erstgerichts. Der Einwand der Aktenwidrigkeit verkennt, dass der Nichtigkeitsgrund nur dann vorliegt, wenn das Urteil den eine entscheidende Tatsache betreffenden Inhalt einer Aussage oder Urkunde in seinen wesentlichen Teilen unrichtig oder unvollständig wiedergibt (RIS Justiz RS0099547). Der Vollständigkeit halber ist festzuhalten, dass die Urteilsannahme, wonach Michal Ko***** zwölfjährig sei (US 4), den für die allfällige Anwendung des § 207 Abs 4 StGB entscheidungswesentlichen Umstand der Vollendung des zwölften Lebensjahres des Unmündigen hinreichend deutlich zum Ausdruck bringt.

Der Vorwurf der Unvollständigkeit (Z 5 zweiter Fall) trifft nicht zu (US 11). Mit seiner Forderung, die entlastenden Passagen der Aussage des Zeugen Michal Ko***** vor der Polizei zu berücksichtigen, verkennt der Beschwerdeführer den von einer Schuldberufung verschiedenen Anfechtungsrahmen.

Z 5a des § 281 Abs 1 StPO will als Tatsachenrüge nur geradezu unerträgliche Feststellungen zu entscheidenden Tatsachen (das sind schuld oder subsumtionserhebliche Tatumstände, nicht aber im Urteil geschilderte Begleitumstände oder im Rahmen der Beweiswürdigung angestellte Erwägungen) und völlig lebensfremde Ergebnisse der Beweiswürdigung durch konkreten Verweis auf aktenkundige Beweismittel (bei gleichzeitiger Bedachtnahme auf die Gesamtheit der tatrichterlichen Beweiswerterwägungen) verhindern. Tatsachenrügen, die außerhalb solcher Sonderfälle auf eine Überprüfung der Beweiswürdigung abzielen, beantwortet der Oberste Gerichtshof ohne eingehende eigene Erwägungen, um über den Umfang seiner Eingriffsbefugnisse keine Missverständnisse aufkommen zu lassen (RIS Justiz RS0118780).

Mit den gegen 1./ und 3./ gerichteten Hinweisen zum Vorliegen einer körperlichen und geistigen Behinderung der nach Auffassung des Erstgerichts entwicklungsverzögerten Madeleine A***** (vgl dazu US 8) werden keine sich aus den Akten ergebende erhebliche Bedenken des Obersten Gerichtshofs gegen die Richtigkeit der dem Ausspruch über die Schuld zu Grunde liegenden entscheidenden Tatsachen geweckt. Das gilt auch für das Vorbringen, wonach sich Madeleine A***** in den Keller begeben habe, obwohl sie wusste, dass die Burschen mit ihr Sex haben wollten und wonach sich diese bei Angaben zu unwesentlichen Details, etwa zum Wegwerfen eines Kondoms in Widersprüche verstrickt habe.

Die weiteren Argumente der Tatsachenrüge erschöpfen sich in einer im kollegialgerichtlichen Verfahren unzulässigen Schuldberufung, zumal die Überzeugung der Tatrichter von der Glaubwürdigkeit der Madeleine A***** aus § 281 Abs 1 Z 5a StPO nicht releviert werden kann (RIS Justiz RS0106588 [T9]).

Soweit die Rechtsrüge (Z 9 lit a) behauptet, das Erstgericht habe sich nicht mit dem Vorsatz des Täters in Bezug auf „das Verbrechen des § 206 StGB“ auseinandergesetzt und Feststellungen dahingehend vermisst, dass sich der Angeklagte oder der Zeuge Ko***** geschlechtlich erregen oder befriedigen wollten, bleibt mangels entsprechendem Schuldspruch das Anfechtungsziel unklar. Die in diesem Zusammenhang gegen Schuldspruch 3./ gerichteten Einwände verfehlen eine prozessordnungskonforme Geltendmachung (RIS Justiz RS0099810), weil sie die zur überschießenden Innentendenz ausdrücklich getroffenen Konstatierungen schlicht übergehen (US 4).

Der Vollständigkeit halber sei klar gestellt, dass lediglich die Verleitung einer unmündigen Person zu geschlechtlichen Handlungen an sich selbst also die hier nicht angelastete zweite Tatbildvariante des § 207 Abs 2 StGB auch der Festellung eines auf geschlechtliche Erregung oder Befriedigung gerichteten Motivs des Täters bedarf.

Indem die gegen den Schuldspruch 2./ gerichtete Beschwerde (Z 9 lit a) einen Rechtsfehler mangels Feststellungen zur subjektiven Tatseite behauptet, dabei aber die entsprechenden Konstatierungen vernachlässigt (US 4 f), orientiert sie sich einmal mehr nicht an den Anfechtungskriterien der Geltendmachung materieller Nichtigkeit (RIS Justiz RS0099810).

In diesem Umfang war daher die Nichtigkeitsbeschwerde bereits bei nichtöffentlicher Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO).

Dagegen zeigt der auf „§ 206 Abs 4 StGB“ rekurrierende Beschwerdeführer (Z 9 lit b) erkennbar in Bezug auf Schuldspruch 3./ zu Recht auf, dass dem Urteil trotz entsprechender Verfahrensergebnisse keine ausreichenden Feststellungen zu entnehmen sind, um zu beurteilen, ob der persönliche Strafausschließungsgrund des § 207 Abs 4 StGB greift.

Übersteigt das Alter des Täters das der unmündigen Person nicht um mehr als vier Jahre, so ist der Täter nach § 207 Abs 1 und 2 StGB nicht zu bestrafen, es sei denn, die unmündige Person hat das zwölfte Lebensjahr noch nicht vollendet oder es liegen schwere Tatfolgen iSd § 207 Abs 3 StGB vor.

Selbst wenn man bezüglich Michal Ko***** mit Blick auf das Erkenntnis die Urteilsannahmen zu den Geburtsdaten genügen lässt, ist weder dem Spruch noch den Entscheidungsgründen das genaue Alter des Angeklagten und damit eine Basis für die Berechnung des entscheidungsrelevanten Altersunterschieds zu entnehmen. Darüber hinaus mangelt es aber jedenfalls an der gebotenen Klärung eines Eintritts oder Nichteintritts von einen Strafausschluss hindernden schweren Tatfolgen iSd § 207 Abs 3 (erster Fall) StGB. In diesem Zusammenhang wird im zweiten Rechtsgang zu berücksichtigen sein, dass der Unmündige unmittelbar davor Zeuge der festgestellten Vergewaltigung war und im Zuge eines daher allenfalls noch fortwirkenden negativen Eindrucks vom Gewaltgeschehen zur Tat aufgefordert wurde (vgl dazu Philipp in WK § 206 Rz 15).

Demnach kann entgegen der Stellungnahme der Generalprokuratur noch nicht abschließend beurteilt werden, ob der reklamierte persönliche Strafausschließungsgrund vorliegt oder nicht.

Dieser Nichtigkeit nach Z 9 lit b des § 281 Abs 1 StPO begründende Feststellungsmangel zog die Kassation des Schuldspruchs 3./ und damit des Strafausspruchs nach sich (§ 285e StPO).

Mit seiner Berufung war der Angeklagte auf die Aufhebung des Strafausspruchs zu verweisen.

Die Kostenersatzpflicht des Angeklagten beruht auf § 390a Abs 1 StPO.

Rechtssätze
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