JudikaturJustiz10ObS140/23w

10ObS140/23w – OGH Entscheidung

Entscheidung
16. April 2024

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon. Prof. Dr. Nowotny als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Mag. Schober sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Antonia Oberwalder (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gerald Fida (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei M*, vertreten durch Dr. Clemens Illichmann, Rechtsanwalt in Salzburg, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist Straße 1, wegen Alterspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom 7. November 2023, GZ 12 Rs 90/23a 13, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung:

[1] Die 1963 geborene Klägerin erwarb in Österreich zum Stichtag 1. 2. 2023 516 Beitragsmonate zur Pflichtversicherung und 10 Ersatzmonate, gesamt daher 526 Versicherungsmonate. In Deutschland erwarb die Klägerin im Zeitraum 1. 8. 1997 bis 31. 3. 1998 gesamt 8 Beitragsmonate an Pflichtversicherungszeiten. Mit Bescheid vom 21. 2. 2023 lehnte die deutsche Rentenversicherung Bund einen Rentenanspruch der Klägerin ab, weil die deutschen Versicherungszeiten weniger als ein Jahr betragen.

[2] Mit Bescheid vom 4. 5. 2023 sprach die Beklagte der Klägerin eine Alterspension gemäß § 4 Abs 1 und 5 APG ab 1. 2. 2023 in Höhe von monatlich 2.848,09 EUR zu.

[3] Mit ihrer gegen diesen Bescheid erhobenen Klage begehrt die Klägerin die Zuerkennung einer höheren Alterspension ab 1. 2. 2023 unter Einbeziehung der in Deutschland erworbenen Versicherungszeiten.

[4] Die Beklagte wandte dagegen ein, dass eine anteilige Berechnung der Pension der Klägerin gemäß Art 52 Abs 4 VO (EG) 883/2004 zu unterbleiben habe, weil die Alterspension nach dem APG von Österreich in den Anhang VIII Teil 2 zur VO (EG) 883/2004 aufgenommen worden sei.

[5] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

[6] Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung mit der Maßgabe, dass es den angefochtenen Bescheid wiederherstellte.

Rechtliche Beurteilung

[7] In ihrer gegen diese Entscheidung erhobenen außerordentlichen Revision zeigt die Klägerin keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO auf:

[8] 1. Die Entscheidung des Berufungsgerichts entspricht der in den Entscheidungen 10 ObS 155/16s und 10 ObS 21/20s entwickelten Rechtsprechung.

[9] 1.1 Gegenstand der Entscheidung 10 ObS 155/16s (= DRdA 2018/1, 25 [ Panhölzl ]) war die Frage, ob in Deutschland erworbene Versicherungszeiten im Rahmen der Kontoerstgutschrift (§ 15 APG) zum 1. 1. 2014 zu berücksichtigen sind. Da die Berechnung der Kontopension nicht auf Basis von Versicherungszeiten erfolgt, wurde die APG Pension in den Anhang VIII Teil 2 der VO (EG) 883/2004 aufgenommen. Diese Eintragung hat zur Folge, dass bei APG Pensionen keine Berechnung nach dem pro rata temporis Prinzip erfolgt und nur die österreichischen Rechtsvorschriften anzuwenden sind. Die VO (EG) 883/2004 fordert somit in einem APG Pensionsfall keine Einbeziehung ausländischer Versicherungszeiten in die Kontoerstgutschrift. Die Berücksichtigung ausländischer Zeiten erfolgt – soweit sie überhaupt für Österreich relevant werden – erst aus Anlass der Berechnung der Pension unmittelbar für die Leistungserbringung; in diesem Fall sind die Regelungen des internationalen und des europäischen Sozialrechts heranzuziehen (RS0131277).

[10] 1.2 In der Entscheidung 10 ObS 21/20s (= DRdA 2021/21, 230 [ Panhölzl ] = JAS 2021, 176 [ Spiegel ] = DRdA infas 2020/191, 445 [ Weißensteiner ]) erkannte der Oberste Gerichtshof zu Recht, dass „unterjährige“ (damals: 11 Monate) deutsche Pflichtversicherungszeiten bei der Berechnung der Höhe einer Korridorpension nach dem APG nicht zu berücksichtigen sind. Während es nach dem Altrecht für die Bildung der Pensionsbemessungsgrundlage auf die zeitliche Lagerung der Versicherungszeiten ankam, spielt die zeitliche Lagerung von Versicherungszeiten für die Berechnung der Pension nach dem APG (Pensionskonto) keine Rolle (Pkt 1.4, 1.5). Das Primärrecht der Europäischen Union gibt nicht vor, dass Versicherungszeiten aus anderen Mitgliedstaaten zur Wahrung der Arbeitnehmerfreizügigkeit auch zum Zweck der Berechnung der Leistung zu übernehmen sind. Eine Übernahme fremder Versicherungslasten erfolgt nur in den von der VO (EG) 883/2004 normierten Ausnahmsfällen. Im Hinblick auf das System der Berechnung der Alterspension nach dem APG und den klaren Wortlaut des Art 52 Abs 5 VO (EG) 883/2004 besteht daher keine Veranlassung zur Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens beim Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) zur Klärung der Frage, ob die Aufnahme der Alterspension nach dem APG in Anhang VIII Teil 2 der VO (EG) 883/2004 durch Österreich unionsrechtskonform oder unionsrechtswidrig erfolgte (Pkt 3.6).

[11] 2.1 Der Oberste Gerichtshof hat sich bei der Prüfung der Frage, ob eine außerordentliche Revision einer weiteren Behandlung unterzogen oder verworfen werden soll, grundsätzlich auf jene Gründe zu beschränken, die in der Zulassungsbeschwerde als solche angeführt wurden (RS0107501).

[12] 2.2 Auch bei der Korridorpension handelt es sich um eine Alterspension, sodass die Ausführungen in der Entscheidung 10 ObS 21/20s entgegen der Rechtsansicht der Revisionswerberin auch im vorliegenden Fall beachtlich sind.

[13] 2.3 Die Klägerin argumentiert die Zulässigkeit der außerordentlichen Revision damit, dass sie – anders als der Kläger in der Entscheidung 10 ObS 21/20s – ihre Versicherungszeiten in Deutschland bereits 1997, daher lange vor Inkrafttreten der Art 52 Abs 5 und 57 Abs 2 VO (EG) 883/2004 erworben habe, sodass die Anwendung dieser Bestimmungen gegen den unionsrechtlichen Vertrauensgrundsatz verstießen.

[14] Dem kommt keine Berechtigung zu:

[15] 2.4 Nach der Rechtsprechung des EuGH ist eine neue Rechtsnorm grundsätzlich ab dem Inkrafttreten des Rechtsakts anwendbar, mit dem sie eingeführt wird. Sie ist zwar nicht auf unter dem alten Recht entstandene und endgültig erworbene Rechtspositionen anwendbar, findet jedoch auf künftige Wirkungen eines unter dem alten Recht entstandenen Sachverhalts sowie auf neue Rechtspositionen Anwendung. Etwas anderes gilt nur – und vorbehaltlich des Verbots der Rückwirkung von Rechtsakten –, wenn zusammen mit der Neuregelung besondere Vorschriften getroffen werden, die speziell die Voraussetzungen für ihre zeitliche Geltung regeln (EuGH C 428/20, A.K. , Rn 31 mwH).

[16] 2.5 Die VO (EG) 883/2004 gilt ab 1. 5. 2010 (s deren Art 91 Satz 2 iVm Art 97 VO [EG] 987/2009). Dies gilt auch für die Art 52 und 57 VO (EG) 883/2004 in ihren durch die Verordnung (EG) Nr 988/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. 9. 2009 zur Änderung der VO (EG) 883/2004 und zur Festlegung des Inhalts ihrer Anhänge geänderten bzw neu eingeführten Fassungen (Art 52 Abs 4 und 5 und Art 57 Abs 4 VO (EG) 883/2004; Art 2 VO (EG) 988/2009). Die von der Klägerin erworbenen Versicherungszeiten in Deutschland sind gemäß Art 87 Abs 2 VO (EG) 883/2004 für die Feststellung des Leistungsanspruchs zu berücksichtigen. Die Bestimmungen der VO (EG) 883/2004 sind daher auf den Anspruch der Klägerin anzuwenden.

[17] 2.6 Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist der Grundsatz des Vertrauensschutzes, worauf das Berufungsgericht zutreffend hingewiesen hat, Teil der Unionsrechtsordnung und muss von den Mitgliedstaaten bei der Durchführung von Regelungen der Union beachtet werden (EuGH C 62/00, Marks Spencer , Rn 44). Dementsprechend sind die Vorschriften des materiellen Unionsrechts so auszulegen, dass sie für vor ihrem Inkrafttreten abgeschlossene Sachverhalte nur gelten, soweit aus ihrem Wortlaut, ihrer Zielsetzung oder ihrem Aufbau eindeutig hervorgeht, dass ihnen eine solche Wirkung beizumessen ist (EuGH C 432/17, O´Brien , Rn 26). Der Grundsatz des Vertrauensschutzes darf nicht so weit ausgedehnt werden, dass die Anwendung einer neuen Vorschrift auf die künftigen Auswirkungen von Sachverhalten, die unter der Geltung der alten Regelung entstanden sind, schlechthin ausgeschlossen ist (EuGH C 334/07 P, Kommission/Freistaat Sachsen , Rn 43 mwH).

[18] 2.7 Für die Prüfung der zeitlichen Anwendbarkeit einer neuen Unionsrechtsnorm auf einen Sachverhalt, der – wie hier die deutschen Versicherungszeiten der Klägerin – unter der alten Regel entstanden ist, die nun ersetzt wird, ist zu bestimmen, ob dieser Sachverhalt seine Wirkungen vor dem Inkrafttreten der neuen Rechtsnorm erschöpft hat – in diesem Fall wäre er als ein vor dem Inkrafttreten der neuen Norm abgeschlossener Sachverhalt zu qualifizieren – oder ob der betreffende Sachverhalt nach dem Inkrafttreten der neuen Rechtsnorm weiterhin seine Wirkungen entfaltet (EuGH C 428/20, A.K. , Rn 34). Ein solcher abgeschlossener Sachverhalt liegt hier, wie sich bereits aus der Übergangsbestimmung des Art 87 Abs 2 VO (EG) 883/2004 ergibt, nicht vor. Dies gilt auch nach der Rechtsprechung des EuGH: Der EuGH hat im Fall einer Rentenberechnung bereits entschieden, dass der Umstand, dass ein Rentenanspruch endgültig am Ende der entsprechenden Beschäftigungszeit erworben wird, nicht den Schluss zulässt, dass die Rechtsposition des Arbeitnehmers als endgültig erworben anzusehen ist. Ein Arbeitnehmer kann sich daher für die Ermittlung seines Anspruchs auf Altersrente auf vor dem Inkrafttreten einer unionsrechtlichen Norm zurückgelegte Dienstzeiten berufen (EuGH C 432/17, O´Brien , Rn 35f).

[19] 2.8 Auf den unionsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes kann sich die Klägerin nach dieser Rechtsprechung daher nicht stützen. Der Umstand, dass die Vorgängerverordnung der VO (EG) 883/2004, die Verordnung (EWG) Nr 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu und abwandern, eine Berücksichtigung der in Deutschland erworbenen Versicherungszeiten der Klägerin in einer vergleichbaren Situation vorgesehen hätte (vgl dazu Spiegel , Die geheime Welt der Pensionsberechnung nach dem EU-Recht – können Versicherungszeiten „untergehen“?, JAS 2021, 176 [185]), ändert daran nichts. Denn ein solcher Anspruch wäre erst nach der VO (EWG) 1408/71 und daher durch Unionsrecht entstanden, sodass es dem Unionsgesetzgeber zusteht, ihn zu ändern ( Spiegel in Fuchs/Janda , Europäisches Sozialrecht 8 Art 87 und 87a VO [EG] 883/2004 Rz 3 f).

[20] 3.1 Die Revisionswerberin rügt die Aufnahme der Alterspension nach dem APG in Anhang VIII Teil 2 VO (EG) 883/2004 einerseits als Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz des Art 7 B VG und Überschreitung des Gestaltungsspielraums des österreichischen Gesetzgebers. Dem ist mit der Entscheidung 10 ObS 21/20s entgegenzuhalten, dass die hier anwendbaren Normen des sekundären Unionsrechts nicht Bestandteil der österreichischen Rechtsordnung sind und daher nicht Gegenstand einer verfassungsrechtlichen Normenkontrolle sein können (Pkt 5.).

[21] 3.2 Die Revisionswerberin rügt die Aufnahme der Alterspension nach dem APG in den Anhang VIII Teil 2 VO (EG) 883/2004 darüber hinaus nur mit der Begründung, dass diese gegen Primärrecht der Union, insbesondere gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art 45 ff AEUV und gegen die Personenfreizügigkeit nach Art 21 AEUV verstoße. Dem kommt aus den bereits in der Entscheidung 10 ObS 21/20s dargelegten Gründen (Pkt 3.) keine Berechtigung zu, sodass auch keine Veranlassung besteht, der Anregung der Revisionswerberin auf Einleitung eines Vorabentscheidungsersuchens an den EuGH zu folgen.