JudikaturJustiz11Rs93/21g

11Rs93/21g – OLG Linz Entscheidung

Entscheidung
21. Januar 2022

Kopf

Das Oberlandesgericht Linz hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Richter Dr. Wolfgang Seyer als Vorsitzenden, Dr. Robert Singer und Mag. Herbert Ratzenböck sowie die fachkundigen Laienrichter Andreas Allerstorfer und Daniel Grininger in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A * , Finanzbuchhalterin, **, vertreten durch Mag. Markus Hager, Rechtsanwalt in Linz, gegen die beklagte Partei B * , **, vertreten durch ihre Angestellte C*, **, wegen Kostenerstattung, über die Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Wels als Arbeits- und Sozialgericht vom 24. August 2021, 16 Cgs 174/20i 15, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen:

Spruch

Der Berufung wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil, das in seinem klagsabweisenden Teil (Punkt 2.) unbekämpft in Rechtskraft erwachsen ist, wird in seinem klagsstattgebenden Teil samt Kostenentscheidung (Punkt 1.) aufgehoben und die Sozialrechtssache in diesem Umfang an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach allfälliger Verfahrensergänzung zurückverwiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 30. 7. 2020 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Erstattung der Honorarnoten Dris. D* bzw Dris. E* vom 3. 12. 2018, 5. 2. 2019 und 11. 3. 2019 über EUR 5.000,--, EUR 3.500,-- und EUR 5.500,-- für lymphologische Liposkulpturen in Sedoanalgesie und Tumeszenz Lokalanästhesie ab.

Die Klägerin begehrte mit der gegen diesen Bescheid erhobenen Klage die Erstattung des Kostenbetrags von EUR 14.000,-- für die durchgeführten Behandlungen. Sie habe bereits längere Zeit an einem eindeutig diagnostizierten Lipödem an den Beinen und Armen sowie am Bauch laboriert. Die im Detail dargelegten Symptome verbunden mit Hypersensibilität, Antriebslosigkeit und rascher Ermüdung habe sie seit August 2016 durch manuelle Lymphdrainagen und durch das Tragen von Stützstrümpfen vergeblich bekämpft. Nur durch die operative Behandlung sei eine Heilung bzw eine gesundheitlich besonders relevante Symptombeseitigung möglich gewesen.

Die Beklagte beantragte die Abweisung der Klage. Die Klägerin habe vor den Operationen keine konsequente konservative Behandlung und insbesondere keine Gewichtsreduktion durchgeführt. Die Operationen seien daher verfrüht gewesen und würden das Maß des Notwendigen übersteigen. Außerdem seien die geltend gemachten Kosten überhöht und es würde allenfalls nur eine Kostenerstattung von insgesamt EUR 1.787,33 zustehen.

Mit dem angefochtenen Urteil verpflichtete das Erstgericht die Beklagte zu einer Kostenerstattung von insgesamt EUR 1.787,33; das Mehrbegehren wies es (rechtskräftig) ab. Es legte den auf den Seiten 2 und 3 ersichtlichen Sachverhalt zugrunde, auf den gemäß § 500a ZPO verwiesen wird. Diese Feststellungen sind auszugsweise wie folgt wiederzugeben:

Die Klägerin war bereits seit längerer Zeit laufend bei Ärzten und im Krankenhaus in Behandlung, weil sie ständig Schmerzen hatte. Seit 2016 führte sie in einem Fachinstitut wöchentlich und später im Abstand von 2 bis 3 Wochen regelmäßig Lymphdrainagen durch. In diesem Zeitraum trug sie auch ständig Stützstrümpfe. Durch diese Lymphdrainagen trat immer wieder eine Linderung der Schmerzen ein. Die Klägerin hielt auch eine strenge Diät ein, weil sie nicht weiter zunehmen wollte.

Ihr Antrag auf Kostenübernahme für Operationskosten laut Kostenvoranschlag vom 25. 9. 2018 über insgesamt EUR 14.000,-- wurde von der Beklagten nach einer Begutachtung am 15. 11. 2018 abgelehnt mit der Mitteilung, dass nach erfolgter Behandlung mittels konsequenter konservativer Therapie für die Dauer eines Jahres unter Vorlage der diesbezüglichen Behandlungsnachweise eine Neubeurteilung der Notwendigkeit eines Eingriffs erfolgen könne. Die Klägerin wurde darauf hingewiesen, dass eine Gewichtsreduktion angestrebt werden solle und eine Neubeurteilung nach Gewichtsreduktion mit einem BMI unter 29 erfolgen könne.

Die Klägerin ließ daraufhin am 27. 11. 2018 und am 4. 2. 2019 lymphologische Liposkulpturen in Sedoanalgesie und Tumeszenz Lokalanästhesie in der Ordination von Dr. D* und Dr. E*, Fachärzte für Dermatologie in **, durchführen. Dafür wurden ihr mit Honorarnoten vom 3. 12. 2018, 5. 2. 2019 und 11. 3. 2019 insgesamt EUR 14.000,-- in Rechnung gestellt und von ihr auch bezahlt.

Die Klägerin litt an einem Lipödem I, II und IV (Stadium II), DIMDI Klassifikation E88.22 mit Spontanhämatomen, Schwellungsneigung, Ruheschmerz, Druckschmerz, Hypersensibilität, Ermüdung und Antriebslosigkeit. Seit den durchgeführten Operationen ist sie beschwerdefrei. Vor der Operation hatte sie immer einen BMI über 30.

In der rechtlichen Beurteilung vertrat das Erstgericht zum Anspruchsgrund die Ansicht, dass die bei der Klägerin durchgeführten Liposkulpturen unter Berücksichtigung der bereits jahrelang durchgeführten konservativen Therapien erforderlich gewesen seien und diese das Maß des Notwendigen im Sinn des § 133 Abs 2 ASVG nicht überschreiten würden.

Gegen den klagsstattgebenden Teil dieses Urteils richtet sich die Berufung der Beklagten wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger Tatsachenfeststellung aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung mit dem Abänderungsantrag auf Klagsabweisung; hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.

Die Klägerin beantragt in ihrer Berufungsbeantwortung, dem Rechtsmittel keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Berufung ist im Sinn des Eventualantrags berechtigt.

1. Die Berufung wendet sich nicht dagegen, dass der Klägerin unter Zugrundelegung der vom Erstgericht getroffenen Feststellungen Kostenerstattung in der vom Erstgericht zuerkannten Höhe zusteht.

2. Die Berufung sieht (erkennbar) einen Begründungsmangel darin gelegen, dass das Erstgericht der in der Beilage ./C enthaltenen Diagnose des behandelnden Facharztes und nicht der nachvollziehbaren Einschätzung des gerichtlich beigezogenen Sachverständigen gefolgt ist und demgemäß ein bei der Klägerin bestehendes Lipödem festgestellt hat. Dazu ist Folgendes auszuführen:

2.1 Ein im Sinn der §§ 351 ff ZPO „notwendiges“ Gutachten kann nicht ohne Zustimmung des Gegners durch ein Privatgutachten ersetzt werden. Denn Privatgutachten sind nicht mehr als Urkunden, die die Meinung ihres Verfassers wiedergeben, wobei dieser Verfasser nicht den Pflichten eines gerichtlich bestellten Sachverständigen unterliegt. Sie sind daher nach der Rechtsprechung nicht geeignet, in einer Sachverständigenfrage „für sich allein die Entscheidung zu stützen“ (17 Ob 21/10b mwN; RIS-Justiz RS0040363, RS0040636). Erfordert die Beurteilung einer Tatsachenfrage besondere Fachkunde, so ordnet die Zivilprozessordnung eine bestimmte Vorgangsweise an: Entweder ist ein Sachverständiger zu bestellen, oder das Gericht verwertet mit Zustimmung der Parteien seine eigene Fachkunde. Diese Regelungen wären nicht erforderlich, wenn der Beweis daneben auch durch bloße Privatgutachten möglich wäre. Anders als im Sicherungsverfahren, wo bloße Bescheinigung genügt, hat es daher im Zivilprozess dabei zu bleiben, dass Feststellungen in einer Sachverständigenfrage nicht allein aufgrund von Privatgutachten getroffen werden können. Erhebt der Gegner wie hier substanziierte Einwände, so wäre es eine Umgehung der Regeln über den Sachverständigenbeweis, wenn das Gericht das Privatgutachten dennoch seiner Entscheidung zugrunde legte. Denn im Ergebnis würde es damit in einer Sachverständigenfrage die Richtigkeit von wenngleich „urkundlich belegtem“ Sachvorbringen aufgrund eigener Fachkunde bejahen. Das stünde im Widerspruch zu § 364 ZPO (17 Ob 21/10b).

2.2 Im vorliegenden Fall hat das Erstgericht ein gerichtliches Fachgutachten eingeholt. Der beigezogene Sachverständige konnte das Vorliegen eines Lipödems bei der Klägerin aber mit eingehender Begründung nicht positiv attestieren, sondern bloß nicht ausschließen (vgl insb Seiten 3 ff des Protokolls vom 24. 8. 2021 [ON 12]). Entgegen diesen gutachterlichen Ausführungen gelangte das Erstgericht aufgrund der in der Beilage ./C angeführten Diagnose des behandelnden Arztes, die in Bezug auf die vom Erstgericht auch festgestellte DIMDI Klassifikation E88.22 jedenfalls unrichtig ist (vgl Seite 4 des schriftlichen Gutachtens vom 12. 3. 2021 [ON 6]), sowie der Angaben der Klägerin zu ihren jahrelangen Beschwerden und zu den von ihr durchgeführten Behandlungen/Maßnahmen zur positiven Feststellung eines bei ihr vorliegenden Lipödems. Demnach hat das Erstgericht in Übergehung der Ausführungen des von ihm beigezogenen Sachverständigen allein aufgrund einer in einer Urkunde enthaltenen Diagnose eines von der Klägerin privat beigezogenen Arztes sowie ihren Parteiangaben das Vorliegen einer behandlungsbedürftigen Krankheit zweifellos eine Sachverständigenfrage festgestellt. Eine solche Vorgehensweise führt zu einem Verfahrensmangel, weil Feststellungen in einer Sachverständigenfrage nicht allein aufgrund von Privatgutachten oder Parteiangaben getroffen werden können. Dieser Verfahrensmangel ist auch wesentlich, ist doch die vorangeführte Feststellung Anspruchsvoraussetzung für die von der Klägerin geltend gemachte Kostenerstattung, wofür sie die objektive Beweislast trägt (vgl RIS-Justiz RS0086045 [T1]).

2.4 Im fortzusetzenden Verfahren wird Folgendes zu beachten sein:

a. Hält das Erstgericht die gutachterlichen Ausführungen des von ihm beigezogenen Sachverständigen für schlüssig und ausreichend, kann es sich ohne Verfahrensergänzung diesen anschließen und darauf basierende Feststellungen treffen.

b. Hält das Erstgericht hingegen die bisherigen gutachterlichen Ausführungen für ungenügend, ist mangels ersichtlicher eigener Fachkunde des Erstgerichts im Sinn des § 364 ZPO hier nach § 362 Abs 2 ZPO (Gutachtensergänzung durch den bisherigen Sachverständigen oder Beiziehung eines weiteren Sachverständigen) vorzugehen.

3. Die von der Berufung zu Recht aufgezeigte Mangelhaftigkeit kann zu anderslautenden Feststellungen in Bezug auf die bei der Klägerin vorliegende Erkrankung führen, sodass auf diesen Teil der Beweisrüge nicht näher einzugehen ist.

4. Die Berufung bekämpft zudem die Feststellungen zur Durchführung von Lymphdrainagen und zum ständigen Tragen von Stützstrümpfen seit 2016. Davon, dass diese Therapiemaßnahmen eine ausreichende konservative, leitlinienkonforme Therapie darstellen würden, ist das Erstgericht entgegen der Berufung im Rahmen der Beweiswürdigung nicht ausgegangen, sodass es auch keine darauf bezogene Feststellung getroffen hat. Die von der Berufung angestrebte Ersatzfeststellung, dass eine ausreichende konservative Behandlung von der Klägerin nicht durchgeführt worden sei, steht vor diesem Hintergrund nicht in Widerspruch zu den tatsächlich vom Erstgericht getroffenen Feststellungen zu den Therapiemaßnahmen und weicht daher in Wahrheit nicht von den erstgerichtlichen Feststellungen ab (vgl 8 Ob 27/13y = RIS-Justiz RS0043150 [T9] und RS0043371 [T29]). Dagegen, dass die Therapiemaßnahmen nicht in der festgestellten Form erfolgt sein sollen, wendet sich die Berufung inhaltlich nicht. Ob vor den Operationen eine ausreichende konservative, leitlinienkonforme Therapie stattgefunden hat, ist nach den gutachterlichen Ausführungen im Zusammenhang mit der Erstellung einer genauen Diagnose von Bedeutung (vgl insb Seiten 3 ff des Protokolls vom 24. 8. 2021 [ON 12]) und demnach für den Verfahrensausgang nicht unmittelbar relevant; letztlich kommt es nämlich nur darauf an, ob bei der Klägerin ein behandlungsbedürftiges Lipödem (an den Armen und Beinen) vorlag. Dazu wird das Erstgericht im fortzusetzenden Verfahren mängelfreie Feststellungen zu treffen haben.

5. Sollte das Erstgericht neuerlich das Vorliegen eines behandlungsbedürftigen Lipödems feststellen, wird es nähere Feststellungen dazu zu treffen haben, welche konkreten Behandlungen den einzelnen Rechnungen zu Grunde lagen, insbesondere an welchen Körperteilen diese erfolgten, um die Notwendigkeit der Heilbehandlungen im Sinn des § 133 Abs 2 ASVG beurteilen zu können. Dabei wird das Erstgericht zu beachten haben, dass im Kostenvoranschlag vom 25. 9. 2018 über den Gesamtbetrag von EUR 14.000,-- ein Teilbetrag von EUR 5.500,-- auf „OP Honorar Bauch, Flanken + Straffung nach Avelar“ entfällt; nach den gutachterlichen Ausführungen stellt die am Abdomen bei augenscheinlicher Adipositas durchgeführte Liposuktion jedoch keinesfalls eine medizinisch notwendige Heilbehandlung dar (Seite 6 des schriftlichen Gutachtens vom 12. 3. 2021 [ON 6]). Der Teilbetrag von EUR 5.500,-- deckt sich mit dem in der Honorarnote vom 11. 3. 2019 in Rechnung gestellten Betrag, weshalb sich diese Honorarnote offenbar auf die Operation in der Bauchregion bezieht.

6. In Stattgebung der Berufung war daher das angefochtene Urteil in seinem klagsstattgebenden Teil aufzuheben und dem Erstgericht in diesem Umfang die neuerliche Entscheidung nach allfälliger Verfahrensergänzung aufzutragen. Eine Verfahrensergänzung durch das Berufungsgericht nach § 496 Abs 3 ZPO kommt im Hinblick auf den damit verbundenen erheblichen Mehraufwand nicht in Betracht.

7. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

Rechtssätze
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