JudikaturJustiz11Rs43/22f

11Rs43/22f – OLG Linz Entscheidung

Entscheidung
28. Juni 2022

Kopf

Das Oberlandesgericht Linz hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Richter Dr. Wolfgang Seyer als Vorsitzenden, Dr. Robert Singer und Mag. Herbert Ratzenböck sowie die fachkundigen Laienrichter Thomas Unger und Mag. Patricia Dirisamer in der Sozialrechtssache der klagenden ParteiA * , geboren am **, **, vertreten durch Schmidberger-Kassmannhuber-Schwager Rechtsanwalts-Partnerschaft in Steyr, gegen die beklagte Partei B * , **, vertreten durch ihren Angestellten Mag. C*, **, wegen Entziehung des Rehabilitationsgeldes, über die Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Steyr als Arbeits- und Sozialgericht vom 2. Mai 2022, 17 Cgs 108/21h 20, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen:

Spruch

Der Berufung wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird aufgehoben und die Sozialrechtssache an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückverwiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 18. 6. 2021 hat die Beklagte das der Klägerin seit 1. 2. 2020 gewährte Rehabilitationsgeld per 31. 7. 2021 entzogen, weil vorübergehende Invalidität nicht mehr vorliege, und ausgesprochen, dass medizinische Maßnahmen der Rehabilitation nicht mehr zweckmäßig seien und kein Anspruch auf berufliche Maßnahmen der Rehabilitation bestehe.

Die Klägerin begehrte mit der gegen diesen Bescheid erhobenen Klage die Weitergewährung des Rehabilitationsgeldes über den 31. 7. 2021 hinaus und die Feststellung, dass sie Anspruch auf Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation samt Rehabilitationsgeld (aus der Krankenversicherung) habe. Eine Verbesserung des Gesundheitszustandes sei nicht eingetreten, weshalb die Klägerin weiterhin zumindest vorübergehend invalid sei.

Die Beklagte beantragte die Abweisung der Klage. Der Gesundheitszustand der Klägerin habe sich durch medizinische Maßnahmen der Rehabilitation wesentlich verbessert, weshalb sie wieder in der Lage sei, einer auf dem Arbeitsmarkt bewerteten Tätigkeit nachzugehen.

Mit dem angefochtenen Urteil wies das Erstgericht die Klage ab. Es legte den auf den Seiten 2 und 3 ersichtlichen Sachverhalt zugrunde, auf den gemäß § 500a ZPO verwiesen wird. Diese Feststellungen sind auszugsweise wie folgt wiederzugeben:

Im Abgleich zwischen dem Leistungskalkül zum Gewährungszeitpunkt 3. 3. 2020 und der Begutachtung am 9. 11. 2021 hat sich das psychiatrische Leistungskalkül gebessert.

Zwar beinhalten die jeweiligen Begutachtungen dieselben Diagnosen. Zum Gewährungszeitpunkt lag aber eine Leistungsfähigkeit im Ausmaß von 10 Wochenstunden vor und war die Klägerin für leichte Tätigkeiten einsetzbar. Die Begutachtung am 9. 11. 2021 ergab nun aber eine mögliche 50 %ige Tages- und Wochenarbeitszeit, sohin 20 Wochenstunden, wobei dies auch in einer erfolgten Anpassung oder Gewöhnung des Leidens bei der Klägerin begründet sein könnte.

In der rechtlichen Beurteilung vertrat das Erstgericht die Ansicht, dass aufgrund des relevant gebesserten psychiatrischen Leistungskalküls die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Rehabilitationsgeld nicht mehr vorliegen würden.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der Klägerin wegen unrichtiger Tatsachenfeststellung aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Abänderungsantrag auf Klagsstattgebung; hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.

Die Beklagte hat sich am Berufungsverfahren nicht beteiligt.

Die Berufung ist im Sinn des Eventualantrags berechtigt.

A. Zur Beweisrüge:

Die Berufung wendet sich gegen die oben wiedergegebenen Feststellungen zur Besserung des Leistungskalküls gegenüber dem Gewährungszeitpunkt. Ersatzweise soll festgestellt werden, dass nicht festgestellt werden könne, welches konkrete Leistungskalkül der Klägerin im Zeitpunkt der Gewährung des Rehabilitationsgeldes vorgelegen habe.

Dazu ist auszuführen:

1. Auch Formfehler des Urteils wie etwa eine mangelhafte Begründung können Gegenstand der Mängelrüge sein ( Kodek in Rechberger/Klicka , ZPO 5 § 471 Rz 10; Rechberger in Fasching/Konecny³ § 272 ZPO Rz 8). Aus Anlass einer Mängelrüge (die fälschliche Bezeichnung als Beweisrüge schadet nicht: vgl RS0041851) ist das Urteil auch dahin zu prüfen, auf welche verfahrensrechtliche Weise das Erstgericht zu welchen Feststellungen gekommen ist. Die unzureichende Beweiswürdigung begründet dann einen Mangel des Urteils im Sinn des § 496 Abs 1 Z 2 ZPO, wenn Tatumstände, die nach den Denkgesetzen auf die Bildung der richterlichen Überzeugung von Einfluss sein müssten, vollständig übergangen werden. Wenn in der Beweiswürdigung Beweisergebnisse zu rechtserheblichen Tatsachen zur Gänze übergangen werden (wenn etwa eine der Feststellung entgegenstehende Zeugenaussage zu einer solchen Tatsache in der Beweiswürdigung unerwähnt bleibt; umso mehr, wenn eine strittige relevante Feststellung überhaupt ohne beweiswürdigende Begründung getroffen wurde), so wird im Urteil nicht das gesamte gemäß § 272 ZPO zu berücksichtigende Beweismaterial verwertet, was außerhalb des Anwendungsbereichs des § 501 ZPO einen relevanten zur Aufhebung führenden Urteilsmangel (im Sinn der gebräuchlichen Diktion Verfahrensmangel) darstellt ( Obermaier in H öllwerth/Ziehensack , ZPO-TaKom § 496 ZPO Rz 18).

2. Die Berufung verweist berechtigt auf zahlreiche Ausführungen des vom Erstgericht beigezogenen neurologisch-psychiatrischen Sachverständigen im Rahmen der mündlichen Erörterung seines Gutachtens in der Verhandlung vom 2. 5. 2022, die gegen die positive Feststellung einer kalkülsrelevanten Verbesserung des Gesundheitszustandes der Klägerin seit dem Gewährungszeitpunkt sprechen. Besonders hervorzuheben sind die Ausführungen, wonach der Sachverständige medizinisch aufgrund der Unterlagen nicht auflösen könne, ob es damals bei der Klägerin ein wesentlich schlechteres Krankheitsbild gegeben habe oder nicht, und es eigentlich unmöglich sei, die Beurteilung eines Leistungskalküls im Nachhinein zu erstellen (Seite 2 des Protokolls vom 2. 5. 2022 [ON 16]). Damit hat sich das Erstgericht nicht einmal ansatzweise in seiner Beweiswürdigung befasst, sondern bloß pauschal auf das eingeholte schriftliche sowie mündlich ergänzte Gutachten des neurologisch-psychiatrischen Sachverständigen und die vorgelegten Urkunden verwiesen. Demnach hat das Erstgericht seine Begründungspflicht in einem Punkt verletzt, der keinesfalls übergangen hätte werden dürfen. Das Erstgericht hätte zwingend darauf eingehen müssen, warum es trotz der Ausführungen des von ihm beigezogenen Sachverständigen, dass es ihm aufgrund der vorhandenen Unterlagen medizinisch nicht möglich sei zu beurteilen, ob im Gewährungszeitpunkt bei der Klägerin ein wesentlich schlechteres Krankheitsbild vorgelegen habe oder nicht, die bekämpften Feststellungen getroffen hat. Dies führt zu einem wesentlichen Verfahrensmangel, weil es auf die Feststellung einer Zustandsverbesserung entscheidend ankommt, wie im Rahmen der Ausführungen zur Rechtsrüge zu zeigen sein wird.

3. Im Zuge der neuerlichen Urteilsschöpfung wird das Erstgericht die Feststellungen zum Eintritt einer Zustandsverbesserung unter Zugrundelegung sämtlicher erstinstanzlicher Beweisergebnisse zu begründen haben. Dabei wird es zu beachten haben, dass für die positive Feststellung einer Zustandsverbesserung das Regelbeweismaß der ZPO („hohe Wahrscheinlichkeit“: vgl RS0110701) zur Anwendung kommt. Einem solchen Regelbeweismaß wohnt eine gewisse Bandbreite inne, sodass es sowohl von den objektiven Umständen des Anlassfalles als auch von der subjektiven Einschätzung des Richters abhängt, wann er diese "hohe" Wahrscheinlichkeit als gegeben sieht (RS0110701 [T3]).

4. Schon jetzt ist darauf zu verweisen, dass die rückwirkende Einschätzung nicht auf das Anstaltsgutachten im Gewährungsverfahren (Beilagen ./4 und ./5) gestützt werden kann:

4.1 Ein im Sinn der §§ 351 ff ZPO „notwendiges“ Gutachten kann nicht ohne Zustimmung des Gegners durch ein Privatgutachten ersetzt werden. Denn Privatgutachten sind nicht mehr als Urkunden, die die Meinung ihres Verfassers wiedergeben, wobei dieser Verfasser nicht den Pflichten eines gerichtlich bestellten Sachverständigen unterliegt. Sie sind daher nach der Rechtsprechung nicht geeignet, in einer Sachverständigenfrage „für sich allein die Entscheidung zu stützen“ (17 Ob 21/10b mwN; RS0040363, RS0040636). Erfordert die Beurteilung einer Tatsachenfrage besondere Fachkunde, so ordnet die Zivilprozessordnung eine bestimmte Vorgangsweise an: Entweder ist ein Sachverständiger zu bestellen, oder das Gericht verwertet mit Zustimmung der Parteien seine eigene Fachkunde. Diese Regelungen wären nicht erforderlich, wenn der Beweis daneben auch durch bloße Privatgutachten möglich wäre. Anders als im Sicherungsverfahren, wo bloße Bescheinigung genügt, hat es daher im Zivilprozess dabei zu bleiben, dass Feststellungen in einer Sachverständigenfrage nicht allein aufgrund von Privatgutachten getroffen werden können. Erhebt der Gegner substanziierte Einwände, so wäre es eine Umgehung der Regeln über den Sachverständigenbeweis, wenn das Gericht das Privatgutachten dennoch seiner Entscheidung zugrunde legte. Denn im Ergebnis würde es damit in einer Sachverständigenfrage die Richtigkeit von wenngleich „urkundlich belegtem“ Sachvorbringen aufgrund eigener Fachkunde bejahen. Das stünde im Widerspruch zu § 364 ZPO (17 Ob 21/10b).

4.2 In Bezug auf den Gewährungszeitpunkt beruhen die vom Erstgericht getroffenen Feststellungen jedenfalls nicht auf der gutachterlichen Einschätzung des vom Erstgericht beigezogenen neurologisch-psychiatrischen Sachverständigen, weil dieser ohne eigene fundierte Stellungnahme auf die Ausführungen der Anstaltsgutachterin im Gewährungsverfahren verweist (vgl Seite 2 der schriftlichen Gutachtensergänzung vom 19. 1. 2022 [ON 9] und Seite 2 des Protokolls vom 2. 5. 2022 [ON 16]). Diese Feststellungen haben demnach ihre Grundlage allein in den Ausführungen der Anstaltsgutachterin im Gewährungsverfahren und beruhen damit in Wahrheit nach zivilprozessualer Kategorisierung in unzulässiger Weise auf einem Privatgutachten.

4.3 Vor diesem Hintergrund ist eine Ergänzung des neurologisch-psychiatrischen Sachverständigengutachtens unumgänglich. Der vom Gericht beigezogene Sachverständige wird dazu Stellung zu nehmen haben, inwieweit ihm aufgrund der vorliegenden medizinischen Unterlagen eine eigene Einschätzung zum Leistungskalkül der Klägerin im Gewährungszeitpunkt möglich ist. Allenfalls besteht insbesondere auch die Möglichkeit, die im Gewährungsverfahren tätige Anstaltsgutachterin zur von ihr durchgeführten Untersuchung und damit zu den Befundgrundlagen im Gewährungszeitpunkt als Zeugin einzuvernehmen, um dem gerichtlichen Sachverständigen insofern eine erweiterte Befundgrundlage für seine eigene Einschätzung zu verschaffen.

Rechtliche Beurteilung

B. Zur Rechtsrüge:

Die Berufung wendet sich auch im Rahmen der Rechtsrüge gegen die Entziehung des Rehabilitationsgeldes.

Dazu ist auszuführen:

1. Die Entziehung des Rehabilitationsgeldes als laufende Geldleistung aus der Krankenversicherung (§ 143a ASVG) ist nach § 99 Abs 1 ASVG zu beurteilen. Sind nach dieser Bestimmung die Voraussetzungen des Anspruchs auf eine laufende Leistung nicht mehr vorhanden, so ist die Leistung zu entziehen, sofern nicht der Anspruch gemäß § 100 Abs 1 ASVG ohne weiteres Verfahren erlischt. Ein Fall des § 100 Abs 1 ASVG ist hier nicht zu beurteilen.

2.1 Die Entziehung einer laufenden Leistung wie des Rehabilitationsgeldes ist nach § 99 Abs 1 ASVG nur zulässig, wenn eine wesentliche, entscheidende Änderung der Verhältnisse gegenüber dem Zeitpunkt der ursprünglichen Zuerkennung eingetreten ist (10 ObS 40/20k mwN; 10 ObS 65/18h = RS0083884 [19]); ansonsten steht die materielle Rechtskraft der Gewährungsentscheidung der Entziehung entgegen (RS0106704, RS0083941 [T1]). Der für den Vergleich maßgebliche Zeitpunkt der ursprünglichen Leistungszuerkennung ist hier die Erlassung des Gewährungsbescheids. Es ist der Zustand im Zeitpunkt der Erlassung des Bescheids über das Vorliegen vorübergehender Invalidität im Sinn des § 255b ASVG dem Zustand im Zeitpunkt der Entziehung gegenüberzustellen (RS0083876).

2.2 Rehabilitationsgeld wird zwar aus dem Versicherungsfall der Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit in der Krankenversicherung gewährt (§ 117 Z 3 ASVG). Es müssen jedoch die Anspruchsvoraussetzungen gemäß § 255b ASVG erfüllt sein (vgl § 143a Abs 1 ASVG). Der in § 255b ASVG verwendete Begriff der Invalidität gehört auch wenn sie nur „vorübergehend“ im Sinn dieser Bestimmung vorliegen muss zu den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit in der Pensionsversicherung (§ 222 Abs 1 Z 2 lit b ASVG). Zum Begriff der Änderung kann daher auch für die Beurteilung der Entziehung von Rehabilitationsgeld auf die Rechtsprechung zurückgegriffen werden, wonach eine solche Änderung im Fall einer Leistung aus den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit etwa in der Besserung des körperlichen oder geistigen Zustands des Versicherten oder in der Wiederherstellung oder Besserung seiner Arbeitsfähigkeit infolge Gewöhnung und Anpassung an die Leiden bestehen kann (RS0083884). Ist der Leistungsbezieher durch diese Änderung auf dem Arbeitsmarkt wieder einsetzbar, ist die Entziehung der Leistung sachlich gerechtfertigt (RS0083884 [T5]; zuletzt zum Rehabilitationsgeld 10 ObS 40/20k und 10 ObS 76/21f).

3.1 Das Rehabilitationsgeld ist durch Bescheid (des Pensionsversicherungsträgers, § 143a Abs 1 ASVG) unter anderem dann zu entziehen, wenn wie die Beklagte hier im Verfahren geltend macht vorübergehende Invalidität von voraussichtlich mindestens sechs Monaten (§ 255b ASVG) nicht mehr vorliegt (§ 99 Abs 1 iVm Abs 3 Z 1 lit b sublit aa ASVG).

3.2 Von der Berufung wird (zu Recht) nicht in Frage gestellt, dass die Klägerin, die unstrittig keinen Berufsschutz genießt, im Entziehungszeitpunkt unter Zugrundelegung der oben nicht wiedergegebenen erstgerichtlichen Feststellungen zu ihrem Leistungskalkül noch auf den allgemeinen Arbeitsmarkt im Sinn des § 255 Abs 3 ASVG verweisbar ist.

3.3 Die Berufung meint bloß, dass eine Entziehung des Rehabilitationsgeldes mangels eingetretener Zustandsverbesserung (gegenüber dem Gewährungszeitpunkt) nicht in Betracht komme. Dabei geht sie aber nicht vom festgestellten Sachverhalt aus, sodass die Berufung insofern nicht gesetzmäßig ausgeführt ist. Die bezughabenden Feststellungen werden von der Berufung jedoch zu Recht als mangelhaft bekämpft, wie oben unter Punkt A. ausgeführt wurde.

C. Zusammenfassung und Kosten:

1. In Stattgebung der Berufung war daher das angefochtene Urteil aufzuheben und dem Erstgericht die neuerliche (ausreichend begründete) Entscheidung nach Verfahrensergänzung im dargelegten Sinn (vgl Pkt A.4.3) aufzutragen. Eine Verfahrensergänzung durch das Berufungsgericht nach § 496 Abs 3 ZPO kommt im Hinblick auf den damit verbundenen erheblichen Mehraufwand nicht in Betracht.

2. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

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