JudikaturBvwgW251 2286454-1

W251 2286454-1 – Bundesverwaltungsgericht Entscheidung

Entscheidung
25. April 2024

Spruch

W251 2286454-1/8E

Schriftliche Ausfertigung des am 15.04.2024 mündlich verkündeten Erkenntnisses:

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Angelika GLATZ als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Somalia, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen Spruchpunkt I. des Bescheids des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 09.01.2024, Zl. 1351100304-230836600, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.

Text

Wesentliche Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführerin, eine weibliche Staatsangehörige Somalias, stellte am 27.04.2023 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am 28.04.2023 fand vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung der Beschwerdeführerin statt. Dabei gab sie zu ihren Fluchtgründen befragt an, dass sie Somalia vor 15 Jahren wegen des Bürgerkrieges verlassen habe. Die Sicherheitslage sei damals sehr schlecht gewesen. Deshalb sei sie mit ihrer Schwester nach Saudi-Arabien gezogen. 2022 sei ihre Schwester getötet worden. Ihr Sohn lebt bei den Kindern ihrer verstorbenen Schwester in Somalia. Sonst habe sie keine weiteren Fluchtgründe. Bei einer Rückkehr nach Somalia habe sie keine Arbeit, nichts zu essen, keine Unterstützung und keine sozialen Kontakte, da sie sehr lange im Ausland gelebt habe.

3. Am 18.10.2023 fand die niederschriftliche Einvernahme der Beschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Bundesamt) statt. Die Beschwerdeführerin gab im Wesentlichen an, dass der Sohn ihrer Stiefmutter ihre Brüder habe rekrutieren wollen. Ihr Vater sei dagegen gewesen, da dieser Ratsältester gewesen sei. Aus diesem Grund habe der Stiefsohn ihren Vater getötet. Der Stiefsohn sei immer aggressiver geworden und habe sie geschlagen und die Brüder bedroht. Auch von der Stiefmutter sei sie geschlagen worden. Ihr Bruder habe ihr und ihrer Schwester die Ausreise nach Saudi-Arabien empfohlen und sie sei mit der Schwester ausgereist. Die Schwester sei nach wenigen Monaten wieder nach Somalia abgeschoben worden. Die Beschwerdeführerin habe in Saudi-Arabien geheiratet, sich jedoch nach wenigen Jahren wieder scheiden lassen. Aus der Ehe stammt ein Sohn. Zudem sei sie als kleines Kind beschnitten worden.

4. Mit dem angefochtenen Bescheid wies das Bundesamt den Antrag der Beschwerdeführerin auf Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.) und erkannte ihr den Status einer subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.). Der Beschwerdeführerin wurde eine befristete Aufenthaltsberechtigung für die Dauer von einem Jahr zuerkannt (Spruchpunkt III.).

Begründend führte das Bundesamt aus, dass die Beschwerdeführerin ihre Fluchtgründe nicht habe glaubhaft machen können. Es seien mehrere Widersprüche und Ungereimtheiten in den Angaben der Beschwerdeführerin die einer Glaubhaftmachung der behaupteten Fluchtgründe entgegenstehen. Aufgrund der schlechten Nahrungsmittelversorgungssituation, der drohenden Hungersnot und da die gegenwärtige Lage für Frauen zur Versorgung und Existenzgründung schlecht sei, sei der Beschwerdeführerin der Status der subsidiär Schutzberechtigten zu erteilen.

5. Die Beschwerdeführerin erhob gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides fristgerecht Beschwerde und brachte dagegen im Wesentlichen vor, dass das Ermittlungsverfahren mangelhaft sei, da auch die Länderberichte seien mangelhaft. Das Bundesamt habe sich nicht nur mit dem Länderinformationsblatt, sondern auch mit den EASO-Berichten zur Lage von Frauen auseinandersetzen müssen. Die Beschwerdeführerin sei als alleinstehende und unverheiratete Frau ohne männliche Familienangehörige in Somalia gefährdet. Staatlicher Schutz vor sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt sei nicht gegeben. Die Beschwerdeführerin erfülle nach den UNHCR-Richtlinien mehrere Risikoprofile, sie sei als Frau von geschlechtsspezifischer Gewalt bedroht sowie von Zwangsheirat, geschlechtsspezifischer Gewalt als auch als Überlebende der FGM. Aus den EUAA-Berichten zu Somalia ergebe sich auch, dass Frauen, die in IDP-Lagern leben müssen bzw. einem schwachen Clan angehören, einem höheren Risiko sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt seien. Insbesondere seien binnervertriebene, alleinstehende, geschiedene bzw. verwitwete Frauen besonders gefährdet und sei für diese die Suche nach einer Unterkunft besonders schwierig. In vergleichbaren Fällen sei vom BVwG bereits der Status von Asylberechtigten zuerkannt worden. Die Beschwerdeführerin könne auch eine Verfolgung durch die Al Shabaab geltend machen, sie sei dazu jedoch vom Bundesamt nicht befragt worden. Auch sei die Beweiswürdigung des Bundesamtes mangelhaft. Es wurde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt.

6. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 15.04.2024 in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die somalische Sprache und im Beisein der Rechtsvertreterin der Beschwerdeführerin eine mündliche Verhandlung durch. In der Verhandlung wurde das Erkenntnis mündlich verkündet und die Beschwerde der Beschwerdeführerin als unbegründet abgewiesen.

7. Mit Schriftsatz vom 23.04.2024 beantragte die Beschwerdeführerin eine schriftliche Langausfertigung des mündlich verkündeten Erkenntnisses.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person der Beschwerdeführerin:

Die Beschwerdeführerin führt in Österreich den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Sie ist eine weibliche, volljährige somalische Staatsangehörige und bekennt sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben. Sie spricht Somali als Muttersprache. Die Beschwerdeführerin ist geschieden und hat einen Sohn (AS 40ff). Die Beschwerdeführerin stammt aus XXXX , einer Küstenstadt in Mittel Shabelle (AS 41). Die Beschwerdeführerin ist Angehörige des Clans der Hawiye, Sub-Clan Abgaal, Sub-Sub-Clan XXXX (AS 40, VP S. 7). In ihrer Heimatstadt ist überwiegend der Sub-Sub-Clan der Beschwerdeführerin ansässig (VP S. 9).

Die Eltern der Beschwerdeführerin sind verstorben. Die Beschwerdeführerin hat zwei Brüder. Diese leben noch in Somalia im Heimatort der Beschwerdeführerin. Ein Bruder ist verheiratet und hat einen Sohn, der bei diesem im Heimatort in Somalia lebt. Auch die Schwester der Beschwerdeführerin lebt noch im Heimatort mit ihren zwei Kindern. Der Sohn der Beschwerdeführerin lebt bei ihrer Familie in Somalia im Heimatort. Die Beschwerdeführerin hat Kontakt zu ihren Familienangehörigen in Somalia. Die Beschwerdeführerin hatte niemals eine Stiefmutter oder einen Stiefbruder.

Die Beschwerdeführerin hat in Somalia keine Schule besucht, sie war bei ihrer Einreise nach Österreich im April 2023 Analphabetin (AS 4, AS 41). Sie kann auf Somalisch weder lesen noch schreiben.

Die Beschwerdeführerin reiste ca. im Jahr 2008 gemeinsam mit ihrer Schwester aus Somalia aus (AS 6; AS 40). Die Beschwerdeführerin und die Schwester hielten sich ca. 15 Jahre in Saudi-Arabien auf (AS 44). Die Beschwerdeführerin heiratete in Saudi-Arabien einen somalischen Staatsangehörigen. Von diesem ließ sie sich nach wenigen Jahren wieder scheiden, der Ehe entstammt ein Sohn (AS 41). Als die Kontrollen in Saudi-Arabien immer strenger wurden und die Schwester der Beschwerdeführerin mit ihren Kindern nach Somalia abgeschoben wurde, hat die Beschwerdeführerin beschlossen, dass sie und ihr Sohn nach Europa weiterreisen (AS 48). Während die Beschwerdeführerin von der Türkei nach Griechenland weiterreisen konnte, wurde ihr Sohn an der Grenze zu Griechenland und weiter zurück nach Somalia abgeschoben. Dort lebt er bei den Brüdern der Beschwerdeführerin, bei der Schwester der Beschwerdeführerin und den Kindern der Schwester der Beschwerdeführerin im Heimatort (AS 8).

Die Beschwerdeführerin ist unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich eingereist und stellte am 27.04.2023 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Die Beschwerdeführerin war zum Zeitpunkt ihrer Antragsstellung volljährig (AS 3).

Die Beschwerdeführerin leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten.

Die Beschwerdeführerin wurde in Somalia nach Typ III beschnitten. Sie ist derzeit nicht defibuliert und es gibt derzeit auch kein Vorhaben, die Vernähung operativ zu öffnen. Die Beschwerdeführerin nimmt Medikamente um ihre Menstruation regelmäßig zu bekommen, sonst nimmt sie keine weiteren Medikamente (AS 55, VP S. 12).

Die Beschwerdeführerin weist in Österreich keine Vorstrafen auf (Beilage ./I).

1.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführerin:

Das von der Beschwerdeführerin ins Treffen geführte Verfolgungsvorbringen kann nicht festgestellt werden.

1.2.1. Der Vater der Beschwerdeführerin wurde nicht von einem Stiefsohn getötet, die Beschwerdeführerin hatte in Somalia weder eine Stiefmutter noch einen Stiefbruder. Die Brüder der Beschwerdeführerin wurden nicht aufgefordert sich der Al Shabaab oder einer anderen Gruppierung anzuschließen. Die Beschwerdeführerin ist aufgrund des Bürgerkrieges nach Saudi-Arabien gegangen. Sie wurde in Somalia niemals selber bedroht oder angegriffen. Die Beschwerdeführerin hat Somalia weder aus Furcht vor Eingriffen in ihre körperliche Unversehrtheit noch wegen Lebensgefahr aufgrund ihrer Familien- oder Clanzugehörigkeit verlassen. Weder die Beschwerdeführerin noch ihre Familie wurde in Somalia jemals bedroht oder angegriffen. Die von der Beschwerdeführerin angegebenen Vorfälle haben sich nicht ereignet.

1.2.2. In Somalia droht der Beschwerdeführerin weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in ihre körperliche Integrität durch die Al Shabaab, durch Familienangehörige oder durch andere Personen. Der Beschwerdeführerin drohen in Somalia weder Eingriffe in ihre körperliche oder geistige Integrität noch Lebensgefahr. Es droht ihr bei einer Rückkehr nach Somalia auch keine zwangsweise Ehe durch die Al Shabaab, durch Clan-Milizen oder durch andere Personen.

Die Beschwerdeführerin kann bei einer Rückkehr nach Somalia wieder bei ihren Brüdern leben sowie bei ihrer Schwester im Heimatort. Dort lebt auch ihr Sohn. Sie kann auf familiären Schutz durch männliche Familienangehörige zurückgreifen. Sie muss nicht in ein IDP-Lager gehen.

Sie kann zudem auch von ihrem Mehrheitsclan unterstützt werden und erhält von diesem auch Schutz. Die Beschwerdeführerin hatte in Somalia keine konkret und individuell gegen sie gerichteten Probleme aufgrund ihrer Clanzugehörigkeit.

Ihr droht bei einer Rückkehr nach Somalia auch keine (erneute) Beschneidung und auch keine Zwangsheirat.

1.3. Zur maßgeblichen Situation in Somalia:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Somalia basieren auf nachstehenden Quellen:

- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation über Somalia vom 08.01.2024 (LIB)

- Bericht, Focus Somalia, Clans und Minderheiten vom 31.05.2017 (Focus Somalia)

1.3.1. Politische Situation

Somalia ist faktisch zweigeteilt in die somalischen Bundesstaaten und Somaliland, einen selbst ausgerufenen unabhängigen Staat, der international nicht anerkannt wird (LIB Kapitel Politische Lage).

Somalia wird als der am meisten gescheiterte Staat der Welt beschrieben, das Land verfügt über keine einheitliche Regierung. Seit dem Zusammenbruch des autoritären Regimes von Mohamed Siad Barre im Jahr 1991 kämpft Somalia darum, eine Regierung zu bilden. Die vorhandenen staatlichen Strukturen sind demnach sehr schwach, wesentliche Staatsfunktionen können von ihnen nicht ausgeübt werden und der Staat bleibt weiterhin fragil. Es gibt jedenfalls keine flächendeckende effektive Staatsgewalt. Ein Großteil des Landes steht nicht unter staatlicher Kontrolle. Al Shabaab kontrolliert fast 70% von Süd-/Zentralsomalia. Die Bundesregierung bietet ihren Bürgern derzeit nur wenige wesentliche Dienstleistungen an und der Staat leidet an gescheiterten Institutionen, vom Gesundheitswesen bis zu den Sicherheitskräften. Die ständige Instabilität bleibt ein prägendes Merkmal des Lebens. Viele Menschen verlassen sich daher hinsichtlich grundlegender Dienstleistungen und Schutz weiterhin auf bestehende traditionelle, informelle Institutionen (LIB, Kapitel Politische Lage).

Die Bundesregierung verfügt kaum über eine Möglichkeit, ihre Politik und von ihr beschlossene Gesetze im Land durch- bzw. umzusetzen, da sie nur wenige Gebiete kontrolliert. Gleichzeitig gilt Somalia als eines der korruptesten Länder der Welt und die Regierung ist zum Überleben stark auf internationale Hilfe angewiesen. Die Unfähigkeit, gegen die endemische Korruption vorzugehen, behindert den Staatsbildungsprozess und den Aufbau von Institutionen; der politische Machtkampf hat das Vertrauen der Bevölkerung in bestehende staatliche Institutionen weiter geschwächt, die politischen Konflikte haben die Kluft zwischen den Fraktionen vergrößert (LIB, Kapitel Politische Lage).

Die politische Landschaft durch ein komplexes Zusammenspiel von Clandynamiken, regionalen Rivalitäten und Machtkämpfen auf oberen Ebenen gekennzeichnet. Clanbasierte Politik und Identitäten haben die Bildung politischer Allianzen und Konflikte im ganzen Land erheblich beeinflusst. Verschiedene Fraktionen und regionale Regierungen wetteifern um die Macht, was zu politischer Fragmentierung und einem Mangel an kohärenter Regierungsführung geführt hat (LIB, Kapitel Politische Lage).

Die Übergangsverfassung sieht föderale Strukturen mit zwei Regierungsebenen vor: Die Bundesregierung (Federal Government) sowie die Bundesstaaten (Federal Member States), welche auch Lokalregierungen umfassen. Es wurden bisher sechs Entitäten durch die Bundesregierung als Bundesstaaten anerkannt, nämlich Puntland, Galmudug, Jubaland, South West State (SWS) und HirShabelle. Jeder dieser Bundesstaaten hat eine eigene Verfassung. Somaliland wird als sechster Bundesstaat erachtet. Die Hauptstadtregion Benadir (Mogadischu) verbleibt als Banadir Regional Administration/BRA unter direkter Kontrolle der Bundesregierung. Die Bildung der Bundesstaaten erfolgte im Lichte der Clanbalance: Galmudug und HirShabelle für die Hawiye; Puntland und Jubaland für die Darod; der SWS für die Rahanweyn; Somaliland für die Dir. Allerdings finden sich in jedem Bundesstaat Clans, die mit der Zusammensetzung ihres Bundesstaates unzufrieden sind, weil sie plötzlich zur Minderheit wurden (LIB, Kapitel Politische Lage).

1.3.2. Sicherheitslage

Zwischen Nord- und Süd-/Zentralsomalia sind gravierende Unterschiede bei den Zahlen zu Gewalttaten zu verzeichnen. Auch das Maß an Kontrolle über bzw. Einfluss auf einzelne Gebiete variiert. Während Somaliland die meisten der von ihm beanspruchten Teile kontrolliert, wird die Lage über die Kontrolle geringer Teilgebiete von Puntland von al Shabaab beeinflusst - und in noch geringeren Teilen vom Islamischen Staat in Somalia - während es hauptsächlich an Clandifferenzen liegt, wenn Puntland tatsächlich keinen Zugriff auf gewisse Gebiete hat. In Süd-/Zentralsomalia ist die Situation noch viel komplexer. In Mogadischu und den meisten anderen großen Städten hat al Shabaab keine Kontrolle, jedoch eine Präsenz. Dahingegen übt al Shabaab über weite Teile des ländlichen Raumes Kontrolle aus. Zusätzlich gibt es in Süd-/Zentralsomalia große Gebiete, wo unterschiedliche Parteien Einfluss ausüben; oder die von niemandem kontrolliert werden; oder deren Situation unklar ist.

Hargeysa, Berbera, Burco, Garoowe und Dhusamareb gelten als sichere Städte. Alle anderen Städte variieren von einem Grad zum anderen. Auch Kismayo selbst ist sicher, aber hin und wieder gibt es auch dort Anschläge. Bossaso ist im Allgemeinen sicher, es kommt dort aber zu gezielten Attentaten. Dies gilt auch für Galkacyo. Baidoa, Jowhar und Belet Weyne diesbezüglich innerhalb des Stadtgebietes wie Kismayo zu bewerten. Alle Hauptstädte der Bundesstaaten gelten als relativ sicher.

1.3.2.1. Sicherheitslage in Süd- und Zentralsomalia sowie in Puntland

Die Sicherheitslage bleibt in Süd- und Zentralsomalia und auch in Puntland volatil, mit durchschnittlich 234 sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Monat (Zeitraum Feber-Juni 2023), wobei die Sicherheitslage von Region zu Region divergiert. Insgesamt gab es im Zeitraum 8.2.-7.6.2023 935 Vorfälle, davon 355 mit terroristischem Hintergrund. Al Shabaab führt immer wieder komplexe Angriffe durch. U.a. kommen Menschen bei Sprengstoffanschlägen ums Leben oder werden verletzt. Weiterhin führt der Konflikt zu zivilen Todesopfern, Verletzten und Vertriebenen. Im o.g. Zeitraum waren 11 % der davon Betroffenen Zivilisten.

Am meisten von Sprengsätzen betroffen waren in diesem Zeitraum Mogadischu/Benadir, Lower Shabelle, Hiiraan und Lower Juba. Mogadischu wird immer wieder auch von indirektem Feuer der al Shabaab getroffen. Im Zusammenhang mit der laufenden Offensive am meisten betroffen sind Middle Shabelle, Mudug, Galgaduud und Hiiraan.

In den vergangenen Jahren wurden Offensiven gegen al Shabaab durchgeführt, die sich zunächst aus militärischer Sicht als erfolgreich erwiesen haben. Anfängliche territoriale Erfolge bringen aber oft eine weitaus schwierigere Herausforderung mit sich: die Stabilisierung eroberter Gebiete. Das Versäumnis, befreite Gebiete wirksam zu stabilisieren, hat wiederholt zum Rückzug von Regierungskräften geführt. Und das Versäumnis, gespaltene Gemeinschaften zu versöhnen, hat dazu geführt, dass auch in Absenz von al Shabaab neue Konflikte entstehen konnten. So wurde al Shabaab etwa im Rahmen der Operation Badbaado in Lower Shabelle in den Jahren 2019–2020 aus mehreren Städten vertrieben. Drei Jahre danach kämpft die Bundesregierung aber immer noch darum, die befreiten Gebiete zu stabilisieren. Hilfsleistungen und staatliche Dienstleistungen bleiben unzureichend und oberflächlich.

Generell hat es die Bundesregierung nach wie vor nicht geschafft, die Reichweite staatlicher Institutionen in Bezug auf die Bereitstellung von Dienstleistungen für Bürger und den Schutz ihres Lebens und ihres Eigentums über Mogadischu hinaus auszuweiten. Jedoch haben sich sowohl die Verwaltung der Bundesregierung als auch die Bundesarmee verbessert, und dadurch ist bei der Bevölkerung der Widerstandswille gegen al Shabaab gewachsen.

ATMIS hält in Kooperation mit der somalischen Armee, regionalen Sicherheitskräften sowie mit regionalen und lokalen Milizen die Kontrolle über die seit 2012 eroberten Gebieten. Die somalische Regierung und ATMIS können keinen Schutz vor allgemeiner oder terroristischer Kriminalität im Land garantieren. Generell ist die Regierung nicht in der Lage für Sicherheit zu sorgen. Dafür ist sie in erster Linie auf ATMIS, aber auch auf Unterstützung anderer Staaten angewiesen. Dabei wurde ATMIS im Juni 2023 um 2.000 Mann reduziert, die nächste Truppenreduktion um 3.000 Mann steht mit Ende Dezember 2023 an. Die Ausbildung neuer Soldaten für die Bundesarmee machte 2023 gute Fortschritte, es mussten aber auch hohe Verluste hingenommen werden. Das größte Problem derzeit ist neben der Truppenstärke die fehlende Ausrüstung (schwere Waffen, Luftkomponente, etc.). Selbst bei einem Abzug von ATMIS ist nicht anzunehmen, dass Al Shabaab das Land wieder übernimmt oder die Bundesregierung zusammenbricht (LIB, Kapitel Sicherheitslage).

Macawiisley-Offensive: Gegen Ende der Amtsperiode von Ex-Präsident Farmaajo war al Shabaab stärker denn je. Doch seit dem Amtsantritt des neuen Präsidenten im Mai 2022 und dem Beschluss der USA, wieder Truppen in Somalia zu stationieren, haben die militärischen Operationen gegen al Shabaab zugenommen. Die im August 2022 begonnene neue Offensive (Macawiisley-Offensive) baut auf die gestiegene Unzufriedenheit bzw. Entfremdung der Lokalbevölkerung in einigen Gebieten Zentralsomalias mit al Shabaab. Die Gruppe hat lokale Clans genötigt, Buben zu übergeben, hat trotz der anhaltenden Dürre weiterhin Steuern eingetrieben, hat zu gewaltsamen Maßnahmen und Kollektivstrafen gegriffen und lokale Clans gezwungen, der Gruppe Frauen und Mädchen zuzuführen. Letztendlich hat sich al Shabaab im Zuge der Dürre als wenig hilfreich erwiesen. Während vorherige Offensiven immer von ATMIS bzw. AMISOM geführt worden waren, handelte es sich dieses Mal um eine somalische Offensive. An der Spitze des Kampfes standen die Macawiisley. Sie kennen das Terrain und die Bevölkerung und sind motiviert für ihr eigenes Gebiet zu kämpfen. Koordinierte Bundes- und regionale Kräfte eroberten zusammen mit den Macawiisley rasch Teile des von al Shabaab kontrollierten Territoriums, darunter mehrere Städte und wichtige Routen. Es konnten die größten territorialen Gewinne seit Mitte der 2010er-Jahre erzielt werden. Bundesarmee und lokale Milizen haben al Shabaab aus signifikanten Teilen Zentralsomalias vertrieben. Die Offensive wird als größter Erfolg seit der vollständigen Einnahme von Mogadischu im Jahr 2011 erachtet (LIB, Kapitel Sicherheitslage).

1.3.3. Al-Shabaab:

Al Shabaab ist mit al-Qaida affiliiert und wird häufig und korrekterweise als die größte zu al-Qaida zugehörige Gruppe bezeichnet. Die Gruppe weist eine stärkere innere Kohärenz auf als die Bundesregierung und einige der Bundesstaaten. Al Shabaab nutzt erfolgreich lokale Missstände, um taktische Allianzen zu schmieden und Kämpfer zu rekrutieren. Die Gruppe erkennt die Bundesregierung nicht als legitime Regierung Somalias an und lehnt die gesamte politische Ordnung Somalias, die sie als unislamisch bezeichnet, ab. Al Shabaab wendet eine Strategie des asymmetrischen Guerillakriegs an, die bisher sehr schwer zu bekämpfen war. Zudem bietet die Gruppe in den Gebieten unter ihrer Kontrolle Sicherheit und eine grundlegende Regierungsführung (LIB, Kapitel Al Shabaab).

Al Shabaab ist eine mafiöse Organisation, die Schutzgelder im Austausch für Sicherheits-, Sozial- und Finanzdienstleistungen verlangt. Ihre konsequente Botschaft ist, dass die Alternative - die Bundesregierung - eigennützig und unzuverlässig ist. Die Gruppe ist weiterhin eine gut organisierte und einheitliche Organisation mit einer strategischen Vision: die Eroberung Somalias bzw. die Durchsetzung ihrer eigenen extremen Interpretation des Islams und der Scharia in „Großsomalia“ und der Errichtung eines islamischen Staates in Somalia. Al Shabaab ist eine tief verwurzelte, mafiöse Organisation, die in fast allen Facetten der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Politik integriert ist. Die Gruppe ist vermutlich die reichste Rebellenbewegung in Afrika (LIB, Kapitel Al Shabaab).

Al Shabaab kontrolliert auch weiterhin den größeren Teil Süd-/Zentralsomalias und übt auf weitere Teile, wo staatliche Kräfte die Kontrolle haben, Einfluss aus. Nachdem al Shabaab in den vergangenen zehn Jahren weiter Gebiete verlustig ging, hat sich die Gruppe angepasst. Ohne Städte physisch kontrollieren zu müssen, übt al Shabaab durch eine Mischung aus Zwang und administrativer Effektivität dort Einfluss und Macht aus. Gleichzeitig ist die Zahl der unter direkter Kontrolle von al Shabaab lebenden Menschen drastisch zurückgegangen. Früher lebten noch rund eine Million Menschen in deren Gebieten, heute sind es - v.a. aufgrund von Abwanderungen und Flucht im Rahmen der Dürre - noch etwa 500.000 (LIB, Kapitel Al Shabaab).

Während al Shabaab terroristische Aktionen durchführt und als Guerillagruppe agiert, versucht sie unterhalb der Oberfläche eine Art Verwaltungsmacht zu etablieren - z.B. im Bereich der humanitären Hilfe und beim Zugang zu islamischer Gerichtsbarkeit. Im Gegensatz zur Regierung ist al Shabaab weniger korrupt, Urteile sind konsistenter und die Durchsetzbarkeit ist eher gegeben. Bei der Durchsetzung von Rechtssprüchen und Kontrolle setzt al Shabaab vor allem auf Gewalt und Einschüchterung. Im eigenen Gebiet hat die Gruppe umfassende Verwaltungsstrukturen geschaffen. Dort übt al Shabaab alle Grundfunktionen einer normalen Regierung aus: Sie hebt Steuern ein, bietet Sicherheit und sorgt mitunter für Sozialhilfe für bedürftige Bevölkerungsgruppen. Al Shabaab ist es gelungen, dort ein vorhersagbares Maß an Besteuerung, Sicherheit, Rechtssicherheit und sozialer Ordnung zu etablieren und gleichzeitig weniger korrupt als andere somalische Akteure zu sein sowie gleichzeitig mit lokalen Clans zusammenzuarbeiten. Al Shabaab setzt Zwang und Überredung ein, um die Treue zum Clan zu erzwingen. Im Gegenzug bietet die Gruppe ihre eigene Art von „Recht und Ordnung“ sowie bescheidene Grunddienstleistungen. Durch das Anbieten öffentlicher Dienste - v.a. hinsichtlich Sicherheit und Justiz - genießt al Shabaab in einigen Gebieten ein gewisses Maß an Legitimität. Die Gebiete von al Shabaab werden als relativ sicher und stabil beschrieben, bei einer Absenz von Clankonflikten und geringer Kriminalität. Die Unterdrückung von Clankonflikten ist ein Bereich, in welchem die Gruppe Erfolge erzielen konnte. Al Shabaab duldet nicht, dass irgendeine andere Institution außer ihr selbst auf ihren Gebieten Gewalt anwendet, sie beansprucht das Gewaltmonopol für sich. Jene, die dieses Gesetz brechen, werden bestraft. Al Shabaab unterhält ein rigoroses Justizsystem, welches Fehlverhalten – etwa nicht sanktionierte Gewalt gegen Zivilisten – bestraft. Daher kommt es kaum zu Vergehen durch Kämpfer der al Shabaab. Die Verwaltung von al Shabaab wurzelt auf zwei Grundsätzen: Angst und Berechenbarkeit. Hinsichtlich Korruption ist die Gruppe sehr aufmerksam. Insgesamt nimmt die Gruppe im Vergleich zur Regierung effizienter Steuern ein, lukriert mehr Geld, bietet ein höheres Maß an Sicherheit, eine höhere Qualität an Rechtsprechung. Zudem ermöglicht al Shabaab Fortbildungsmöglichkeiten – auch für Frauen. In Jilib gehen Mädchen zur Schule, und Frauen werden von al Shabaab durchaus ermutigt, einer Arbeit nachzugehen (LIB, Kapitel Al Shabaab).

Al Shabaab wendet sich gezielt an Minderheiten, die nicht von der Regierung repräsentiert werden. Die Gruppe hat sich so im Süden die Loyalität jeder einzelnen Minderheit erkauft. Generell steht bei Entscheidungen immer die Sicherheit des eigenen Clans als höchstes Ziel im Vordergrund. Manche Clans schließen sich freiwillig al Shabaab an; mit anderen Clans hat al Shabaab Abkommen geschlossen. Und wieder andere Clans werden mit Zwang und Gewalt in Partnerschaft zu al Shabaab gehalten (LIB, Kapitel Al Shabaab).

Trotz des Einflusses, den die Gruppe in weiten Teilen Somalias ausüben kann, folgen nur wenige Somali der fremden und unflexiblen Theologie, den brutalen Methoden zur Kontrolle und der totalitären Vision von Staat und Gesellschaft. Es gibt einige wenige, ideologisch positionierte Anhänger; Personen, die religiös gebildet sind und sich bewusst auf dieser Ebene mit al Shabaab solidarisieren. Es gibt aber eine viel größere Anzahl von Menschen, die pragmatisch agieren. Sie akzeptieren al Shabaab als geringeres Übel. Die Präsenz von al Shabaab bietet besorgten Gemeinden eine Form der Schirmherrschaft und des Schutzes, welche die somalische Regierung nur sporadisch gewähren kann. Die Gruppe verspricht Vorteile und faire Behandlung für diejenigen, die ihren Geboten folgen. Allen anderen droht sie mit Vergeltung (LIB, Kapitel Al Shabaab).

Die Hälfte der Mitglieder von al Shabaab stellt den militärischen Arm (jabhat), welcher an der Front gegen die somalische Regierung und ATMIS bzw. AMISOM kämpft. Die andere Hälfte sind entweder Polizisten, welche Gesetze und Gerichtsurteile durchsetzen und Verhaftungen vornehmen; oder Richter. Außerdem verfügt al Shabaab in der Regierung, in der Armee und in fast jedem Sektor der Gesellschaft über ein fortschrittliches Spionagenetzwerk. Die Anzahl der Kämpfer der Al Shabaab wird auf 7.000 bis 20.000 geschätzt, allerdings finden sich demnach darunter viele zwangsrekrutierte Kinder. Zur Kompensation von getöteten Kämpfern rekrutiert die Gruppe jedenfalls neue Kräfte Al Shabaab verfügt über zahlreiche „Teilzeitkräfte“ und „Freiberufler“, die nur bei Bedarf zum Einsatz kommen. De Gesamtzahl allen verfügbaren Personals wird auf 25.000-30.000 geschätzt (LIB, Kapitel Al Shabaab).

Generell hat al Shabaab die somalische Gesellschaft dermaßen tief infiltriert, dass es schwierig oder sogar unmöglich ist, zu erkennen, wer Mitglied der Gruppe ist. Hinzugezählt werden die Kämpfer der Armee (jabahat), die Agenten des Amniyat und die Polizisten (Hisba); alle Schätzungen zur Größe von al Shabaab scheinen sich auf dieses Personal zu konzentrieren. Doch die Gruppe verfügt auch über einen beträchtlichen Kader, der nicht direkt an der Gewalt beteiligt ist, aber für die Reichweite der Organisation in Somalia gleichermaßen wichtig ist. Es handelt sich um eine komplexe Organisation, die eine Mischung aus Terroristengruppe, Rebellenorganisation, Mafia und Schattenregierung ist. Und es gibt Personal für all diese Funktionen. Al Shabaab beschäftigt u.a. Verwaltungsbeamte, Richter und Steuereintreiber. Der Amniyat verfügt neben Agenten über Doppelagenten, Quellen und Informanten, die in die Institutionen, die Wirtschaft und die ganze Gesellschaft Somalias eingedrungen sind. Einige arbeiten heimlich, in Teilzeit oder auf Ad-hoc-Basis mit der Gruppe zusammen. Sie bewegen Nachschub, überbringen Nachrichten und berichten über alles - von der Zusammenarbeit mit der Regierung bis hin zur Wirtschaftstätigkeit. Ihre Größe kann nicht angegeben werden (LIB, Kapitel Al Shabaab).

Die Gruppe ist technisch teilweise besser ausgerüstet als die SNA und kann selbst gegen ATMIS manchmal mit schweren Waffen eine Überlegenheit herstellen. Außerdem verfügt al Shabaab mit dem Amniyat über das landesweit beste Aufklärungsnetzwerk. Al Shabaab verfügt jedenfalls über ein extensives Netzwerk an Informanten und ist in der Lage, der Bevölkerung Angst einzuflößen. Auch Namen von Nachbarn und sogar die Namen der Verwandten der Nachbarn werden in Datenbanken geführt (LIB, Kapitel Al Shabaab).

Al Shabaab verfügt weiterhin über ein starkes Hinterland. Die Gruppe wurde zwar aus den meisten Städten vertrieben, bleibt aber auf dem Land in herausragender Position bzw. hat sie dort eine feste Basis. Zudem schränkt sie regionale sowie Kräfte des Bundes auf städtischen Raum ein, ohne dass diese die Möglichkeit hätten, sich zwischen den Städten frei zu bewegen. Al Shabaab kontrolliert Gebiete in den Regionen Lower Juba und Gedo (Jubaland); Bakool, Bay und Lower Shabelle (SWS); Hiiraan und – in sehr geringem Maße - Middle Shabelle (HirShabelle); Galgaduud und - in sehr geringem Maße - Mudug (Galmudug). Die Region Middle Juba wird zur Gänze von al Shabaab kontrolliert (LIB, Kapitel Al Shabaab).

Al Shabaab ist weiterhin in der Lage, komplexe Angriffe z.B. in und um Mogadischu durchzuführen. Die Fähigkeit der Gruppe, Waffen zu beschaffen und Kämpfer neu zu verteilen, bleibt weitgehend intakt. Dabei geht die Einflusssphäre der Gruppe über jene Gebiete, die sie tatsächlich unter Kontrolle hat, hinaus. Der Amniyat hat die Politik, lokale Behörden, Betriebe und Gemeinschaften unterwandert. Dies gilt auch für die NISA (Geheimdienst) und die Polizei. Bis zu 30 % der Polizisten in Mogadischu sind demnach kompromittiert (LIB, Kapitel Al Shabaab). Al Shabaab hat jedoch nicht genügend Kapazitäten, um ständig und überall präsent zu sein. Das Einsatzgebiet von der Gruppe ist fast so groß wie Deutschland. In diesem weitläufigen und infrastrukturell wenig erschlossenen Gebiet muss die Gruppe mit ca. 10.000 bewaffneten Kämpfern auskommen. Das bedeutet, dass al Shabaab zu keinem Zeitpunkt eine permanente Kontrolle über alle strategisch wichtigen Punkte ausüben kann. Die Gruppe kann nicht alle wichtigen Straßen kontrollieren, kann nicht in allen Orten des Hinterlandes mit permanenter Präsenz aufwarten, kann sich nicht um alle Konflikte vor Ort gleichzeitig kümmern. Nominell ist die Reichweite der al Shabaab in Süd-/Zentralsomalia unbegrenzt. Sie ist in den meisten Landesteilen offen oder verdeckt präsent. Die Gruppe ist in der Lage, überall zuzuschlagen, bzw. kann sie sich auch in vielen Gebieten Süd-/Zentralsomalias frei bewegen. Al Shabaab funktioniert in nahezu ganz Südsomalia als Schattenregierung bzw. –Verwaltung. „Kontrolliert“ wird - wie es ein Experte ausdrückt - durch „exemplarische Gewalt“, etwa bei Körperstrafen; durch das Streuen von Gerüchten; durch terroristische Anschläge zur Einschüchterung der Bevölkerung. All das erfolgt aber nur so intensiv und so oft, wie es nötig ist, um die lokale Bevölkerung zu erschrecken und dafür zu sorgen, dass ein Großteil der Menschen sich tatsächlich - zwangsläufig - mit der Herrschaft von al Shabaab arrangiert. Dort wo al Shabaab nicht in der Lage ist, ein angemessenes Maß an Gewaltandrohung glaubhaft darstellen zu können, sind die Erpressungsversuche auch weniger erfolgreich. So lehnen etwa Wirtschaftstreibende, die ausschließlich in Baidoa und Kismayo agieren, Zahlungsforderungen mitunter ab. Zudem hat die Gruppe aus vergangenen Fehlern gelernt und so die Kontrolle über einige Gebiete zurückerlangt, die sie 2022 verloren hat. Einige Übereinkommen mit Clans in Zentralsomalia wurden wieder aufgenommen. Al Shabaab hebt weiter illegale Steuern ein, ohne dabei so weit zu gehen, lokale Clans zu gewalttätigem Widerstand zu provozieren. Die Gruppe ist nun darauf bedacht, die Gemeinschaften, von denen sie abhängig ist, nicht zu sehr auszubeuten (LIB, Kapitel Al Shabaab).

Steuern bzw. Schutzgeld: In den Gebieten der al Shabaab gibt es ein zentralisiertes Steuersystem. Die Besteuerung scheint systematisch, organisiert und kontrolliert zu erfolgen. Al Shabaab führt ein Register über den Besitz „ihrer“ Bürger, um darauf jährlich 2,5 % Zakat zu beanspruchen. Das Steuersystem der Gruppe hat sich immer mehr entwickelt – bis hin zu Eigentumssteuern. Al Shabaab nimmt alleine an Checkpoints pro Jahr mehr als 100 Millionen US-Dollar ein. Al Shabaab kann jährlich bis zu 180 Millionen US-Dollar generieren - bei Ausgaben von nur etwa 100 Millionen. Al Shabaab investiert einen Teil ihres Budgets in Immobilien und Klein- und Mittelbetriebe. Ein Teil der Einkünfte wird an einem Netzwerk an Straßensperren eingehoben. Insgesamt ist al Shabaab in der Lage, in ganz Süd-/Zentralsomalia erpresserisch Zahlungen zu erzwingen - auch in Gebieten, die nicht unter ihrer direkten Kontrolle stehen. Die Gruppe hebt in 10 von 18 somalischen Regionen Steuern ein. Eingehoben werden Steuern und Gebühren etwa auf die Landwirtschaft, auf Fahrzeuge, Transport und den Verkauf von Vieh sowie auf manche Dienstleistungen. Al Shabaab erhebt Steuern auf Importe. Die Gruppe erpresst Schutzgeld auf alles, was ’segelt, rollt oder sich bewegt’ sowie vom Bauwesen bzw. von Baufirmen und am Immobiliensektor generell. Auch Beamte und kleine Unternehmen müssen Geld abführen. Dieser Faktor belegt aber auch den Pragmatismus von al Shabaab als mafiöser Organisation, wo Geld vor Ideologie gereiht wird. Die Höhe der Steuer ist oft verhandelbar. Jedenfalls haben die Menschen de facto keine Wahl, sie müssen al Shabaab bezahlen. Wirtschaftstreibende nehmen die Macht von al Shabaab zur Kenntnis und zahlen Steuern an die Gruppe – auch weil die Regierung sie nicht vor den Folgen beschützen kann, die bei einer Zahlungsverweigerung drohen. Denn al Shabaab agiert wie ein verbrecherisches Syndikat. Die Gruppe baut auf ihre Reputation der Omnipräsenz und Einschüchterung – typisch für eine mafiöse Organisation. Der Zakat wird vom Amniyat durchgesetzt – und zwar durch Einschüchterung und Gewalt. Bei Zahlungsverweigerung droht die Ermordung. A Shabaab hat es in der Vergangenheit jedoch diesbezüglich zu weit getrieben. In manchen Landesteilen war die Gruppe zu gierig und brachte die Bevölkerung gegen sich auf. Al Shabaab schreckt nicht davor zurück, Menschen durch Gewalt gefügig zu machen. Menschen werden entführt, Vieh weggenommen. Teilweise flieht die Bevölkerung vor der Besteuerung (LIB, Kapitel Al Shabaab).

Wirtschaftsmacht als Shabaab: Mit einer neuen Gesetzgebung hat die Regierung Zahlungen an al Shabaab verboten; zudem gibt es entsprechende Kampagnen gegen Zahlungen an die Gruppe. Zusätzlich droht die Regierung den Wirtschaftstreibenden, und einige von ihnen haben in Mogadischu aufgehört, Geld an al Shabaab abführen. Die Bundesregierung bekämpft die Gruppe also auf finanzieller Ebene. Auch einige Konten von al Shabaab wurden eingefroren. Nun versucht die Gruppe, in den Gebieten unter ihrer Kontrolle so viel wie möglich von der Bevölkerung zu erpressen. Tatsächlich gibt es bei der finanziellen Bekämpfung von al Shabaab allerdings erhebliche Schwierigkeiten. Die ganze Wirtschaft ist von al Shabaab abhängig, wenn es z.B. um den Warentransport geht. Zudem sind die tief wurzelnden Strukturen der Gruppe im Wirtschaftsbereich Mogadischus nur schwer zu beseitigen. Die ganze Wirtschaft in der Hauptstadt zahlt Steuern an al Shabaab. Und auch viele Menschen führen weiterhin ’Steuern’ an die Gruppe ab, weil sie nicht davon ausgehen, dass die Regierung in der Lage ist, sie vor al Shabaab zu schützen. Denn bis zuletzt galt: Bei Nichtzahlung drohen Konsequenzen, z.B. die Zerstörung von Eigentum oder Betriebsmitteln. Oder aber al Shabaab sorgt dafür, dass Unternehmen keine Aufträge mehr erhalten. Wirtschaftstreibende verschweigen es üblicherweise, wenn sie Geld an al Shabaab abführen.

Al Shabaab ist kaum mehr in der Lage, die ideologische Karte zu spielen bzw. die Idee der Schaffung eines islamischen Staates zu propagieren. Sie schafft sich also ein Wirtschaftsimperium, denn al Shabaab verfügt über entsprechende Kompetenzen. Morde gegen Bezahlung scheinen für al Shabaab zum Geschäftsmodell zu werden. Zudem hat die Gruppe in vielen Sparten investiert, Reichtümer angehäuft und betreibt einige Unternehmen. Mittlerweile erscheint die Gruppe eher als „Wagner-style mafia“. Al Shabaab agiert außerhalb des eigenen Gebietes wie ein Kartell bzw. wie eine Mafia. Für al Shabaab ist es nicht schwierig, eine Telefonnummer zu bekommen. So kann die Gruppe jede Person erreichen (LIB, Kapitel Al Shabaab).

1.3.4. Rechtschutzwesen:

Von einer flächendeckenden effektiven Staatsgewalt kann nicht gesprochen werden. Der Hauptgrund, weswegen Menschen Schutzgeld bzw. „Steuern“ an al Shabaab abführen, ist es, dass die Regierung Einzelpersonen und Betriebe nicht ausreichend Sicherheit bieten kann. Der fehlende Zugang zu einem fairen und gerechten Justizsystem ist eines der dringendsten Probleme, mit denen Somalia auf dem Weg zu Stabilität und Wiederaufbau konfrontiert ist (LIB, Kapitel Rechtsschutz, Justizwesen).

Die Rechtsordnung in Somalia richtet sich nach einer Mischung des von 1962 stammenden nationalen Strafgesetzbuches sowie traditionellem („Xeer“) und islamischem Gewohnheitsrecht (Scharia). Die Scharia bildet die Grundlage jeder Rechtssprechung, und der Staat muss sich religiösen Normen beugen. Aufgrund des Versagens und der Ineffektivität der formellen staatlichen Justiz sind traditionelles Recht, islamische Rechtsprechung und Gerichte von al Shabaab häufige Quellen für Streitbeilegungen. Der mangelnde (Rechts-)Schutz durch die Regierung führt dazu, dass sich Staatsbürger der Schutzgelderpressung durch al Shabaab beugen. Staatlicher Schutz ist auch im Falle von Clankonflikten von geringer Relevanz, die „Regelung“ wird grundsätzlich den Clans selbst überlassen. Aufgrund der anhaltend schlechten Sicherheitslage sowie mangels Kompetenz der staatlichen Sicherheitskräfte und Justiz muss der staatliche Schutz in Zentral- und Südsomalia als schwach bis nicht gegeben gesehen werden. Staatliche Sicherheitskräfte können und wollen oftmals nicht in Clankonflikte eingreifen.

Staatliche Gerichte: Den meisten staatlichen Gerichten mangelt es an Durchsetzbarkeit, manchmal werden Urteile gänzlich ignoriert – ohne Konsequenzen. Durchgesetzt wird formelles Recht eher noch im urbanen als im ländlichen Kontext. De facto gibt es kein funktionierendes formelles Justizsystem. Nach anderen Angaben verfügt die somalische Justiz über sehr begrenzte Kapazitäten. Generell sind Gerichte nur in größeren Städten verfügbar. Bestehende Gerichte verfügen oft nicht über eine ausreichende Infrastruktur, es mangelt an Standorten, Richtern und relevanter Technologie. Gleichzeitig kosten Verfahren bis zu 5.000 USDollar und diese können sich über Jahre hinziehen. In den tatsächlich von der Regierung kontrollierten Gebieten sind die Richter einer vielfältigen politischen Einflussnahme durch staatliche Amtsträger ausgesetzt, und nicht immer respektiert die Regierung Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz. Das Clansystem unterminiert die Strafjustiz. Clanführer üben Macht und Einfluss aus, und Urteile werden mitunter durch Clan oder politischen Überlegungen seitens der Richter beeinflusst. Zudem spielt in der somalischen Justiz Korruption eine Rolle. Die somalische Justiz gleicht „einem Marktplatz, an welchem Gefallen, Einfluss und Geld ausgetauscht Werden“. Folglich ist das Vertrauen der Menschen in die formelle Justiz gering. Sie wird als teuer, ineffizient und manipulierbar wahrgenommen (LIB, Kapitel Rechtsschutz, Justizwesen).

Traditionelles Recht (Xeer): Das informelle Justizsystem (Scharia und Xeer) spielt eine entscheidende

Rolle bei der Gewährleistung von Gerechtigkeit. 90 % der Somali bevorzugen das informelle System, denn dieses ist leichter zugänglich und schneller. Durch Älteste und al Shabaab werden selbst in Mogadischu mehr Fälle abgewickelt als durch formelle Gerichte. Es wird angenommen, dass Xeer schon vor islamischen oder kolonialen Ordnungen existiert hat. Die Anwendung von Xeer sollte reguliert und auf „nicht-schwere“ Verbrechen begrenzt werden. Tatsächlich ist die Anwendung des Xeer auf Strafverbrechen nicht standardisiert. Jedenfalls können etwa Mordfälle von Ältesten im Xeer abgehandelt werden, oft enden die Verhandlungen mit einer finanziellen Kompensation (Diya/Mag). Dieses System verhindert zwar oft weiteres Blutvergießen, führt aber gleichzeitig zu Straflosigkeit und unterminiert die Strafjustiz. Xeer wird im ganzen Land bei der Vermittlung in Konflikten angewandt. Xeer ist insbesondere in jenen ländlichen Gebieten wichtig, wo Verwaltung und Justiz nur schwach oder gar nicht vorhanden sind. Aber auch in den Städten wird Xeer oft zur Konfliktlösung – z. B. bei Streitfragen unter Politikern und Händlern – angewendet. Zur Anwendung kommt Xeer auch bei anderen Konflikten und bei Kriminalität. Es kommt auch dort zu tragen, wo Polizei und Justizbehörden existieren. In manchen Fällen greift die traditionelle Justiz auf Polizei und Gerichtsbedienstete zurück, in anderen Fällen behindert der Einsatz des Xeer Polizei und Justiz. Jedenfalls wiegt eine Entscheidung im Xeer schwerer als ein Urteil vor einem formellen Gericht. Im Zweifel zählt die Entscheidung im Xeer. Es ist möglich, sich selbst bei schweren Verbrechen (Mord, Vergewaltigung) und nach einer Verurteilung durch ein staatliches Gericht im Rahmen des traditionellen Rechts freizukaufen bzw. die Strafe durch Kompensation zu tilgen. Frauen werden im Xeer insofern benachteiligt, als sie in diesem System nicht selbst aktiv werden können und auf ein männliches Netzwerk angewiesen sind (LIB, Kapitel Rechtsschutz, Justizwesen).

Clanschutz um Xeer - Mag/Diya-Systemn: Maßgeblicher Akteur im Xeer ist der Jilib – die sogenannte Diya/Mag/Blutgeld-zahlende Gruppe. Das System ist im gesamten Kulturraum der Somali präsent und bietet – je nach Region, Clan und Status – ein gewisses Maß an (Rechts-)Schutz. Die sozialen und politischen Beziehungen zwischen Jilibs sind durch (mündliche) Xeer-Verträge geregelt. Mag/Diya muss bei Verstößen gegen diesen Vertrag bezahlt werden. Für Straftaten, die ein Gruppenmitglied an einem Mitglied eines anderen Jilib begangen hat – z. B. wenn jemand verletzt oder getötet wurde – sind Kompensationszahlungen (Mag/Diya) vorgesehen. Wenn einer Person etwas passiert, dann wendet sie sich nicht an die Polizei, sondern zuallererst an die eigene Familie und den Clan. Dies gilt auch bei anderen (Sach-)Schadensfällen. Die Mitglieder eines Jilib sind verpflichtet, einander bei politischen und rechtlichen Verpflichtungen zu unterstützen, die im Xeer-Vertrag festgelegt sind – insbesondere bei Kompensationszahlungen. Letztere werden von der ganzen Gruppe des Täters bzw. Verursachers gemeinsam bezahlt. Der Ausdruck „Clanschutz“ bedeutet in diesem Zusammenhang also traditionell die Möglichkeit einer Einzelperson, vom eigenen Clan gegenüber einem Aggressor von außerhalb des Clans geschützt zu werden. Die Rechte einer Gruppe werden durch Gewalt oder die Androhung von Gewalt geschützt. Sein Jilib oder Clan muss in der Lage sein, Mag/Diya zu zahlen – oder zu kämpfen. Schutz und Verletzlichkeit einer Einzelperson sind deshalb eng verbunden mit der Macht ihres Clans. Aufgrund von Allianzen werden auch Minderheiten in das System eingeschlossen. Wenn ein Angehöriger einer Minderheit, die mit einem großen Clan alliiert ist, einen Unfall verursacht, trägt auch der große Clan zu Mag/Diya bei. Allerdings haben schwächere Clans und Minderheiten oft Schwierigkeiten – oder es fehlt überhaupt die Möglichkeit – ihre Rechte im Xeer durchzusetzen. Der Clanschutz funktioniert generell – aber nicht immer – besser als der Schutz durch den Staat oder die Polizei. Darum aktivieren Somalis im Konfliktfall (Verbrechen, Streitigkeit etc.) tendenziell eher Clanmechanismen. Durch dieses System der gegenseitigen Abschreckung werden Kompensationen üblicherweise auch ausbezahlt. Dementsprechend wird etwa ein Tod in erster Linie durch die Zahlung von Blutgeld und nicht durch einen Rachemord ausgeglichen.

Aufgrund der Schwäche bzw. Abwesenheit staatlicher Strukturen in einem großen Teil des von Somalis besiedelten Raums spielen die Clans also auch heute eine wichtige politische, rechtliche und soziale Rolle, denn die Konfliktlösungsmechanismen der Clans für Kriminalität und Familienstreitigkeiten sind intakt. Selbst im Falle einer Bedrohung durch al Shabaab kann der Clan einbezogen werden. Bei Kriminalität, die nicht von al Shabaab ausgeht, können Probleme direkt zwischen den Clans gelöst werden. Die patrilineare Abstammungsgemeinschaft - der Clan - schaltet sich also in Konfliktfällen ein, etwa bei Landkonflikten, Unfällen mit Personenschaden, bei Tötungsdelikten und Vergewaltigungen.

Die Clanzugehörigkeit kann also manche Täter vor einer Tat zurückschrecken lassen, doch hat auch der Clanschutz seine Grenzen. Angehörige nicht-dominanter Clans und Gruppen sind etwa vulnerabler. Das traditionelle Justizsystem hat für Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt, Kinder, Minderheitenclans, Behinderte und IDPs oft negative Auswirkungen. Außerdem kann z. B. eine Einzelperson ohne Anschluss in Mogadischu nicht von diesem System profitieren. Problematisch ist zudem, dass im Xeer oft ganze (Sub-)Clans für die Taten Einzelner zur Verantwortung gezogen werden. Trotzdem sind die Mechanismen des Xeer wichtig, da sie nahe an den Menschen wirken und jahrhundertealte, den Menschen bekannte Verfahren und Normen nutzen. Der Entscheidungsprozess ist transparent und inklusiv. Zusammenfassend ist Xeer ein soziales Sicherungsnetz, eine Art der Sozial- und Unfallversicherung. Die traditionell vorgesehenen Kompensationszahlungen decken zahlreiche zivil- und strafrechtliche Bereiche ab und kommen z.B. bei fahrlässiger Tötung, bei Autounfällen mit Personen- oder Sachschaden oder sogar bei Diebstahl zu tragen. Nach der Art des Vorfalles richtet sich auch der zu entrichtende Betrag. Clan-Älteste bzw. Sultans sammeln im ganzen Clan Geld. Bei einem Mordfall müssen z. B. 50.000 US-Dollar gesammelt werden. Die Ältesten telefonieren dann mit Clan-Mitgliedern und diese geben jeweils 5-200 US-Dollar. Die Zahlung ist dabei nicht optional, sondern verpflichtend. Bei einer Verweigerung erfolgt eine Bestrafung. Selbst zum Tode verurteilte Mörder können so gerettet werden. Diese bleiben lediglich so lange in Haft, bis der Clan des Opfers das Geld erhält. Diese Art des „Fundraising“ nennt sich Qaraan (LIB, Kapitel Rechtsschutz, Justizwesen).

Scharia: Grundsätzlich dient die Scharia bei Entscheidungen in Familienangelegenheiten. Die Gesetzlosigkeit in Süd-/Zentralsomalia hat jedoch dazu geführt, dass die Scharia nicht mehr nur in Zivil-, sondern auch in Strafsachen zum Einsatz kommt, da die Bezahlung von Blutgeld manchmal nicht mehr als ausreichend angesehen wird. Problematisch ist, dass die Scharia von Gerichten an unterschiedlichen Orten auch unterschiedlich interpretiert wird, bzw. dass es mehrere Versionen der Scharia gibt. Schariagerichte werden auch für andere Rechtsdienste herangezogen – sie werden als effizienter, weniger korrupt, schneller und fairer angesehen. Frauen können im Rahmen der Scharia effektiver Recht bekommen als im sehr patriarchalen und oft auch intransparenten traditionellen Recht (LIB, Kapitel Rechtsschutz, Justizwesen).

Recht bei Al Shabaab: In den Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab verfügt die Gruppe über das Gewaltmonopol – auch hinsichtlich der Durchsetzung von Gerichtsurteilen, denen mit Drohungen und Gewalt Nachdruck verliehen wird. Al Shabaab hat in den eigenen Gebieten eine drakonische Interpretation der Scharia eingeführt. Diese kann auch das Xeer ersetzen, jedenfalls gibt es dort kein formelles Justizsystem. Der Clanschutz ist in Gebieten unter Kontrolle oder Einfluss von al Shabaab eingeschränkt, aber nicht inexistent. Abhängig von den Umständen können die Clans auch in diesen Regionen Schutz bieten. Es kann den Schutz einer Einzelperson erhöhen, Mitglied eines Mehrheitsclans zu sein, es gibt ein gewisses Maß an Verhandlungsspielraum. Angehörige von Minderheiten erhalten bei Gerichten von al Shabaab eher Gerechtigkeit. Al Shabaab hat eigene Gerichte geschaffen, die v. a. über Land- und Vertragsstreitigkeiten entscheiden, mitunter aber auch in Zivil- und Strafrechtsfällen. Neben zahlreichen permanenten Gerichten kommen auch mobile Gerichte in von der Regierung kontrollierten Gebieten zum Einsatz. Diese Form der Justiz ist effektiv, aber drakonisch. In von al Shabaab kontrollierten Gebieten werden regelmäßig extreme Körperstrafen verhängt und öffentlich vollstreckt, darunter Auspeitschen oder Stockschläge, Handamputationen für Diebstahl oder Hinrichtungen für Ehebruch. Die Gerichte von al Shabaab werden als gut effizient, effektiv, weniger oder nicht korrupt, schnell und im Vergleich fairer bzw. unparteiischer (auch von Claneinflüssen) beschrieben – zumindest im Vergleich zur staatlichen Rechtsprechung. Al Shabaab urteilt oder vermittelt u. a. in Streitigkeiten zwischen Wirtschaftstreibenden. Die Prozesse bei al Shabaab sind rasch beendet. Manchmal revidieren Gerichte der Gruppe auch Urteile formeller Gerichte. Über die Jahre haben diese Gerichte einiges an Popularität und Akzeptanz in der Bevölkerung gewonnen – selbst in einigen von der Regierung kontrollierten Gebieten und bei einigen Angehörigen der Diaspora. Die Gerichte werden u.a. als leistbar, leicht zugänglich und durchsetzbar wahrgenommen. Verfahren, die vor staatlichen Gerichten aufgrund des großen Rückstaus oft Monate oder Jahre dauern, werden dort innerhalb weniger Tage abgewickelt. Obwohl al Shabaab Prozesskosten bzw. Gerichtsgebühren einhebt, bevorzugen viele Menschen ihre Gerichte – auch Personen aus von der Regierung kontrollierten Gebieten und selbst Soldaten und Polizisten. So begeben sich z.B. Streitparteien aus Mogadischu extra nach Lower Shabelle, um dort bei al Shabaab Klage einzureichen. Denn der Rechtsprechung durch al Shabaab wird mehr Vertrauen entgegengebracht als jener der staatlichen Justiz. Zudem bieten die Schariagerichte von al Shabaab manchmal die einzige Möglichkeit, überhaupt Gerechtigkeit zu erfahren. So kann die Justiz von al Shabaab z. B. für benachteiligte Gruppen mit keinem oder nur eingeschränktem Zugang zu anderen Rechtssystemen anziehend wirken. So sind diese Gerichte für manche Frauen etwa die einzige Möglichkeit, um finanzielle Ansprüche an vormalige Ehemänner oder männliche Verwandte geltend zu machen. Gerichte von al Shabaab hören alle Seiten, fällen Urteile und sorgen dafür, dass Urteile auch umgesetzt bzw. eingehalten werden – wo nötig mit Gewalt. Al Shabaab setzt eigene Gerichtsbeschlüsse auch durch, mit Gewalt und Drohungen und auch in von der Regierung kontrollierten Gebieten. Gegen Urteile von Gerichten der al Shabaab kann Berufung eingelegt werden. Die Bundesregierung möchte diesen Gerichten ein Ende setzen, um den Einfluss von al Shabaab zu reduzieren. Sicherheitskräfte haben damit begonnen, Menschen und Älteste, die sich an Gerichte der al Shabaab wenden bzw. mit der Gruppe kooperieren, zu verhaften. Al Shabaab inhaftiert Personen für „Vergehen“ wie Rauchen, Musikhören, den Verkauf von Khat, das Rasieren des Bartes, unerlaubte Inhalte auf dem Mobiltelefon, Fußballschauen oder -spielen und das Tragen eines BHs oder das Nicht-Tragen eines Hidschabs. Die harsche Interpretation der Scharia wird in erster Linie in den von al Shabaab kontrollierten Gebieten umgesetzt, dort, wo die Gruppe auch über eine permanente Präsenz verfügt. In anderen Gebieten liegt ihr Hauptaugenmerk auf der Einhebung von Steuern (LIB, Kapitel Rechtsschutz, Justizwesen).

Es gilt das Angebot einer Amnestie für Kämpfer der al Shabaab, welche ihre Waffen ablegen, der Gewalt abschwören und sich zur staatlichen Ordnung bekennen. Für diese Amnestiemöglichkeit gibt es aber keine rechtliche Grundlage. Allerdings wird üblicherweise ehemaligen Kämpfern im Austausch für Informationen über al Shabaab eine Amnestie gewährt.

Zu den weder von der Regierung noch von al Shabaab kontrollierten Gebieten gibt es kaum Informationen. Es ist aber davon auszugehen, dass Rechtsetzung, -Sprechung und - Durchsetzung zumeist in den Händen von v.a. Clanältesten liegen. Von einer Gewaltenteilung ist dort nicht auszugehen. Urteile werden hier häufig gemäß Xeer von Ältesten gesprochen. Diese Verfahren betreffen in der Regel nur Rechtsstreitigkeiten innerhalb des Clans. Sind mehrere Clans betroffen, kommt es häufig zu außergerichtlichen Vereinbarungen (Friedensrichter), auch und gerade in Strafsachen. Repressionen gegenüber Familie und Nahestehenden (Sippenhaft) spielen dabei eine wichtige Rolle (LIB, Kapitel Rechtsschutz, Justizwesen).

1.3.5. Folter und unmenschliche Behandlung:

Staatlichen Akteuren werden Menschenrechtsverletzungen wie Tötungen, militärische Angriffe auf Zivilisten und zivile Einrichtungen, willkürliche Verhaftungen, außergerichtliche Hinrichtungen, sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt, Vergewaltigungen, Entführung, Folter, schwere Misshandlung von Kindern, Raub, Bestechung, Korruption und willkürlicher Waffengebrauch vorgeworfen oder diese wurden dokumentiert (LIB, Folter und unmenschliche Behandlung).

Tötungen: Die Regierung und ihre Handlanger verüben willkürliche und ungesetzliche Tötungen. Auch bei bewaffneten Zusammenstößen werden Zivilisten getötet. Alleine im Dezember 2021 töteten Sicherheitskräfte bei unterschiedlichen „Unfällen“ in Mogadischu mehrere Zivilisten. Während immer noch al Shabaab und Clanmilizen für die Mehrheit der extra-legalen Tötungen verantwortlich zeichnen, wächst die Zahl an Fällen von Tötungen durch Sicherheitskräfte. Es fehlen Regeln hinsichtlich der Gewaltanwendung gegen Zivilisten. Der Einsatz tödlicher Gewalt – etwa von scharfer Munition gegen Demonstranten – ist nicht unüblich und jedenfalls üblicher als eine graduelle Eskalation (LIB, Folter und unmenschliche Behandlung).

Folter: Folter und unmenschliche Behandlung sind zwar verboten, es kommt aber dennoch zu derartigen Vorfällen. Regierungskräfte und alliierte Milizen setzen exzessiv Gewalt ein - darunter auch Folter. NISA misshandelt Personen bei Verhören, es kommt dabei zu Folter. Verhaftete sind einem Risiko ausgesetzt, gefoltert bzw. unter menschenunwürdigen Bedingungen festgehalten und misshandelt zu werden. Bei mehr als tausend Besuchen in Haft- und Anhalteeinrichtungen in Baidoa, Kismayo und Mogadischu wurde festgestellt, dass Folter dort üblich ist. Sowohl NISA als auch Armee sind in Fälle von Folter, geschlechtsspezifischer Gewalt und anderen Vergehen verwickelt. Unter Folter fallen demnach auch öffentliche Exekutionen (LIB, Folter und unmenschliche Behandlung).

Verhaftungen: Willkürliche Verhaftungen sind üblich. Es gibt immer wieder Berichte über Polizeigewalt und exzessive Gewaltanwendung, Drohungen, Belästigungen und willkürliche Verhaftungen – vor allem von Terrorverdächtigen, Menschenrechtsverteidigern und Journalisten (LIB, Folter und unmenschliche Behandlung).

Rechenschaft: Hinsichtlich Folter durch Polizei und Armee besteht weitgehende Straffreiheit. Sicherheitskräfte agieren, ohne eine Strafe befürchten zu müssen. Fälle von Polizeigewalt werden oft nicht registriert, die Straffreiheit bei der Polizei floriert. Polizisten können selbst im Fall eines Mordes ungeschoren davonkommen. Nur einige Sicherheitsbeamte wurden in der Vergangenheit zur Verantwortung gezogen. Der Polizei fehlt für Untersuchungen schon die Kapazität. Die Armee verfügt diesbezüglich über bessere Justizmechanismen, diese werden allerdings nicht immer effizient eingesetzt. Generell bleibt Straffreiheit aber die Norm. Dies gilt auch für willkürliches Vorgehen der Polizeikräfte, dieses bleibt i. d. R. ungeahndet, denn ohne zivilrechtliche Aufsicht und Rechenschaftsablegung haben die Opfer polizeilicher Willkür und Gewalt oft gar keine legale Möglichkeit, juristisch dagegen vorzugehen (LIB, Folter und unmenschliche Behandlung).

Al Shabaab: Die Gruppe tötet, entführt und misshandelt Zivilisten, verübt geschlechtsspezifische Gewalt und führt Frauen einer Zwangsehe zu. Zudem rekrutiert al Shabaab Kinder und setzt diese auch ein. Außerdem verhängt und vollstreckt die Gruppe in den Gebieten unter ihrer Kontrolle weiterhin harte Strafen. Dort ist auch von unmenschlicher Behandlung auszugehen, wenn Personen gegen die Interessen von al Shabaab handeln oder dessen verdächtigt werden. Mitunter wird gegen Zivilisten - z.B. gegen potenzielle Spione und gegen Personen, die keine Abgaben leisten - auch Folter eingesetzt. Mitunter entführt al Shabaab Zivilisten - etwa Verwandte von Clanmilizionären (LIB, Folter und unmenschliche Behandlung).

1.3.6. Wehrdienst und Rekrutierung durch den Staat und durch Dritte:

Die somalische Armee ist eine Freiwilligenarmee. Es gibt keinen verpflichtenden Militärdienst. Allerdings rekrutieren Clans regelmäßig – und teils unter Androhung von Zwangsmaßnahmen für die Familie – junge Männer zum Dienst in einer Miliz, bei den staatlichen Sicherheitskräften oder bei al Shabaab. Dadurch soll für den eigenen Clan oder Subclan Schutz erlangt werden (LIB, Wehrdienst).

1.3.7. (Zwangs-)Rekrutierung und Kindersoldaten:

Kindersoldaten: Allen Konfliktparteien wird vorgeworfen, Kinder zu rekrutieren. Im Jahr 2021 gab es immer wieder Berichte über den Einsatz von Kindersoldaten durch die Bundesarmee, alliierte Milizen, die Sufi-Miliz Ahlu Sunna Wal Jama’a (ASWJ) und al Shabaab. Im ersten Halbjahr 2021 sind 631 Kinder rekrutiert und eingesetzt worden; weitere 348 wurden entführt - oft mit dem Ziel einer Rekrutierung. Für 77 % der Fälle zeichnet al Shabaab verantwortlich. Dahingegen waren im Vergleichszeitraum 2020 insgesamt 535 Kinder rekrutiert worden, mehr als 400 davon durch al Shabaab. Im Jahr 2019 waren noch 1.169 durch al Shabaab rekrutiert worden, 2018 waren es 2.300. Die Regierung versucht der Rekrutierung von Kindern durch die Armee mit Ausbildungs- und Screening-Programmen entgegenzuwirken. Der Umstand, dass es keine Geburtenregistrierung gibt, macht diese Arbeit schwierig. Generell wird festgestellt, dass immer dann, wenn aktive Kampfhandlungen zunehmen, in der Vergangenheit ein damit verbundener Anstieg bei der Rekrutierung von Kindern zu verzeichnen

war. Gerade in umkämpften Gebieten ist wiederholt eine besonders hohe Zahl an Rekrutierungen zu verzeichnen (LIB, Zwangsrekrutierung).

Kindersoldaten - al Shabaab: Al Shabaab ist weniger an die Rekrutierung Erwachsener als an der Rekrutierung von 8-12-jährigen Kindern interessiert. Diese sind leichter zu indoktrinieren und formbarer. Al Shabaab rekrutiert und entführt auch weiterhin Kinder. Die Gruppe entführt systematisch Kinder von Minderheitengruppen. Al Shabaab führt u. a. Razzien gegen Schulen, Madrassen und Moscheen durch. Es kommt auch zu Gruppenentführungen aus Madrassen heraus. So sind etwa bei zwei Vorfällen in Bay und Hiiraan im ersten Halbjahr 2021 insgesamt 35 Buben entführt und zwangsrekrutiert worden. Außerdem indoktriniert und rekrutiert al Shabaab Kinder gezielt in Schulen. Al Shabaab betreibt eigene Schulen mit eigenem Curriculum. Die besten Schüler werden einer höheren Bildung zugeführt, während der große Rest in Ausbildungslager der Gruppe gebracht wird (LIB, Zwangsrekrutierung).

Manchmal werden Clanälteste bedroht und erpresst, damit Kinder an die Gruppe abgegeben werden. Es wird mitunter auch Gewalt angewendet, um von Gemeinden und Ältesten junge Rekruten zu erpressen. In den Gebieten unter ihrer Kontrolle verlangt al Shabaab von Familien, dass sie einen oder zwei ihrer Buben in ihre Ausbildungslager schicken. Familien, die sich weigern, müssen mit Bußgeldern rechnen; manchmal werden sie auch mit Strafverfolgung oder Schlimmerem bedroht. Manche Familien schicken ihre Buben weg, damit sie einer Rekrutierung entgehen. Knapp die Hälfte der Kinder wird mittels Gewalt und Entführung rekrutiert, die andere durch Überzeugung der Eltern, Ältesten oder der Kinder selbst. Die Methoden unterscheiden sich jedenfalls, in manchen Dörfern wird die „freiwillige“ Übergabe von Kindern zwischen 12 und 15 Jahren gefordert, während in anderen Dörfern Kinder zwangsweise rekrutiert wurden. Zudem sind Clans unterschiedlich stark betroffen. Immer wieder sind Kinder des Clans der Hadame (Rahanweyne) von al Shabaab zwangsrekrutiert worden. Insgesamt bleibt die freiwillige oder Zwangsrekrutierung von Kindern aber unüblich und hauptsächlich auf jene Gebiete beschränkt, wo al Shabaab am stärksten ist. Von systematischen Zwangsentführungen durch al Shabaab sind aber systematisch Kinder von Minderheitengruppen betroffen. Auch Mädchen werden für Zwangsehen mit Al-Shabaab-Kämpfern entführt. Aus Lagern oder anderen Einrichtungen der al Shabaab können Kinder nur mit Schwierigkeit entkommen. Die Kinder sind dort brutalem physischen und psychischen Stress ausgesetzt, die der Folter nahekommen. Eingesetzt werden Kinder etwa als Munitions- und Versorgungsträger, zur Spionage, als Wachen, aber auch zur Anbringung von Sprengsätzen, in Kampfhandlungen und als Selbstmordattentäter. Mädchen werden auf eine Ehe vorbereitet, manchmal aber auch auf Selbstmordmissionen (LIB, Zwangsrekrutierung).

(Zwangs-)Rekrutierung: Hauptrekrutierungsbereich von al Shabaab ist Süd-/Zentralsomalia. Die meisten Rekruten stammen aus ländlichen Gebieten – v. a. in Bay und Bakool. Bei den meisten neuen Rekruten handelt es sich um Kinder, die das Bildungssystem der al Shabaab durchlaufen haben, was wiederum ihre Loyalität zur Gruppe fördert. Etwa 40 % der Fußsoldaten von al Shabaab stammen aus den Regionen Bay und Bakool. Die Mirifle (Rahanweyn) konstituieren hierbei eine Hauptquelle an Fußsoldaten. Bei den meisten Fußsoldaten, die aus Middle Shabelle stammen, handelt es sich hingegen um Angehörige von Gruppen mit niedrigem Status, z. B. Bantu. Ein überproportionaler Teil von al Shabaab setzt sich aus Angehörigen der am meisten marginalisierten Gruppen Somalias zusammen. Direkter Zwang wird bei einer Rekrutierung in der Praxis nur selten angewendet, jedenfalls nicht strategisch und nur eingeschränkt oder unter spezifischen Umständen. Alle Wehrfähigen bzw. militärisch Ausgebildeten innerhalb eines Bereichs auf dem von al Shabaab kontrollierten Gebiet sind als territoriale „Dorfmiliz“ verfügbar und werden als solche auch eingesetzt, z.B. bei militärischen Operationen im Bereich oder zur Aufklärung. Wenn al Shabaab ein Gebiet besetzt, dann verlangt es von lokalen Clanältesten die Zurverfügungstellung von bis zu mehreren Dutzend – oder sogar hundert – jungen Menschen oder Waffen. Insgesamt handelt es sich bei Rekrutierungsversuchen aber oft um eine Mischung aus Druck oder Drohungen und Anreizen. Knapp ein Drittel der in einer Studie befragten al Shabaab-Deserteure gab an, dass bei ihrer Rekrutierung Drohungen eine Rolle gespielt haben. Dies kann freilich insofern übertrieben sein, als Deserteure dazu neigen, die eigene Verantwortung für begangene Taten dadurch zu minimieren. Al Shabaab agiert sehr situativ. So kommt Zwang etwa zur Anwendung, wenn die Gruppe in einem Gebiet nach einem verlustreichen Gefecht schnell die Reihen auffüllen muss (LIB, Zwangsrekrutierung).

Generell kommen Zwangsrekrutierungen ausschließlich in Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab vor. So gibt es etwa in Mogadischu keine Zwangsrekrutierungen durch al Shabaab. Aus einigen Gegenden flüchten junge Männer sogar nach Mogadischu, um sich einer möglichen (Zwangs-)rekrutierung zu entziehen. Al Shabaab rekrutiert zwar in Mogadischu, dort werden aber die Menschen angesprochen, die z. B. ihre Unzufriedenheit oder ihre Wut über AMISOM bzw. ATMIS oder die Regierung äußern. Manche Mitglieder von al Shabaab rekrutieren auch in ihrem eigenen Clan. Von al Shabaab rekrutiert zu werden bedeutet nicht unbedingt einen Einsatz als Kämpfer. Die Gruppe braucht natürlich z. B. auch Mechaniker, Logistiker, Fahrer, Träger, Reinigungskräfte, Köche, Richter, Verwaltungs- und Gesundheitspersonal sowie Lehrer (LIB, Zwangsrekrutierung).

Eine Rekrutierung kann viele unterschiedliche Aspekte umfassen: Geld, Clan, Ideologie, Interessen – und natürlich auch Drohungen und Gewalt. Al Shabaab versucht, junge Männer durch Überzeugungsarbeit, ideologische und religiöse Beeinflussung und finanzielle Versprechen anzulocken. Jene, die arbeitslos, arm und ohne Aussicht sind, können, trotz fehlendem religiösem Verständnis, auch schon durch kleine Summen motiviert werden. Für manche Kandidaten spielen auch Rachegefühle gegen Gegner von al Shabaab eine Rolle. Bei manchen spielt auch Abenteuerlust eine Rolle. Etwa zwei Drittel der Angehörigen von al Shabaab sind der Gruppe entweder aus finanziellen Gründen beigetreten, oder aber aufgrund von Kränkungen in Zusammenhang mit Clan-Diskriminierung oder in Zusammenhang mit Misshandlungen und Korruption seitens lokaler Behörden. Feldforschung unter ehemaligen Mitgliedern von al Shabaab hat ergeben, dass 52 % der höheren Ränge der Gruppe aus religiösen Gründen beigetreten waren, bei den Fußsoldaten waren dies nur 15 %. Ökonomische Anreize locken insbesondere Jugendliche, die oft über kein (regelmäßiges) Einkommen verfügen. Fußsoldaten und niedrige Ränge bei der Al Shabaab verdienen 60-100 US-Dollar, Finanzbedienstete z. B. 250 US-Dollar im Monat. Neue Rekruten erhalten 30 US-Dollar im Monat, ein ausgebildeter Fußsoldat oder ein Fahrer 70 US-Dollar. Den höchsten Sold erhält demnach mit 25.000 US-Dollar der Emir selbst. Jedoch sind 84 % der Fußsoldaten und 31 % der höheren Ränge teiwleise überhaupt nicht bezahlt worden. Im Übrigen ist auch die Loyalität von al Shabaab ein Anreiz. Während die Regierung kriegsversehrten Soldaten keinerlei Unterstützung zukommen lässt, sorgt al Shabaab für die Hinterbliebenen gefallener Kämpfer. Manche versprechen sich durch ihre Mitgliedschaft bei al Shabaab auch die Möglichkeit einer Rache an Angehörigen anderer Clans. Für Angehörige marginalisierter Gruppen bietet der Beitritt zu al Shabaab zudem die Möglichkeit, sich selbst und die eigene Familie gegen Übergriffe anderer abzusichern. Auch die Aussicht auf eine Ehefrau wird als Rekrutierungswerkzeug verwendet. So z. B. bei somalischen Bantu, wo Mischehen mit somalischen Clans oft Tabu sind. Al Shabaab hat aber eben diese Mitglieder dazu ermutigt, Frauen und Mädchen von starken somalischen Clans – etwa den Hawiye oder Darod – zu heiraten (LIB, Zwangsrekrutierung).

Verweigerung: Üblicherweise richtet al Shabaab ein Rekrutierungsgesuch an einen Clan oder an ganze Gemeinden und nicht an Einzelpersonen. Diese „Vorschreibung“ - also wieviele Rekruten ein Dorf, ein Gebiet oder ein Clan stellen muss - erfolgt üblicherweise jährlich, und zwar im Zuge der Vorschreibung anderer jährlicher Abgaben. Die meisten Rekruten werden über Clans rekrutiert. Es wird also mit den Ältesten über neue Rekruten verhandelt. Dabei wird mitunter auch Druck ausgeübt. Kommt es bei diesem Prozess zu Problemen, dann bedeutet das nicht notwendigerweise ein Problem für den einzelnen Verweigerer, denn die Konsequenzen einer Rekrutierungsverweigerung trägt üblicherweise der Clan. Damit al Shabaab die Verweigerung akzeptiert, muss eine Form der Kompensation getätigt werden. Entweder der Clan oder das Individuum zahlt, oder aber die Nicht-Zahlung wird durch Rekruten kompensiert. So gibt es also für Betroffene manchmal die Möglichkeit des Freikaufens. Eltern versuchen, durch Geldzahlungen die Rekrutierung ihrer Kinder zu verhindern. Diese Wahlmöglichkeit ist freilich nicht immer gegeben. In den Städten liegt der Fokus von al Shabaab eher auf dem Eintreiben von Steuern, in ländlichen Gebieten auf der Aushebung von Rekruten. Sich einer Rekrutierung zu entziehen ist möglich, aber nicht einfach. Die Flucht aus von al Shabaab kontrolliertem Gebiet gestaltet sich mit Gepäck schwierig, eine Person würde dahingehend befragt werden. Trotzdem schicken Eltern ihre Kinder mitunter in von der Regierung kontrollierte Gebiete – meist zu Verwandten. Es besteht die Möglichkeit, dass einem Verweigerer bei fehlender Kompensationszahlung die Exekution droht. Insgesamt finden sich allerdings keine Beispiele dafür, wo al Shabaab einen Rekrutierungsverweigerer exekutiert hat. Eine einfache Person, die sich erfolgreich der Rekrutierung durch al Shabaab entzogen hat, wird nicht dauerhaft und über weite Strecken hin verfolgt. Stellt allerdings eine ganze Gemeinde den Rekrutierungsambitionen von al Shabaab Widerstand entgegen, kommt es mitunter zu Gewalt (LIB, Zwangsrekrutierung).

Frauen: Der Einsatz von Frauen bei al Shabaab erfolgt zumeist in unterstützender Rolle: Als Steuereinheberinnen, Lehrer- oder Predigerinnen in Madrassen, Wächterinnen in Gefängnissen, zum Kochen und Putzen, in der Waffenpflege oder Spionage. In den Führungsgremien und Kampfkräften von al Shabaab finden sich keine Frauen. Deren Rolle reicht von jener der einfachen Ehefrau bis hin zu Rekrutierung, Missionierung, Spionage, Waffenschmuggel und Spendensammlung. Frauen, die mit Soldaten oder AMISOM bzw. ATMIS Kleinhandel treiben, werden als Spione und Informationsbeschafferinnen rekrutiert. Andererseits werden Frauen und Mädchen der Bantu mitunter nicht nur in eine Ehe gezwungen – und zwar unter Todesdrohungen – die Ehe gestaltet sich noch dazu eher als temporäre sexuelle Versklavung (LIB, Zwangsrekrutierung).

1.3.8. Allgemeine Menschenrechtslage:

In der somalischen Verfassung ist der Schutz der Menschenrechte ebenso verankert wie die prägende Rolle der Scharia als Rechtsquelle. Trotzdem werden Grund- und Menschenrechte regelmäßig und systematisch verletzt. Im Wettstreit stehende, politische Akteure in Süd-/Zentralsomalia sind in schwere und systematische Menschenrechtsverbrechen involviert. Die schwersten Menschenrechtsverletzungen sind: willkürliche und ungesetzliche Tötungen durch Kräfte der somalischen Bundesregierung; Entführungen und Verschwindenlassen; Rekrutierung und Verwendung von Kindersoldaten; Folter und andere grausame Behandlung; harte Haftbedingungen; willkürliche und politisch motivierte Verhaftungen (LIB, Menschenrechtslage).

Es gibt aber auch Berichte über Menschenrechtsverletzungen durch Kräfte der Bundesregierung und von Regionalregierungen. Auch Clanmilizen sind für Vergehen verantwortlich - darunter Tötungen, Entführungen und Zerstörung zivilen Eigentums. Es gibt mehrere Berichte über von der Regierung gesteuertes, politisch motiviertes Verschwindenlassen. Es kommt zu willkürlichen Verhaftungen durch Bundes- und Regionalbehörden sowie durch alliierte Milizen. Die Regierung verwendet bei derartigen Verhaftungen oft den Vorwurf der Mitgliedschaft bei al Shabaab. Generell ist Straflosigkeit die Norm. Die Regierung macht zumindest einige Schritte, um öffentlich Bedienstete – vor allem Sicherheitskräfte – strafrechtlich zu verfolgen (LIB, Menschenrechtslage).

Al Shabaab ist für die Mehrheit der schweren Menschenrechtsverletzungen und für den größten Teil ziviler Todesopfer verantwortlich. Al Shabaab verletzt in den Gebieten unter ihrer Kontrolle systematisch Grundrechte. Die Gruppe ist für die Mehrheit schwerer Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Al Shabaab verübt terroristische Anschläge gegen Zivilisten; begeht Morde und Attentate; entführt Menschen, begeht Vergewaltigungen und vollzieht grausame Bestrafungen; Bürgerrechte und Bewegungsfreiheit werden eingeschränkt. Die Gruppe rekrutiert Kindersoldaten. Al Shabaab entführt Menschen und nimmt Geiseln. Die Entführung und Verhaftung von Zivilisten erfolgt, um Regelbrüche zu ahnden oder Kollaboration zu erzwingen. Al Shabaab verhängt in ihren Gebieten Körperstrafen. So werden sexuelle Vergehen mitunter mit Auspeitschen, Diebstahl mit Amputation und Spionage mit dem Tode bestraft. Al Shabaab richtet regelmäßig und ohne ordentliches Verfahren Menschen hin, denen Kooperation mit der Regierung, internationalen Organisationen oder westlichen Hilfsorganisationen vorgeworfen wird, bzw. Zivilisten, die zu Abtrünnigen oder Spionen deklariert werden. Al Shabaab übt teils Rache an der Bevölkerung von Gebieten, die zuvor „befreit“ aber danach von al Shabaab wieder eingenommen worden waren. Die Gruppe wendet u. a. auch das Mittel von Zwangsvertreibungen an, um sich an sich widersetzenden oder nicht die eigenen Regeln befolgenden Bevölkerungsgruppen zu rächen (LIB, Menschenrechtslage).

1.3.9. Minderheiten und Clans:

Der Clan ist die relevanteste soziale, ökonomische und politische Struktur in Somalia. Er bestimmt den Zugang zu Ressourcen sowie zu Möglichkeiten, Einfluss, Schutz und Beziehungen. Dementsprechend steht Diskriminierung in Somalia generell oft nicht mit ethnischen Erwägungen in Zusammenhang, sondern vielmehr mit der Zugehörigkeit zu bestimmten Minderheitenclans oder Clans, die in einer bestimmten Region keine ausreichende Machtbasis und Stärke haben. Die meisten Bundesstaaten fußen auf einer fragilen Balance zwischen unterschiedlichen Clans. In diesem Umfeld werden weniger mächtige Clans und Minderheiten oft vernachlässigt. Selbst relative starke Clans können von einem lokalen Rivalen ausmanövriert werden, und es kommt zum Verlust der Kontrolle über eine Stadt oder eine regionale Verwaltung. Meist ist es die zweitstärkste Lineage in einem Bezirk oder einer Region, welche über die Verteilung von Macht und Privilegien am unglücklichsten ist (LIB, Minderheiten und Clans).

Clanälteste dienen als Vermittler zwischen Staat und Gesellschaft. Sie werden nicht einfach aufgrund ihres Alters gewählt. Autorität und Führungsposition werden verdient, nicht vererbt. Ein Clanältester repräsentiert seine Gemeinschaft, ist ihr Interessenvertreter gegenüber dem Staat. Innerhalb der Gemeinschaft dienen sie als Friedensstifter, Konfliktvermittler und Wächter des Xeer. Bei Streitigkeiten mit anderen Clans ist der Clanälteste der Verhandler. Al Shabaab installiert oft Älteste, welche die Gruppe repräsentieren. Er wird so zum Bindeglied zwischen der Gemeinschaft und al Shabaab. So werden zuvor legitime Strukturen in Geiselhaft genommen (LIB, Minderheiten und Clans). In ganz Somalia sehen sich Menschen, die keinem der großen Clans angehören, in der Gesellschaft signifikant benachteiligt. Dies gilt etwa beim Zugang zur Justiz und für ökonomische sowie politische Partizipation. Minderheiten und berufsständische Kasten werden in mindere Rollen gedrängt – trotz des oft sehr relevanten ökonomischen Beitrags, den genau diese Gruppen leisten. Mitunter kommt es auch zu physischer Belästigung. Insgesamt ist allerdings festzustellen, dass es hinsichtlich der Vulnerabilität und Kapazität unterschiedlicher Minderheitengruppen signifikante Unterschiede gibt (LIB, Minderheiten und Clans).

Recht/Justiz: Weder das traditionelle Recht (Xeer) noch Polizei und Justiz benachteiligen Minderheiten systematisch. Faktoren wie Finanzkraft, Bildungsniveau oder zahlenmäßige Größe einer Gruppe können Minderheiten dennoch den Zugang zur Justiz erschweren. Allerdings sind Angehörige von Minderheiten in staatlichen Behörden unterrepräsentiert und daher misstrauisch gegenüber diesen Einrichtungen. Von Gerichten Rechtsschutz zu bekommen, ist für Angehörige von Minderheiten noch schwieriger als für andere Bevölkerungsteile. Auch im Xeer sind Schutz und Verletzlichkeit einer Einzelperson eng verbunden mit der Macht ihres Clans. Weiterhin ist es für Minderheitsangehörige aber möglich, sich im Rahmen formaler Abkommen einem anderen Clan anzuschließen bzw. sich unter Schutz zu stellen. Diese Resilienz-Maßnahme wurde von manchen Gruppen etwa angesichts der Hungersnot 2011 und der Dürre 2016/17 angewendet. Aufgrund dieser Allianzen werden auch Minderheiten in das Xeer-System eingeschlossen. Wenn ein Angehöriger einer Minderheit, die mit einem großen Clan alliiert ist, einen Unfall verursacht, trägt auch der große Clan zu Mag/Diya (Kompensationszahlung) bei. Gemäß einer Quelle haben schwächere Clans und Minderheiten trotzdem oft Schwierigkeiten – oder es fehlt überhaupt die Möglichkeit – ihre Rechte im Xeer durchzusetzen. Angehörige von Minderheiten stehen vor Hindernissen, wenn sie Identitätsdokumente erhalten wollen - auch im Falle von Reisepässen (LIB, Minderheiten und Clans).

Politik: Politische Repräsentation, politische Parteien, lokale Verwaltungen und auch das nationale

Parlament sind um die verschiedenen Clans bzw. Subclans organisiert, wobei die vier größten Clans (Darod, Hawiye, Dir-Isaaq und Digil-Mirifle) Verwaltung, Politik, und Gesellschaft dominieren - und zwar entlang der sogenannten 4.5-Formel. Dies bedeutet, dass den vier großen Clans dieselbe Anzahl von Parlamentssitzen zusteht, während kleinere Clans und Minderheitengruppen gemeinsam nur die Hälfte dieser Sitze erhalten. Dadurch werden kleinere Gruppen politisch marginalisiert (LIB, Minderheiten und Clans).

Gesellschaft: Einzelne Minderheiten leben unter besonders schwierigen sozialen Bedingungen in tiefer Armut und leiden an zahlreichen Formen der Diskriminierung und Exklusion. Sie sehen sich in vielfacher Weise von der übrigen Bevölkerung – nicht aber systematisch von staatlichen Stellen – wirtschaftlich, politisch und sozial ausgegrenzt. Zudem sind die Systeme gegenseitiger Unterstützung bei ihnen weniger gut ausgebaut und sie verfügen über geringere Ressourcen und erhalten weniger Remissen. Die mächtigen Gruppen erhalten den Löwenanteil an Jobs, Ressourcen, Verträgen, Remissen und humanitärer Hilfe. Schwache Gruppen erhalten wenig bis gar nichts. Bei der Hungersnot 1991 waren die meisten Hungertoten entweder Digil-Mirifle oder Bantu. Dies gilt auch für die Hungersnot im Jahr 2011. Ein Grund dafür ist, dass humanitäre Hilfe von mächtigeren Clans vereinnahmt wird. Dementsprechend stehen Haushalte, die einer Minderheit angehören, einem höheren Maß an Unsicherheit bei der Nahrungsmittelversorgung gegenüber. Meist sind Minderheitenangehörige von informeller Arbeit abhängig, und die allgemeinen ökonomischen Probleme haben u.a. die Nachfrage nach Tagelöhnern zurückgehen lassen. Dadurch sind auch die Einkommen dramatisch gesunken (LIB, Minderheiten und Clans).

Gewalt: Minderheitengruppen, denen es oft an bewaffneten Milizen fehlt, sind überproportional von Gewalt betroffen (Tötungen, Folter, Vergewaltigungen etc.). Täter sind Milizen oder Angehörige dominanter Clans - oft unter Duldung lokaler Behörden. In Mogadischu können sich Angehörige aller Clans frei bewegen und auch niederlassen. Allerdings besagt der eigene Clanhintergrund, in welchem Teil der Stadt es für eine Person am sichersten ist (LIB, Minderheiten und Clans).

Al Shabaab: Es gibt Hinweise, wonach al Shabaab gezielt Kinder von Minderheiten entführt. Gleichzeitig nützt al Shabaab die gesellschaftliche Nivellierung als Rekrutierungsanreiz – etwa durch die Abschaffung der Hindernisse für Mischehen zwischen „noblen“ Clans und Minderheiten. Dementsprechend wird die Gruppe von Minderheitsangehörigen eher als gerecht oder sogar attraktiv erachtet. Al Shabaab hat sich die gesellschaftliche Benachteiligung von Gruppen zunutze gemacht. Ein überproportionaler Teil von al Shabaab setzt sich aus Angehörigen der am meisten marginalisierten Gruppen Somalias zusammen. Fehlender Rechtsschutz auf Regierungsseite ist ein weiterer Grund dafür, dass Angehörige von Minderheiten al Shabaab beitreten. Missstände treiben ganze Gemeinden in die Arme von al Shabaab. Sie suchen ein taktisches Bündnis – haben dabei aber keine dschihadistische Vision, sondern wollen ihre Rivalen ausstechen. Al Shabaab nimmt derartige Spannungen gerne auf und verwendet sie für eigene Zwecke. Aufgrund der (vormaligen) Unterstützung von al Shabaab durch manche Minderheiten kann es in Regionen, aus welchen al Shabaab gewichen ist, zu Repressalien kommen (LIB, Minderheiten und Clans).

1.3.10. Clans – Bevölkerungsstruktur:

Somalia ist eines der wenigen Länder in Afrika, wo es eine dominante Mehrheitskultur und -Sprache gibt. Die Mehrheit der Bevölkerung findet sich innerhalb der traditionellen somalischen Clanstrukturen. die somalische Bevölkerung aufgrund von Migration, ehemaliger Sklavenhaltung und der Präsenz von nicht nomadischen Berufsständen divers ist. Es gibt weder eine Konsistenz noch eine Verständigungsbasis dafür, wie Minderheiten definiert werden. Insgesamt reichen die Schätzungen hinsichtlich des Anteils an Minderheiten an der Gesamtbevölkerung von 6 % bis hin zu 33 %. Diese Diskrepanz veranschaulicht die Schwierigkeit, Clans und Minderheiten genau zu definieren. Jedenfalls trifft man in Somalia auf Zersplitterung in zahlreiche Clans, Subclans und Sub-Subclans, deren Mitgliedschaft sich nach Verwandtschaftsbeziehungen bzw. nach traditionellem Zugehörigkeitsempfinden bestimmt. Diese Unterteilung setzt sich fort bis hinunter zur Kernfamilie. Seit dem Zusammenbruch des Staates hat sich diese soziale Netzwerkstruktur reorganisiert und verstärkt, um das Überleben der einzelnen Mitglieder zu sichern. Die Zugehörigkeit zu einem Clan ist der wichtigste identitätsstiftende Faktor für Somalis. Sie bestimmt, wo jemand lebt, arbeitet und geschützt wird. Darum kennen Somalis üblicherweise ihre exakte Position im Clansystem (LIB, Minderheiten und Clans).

Die sogenannten „noblen“ Clanfamilien können (nach eigenen Angaben) ihre Abstammung auf mythische gemeinsame Vorfahren und den Propheten Mohammed zurückverfolgen. Die meisten Minderheiten sind dazu nicht in der Lage. Als noble Clans und vier Hauptclans gelten die Darod, Hawiye, Dir, Isaaq und Rahanweyne.

- Darod: Darod gliedern sich in die drei Hauptgruppen: Ogaden, Marehan und Harti sowie einige kleinere Clans. Die Harti sind eine Föderation von drei Clans: Die Majerteen sind der wichtigste Clan Puntlands, während Dulbahante und Warsangeli in den zwischen Somaliland und Puntland umstrittenen Grenzregionen leben. Die Ogaden sind der wichtigste somalische Clan in Äthiopien, haben aber auch großen Einfluss in den südsomalischen Juba-Regionen sowie im Nordosten Kenias. Die Marehan sind in Süd-/Zentralsomalia präsent.

- Hawiye leben v.a. in Süd-/Zentralsomalia. Die wichtigsten Hawiye-Clans sind Habr Gedir und Abgaal, beide haben in und um Mogadischu großen Einfluss.

- Dir leben im Westen Somalilands sowie in den angrenzenden Gebieten in Äthiopien und Dschibuti, außerdem in kleineren Gebieten Süd-/Zentralsomalias. Die wichtigsten Dir-Clans sind Issa, Gadabursi (beide im Norden) und Biyomaal (Süd-/Zentralsomalia).

- Isaaq sind die wichtigste Clanfamilie in Somaliland, wo sie kompakt leben. Teils werden sie zu den Dir gerechnet.

- Rahanweyn bzw. Digil-Mirifle sind eine weitere Clanfamilie. Vor dem Bürgerkrieg der 1990er war noch auf sie herabgesehen worden. Allerdings konnten sie sich bald militärisch organisieren

Alle Mehrheitsclans sowie ein Teil der ethnischen Minderheiten – nicht aber die berufsständischen Gruppen – haben ihr eigenes Territorium. Dessen Ausdehnung kann sich u. a. aufgrund von Konflikten verändern. In Mogadischu verfügen die Hawiye-Clans Abgaal, Habr Gedir und teilweise auch Murusade über eine herausragende Machtposition. Allerdings leben in der Stadt Angehörige aller somalischen Clans, auch die einzelnen Bezirke sind diesbezüglich meist heterogen.

Als Minderheiten werden jene Gruppen bezeichnet, die aufgrund ihrer geringeren Anzahl schwächer als die „noblen“ Mehrheitsclans sind. Dazu gehören Gruppen anderer ethnischer Abstammung; Gruppen, die traditionell als unrein angesehene Berufe ausüben; sowie die Angehörigen „nobler“ Clans, die nicht auf dem Territorium ihres Clans leben oder zahlenmäßig klein sind. Insgesamt gibt es keine physischen Charakteristika, welche die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Clan erkennen ließen. Zudem gewinnt die Mitgliedschaft in einer islamischen Organisation immer mehr an Bedeutung. Dadurch kann eine „falsche“ Clanzugehörigkeit in eingeschränktem Ausmaß kompensiert werden (LIB, Minderheiten und Clans).

1.3.11. Clans –Süd-/Zentralsomalia, Puntland – ethnische Minderheiten:

Ethnische Minderheiten: Ethnische Minderheiten haben eine andere Abstammung und in manchen Fällen auch eine andere Sprache als die restlichen Einwohner des somalischen Sprachraums. Die soziale Stellung der einzelnen ethnischen Minderheiten ist unterschiedlich. Sie werden aber als minderwertig und mitunter als Fremde erachtet. So können Angehörige ethnischer Minderheiten auf Probleme stoßen - bis hin zu Staatenlosigkeit - wenn sie z. B. in einem Flüchtlingslager außerhalb Somalias geboren wurden (LIB, Minderheiten und Clans).

Generell sind Angehörige von Minderheiten keiner systematischen Verfolgung mehr ausgesetzt, wie dies Anfang der 1990er der Fall war. Dies gilt auch für Mogadischu. Allerdings sind dort all jene Personen, welche nicht einem dominanten Clan der Stadt angehören, potenziell gegenüber Kriminalität vulnerabler. In den Städten ist die Bevölkerung aber allgemein gemischt, Kinder gehen unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit in die Schule und Menschen ins Spital (LIB, Minderheiten und Clans).

Ethnischen Minderheiten können Stigmatisierung, soziale Absonderung, Verweigerung von Rechten und ein niedriger sozialer, ökonomischer und politischer Status, Arbeitslosigkeit und ein Mangel an Ressourcen zukommen. Sie werden am Arbeitsmarkt diskriminiert und vom Rest der Gesellschaft ausgeschlossen. Die meisten Angehörigen marginalisierter Gruppen haben keine Aussicht auf Rechtsschutz, nur selten werden solche Personen in die Sicherheitskräfte aufgenommen. Auch im Xeer werden sie marginalisiert. In Mogadischu mangelt es den Minderheiten auch an politischem Einfluss. Andererseits ändert sich die Situation langsam zum Besseren, die Einstellung v. a. der jüngeren Generation ändert sich; die Clanzugehörigkeit ist für diese nicht mehr so wichtig wie für die Älteren (LIB, Minderheiten und Clans).

1.3.12. Clans –Süd-/Zentralsomalia, Puntland – berufsständische Gruppen:

Berufsständische Gruppen unterscheiden sich weder durch Abstammung noch durch Sprache und Kultur von der Mehrheitsbevölkerung. Sie sind somalischen Ursprungs, wurden aber von den traditionellen Clan-Lineages ausgeschlossen. Im Gegensatz zu den „noblen“ Clans wird ihnen nachgesagt, ihre Abstammungslinie nicht auf Prophet Mohammed zurückverfolgen zu können. Ihre traditionellen Berufe werden als unrein oder unehrenhaft erachtet - etwa Jäger, Lederverarbeiter, Schuster, Friseure, Töpferinnen, traditionelle Heiler oder Hebammen. Diese Gruppen stehen damit auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie in der Gesellschaft. Sie leben verstreut in allen Teilen des somalischen Kulturraums, mehrheitlich aber in Städten. Ein v. a. im Norden bekannter Sammelbegriff für einige berufsständische Gruppen ist Gabooye, dieser umfasst etwa die Tumal, Madhiban, Muse Dheriyo und Yibir. Ein anderer Sammelbegriff ist Midgan.

Diskriminierung: Für die Gabooye hat sich die Situation im Vergleich zur Jahrtausendwende, als sie nicht einmal normal die Schule besuchen konnten, gebessert. Insbesondere unter jungen Somali ist die Einstellung zu ihnen positiver geworden; mittlerweile ist es für viele Angehörige der Mehrheitsclans üblich, auch mit Angehörigen berufsständischer Gruppen zu sprechen, zu essen, zu arbeiten und Freundschaften zu unterhalten. Es gibt keine gezielten Angriffe gegen oder Misshandlungen von Gabooye. In Mogadischu sind Angehörige von Minderheiten keiner systematischen Gewalt ausgesetzt. Allerdings sind all jene Personen, welche nicht einem dominanten Clan der Stadt angehören, potenziell gegenüber Kriminalität vulnerabler.

Die berufsständischen Kasten werden zudem diskriminiert und als Bürger zweiter Klasse erachtet. Zu ihrer Diskriminierung trägt bei, dass sie sich weniger strikt organisieren und sie viel ärmer sind. Daher sind sie nur in geringerem Maß in der Lage, Kompensation zu zahlen oder Blutrache anzudrohen. Insgesamt sind die soziale Stufe und die damit verbundene Armut für viele das Hauptproblem. Hinzu kommt, dass diese Minderheiten in der Regel eine tendenziell schlechtere Kenntnis des Rechtssystems haben. Der Zugang berufsständischer Gruppen zur Bildung ist erschwert, weil an ihren Wohnorten z. B. Schulen fehlen. Außerdem verlassen viele Kinder die Schule früher, um zu arbeiten. Viele Familien sind auf derartige Einkommen angewiesen. Die meist schlechtere Bildung wiederum führt zur Benachteiligung bei der Arbeitssuche, bei der die Clanzugehörigkeit ohnehin oft zu Diskriminierung führen kann. Da berufsständische Gruppen nur über eine kleine Diaspora verfügen, profitieren sie zudem in geringerem Ausmaß von Remissen als Mehrheitsclans. Dennoch sind vereinzelt auch Angehörige berufsständischer Gruppen wirtschaftlich erfolgreich. Auch wenn sie weiterhin die ärmste Bevölkerungsschicht stellen, finden sich einzelne Angehörige in den Regierungen, im Parlament und in der Wirtschaft.

1.3.13. Bevölkerungsgruppe - Frauen:

Sowohl im Zuge der Anwendung der Scharia als auch bei der Anwendung traditionellen Rechtes sind Frauen nicht in Entscheidungsprozesse eingebunden. Die Scharia wird ausschließlich von Männern angewendet, die oftmals zugunsten von Männern entscheiden. Zudem gelten die aus der Scharia interpretierten Regeln des Zivil- und Strafrechts. Entsprechend gelten für Frauen andere gesetzliche Maßstäbe als für Männer (z. B. halbe Erbquote). Insgesamt gibt es hinsichtlich der grundsätzlich diskriminierenden Auslegungen der zivil- und strafrechtlichen Elemente der Scharia keine Ausweichmöglichkeiten, diese gelten auch in Somaliland. Auch im Rahmen der Ausübung des Xeer haben Frauen nur eingeschränkt Einfluss. Verhandelt wird unter Männern, und die Frau wird üblicherweise von einem männlichen Familienmitglied vertreten. Oft werden Gewalttaten gegen Frauen außerhalb des staatlichen Systems zwischen Clanältesten geregelt, sodass ein Opferschutz nicht gewährleistet ist.

Die von Männern dominierte Gesellschaft und ihre Institutionen gestatten es somalischen Männern, Frauen auszubeuten. Verbrechen an Frauen haben nur geringe oder gar keine Konsequenzen. Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt werden oft im Rahmen kollektiver Clanverantwortung abgehandelt. Viele solche Fälle werden nicht gemeldet. Weibliche Opfer befürchten, von ihren Familien oder Gemeinden verstoßen zu werden, sie fürchten sich z. B. auch vor einer Scheidung oder einer Zwangsehe. Anderen Opfern sind die formellen Regressstrukturen schlichtweg unbekannt. In Süd-/Zentralsomalia und Puntland verfügen Frauen dort nur über 50 % der Möglichkeiten der Männer – und zwar mit Bezug auf Teilnahme an der Wirtschaft, wirtschaftliche Möglichkeiten, Politik und Bildung. Der Salafismus stellt in Somalia das größte Hindernis für die Förderung von Frauen dar. Trotzdem wächst die Zahl an Polizistinnen und Soldatinnen, und auch in Behörden werden zunehmend Frauen angestellt (LIB, Relevante Bevölkerungsgruppe - Frauen).

Diskriminierung: Die Diskriminierung von Frauen ist gesetzlich verboten. Die aktuelle Verfassung betont in besonderer Weise die Rolle und die Menschenrechte von Frauen und Mädchen und die Verantwortung des Staates in dieser Hinsicht. Tatsächlich ist deren Lage jedoch weiterhin besonders prekär. Frauen werden in der somalischen Gesellschaft, in der Politik und in den Rechtssystemen systematisch Männern untergeordnet. Sie genießen nicht die gleichen Rechte und den gleichen Status wie Männer und werden diesen systematisch untergeordnet. Frauen leiden unter Diskriminierung bei Kreditvergabe, Bildung, Politik und Unterbringung.

Andererseits ist es der Regierung gelungen, Frauenrechte etwas zu fördern: Immer mehr Mädchen gehen zur Schule, die Zahl an Frauen im öffentlichen Dienst wächst. Frauen sind das ökonomische Rückgrat der Gesellschaft und mittlerweile oft die eigentlichen Brotverdiener der Familie. Daher ist es üblich, in einer Stadt wie Mogadischu Kleinhändlerinnen anzutreffen, die Khat, Gemüse oder Benzin verkaufen. Außer bei großen Betrieben spielen Frauen eine führende Rolle bei den Privatunternehmen. In Mogadischu und Bossaso gehören ca. 45 % aller formellen Unternehmen Frauen.

Politik: Viele traditionelle und religiöse Eliten stellen sich vehement gegen eine stärkere Beteiligung von Frauen am politischen Leben. Die eigentlich vorgesehene 30-%-Frauenquote für Abgeordnete im somalischen Parlament wird nicht eingehalten. Aktuell liegt diese bei 20 % im Unterhaus und 26 % im Oberhaus (14 von 54 Sitzen). In der neuen Regierung nehmen Frauen 10 Sitze ein, was einen Anteil von 13 % ausmacht.

Auch wenn Gewalt gegen Frauen gesetzlich verboten ist, bleiben häusliche und sexuelle Gewalt gegen Frauen ein großes Problem. Bezüglich Gewalt in der Ehe – darunter auch Vergewaltigung – gibt es keine speziellen Gesetze. Sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt bleiben ein großes Problem – speziell für IDPs. Im Jahr 2021 kam es zu einem Anstieg an derartigen Fällen, oft werden Opfer auch getötet. Auch im Jahr 2022 ist die Zahl an Fällen geschlechtsspezifischer Gewalt weiter gestiegen. Im Jahr 2021 setzten sich die Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt wie folgt zusammen: 62 % physische Gewalt; 11 % Vergewaltigungen; 10 % sexuelle Übergriffe; 7 % Verweigerung von Ressourcen; 6 % psychische Gewalt; 4 % Zwangs- oder Kinderehe. 53 % der Fälle ereigneten sich im Wohnbereich der Opfer. 2021 war eine hohe Rate an Partnergewalt zu verzeichnen; mit der Rücknahme von Covid-19-bedingten Einschränkungen ist die Rate an Partnergewalt zuletzt gesunken. 74 % aller registrierten Vergehen von geschlechtsspezifischer Gewalt betreffen IDPs. Auch weibliche Angehörige von Minderheiten sind häufig unter den Opfern geschlechtsspezifischer Gewalt. NGOs haben eine diesbezügliche Systematik dokumentiert. Frauen und Mädchen werden Opfer, wenn sie Wasser holen, Felder bewirtschaften oder auf den Markt gehen.

Klassische Muster sind:

a) die Entführung von Mädchen und Frauen zum Zwecke der Vergewaltigung oder der Zwangsehe. Hier sind die Täter meist nicht-staatliche Akteure;

und b) Vergewaltigungen und Gruppenvergewaltigungen durch staatliche Akteure, assoziierte Milizen und unbekannte Bewaffnete.

Ein Großteil der Vergewaltigungen - über 50 % - ereignen sich im eigenen Haushalt oder aber im direkten Umfeld; das heißt, Täter sind Familienmitglieder oder Nachbarn der Opfer. Diesbezüglich ist davon auszugehen, dass die Zahl an Fällen sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt aufgrund der Covid-19-Maßnahmen zugenommen hat. Insgesamt hat sich aber aufgrund von Chaos und Gesetzlosigkeit seit 1991 eine Kultur der Gewalt etabliert, in welcher Männer Frauen ungestraft vergewaltigen können. Frauen und Mädchen bleiben daher den Gefahren bezüglich Vergewaltigung, Verschleppung und systematischer sexueller Versklavung ausgesetzt.

Sexuelle Gewalt - Gesetzeslage und staatlicher Schutz: Vergewaltigung ist gesetzlich verboten. Es mangelt jedoch am politische Wille der Bundesregierung und der Bundesstaaten, bestehendes Recht umzusetzen und Täter zu bestrafen. Fälle sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt werden häufig als Kavaliersdelikte abgetan, eine Verurteilung der Täter mithilfe von Bestechung oder Kompensationszahlungen verhindert. Hinsichtlich einer Strafverfolgung von Vergewaltigern gibt es keine Fortschritte. Bei Vergewaltigungen kann von staatlichem Schutz nicht ausgegangen werden. Es herrscht zwar eher Straflosigkeit, die Zahl erfolgreicher Strafverfolgung bei Vergewaltigungen und anderer Formen sexueller Gewalt nimmt jedoch zu. Mädchen und Frauen haben demnach Vertrauen gewonnen und zeigen Fälle an. Trotzdem gibt es noch zahlreiche Mängel und Hürden, wenn Opfer Gerechtigkeit suchen. Die Tabuisierung von Vergewaltigungen führt u. a. dazu, dass kaum Daten zur tatsächlichen Prävalenz vorhanden sind. Außerdem leiden Vergewaltigungsopfer an Stigmatisierung. Opfer, die sich an Behörden wenden, werden oft angefeindet; in manchen Fällen sogar getötet. Aus Furcht vor Repressalien und Stigmatisierung wird folglich in vielen Fällen keine Anzeige erstattet. Zudem untersucht die Polizei Fälle sexueller Gewalt nur zögerlich; manchmal verlangt sie von den Opfern, die Untersuchungen zu ihrem eigenen Fall selbst zu tätigen.

Insgesamt werden Vergewaltigungen aber nur selten der formellen Justiz zugeführt, was u. a. an der Angst vor Rache, vor Stigmatisierung und am schwachen Justizsystem und der allgemeinen Straflosigkeit der Täter liegt. Zum größten Teil (95 %) werden Fälle sexueller Gewalt – wenn überhaupt – im traditionellen Rechtsrahmen erledigt. Dort getroffene Einigungen beinhalten Kompensationszahlungen an die Familie des Opfers, oder aber das Opfer wird gezwungen, den Täter zu ehelichen. Das patriarchalische Clansystem und Xeer an sich bieten Frauen also keinen Schutz, denn wird ein Vergehen gegen eine Frau gemäß Xeer gesühnt, wird der eigentliche Täter nicht bestraft.

Manchmal übergibt die Polizei ohne Zustimmung des Opfers oder der Familie des Opfers einen Vergewaltigungsfall an traditionelle Rechtsinstrumente.

Sexuelle Gewalt - Maßnahmen: Es gibt kleinere Fortschritte dabei, Opfern den Zugang zum formellen Justizsystem zu erleichtern. Einerseits wurden Staatsanwältinnen eingesetzt; andererseits werden Kräfte im medizinischen und sozialen Bereich ausgebildet, welche hinkünftig Opfern zeitnah vertrauliche Dienste anbieten können werden. Zusätzlich kommt es zu Ausbildungsmaßnahmen für Sicherheitskräfte, um diese hinsichtlich konfliktbezogener sexueller Gewalt und den damit verbundenen Menschenrechten zu sensibilisieren.

Bei der Armee wurden einige Soldaten wegen des Vorwurfs von Vergewaltigung verhaftet. In Puntland wurden zwei Zivilisten (Vergewaltigung und Mord) und in Baidoa ein Polizist (Vergewaltigung einer Schwangeren) – nach Verurteilung – exekutiert. Im Mai 2021 wurden drei Verdächtige festgenommen, die als Sicherheitskräfte Frauen vergewaltigt haben sollen. Ihre DNA-Proben wurden zur Untersuchung nach Garoowe geschickt – dort befindet sich das einzige dafür ausgerüstete Labor Somalias. In Baidoa wurde ein Mann, der eine Frau ermordet hatte, zum Tode verurteilt und Anfang Juni 2022 öffentlich von einem Erschießungskommando exekutiert. In zwei Vergewaltigungsfällen an Minderjährigen in Jubaland und Galmudug wurden die Täter (ein Soldat und ein Clanmilizionär) verhaftet, die Opfer wurden medizinisch versorgt.

Sexuelle Gewalt - Unterstützung: Insgesamt gibt es für Opfer sexueller Gewalt beachtliche Hürden, um notwendige Unterstützung in Anspruch nehmen zu können. Zudem gibt es nur wenig Unterstützung in Fällen von Vergewaltigung, da es kaum spezialisierte Anbieter hinsichtlich psycho-sozialer Unterstützung oder zur Behandlung von Traumata gibt. Sogenannte One-Stop-Centers, die von lokalen und internationalen Organisationen sowie vom Gesundheitsministerium betrieben werden, bieten Opfern geschlechtsspezifischer Gewalt (auch FGM) rechtliche Hilfe und andere Dienste. UNFPA unterstützt insgesamt 31 solche Einrichtungen sowie 16 Gesundheitseinrichtungen, welche für Opfer spezialisierte Behandlungen anbieten. In ganz Somalia sind 74 NGOs und internationale Organisationen aktiv, um Opfern geschlechtsspezifischer Gewalt zu unterstützen. In Mogadischu und in Puntland sind z.B. jeweils mehr als 20 Organisationen aktiv. Im Jahr 2021 wurden durch diese Anbieter ca. 51.000 Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt behandelt, fast 10.000 Opfern wurde ein safe space zur Verfügung gestellt. In Lower Shabelle stellen etwa ein Dutzend NGOs und andere Akteure für Vergewaltigungsopfer medizinische Behandlung, Beratung und andere Dienste zur Verfügung. Insgesamt mangelt es allerdings an Schutzeinrichtungen. In Puntland gibt es einige Frauenhäuser, im Süd-/Zentralsomalia hingegen gibt es nur sehr wenige derartige Einrichtungen für Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt.

Sexuelle Gewalt - Puntland: Nur in Puntland gibt es ein entsprechendes Gesetz hinsichtlich sexueller Übergriffe. Dort haben die Behörden zudem Maßnahmen getroffen, um die Straflosigkeit im Bereich sexualisierter Gewalt effektiver bekämpfen zu können. Bei der Generalstaatsanwaltschaft wurde eine eigene Abteilung eingerichtet. Bei drei Vergewaltigungsfällen Ende 2021 und Anfang 2022 in den Bezirken Bossaso, Galkacyo und Garoowe wurden Verdächtige verhaftet. Insgesamt blieb die Umsetzung des Gesetzes bislang begrenzt und der Regierung wird vorgeworfen, in Fällen sexueller Gewalt zu intervenieren oder Untersuchungen zu verhindern. In Puntland gibt es eine von UNFPA unterstützte, mobile Rechtshilfe-Klinik, die Frauen und Mädchen aus vulnerablen und marginalisierten Gruppen berät und rechtlich unterstützt (LIB, Relevante Bevölkerungsgruppe - Frauen)..

Frauen - al Shabaab: In den von ihr kontrollierten Gebieten gelingt es al Shabaab, Frauen und Mädchen ein gewisses Maß an physischem Schutz zukommen zu lassen. Die Gruppe interveniert z. B. in Fällen häuslicher Gewalt. Al Shabaab hat Vergewaltiger – mitunter zum Tode – verurteilt. Dies ist auch ein Grund dafür, warum es in den Gebieten der al Shabaab nur vergleichsweise selten zu Vergewaltigungen kommt. Andererseits legen Berichte nahe, dass sexualisierte Gewalt von al Shabaab gezielt als Taktik im bewaffneten Konflikt eingesetzt wird. Die Zahl an Zwangs- und Frühehen durch al Shabaab hat zugenommen. Dabei zwingt al Shabaab Mädchen und Frauen im Alter von 14 bis 20 Jahren zur Ehe. Diese sowie deren Familien haben generell kaum eine Wahl. Solche Zwangsehen gibt es nur in den von al Shabaab kontrollierten Gebieten. Nach anderen Angaben werden die meisten Ehen mit Mitgliedern der al Shabaab freiwillig eingegangen, auch wenn der Einfluss von Eltern und Clan sowie das geringe Alter bei der Eheschließung nicht gering geschätzt werden dürfen. Eine solche Ehe bietet der Ehefrau und ihrer Familie ein gewisses Maß an finanzieller Stabilität, selbst Witwen beziehen eine Rente. Demgegenüber stehen Berichte, wonach viele Eltern ihre Töchter in Städte gebracht haben, um sie vor dem Zugriff durch al Shabaab in Sicherheit zu bringen.

Al Shabaab schränkt die Freiheit und die Möglichkeiten von Frauen auf dem Gebiet unter ihrer Kontrolle signifikant ein. Die Anwendung einer extremen Form der Scharia resultiert in einer entsprechend weitgehenden Diskriminierung von Frauen. Diese werden etwa insofern stärker ausgeschlossen, als ihre Beteiligung an ökonomischen Aktivitäten als unislamisch erachtet wird, wobei al Shabaab auch hier einen pragmatischen Zugang hat. Da immer mehr Familien vom Einkommen der Frauen abhängig sind, tendiert die Gruppe dazu, sie ihren wirtschaftlichen Aktivitäten nachgehen zu lassen. Und dies, obwohl Frauen nominell das Verlassen des eigenen Hauses nur unter Begleitung eines männlichen Verwandten (mahram) erlaubt ist (LIB, Relevante Bevölkerungsgruppe - Frauen)..

Eheschließung: Bei Eheschließungen gilt das Scharia-Recht. Polygamie ist somit erlaubt, ebenso die Ehescheidung. Es gibt keine Zivilehe. Die Ehe ist extrem wichtig, und es ist in der somalischen Gesellschaft geradezu undenkbar, dass eine junge Person unverheiratet bleibt. Gleichzeitig besteht gegenüber der Braut die gesellschaftliche Erwartung, dass sie bei ihrer ersten Eheschließung Jungfrau ist. Gerade bei der ersten Ehe ist die arrangierte Ehe die Norm. Eheschließungen über Clangrenzen [Anm.: großer bzw. „nobler“ Clans] hinweg sind normal.

Ehe-Alter / Kinderehe: Generell sind die Ausdrücke „Erwachsener“ und „Kind“ in Somalia umstritten und de facto gesetzlich nicht explizit definiert. Zwar ist gemäß somalischem Zivilrecht für eine Eheschließung ein Mindestalter von 15 Jahren vorgesehen, doch Scharia und Tradition nehmen eine Heiratsfähigkeit bei Erreichen der Pubertät an. Generell herrscht unter den relevanten Stakeholdern keine Einigkeit darüber, wann denn nun eigentlich das Heiratsalter erreicht ist - und dies, obwohl Somalia die Kinderrechtskonvention unterzeichnet hat, die eigentlich gegen eine Ehe vor dem Alter von 18 Jahren spricht. Laut Gesetzen sollen beide Ehepartner das „age of maturity“ erreicht haben; als Kinder werden Personen unter 18 Jahren definiert. Außerdem sieht die Verfassung vor, dass beide Ehepartner einer Eheschließung freiwillig zustimmen müssen. Trotzdem ist die Kinderehe verbreitet – gerade in ärmeren, ländlichen. Denn die Scharia, in der kein Mindestalter vorgesehen ist, hat das Familiengesetz weitestgehend ersetzt. Oft werden Mädchen zwischen 10 und 16 Jahren verheiratet, wobei die Eheschließung von den Eltern schon sehr früh vereinbart wird. Die eigentliche Hochzeit erfolgt, wenn das Mädchen die Pubertät erreicht. Eltern ermutigen Mädchen zur Heirat, in der Hoffnung, dass die Ehe dem Kind finanzielle und soziale Absicherung bringt und dass diese die eigene Familie finanziell entlastet. Zudem wird eine frühe Ehe als kulturelle und religiöse Anforderung wahrgenommen. Bei einer Umfrage im Jahr 2017 gaben ca. 60 % der Befragten an, dass eine Eheschließung für Mädchen unter 18 Jahren kein Problem ist. Schätzungen zufolge heiraten 45 % der Mädchen vor ihrem 18. und 8 % vor ihrem 15. Geburtstag. Die Dürre hat das Risiko für viele Mädchen erhöht, bereits in jungen Jahren einer Ehe zugeführt zu werden. Es ist zu einem starken Anstieg der Zahl an Kinderehen gekommen. Viele durch die Dürre verarmte Familien holen Töchter aus den Schulen und verheiraten diese, um vom Brautgeld (yarad) leben zu können. In einem unsicheren Umfeld – etwa in einem IDP-Lager – wollen Eltern u.U. auch die Tochter vor Missbrauch schützen, indem sie diese verheiraten (LIB, Relevante Bevölkerungsgruppe - Frauen)..

Arrangierte Ehe / Zwangsehe: Der Übergang von arrangierter zur Zwangsehe ist fließend. Bei Ersterer liegt die mehr oder weniger explizite Zustimmung beider Eheleute vor, wobei hier ein unterschiedliches Maß an Druck ausgeübt wird. Bei der Zwangsehe hingegen fehlt die Zustimmung gänzlich oder nahezu gänzlich. Frauen und viele minderjährige Mädchen werden zur Heirat gezwungen. Laut einer Studie aus dem Jahr 2018 gibt eine von fünf Frauen an, zur Ehe gezwungen worden zu sein; viele von ihnen waren bei der Eheschließung keine 15 Jahre alt. Und manche Mädchen haben nur in eine Ehe eingewilligt, um nicht von der eigenen Familie verstoßen zu werden. Es gibt keine bekannten Akzente der Bundesregierung oder regionaler Behörden, um dagegen vorzugehen. Außerdem gibt es kein Mindestalter für einvernehmlichen Geschlechtsverkehr. Gegen Frauen, die sich weigern, einen von der Familie gewählten Partner zu ehelichen, wird mitunter auch Gewalt angewendet. Das Ausmaß ist unklar, Ehrenmorde haben diesbezüglich in Somalia aber keine Tradition. Vielmehr können Frauen, die sich gegen eine arrangierte Ehe wehren und/oder davonlaufen, ihr verwandtschaftliches Solidaritätsnetzwerk verlieren.

Die Tradition der arragierten Ehen wandelt sich und viele Ehen werden ohne Einbindung, Wissen oder Zustimmung der Eltern geschlossen. Viele junge Somali akzeptieren arrangierte Ehen nicht mehr. Gerade in Städten ist es zunehmend möglich, den Ehepartner selbst zu wählen. In der Hauptstadt ist es nicht unüblich, dass es zu – freilich oft im Vorfeld mit den Familien abgesprochenen – Liebesehen kommt. Dort sind arrangierte Ehen eher unüblich. Gemäß einer Schätzung konnten sich die Eheleute in 80 % der Fälle ihren Partner selbst aussuchen bzw. bei der Entscheidung mitreden. Zusätzlich gibt es auch die Tradition der „runaway marriages“, bei welcher die Eheschließung ohne Wissen und Zustimmung der Eltern erfolgt. Diese Art der Eheschließung ist in den vergangenen Jahren immer verbreiteter in Anspruch genommen worden (LIB, Relevante Bevölkerungsgruppe - Frauen).

Durch eine Scheidung wird eine Frau nicht stigmatisiert, und Scheidungen sind in Somalia nicht unüblich. Bereits 1991 wurde festgestellt, dass mehr als die Hälfte der über 50-jährigen Frauen mehr als einmal verheiratet gewesen ist. Die Zahlen geschiedener Frauen und von Wiederverheirateten sind gestiegen. Bei einer Scheidung bleiben die Kinder üblicherweise bei der Frau, diese kann wieder heiraten oder die Kinder alleine großziehen. Um unterstützt zu werden, zieht die Geschiedene aber meist mit den Kindern zu ihren Eltern oder zu Verwandten. Bei der Auswahl eines Ehepartners sind Geschiedene in der Regel freier als bei der ersten Eheschließung. Auch bei al Shabaab sind Scheidungen erlaubt und werden von der Gruppe auch vorgenommen (LIB, Relevante Bevölkerungsgruppe - Frauen).

In Somalia gibt es keine Tradition sogenannter Ehrenmorde im Sinne einer akzeptierten Tötung von Frauen, welche bestimmte soziale Normen überschritten haben – z. B. Geburt eines unehelichen Kindes. Ein uneheliches Kind wird allerdings als Schande für die ganze Familie der Frau erachtet. Mutter und Kind werden stigmatisiert, im schlimmsten Fall werden sie von der Familie verstoßen (LIB, Relevante Bevölkerungsgruppe - Frauen).

1.3.14. Relevante Bevölkerungsgruppe – Frauen und FGM:

Kulturell gilt die Klitoris als „schmutzig“, eine Infibulation als ästhetisch. Letztere trägt zur Ehre der Frau bei, denn sie beschränkt den Sexualdrang, sichert die Jungfräulichkeit und sichert die Heirat. Dahingegeben werden unbeschnittene Frauen oft als schmutzig oder unsomalisch, als abnormal und schamlos oder aber als unislamisch bezeichnet. Sie werden mitunter in der Schule gehänselt und drangsaliert und sie und ihre Familie als Schande für die Gemeinschaft erachtet. In Somalia herrschen zwei Formen von FGM vor:

a) Einerseits die am meisten verbreitete sogenannte Pharaonische Beschneidung (gudniinka fircooniga), welche weitgehend dem WHO Typ III (Infibulation) entspricht und von der somalischen Bevölkerung unter dem - mittlerweile auch dort geläufigen - Synonym „FGM“ verstanden wird

b) Andererseits die Sunna (gudniinka sunna). Die Sunna wird nochmals unterteilt in die sog. große Sunna (sunna kabir) und die kleine Sunna (sunna saghir); es gibt auch Mischformen. De facto kann unter dem Begriff „Sunna“ jede Form – von einem kleinen Schnitt bis hin zur fast vollständigen pharaonischen Beschneidung – gemeint sein, die von der traditionellen Form von FGM (Infibulation) abweicht. Da es keine klare Definition der Sunna gibt, wissen Eltern oft gar nicht, welchen Eingriff die Beschneiderin genau durchführen wird. Allgemein wird die Sunna von Eltern und Betroffenen als harmlos erachtet, mit dieser Form werden nur geringfügige gesundheitliche Komplikationen in Zusammenhang gebracht.

Durchführung: Mädchen werden mittlerweile zunehmend von medizinischen Fachkräften beschnitten. Diese „Medizinisierung“ von FGM/C ist v. a. im städtischenBereich und bei der Diaspora angestiegen. FGM/C wird also zunehmend im medizinischen Bereich durchgeführt – in Spitälern, Kliniken oder auch bei Hausbesuchen. Insgesamt sind die Ausführenden aber immer noch oft traditionelle Geburtshelferinnen, Hebammen und Beschneiderinnen. Der Eingriff wird an Einzelnen oder auch an Gruppen von Mädchen vorgenommen.

Verbreitung: FGM ist in Somalia auch weiterhin weit verbreitet und bleibt die Norm, obwohl mittlerweile von einer Rückläufigkeit auszugehen ist. Während in der ältesten Altersgruppe vier von fünf Frauen eine Infibulation erlitten haben, ist es bei der jüngsten Altersgruppe nicht einmal eine von zwei. Generell geht der Trend in Richtung Sunna. Sowohl der finanzielle wie auch der Bildungshintergrund spielen bei der Entscheidung hinsichtlich der Form des Eingriffs eine Rolle. Die Rate an Infibulationen ist in ländlichen Gebieten höher ist als in der Stadt. Vielen Menschen – v.a. in städtischen Gebieten – erachten die extremeren Formen von FGM zunehmend als inakzeptabel, halten aber an Typ I fest. FGM kann als gesellschaftliche Konvention erachtet werden, die von den meisten Menschen als selbstverständliche angesehen wird. Daher stellt sich üblicherweise nicht die Frage, ob der Eingriff durchgeführt wird. Vielmehr geht es um die praktischen Aspekte der Umsetzung. Üblicherweise liegt die Entscheidung darüber, ob eine Beschneidung stattfinden soll, in erster Linie bei der Mutter. Der Vater hingegen wird wenig eingebunden. Dabei geht es bei dieser Entscheidung weniger um das „ob“ als vielmehr um das „wie und wann“. Tendenziell können Väter neuerdings mehr Mitsprache halten. Insgesamt ist es aber die Mutter, die für die Jungfräulichkeit, Reinheit und Ehefähigkeit ihrer Töchter verantwortlich ist. Es kann zu – teils sehr starkem – psychischem Druck auf eine Mutter kommen, damit eine Tochter beschnitten wird. Um eine Verstümmelung zu vermeiden, kommt es auf die Standhaftigkeit der Mutter an. Spricht sich auch der Kindesvater gegen eine Verstümmelung aus, und bleibt dieser standhaft, dann ist es leichter, dem psychischen Druck seitens der Gesellschaft und gegebenenfalls durch die Familie standzuhalten. Manchmal halten Großmütter oder andere weibliche Verwandte Mitsprache. In ländlichen Gebieten können Großmütter und weibliche Verwandte eher Einfluss ausüben. Dass Mädchen ohne Einwilligung der Mutter von Verwandten einer FGM unterzogen werden, ist zwar nicht auszuschließen, aber unwahrscheinlich. Eine diesbezüglich annehmbare Ausnahme wäre (theoretisch), dass ein bei den Großeltern lebendes Kind von der Großmutter FGM zugeführt wird, ohne dass es dazu eine Einwilligung der Eltern gibt. Gerade in Städten ist es heutzutage kein Problem mehr, sich einer Beschneidung zu widersetzen, und die Zahl unbeschnittener Mädchen steigt. In manchen Gemeinden und Gemeinschaften, wo Aufklärung bezüglich FGM stattgefunden hat, stellen sich Teile der Bevölkerung gegen jegliche Art von FGM. Von jenen, die nicht von Aufklärungskampagnen betroffen waren, gab es nur eine kleine Minderheit aus gut gebildeten Menschen und Personen der Diaspora, die sich von allen Formen von FGM verabschiedet hat. Hinsichtlich FGM herrscht kein physischer Zwang, allerdings besteht eine Art Gruppendruck, um sozialen Erwartungen gerecht zu werden. Frauen fürchten sich vor einem gesellschaftlichen Ausschluss und vor Diskriminierung - ihrer selbst und ihrer Töchter. Eine Beschneidung bringt hingegen soziale Vorteile und sichert der Familie und dem Mädchen die Integration in die Gesellschaft. So gibt es etwa Berichte über erwachsene Frauen, die sich einer Infibulation unterzogen haben, da sie sich durch (sozialen) Druck dazu gezwungen sahen. Mitunter üben nicht beschnittene Mädchen aufgrund des gesellschaftlichen Drucks selbst Druck auf Eltern aus, damit die Verstümmelung vollzogen wird. Die umfassende FGM in Form einer Infibulation stellt eine Art Garantie der Jungfräulichkeit bei der ersten Eheschließung dar. Die in der Gemeinde zirkulierte Information, wonach eine Frau nicht infibuliert ist, wirkt sich auf das Ansehen und letztendlich auf die Heiratsmöglichkeiten der Frau und anderer Töchter der Familie aus. Daher wird die Infibulation teils immer noch als notwendig erachtet.

Die Akzeptanz unbeschnittener Frauen bzw. jener, die nicht einer Infibulation unterzogen wurden, hängt maßgeblich von der Familie ab. Generell steht man ihnen in urbanen Gebieten eher offen gegenüber. In der Stadt ist es kein Problem, zuzugeben, dass die eigene Tochter nicht beschnitten ist. Auf dem Land ist das anders. Damit sich Eltern aus eigener Initiative gegen FGM ihrer Tochter wehren können, müssen sie über Kenntnisse und Einwände gegen die Praxis sowie über genügend Robustheit und Ressourcen verfügen, um die Einwände für Familie, Netzwerke und lokale Gemeinschaften zu fördern. Eine Familie, die sich gegen FGM entschieden hat, wird versuchen, die Tatsache geheim zu halten. Nur wenige Mütter „bekennen“, dass sie ihre Töchter nicht beschneiden haben lassen; und diese stammen v. a. aus Gemeinden, die zuvor Aufklärungskampagnen durchlaufen hatten. In größeren Städten ist es auch möglich, den unbeschnittenen Status ganz zu verbergen. Die Anonymität ist eher gegeben, die soziale Interaktion geringer; dies ist in Dörfern mitunter sehr schwierig. Natürlich werden nicht ständig die Genitalien von Mädchen überprüft. Aber Menschen sprechen miteinander, sie könnten ein betroffenes Mädchen z. B. fragen, wo es denn beschnitten worden sei. Da gleichaltrige Mädchen einer Nachbarschaft oder eines Ortes oft gleichzeitig beschnitten werden, ist es nicht unüblich, dass eine Gemeinschaft darüber Bescheid weiß, welche Mädchen beschnitten sind und welche nicht. Spätestens bei der Verheiratung ist der physische Status jedenfalls klar. Trotzdem gibt es sowohl in urbanen als auch in ländlichen Gebieten Eltern, die ihre Töchter nicht verstümmeln lassen. Wird der unbeschnittene Status eines Mädchens bekannt, kann dies zu Hänseleien und zur Stigmatisierung führen. Doch auch dabei gibt es Unterschiede zwischen Stadt und Land. Allerdings kommt es zu keinen körperlichen Untersuchungen, um den Status hinsichtlich einer vollzogenen Verstümmelung bei einem Mädchen festzustellen. Eine Mutter kann den Status ihrer Tochter verschleiern, indem sie vorgibt, dass diese einer Sunna unterzogen worden ist.

Zum Alter bei der Beschneidung gibt es unterschiedliche Angaben. Die Beschneidung erfolgt meistens in einem Alter von 4-14 Jahren wobei das Beschneidungsalterscheinbar immer weiter sinkt. eine Sunna kann auch bei der Geburt stattzufinden, möglicherweise auch nur als symbolischer Schnitt. Mädchen, welche die Pubertät erreicht haben, werden nicht mehr einer FGM unterzogen, da dies gesundheitlich zu riskant ist. Hat ein Mädchen die Pubertät erreicht, fällt auch der Druck durch die Verwandtschaft weg (LIB, Relevante Bevölkerungsgruppe - Frauen).

1.3.15. Relevante Bevölkerungsgruppe – FGM in Süd-/Zentralsomalia und Puntland:

In der Übergangsverfassung steht, dass eine Beschneidung von Mädchen der Folter gleichkommt und daher verboten ist. Allerdings mangelt es an einer Definition von „Beschneidung“, und es wird kein Strafmaß genannt. Es sind auch keine Fälle bekannt, wo FGM/C dahingehend einer Strafverfolgung zugeführt worden wäre – selbst dann, wenn ein Mädchen an den Folgen der Verstümmelung verstorben ist. Die Regierung bemüht sich, gegen die Praxis vorzugehen. Allerdings gibt es kein spezifisches Gesetz gegen FGM/C. Unklar bleibt, ob ein künftiges Gesetz alle Formen von FGM verbieten wird, oder nur eine abgemilderte Form der Beschneidung vorsehen würde.

In Puntland hingegen wurde im Juni 2021 die sogenannte FGM Zero Tolerance Bill vom Präsidenten unterzeichnet und vom Ministerkabinett verabschiedet. Damit sind alle Formen von FGM verboten worden. Nicht nur Beschneiderinnen, sondern auch an einer FGM beteiligtes medizinisches Personal, Eltern und Helfershelfer werden mit dem Gesetz kriminalisiert. Schon 2013 hatten religiöse Führer und Akademiker eine Fatwa veröffentlicht, wonach jede Form von FGM verboten ist. Das neue Gesetz hatte bislang allerdings wenig praktische Änderungen zur Folge.

Al Shabaab hatte ursprünglich jede Form von FGM verboten. Mittlerweile gilt das Verbot für die Infibulation, während die Sunna akzeptiert wird. Generell ist al Shabaab nicht Willens, dieses Verbot auf dem von ihr kontrollierten Gebiet auch umzusetzen. Die Gruppe unterstützt die Tradition nicht, geht aber auch nicht aktiv dagegen vor. So zeigt das Verbot auf dem Gebiet von al Shabaab kaum einen Effekt.

Internationale und lokale NGOs führen Sensibilisierungsprogramme durch, landesweit bemühen sich die Regierungen, die Verbreitung von FGM einzuschränken – speziell jene der Infibulation. Auch Medien, Prominente und religiöse Persönlichkeiten werden in Kampagnen eingebunden. Zahlen us 2011 für Puntland zeigten eine rückläufige FGM-Rate. Im Jahr 2011 waren ca. 90 % der über 25-Jährigen, 85,4 % der 20-24-Jährigen und 79,7 % der 15-19-Jährigen von einer Infibulation betroffen. Auch eine Studie aus dem Jahr 2015 zeigt, dass die Infibulationsrate in Puntland zurückgeht - und auch die Sunna Kabir. Die Sunna Saghir (im Sinne einer moderaten Beschneidung der Klitoris) hingegen ist auf dem Vormarsch. Im Jahr 2018 gaben in einer Studie nur 65 % der befragten Frauen an, selbst beschnitten zu sein; nur ein Drittel gab an, dass die eigene Tochter beschnitten sei.

In Mogadischu werden junge Mädchen nicht mehr der Infibulation, sondern hauptsächlich der Sunna ausgesetzt. In Mogadischu wurde (laut tsudie aus 2017) kaum ein unter 18-Jähriges Mädchen infibuliert; dagegen kommen sowohl große als auch kleine Sunna breitflächig zur Anwendung. Bei der Bewertung dieses Trends muss aber berücksichtigt werden, dass in manchen Fällen davon auszugehen ist, dass einfach nur nicht soweit zugenäht wird wie früher; der restliche Eingriff aber de facto einer Infibulation entspricht - und trotzdem von den Betroffenen als „Sunna“ bezeichnet wird (LIB, Relevante Bevölkerungsgruppe - Frauen).

Defibulation und Refibulation: Die Thematik der Reinfibulation (Wiederherstellung einer Infibulation, Wiederzunähen) betrifft jene Frauen und Mädchen, die bereits einer Infibulation unterzogen und später deinfibuliert wurden. Letzteres erfolgt z. B. im Rahmen einer Geburt, zur Erleichterung des Geschlechtsverkehrs oder aber z. B. auf Wunsch der Familie, wenn bei der Menstruation Beschwerden auftreten. Eine Reinfibulation kommt v. a. dann vor, wenn Frauen - üblicherweise noch vor der ersten Eheschließung - eine bestehende Jungfräulichkeit vorgeben wollen. Obwohl es vor einer Ehe gar keine physische Untersuchung der Jungfräulichkeit gibt, kann es bei jungen Mädchen, die z. B. Opfer einer Vergewaltigung wurden, zu Druck oder Zwang seitens der Eltern kommen, sich eine Reinfibulation zu unterziehen. Vergewaltigungsopfer werden oft wieder zugenäht. Es kann auch vorkommen, dass Eltern oder Verwandte eine bestehende Infibulation als zu gering erachten und ein Mädchen deswegen zu einem zweiten Eingriff geschickt wird. Stellt nämlich der Ehemann in der Hochzeitsnacht fest, dass eine Deinfibulation bereits vorliegt, kann dies Folgen haben – bis hin zur sofortigen Scheidung. Letztere kann zu einer indirekten Stigmatisierung infolge von „Gerede“ führen. Als weitere Gründe, warum sich Frauen für eine Reinfibulation im Sinne einer weitestmöglichen Verschließung entscheiden können folgende sein:

a) nach einer Geburt: Manche Frauen verlangen z. B. eine Reinfibulation, weil sie sich nach

Jahren an ihren Zustand gewöhnt hatten und sich die geöffnete Narbe ungewohnt und unwohl

anfühlt;

b) manche geschiedenen Frauen möchten als Jungfrauen erscheinen;

c) Eltern von Vergewaltigungsopfern fragen danach;

d) in manchen Bantu-Gemeinden in Süd-/Zentralsomalia möchten Frauen, deren Männer für längere Zeit von zu Hause weg sind, eine Reinfibulation als Zeichen der Treue.

Gesellschaftlich verliert die Frage einer Deinfibulation oder Reinfibulation nach einer Eheschließung generell an Bedeutung, da die Vorgabe der Reinheit/Jungfräulichkeit irrelevant geworden ist. Für verheiratete oder geschiedene Frauen und für Witwen gibt es keinen Grund, eine Jungfräulichkeit vorzugeben. Wird eine Frau vor einer Geburt deinfibuliert, kann es vorkommen, dass nach der Geburt – auf ihren Wunsch – eine Reinfibulation stattfindet. Dies obliegt i.d.R. der Entscheidung der betroffenen Frau. Die Gesellschaft hat kein Problem damit, wenn eine Deinfibulation nach einer Geburt bestehen bleibt, und es gibt üblicherweise keinen Druck, sich einer Reinfibulation zu unterziehen. Ein derartiges Neu-Vernähen der Infibulation kann in ländlichem Raum vorkommen, ist in Städten aber eher unüblich. Es gibt keine Grundlage dafür, dass bei Frauen nach einer Geburt oder Scheidung systematisch eine Reinfibulation durchgeführt wird – weder in der Vergangenheit noch in der heutigen Zeit. Freilich kann es vorkommen, dass eine Frau – wenn sie z. B. physisch nicht in der Lage ist, nach der Geburt eine Entscheidung zu treffen – auch gegen ihren Willen einer Reinfibulation unterzogen wird; die Entscheidung treffen in diesem Fall weibliche Verwandte oder die Hebamme. Es kann natürlich auch nicht völlig ausgeschlossen werden, dass Frauen durch Druck von Familie, Freunden oder dem Ehemann zu einer Reinfibulation gedrängt werden. Insgesamt hängt das Risiko eine Reinfibulation also zwar vom Lebensumfeld und der körperlichen Verfassung der Frau nach der Geburt ab, aber generell liegt die Entscheidung darüber bei ihr selbst. Sie kann sich nach der Geburt gegen eine Reinfibulation entscheiden. Es kommt in diesem Zusammenhang weder zu Zwang noch zu Gewalt. Keine deinfibulierte Rückkehrerin nach Somalia wurde dort zwangsweise reinfibuliert (LIB, Relevante Bevölkerungsgruppe – Frauen).

1.3.16. Relevante Bevölkerungsgruppe – Kinder:

Die Regierung setzt Kinderrechte nur selten durch. Die Übergangsverfassung definiert Kinder als Personen, die jünger als 18 Jahre alt sind. Traditionell werden Kinder allerdings ab einem Alter von 15 Jahren als volljährig erachtet. Viele Somali - und auch somalische Behörden – sehen die Pubertät als relevantes Kriterium, um ein Kind als erwachsen zu erachten. Dem Geburtsdatum kommt im somalischen Kontext demnach nur eine geringe praktische und kulturelle Bedeutung zu.

Im April 2022 waren knapp 1,4 Millionen Kinder in ganz Somalia von akuter Unterernährung betroffen, davon 330.000 von schwerer Unterernährung. Somalia hat weltweit die höchste Kindersterblichkeitsrate. Eines von sieben Kindern stirbt vor dem fünften Geburtstag, schuld daran sind u. a. Unterernährung, Pneumonie, Masern und Durchfallerkrankungen; nach anderen Angaben sind es sogar 117 Todesfälle bei 1.000 Lebendgeburten. Die grundlegenden Impfungen erfolgen bei Kindern in nomadischen Gebieten bei nur 1 %, bei der restlichen ländlichen Bevölkerung bei 14 % und in Städten bei 19 % (LIB, Relevante Bevölkerungsgruppe - Kinder).

Gewalt: Es kommt weiterhin zu schweren Verbrechen gegen Kinder, darunter Rekrutierungen, Verwendung von Kindersoldaten (v.a. durch al Shabaab), Tötungen und Verstümmelungen sowie geschlechtsspezifischer Gewalt. Somalia findet sich unter den Ländern mit der größten Zahl an Verbrechen an Kindern weltweit. Alle am Konflikt in Somalia beteiligten Parteien haben schwere Vergehen gegen Kinder begangen – darunter Tötung, Verstümmelung, Rekrutierung und Kampfeinsatz. Im Zeitraum 6.11.2021-31.1.2022 wurden 767 Fälle von schweren Menschenrechtsverletzungen an Kindern dokumentiert, 635 Kinder waren betroffen (467 Buben, 168 Mädchen). Für ca. 67 % der Vergehen war al Shabaab verantwortlich. Die registrierten Fälle umfassen 289 Kinder, die rekrutiert und eingesetzt wurden; 182 Kinder, die getötet oder verstümmelt wurden; 220 Kinder, die entführt wurden; und 68 Kinder, die einer Vergewaltigung oder einer anderen Form sexueller Gewalt ausgesetzt ware. Es ist davon auszugehen, dass die tatsächliche Zahl an schweren Verbrechen an Kindern weit höher liegt, als die der gemeldeten und verifizierten Fälle.

Missbrauch und Vergewaltigung von Kindern sind ernste Probleme. Es gibt keine bekannten Anstrengungen der Bundesregierung oder von Regionalregierungen, dagegen vorzugehen. Es kommt immer wieder zur Verhaftung und Inhaftierung von Kindern, denen Verbindungen zu bewaffneten Gruppen nachgesagt werden, durch Bundes- und Lokalkräfte. Im Zeitraum Jänner bis März 2022 wurden 194 Fälle von Kindesentführungen dokumentiert. In 192 dieser Fälle wird al Shabaab als Täter genannt. Kinder, die aus armen (meist ländlichen) Gegenden zu besser situierten Verwandten in die Städte geschickt werden, können manchmal auch Opfer von Menschenhandel werden. Eine physische Bestrafung von Kindern wird weitgehend akzeptiert und ist weder im eigenen Heim, noch z.B. in der Schule oder in Haft verboten (LIB, Relevante Bevölkerungsgruppe - Kinder).

Kinderarbeit: Tatsächlich gibt es kein Mindestalter hinsichtlich einer Anstellung. Das Gesetz verbietet und kriminalisiert nicht einmal die schlimmsten Formen von Kinderarbeit. Ein Gesetz, welches das Mindestalter für die meisten Tätigkeiten auf 15 Jahre festlegt, schreibt gleichzeitig ein unterschiedliches Alter für unterschiedliche Tätigkeiten vor. Dieses Gesetz wird allerdings nicht umgesetzt. Kinderarbeit ist weit verbreitet. Es ist nicht unüblich, dass Jugendliche schon in jungen Jahren als Hirten, in der Landwirtschaft oder im Haushalt arbeiten. Kinder werden außerdem zum Zerkleinern von Steinen, als Verkäufer oder Träger eingesetzt. Kinderarbeit wird nicht als unmoralisch oder illegal erachtet, und daher ist sie in Somalia relativ normal. Die meisten Kinder beginnen bereits in jungen Jahren zu arbeiten, manche von ihnen können Arbeit und Schule kombinieren. Im ländlichen Somalia ist von Kinderarbeit - meist Feldarbeit oder nomadische Hilfstätigkeit - auszugehen. In urbanen Zentren werden Kinder als Dienstboten und für einfache Erledigungen eingesetzt. Für Puntland und Somaliland gilt dies nur eingeschränkt. Die körperliche Züchtigung von Kindern ist gesetzlich nicht verboten, allgemein üblich und wird gesellschaftlich akzeptiert (LIB, Relevante Bevölkerungsgruppe - Kinder).

Adoption: Der Konflikt hat viele Waisen hervorgebracht. Zudem wurden viele Kinder von ihren biologischen Eltern getrennt. Trotzdem gibt es weder eine offizielle, staatlich geregelte Adoptionspraxis noch ein staatliches Adoptionsrecht. Auch die Scharia sieht keine völlige Adoption vor, bevorzugt dagegen ein System der Vormundschaft (kafala). Dabei übernimmt der Vormund alle Pflichten eines Elternteils, allerdings ohne die Rechtsbindung des Kindes zur biologischen Familie zu brechen. Generell ist es nicht unüblich, eigene Kinder – etwa wegen eigener Armut – bei engen oder fernen Verwandten unterzubringen. Viele Kinder und Waisen wachsen innerhalb der weiteren Verwandtschaft auf, bei Familien, in die sie nicht hineingeboren wurden. Dabei gibt es keine rechtliche Vereinbarung, die Unterbringung erfolgt relativ formlos. Offizielle Dokumente sind zumeist nicht vorzufinden bzw. könnten diese einer Urkundenüberprüfung nicht standhalten. In Mogadischu gibt es einige Waisenhäuser; allerdings funktioniert dieses System nicht ausreichend und daher gibt es in der Stadt auch viele Straßenkinder. In Somaliland gibt es die Möglichkeit, dass ein Gericht einem (Waisen)Kind eine neue Identität gibt, damit dieses Dokumente erhalten und die Schule besuchen kann (LIB, Relevante Bevölkerungsgruppe - Kinder).

Bildung: Eigentlich sieht das Gesetz eine kostenlose Schulbildung vor. In der Realität ist diese aber weder kostenlos oder verpflichtend. In vielen Gebieten haben Kinder keinen Zugang zu Schulen, sei es aufgrund von Armut, Unsicherheit, langen Schulwegen oder wichtigeren Aufgaben im Haushalt. Die Alphabetisierungsquote ist eine der niedrigsten weltweit. Dabei gibt es Unterschiede: In urbanen Gebieten beträgt die Quote knapp 65 %, in ländlichen Gebieten 27,5 %; unter Nomaden nur 12,1 %. Im Norden ist sie höher als im Süden. Außerdem hängt eine Alphabetisierung auch von der individuellen finanziellen Situation ab, Arme können sich Bildung nicht leisten. Die Mehrheit der Kinder - fast zwei Drittel - geht jedenfalls nicht in die Schule. Mädchen sind zudem in geringerem Ausmaß in Schulen eingeschrieben. Die nationale Bruttoregistrierungsrate (GER) betrug im Jahr 2020 14,4 % für die Grundschule und 14,3 % für die Sekundarstufe. Im Zuge der Dürre besteht für 420.000 Kinder das Risiko, von der Schule genommen zu werden. Darunter finden sich knapp 190.000 Mädchen. Schon vor der Dürre waren nur 52 % der Schulen in Somalia in permanenten Strukturen untergebracht und zudem befanden sich die Schulen für einen von drei Haushalten in einer Entfernung von mindestens 30 Minuten. Mit der Dürre haben immer mehr Kinder die Schulen verlassen und 250 Schulen wurden wegen der Dürre geschlossen. 25 % der Lehrer haben sich nach einer anderen Einkommensquelle umgeschaut und sind aus dem Lehrberuf ausgeschieden. In 50 % der IDP-Lager gibt es für die Kinder keinen Zugang zu Schulen. Es gibt mitunter NGOs – wie z. B. Gargaar in Dhusamareb, Galmudug – die Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichen Mitteln (u.a. finanziell) dabei unterstützen, eine Ausbildung abzuschließen. In Jubaland gibt es ein von USAID finanziertes, fünf Jahre laufendes Programm (Bar ama Baro), mit welchem Kinder aus armen und marginalisierten Familien der Schulbesuch finanziert wird. Mehr als 20.000 Kinder zwischen neun und 17 Jahren wurden damit bereits eingeschult. Im Jahr 2022 waren 16.000 Schüler registriert. Das Programm läuft an 50 Schulen in den Bezirken Kismayo, Bardheere und Jamaame. Somalia-weit unterstützt dieses Programm 461 Schulen in 32 Bezirken sowie 2.200 Lehrer. 100.000 Kinder konnten dadurch eine Schule besuchen (LIB, Relevante Bevölkerungsgruppe - Kinder).

1.3.17 Subjekte gezielter Attentate durch die Al Shabaab:

Folgende Personengruppen sind bezüglich eines gezielten Attentats durch al Shabaab einem erhöhten Risiko ausgesetzt:

• Angehörige der AMISOM bzw. ATMIS

• nationale und regionale Behördenvertreter und -Mitarbeiter

• Angehörige der Sicherheitskräfte

• Regierungsangehörige, Parlamentarier, Offizielle und Wahlkandidaten (al Shabaab greift z. B.

gezielt Örtlichkeiten an, wo sich Regierungsvertreter treffen)

• mit der Regierung in Verbindung gebrachte Zivilisten

• Angestellte von NGOs und internationalen Organisationen

• Wirtschaftstreibende, insbesondere dann, wenn sie sich weigern, Schutzgeld („Steuer“) an al Shabaab abzuführen

• Älteste und Gemeindeführer (gemäß somalischen Regierungsangaben hat al Shabaab innerhalb von zehn Jahren 324 Älteste ermordet. Einige der Opfer waren in Wahlprozesse involviert. In jüngerer Vergangenheit hat al Shabaab v. a. solche Älteste ermordet, die ihre Clans zur Beteiligung an der Offensive gegen die Gruppe aufgerufen bzw. deren Teilnahme öffentlich unterstützt haben).

• Wahldelegierte und deren Angehörige (dabei hat al Shabaab in der Vergangenheit Delegierte vor die Wahl gestellt, entweder zu ihnen zu kommen und sich zu entschuldigen, oder aber einem Todesurteil zu unterliegen. Die große Mehrheit entschuldigte sich. Immer wieder werden jedenfalls an Wahlen Beteiligte ermordet, so z. B. ein Delegierter und Ältester am 13.6.2022 sowie ein weiterer Delegierter Mitte April 2022 – beide in Hodan (Mogadischu). Al Shabaab bekennt sich nicht immer zu derartigen Attentaten, hat in der Vergangenheit allerdings betont, jede an Wahlen beteiligte Person zum Ziel zu machen)

• Angehörige diplomatischer Missionen

• prominente und Menschenrechts- und Friedensaktivisten

• religiöse Führer

• Journalisten und Mitarbeiter von Medien

• Telekommunikationsarbeiter

• mutmaßliche Kollaborateure und Spione

• Deserteure

• als glaubensabtrünnig Bezeichnete (Apostaten)

• (vermeintliche) Angehörige oder Sympathisanten des IS (den IS hat al Shabaab als Seuche bezeichnet, welche ausgerottet werden müsse)

Personen all dieser Kategorien werden insbesondere dann zum Ziel, wenn sie kein Schutzgeld bzw. „Steuern“ an al Shabaab abführen. Gleichzeitig muss davon ausgegangen werden, dass zahlreiche Angriffe und Morde auf o. g. Personengruppen politisch motiviert oder einfache Verbrechen sind, die nicht auf das Konto von al Shabaab gehen (LIB, Subjekte gezielter Attentate durch Al Shabaab).

Kollaboration und Spionage: In von al Shabaab kontrollierten Gebieten gelten eine Unterstützung der Regierung und Äußerungen gegen al Shabaab als ausreichend, um als Verräter verurteilt und hingerichtet zu werden. Al Shabaab tötet - meist nach unfairen Verfahren - Personen, denen Spionage für oder Kollaboration mit der Regierung oder ausländischen Kräften vorgeworfen wird. Al Shabaab bedroht Menschen, die mit der Regierung in Verbindung gebracht werden. Zivilisten können bestraft oder auch getötet werden, wenn sie für die Regierung oder die Armee arbeiten. Die Schwelle dessen, was al Shabaab als Kollaboration mit dem Feind wahrnimmt, ist mitunter sehr niedrig angesetzt. So wurden etwa im Feber 2021 in Mogadischu drei Frauen erschossen, die im Verteidigungsministerium als Reinigungskräfte gearbeitet hatten. Nach eigenen Angaben greift al Shabaab solche Personen hingegen nicht gezielt an. Insbesondere in Frontgebieten oder Orten, deren Herrschaft wechselt, kann auch das Verkaufen von Tee an Soldaten bereits als Kollaboration wahrgenommen werden. So wurden etwa Anfang Juli 2021 fünf Zivilisten im Gebiet Jowhar von al Shabaab entführt, weil sie Soldaten der Armee mit Erfrischungen bewirtet bzw. mit ihnen gehandelt hatten. Mehrere Häuser und Fahrzeuge wurden angezündet. Generell sind aber das Ausmaß und/oder die Gewissheit der Kollaboration, der Ort des Geschehens und die Beziehungen der betroffenen Person dafür ausschlaggebend, ob al Shabaab die entsprechenden Konsequenzen setzt. Besonders gefährdet sind Personen, welche folgende Aspekte erfüllen:

a) die Kollaboration ist offensichtlich

b) der Ort lässt eine leichte Identifizierung des Kollaborateurs zu

c) eine Exekution wird als maßgebliches Abschreckungszeichen wahrgenommen

d) wenn sich die Kollaboration in einem Ort mit fluktuierender Kontrolllage zugetragen hat

Auf der anderen Seite kollaborieren viele Menschen mit al Shabaab. Verwaltungsstrukturen und Sicherheitskräfte sind unterwandert. Eine derartige Kollaboration kann aus finanziellen oder ideologischen Gründen erfolgen, oft aber auch aus Angst. Es scheint wenig ratsam, ein „Angebot“ von al Shabaab abzulehnen.

Kapazitäten: Üblicherweise zielt al Shabaab mit größeren (mitunter komplexen) Angriffen auf Vertreter des Staates, Gebäude und Fahrzeuge der Regierung auf Hotels, Geschäfte, Militärfahrzeuge und -Gebäude sowie direkt Soldaten von Armee und ATMIS. Grundsätzlich richten sich die Angriffe der al Shabaab in nahezu allen Fällen gegen Personen des somalischen Staates (darunter die Sicherheitskräfte), Institutionen der internationalen Gemeinschaft (darunter ausländische Truppen) und gegen Gebäude, die von erst- und zweitgenannten Zielen frequentiert werden.

Al Shabaab greift Zivilisten, die nicht in eine der weiter oben genannten Kategorien fallen, nicht spezifisch an. Für diese besteht das größte Risiko darin, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein und so zum Kollateralschaden von Sprengstoffanschlägen und anderer Gewalt zu werden. So hat Mogadischu über die Jahre Dutzende Arbeiter der Straßenreinigung verloren, die durch versteckte Sprengsätze getötet wurden, welche entlang von Straßen im dahinter liegenden Müll platziert waren. Außerdem greift al Shabaab etwa Cafés, Restaurants oder Hotels an, die von Behördenvertretern oder Wirtschaftstreibenden frequentiert werden. So kamen etwa am 17.7.2022 bei einem Selbstmordanschlag auf ein bei Politikern beliebtes Hotel in Jowhar mindestens zwölf Personen ums Leben. Dutzende weitere Personen wurden verletzt. Unter den Opfern befanden sich regionale Minister und Direktoren sowie ehemalige Abgeordnete. Zwar richten sich diese Angriffe also gegen Personengruppen, die von al Shabaab als Feinde erachtet werden, doch kommen dabei auch Zivilisten zu Schaden, welche sich am oder in der Nähe des Ziels aufhalten. Nach einem Anschlag im Dezember 2019 hat sich al Shabaab sogar dafür entschuldigt, dass derart viele Zivilisten ums Leben gekommen sind. Nach anderen Angaben ist es zwar Zufall, wer konkret einem Anschlag zum Opfer fällt; aber al Shabaab greift wahllos und doch gezielt Zivilisten an. Die Intention ist, der Bevölkerung vor Augen zu führen, dass die Regierung sie nicht beschützen kann. Dies führt Zivilisten in eine Art endemisch-alltägliche Unsicherheit in allen Lebensbereichen - und das, obwohl die Wahrscheinlichkeit, von einem Anschlag getroffen zu werden, relativ gering ist (LIB, Subjekte gezielter Attentate durch Al Shabaab).

Ausweichmöglichkeiten: Aufgrund der überregionalen Aktivitäten und der Vernetzung des Amniyad [Nachrichtendienst der al Shabaab] sind – vor allem prominente – Zielpersonen auch bei einer innerstaatlichen Flucht gefährdet. Generell kann sich ein Mensch in Mogadischu vor al Shabaab verstecken. Dies kann beispielsweise für eine Person gelten, die vom eigenen Clan z. B. im Bezirk Jowhar für eine Rekrutierung bei al Shabaab vorgesehen gewesen wäre, und sich nach Mogadischu abgesetzt hat; nicht aber prominentere Personen, die vor al Shabaab auf der Flucht sind. Al Shabaab verfügt also generell über die Kapazitäten, menschliche Ziele – auch in Mogadischu – aufzuspüren. Unklar ist allerdings, für welche Personen al Shabaab bereit ist, diese Kapazitäten auch tatsächlich aufzuwenden. Außerdem unterliegt auch al Shabaab den Clandynamiken. Die Gruppe ist bei der Zielauswahl an gewisse Grenzen gebunden. Durch die Verbindungen mit unterschiedlichen Clans ergeben sich automatisch Beschränkungen. Zusätzlich möchte al Shabaab mit jedem begangenen Anschlag und mit jedem verübten Attentat auch ein entsprechendes Publikum erreichen. Üblicherweise verfolgt al Shabaab zielgerichtet jene Person, derer sie habhaft werden will. Sollte die betroffene Person nicht gefunden werden, könnte stattdessen ein Familienmitglied ins Visier genommen werden. Wurde al Shabaab der eigentlichen Zielperson habhaft bzw. hat sie diese ermordet, dann gibt es keinen Grund mehr, Familienangehörige zu bedrohen oder zu ermorden. Manchmal kann es zur Erpressung von Angehörigen kommen. Gleichzeitig finden sich etwa Clanälteste immer wieder zwischen den Fronten. So wurden im Dezember 2022 in Galmudug drei Älteste verhaftet, denen Kollaboration mit al Shabaab vorgeworfen wird. Sie geben hingegen an, durch die ihnen vorgeworfene Vereinbarung mit al Shabaab die Freilassung von 69 Geiseln bewirkt zu haben.

Der Islamische Staat in Somalia (ISIS) operiert nahezu ausschließlich in Puntland bzw. mit einigen Zellen in Mogadischu. Die Hauptziele des ISIS in Puntland sind Regierungsangestellte und Politiker, Soldaten, Mitarbeiter des Nachrichtendienstes, Polizisten und Angehörige von al Shabaab. In Mogadischu wendet sich der IS gegen Angehörige von al Shabaab sowie gegen jene Personen (v. a. Händler und Geschäftsleute), die sich weigern, Abgaben bzw. Schutzgeld zu entrichten (LIB, Subjekte gezielter Attentate durch andere terroristische Gruppen).

1.3.17. Bewegungsfreiheit und Relokation:

Gesetze schützen das Recht auf Bewegungsfreiheit im Land und das Recht zur Ausreise. Diese Rechte sind in einigen Landesteilen eingeschränkt – v. a. durch die Unsicherheit entlang der wichtigsten Straßen, durch Checkpoints und Straßenblockaden der jeweiligen Machthaber in bestimmten Gebieten aber auch durch Kampfhandlungen. IDPs sind in den Lagern in und um Mogadischu teils strikten Beschränkungen bezüglich ihrer Bewegungsfreiheit unterworfen. Davon abgesehen sind keine Einschränkungen für bestimmte Gruppen bekannt (LIB, Bewegungsfreiheit).

Überlandreisen: Al Shabaab bleibt auch weiterhin die größte Bedrohung hinsichtlich Bewegungsfreiheit entlang von Hauptversorgungsrouten in Süd-/Zentralsomalia. Die Gruppe verwendet entlang dieser Straßen Sprengsätze und legt Hinterhalte. Manchmal placiert al Shabaab Sprengsätze auch deswegen, um dadurch den Verkehr auf Straßen umzulenken, an welchen sie Checkpoints unterhält, wo Gebühren eingehoben werden. Reisende werden durch die zahlreichen, von unterschiedlichen Gruppen betriebenen Straßensperren in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Zudem sind sie dort Plünderung, Erpressung, Belästigung und Gewalt ausgesetzt. Neben den Straßensperren kann auch das Aufflammen bewaffneter Auseinandersetzungen ein Risiko darstellen. Gegen einige Städte unter Regierungskontrolle führt al Shabaab eine Blockade durch und greift manchmal Zivilisten an, welche die Blockade durchbrechen wollen. Einige Bezirke sind demnach auf Luftbrücken angewiesen.

Der durchschnittliche Somali kann eine Überlandreise antreten, muss aber mit einem gewissen Risiko rechnen, während das Risiko für Sicherheitskräfte oder Regierungsbedienstete höher ist. Trotzdem bereisen Zivilisten und Wirtschaftstreibende tagtäglich die Überlandverbindungen. Die Menschen reisen nicht uninformiert. Reisende und Fahrer versuchen ihre Reise nach neuesten sicherheitsrelevanten Informationen zu adaptieren. Überlandreisen werden bevorzugt mit Minibussen (9-Sitzer), auf Lastwägen oder aber zu Fuß unternommen. Es ist einfach, sich in Mogadischu eine solche Fahrt zu organisieren. Straßenzustand und Sicherheitsüberlegungen können den Zugang zu einzelnen Destinationen fallweise verunmöglichen. Generell können Menschen aber jedes Ziel in Süd-/Zentralsomalia erreichen. Um in kleinere Dörfer zu gelangen, muss meist in der nächstgelegenen Bezirkshauptstadt umgestiegen werden.

Al Shabaab kontrolliert den Ort Leego an der Straße zwischen Wanla Weyne und Buur Hakaba. Damit ist die Route von Mogadischu nach Baidoa für Zwecke der Regierung geschlossen; diese gilt auch für die Hauptversorgungsroute nach Baraawe. Die Verbindung von Mogadischu nach Belet Weyne ist hingegen offen, die Zahl an Reisebewegungen auf dieser Route ist zuletzt stark angestiegen. Der Teil von Buulo Barde nach Belet Weyne wurde gesäubert, und damit ist diese Hauptverbindungsstraße nach 13 Jahren wieder frei. Die Route von Belet Weyne nach Dhusamareb ist weitgehend sicher. Al Shabaab kontrolliert etwa auch an der Hauptversorgungsroute von Kismayo nach Dhobley. Al Shabaab verfügt an allen Ausfallstraßen aus Kismayo – sowohl in Richtung Jamaame, als auch in Richtung Dhobley oder Kolbiyow – über Checkpoints. Generell kann es an den Straßenverbindungen in der Region Lower Juba zu Übergriffen durch al Shabaab kommen. Dies gilt auch in der Region Gedo für die Verbindungen südlich von Garbahaarey. Dahingegen kommt es im Gebiet zwischen Doolow und Luuq nur selten zu Zwischenfällen. In Bakool kommt es entlang der Verbindungsstraßen zwischen Waajid, Yeed und Ceel Barde nur selten zu Zwischenfällen. Die Verbindungen von und nach Xudur unterliegen wiederkehrenden Angriffen von al Shabaab, Xudur ist von al Shabaab eingekreist. In Bay bzw. Lower Shabelle kann es an der Route von Baidoa nach Mogadischu zu Übergriffen durch unterschiedliche Akteure kommen. Al Shabaab hat Zugriff auf die gesamte Straße, sie kontrolliert die Verbindung von Baidoa nach Buur Hakaba und weiter nach Bali Doogle. Rund um Baidoa betreibt die Gruppe Straßensperren (LIB, Bewegungsfreiheit).

Frauen: Es ist nicht ungewöhnlich, alleine reisende ältere Frauen anzutreffen. Dahingegen wird vermieden, jüngere Frauen ohne Begleitung auf Reisen zu schicken – v. a. aufgrund der Gefahr sexueller Gewalt. Bezüglich dieser besteht für Frauen an Straßensperren ein erhöhtes Risiko (LIB, Bewegungsfreiheit).

1.3.18. Grundversorgung/Wirtschaft:

Mehrere Schocks haben die Geschwindigkeit der wirtschaftlichen Erholung des Landes unterminiert, darunter Überschwemmungen, eine Heuschreckenplage und die Covid-19-Pandemie. Die somalische Wirtschaft hat sich allerdings als resilienter erwiesen, als zuvor vermutet: Ursprünglich war für 2020 ein Rückgang des BIP um 2,5 % prognostiziert worden, tatsächlich sind es dann nur minus 0,4 % geworden, nach anderen Angaben sogar nur 0,1 %. Für 2021 war ein Wachstumvon 2,4 % prognostiziert, geworden sind es dann 2,9 %. Für das Jahr 2022 prognostiziert die Weltbank ein Wachstum von 3,2 % (LIB, Grundversorgung und Wirtschaft).

Eine der Triebfedern der wirtschaftlichen Erholung sind Remissen und anhaltende Investitionen. Ein resilienter Privatsektor und starke Remissen aus der Diaspora bleiben Grundlage für Optimismus. Zudem gibt es unentwickelte Möglichkeiten aufgrund der Urbanisierung, sowie auf den Gebieten neuer Technologien, Bildung und Gesundheit. Allerdings war das Wirtschaftswachstum schon in besseren Jahren für die meisten Somalis zu gering, als dass sich ihr Leben dadurch verbessern hätte können. Der Bevölkerungszuwachs nivelliert das Wirtschaftswachstum und hemmt die Reduzierung von Armut. Das Pro-Kopf-Einkommen beträgt 875 US-Dollar. Zusätzlich bleibt die somalische Wirtschaft im Allgemeinen weiterhin fragil. Dies hängt mit der schmalen Wirtschaftsbasis zusammen. Die Mehrheit der Bevölkerung ist von Landwirtschaft und Fischerei abhängig und dadurch externen und Umwelteinflüssen besonders ausgesetzt. Landwirtschaft, Handel, Kommunikation und mobile Geldtransferdienste tragen maßgeblich zum BIP bei; alleine die Viehwirtschaft macht rund 60 % des BIP und 80 % der Exporte aus (LIB, Grundversorgung und Wirtschaft)..

Staatshaushalt: Die Regierung ist stark abhängig von externer Hilfe. Ein Großteil der Regierungsausgaben wird durch externe Akteure bezahlt. Selbst für grundlegende Staatsausgaben ist das Land auf externe Geber angewiesen. Von den Bundesstaaten gelingt es neben Puntland nur Jubaland, ein relevantes Maß an Einnahmen selbst zu generieren.

Arbeitsmarkt: Es gibt kein nationales Mindesteinkommen. Ca. 95 % der Berufstätigen arbeiten im informellen Sektor. In einer von Jahrzehnten des Konflikts zerrütteten Gesellschaft hängen die Möglichkeiten des Einzelnen generell sehr stark von seinem eigenen und vom familiären Hintergrund sowie vom Ort ab. Das Unternehmertum spielt in der somalischen Wirtschaft eine entscheidende Rolle. Schätzungen zufolge werden alleine dadurch mehr als drei Viertel aller Arbeitsplätze geschaffen. Zum einen sind Arbeitsmöglichkeiten für Flüchtlinge und zurückkehrende Flüchtlinge in Süd-/Zentralsomalia limitiert sind, zum anderen fallen die besten Jobs oft an Angehörige der Diaspora – etwa wegen besserer Sprachkenntnisse. Am Arbeitsmarkt spielen Clanverbindungen eine Rolle. Gerade, um eine bessere Arbeit zu erhalten, ist man auf persönliche Beziehungen und das Netzwerk des Clans angewiesen. Dementsprechend schwer tun sich IDPs, wenn sie vor Ort über kein Netzwerk verfügen; meist sind sie ja nicht Mitglieder der lokalen Gemeinde. Männer, die vom Land in Städte ziehen, stehen oft vor der Inkompatibilität ihrer landwirtschaftlichen Kenntnisse mit den vor Ort am Arbeitsmarkt gegebenen Anforderungen. Die Zugezogenen tun sich schwer, eine geregelte Arbeit zu finden. Außerdem wird der Umstieg von Selbstständigkeit auf abhängige Hilfsarbeit oft als Demütigung und Erniedrigung gesehen. Darum müssen gerade IDPs aus ländlichen Gebieten in die Lage versetzt werden, neue Fähigkeiten zu erlernen, damit sie etwa am informellen Arbeitsmarkt oder als Kleinhändler ein Einkommen finden. Dies geschieht auch teilweise (LIB, Grundversorgung und Wirtschaft).

Generell finden Männer unter anderem auf Baustellen, beim Graben, Steinebrechen, Schuhputzen oder beim Khatverkauf eine Arbeit. Ein Großteil der Tätigkeiten ist sehr anstrengend und mitunter gefährlich. Außerdem gibt es Ausbeutung und Unterbezahlung. Die von der EU finanzierte Dalbile Youth Initiative wurde im August 2020 gestartet und läuft weiter fort. Mit diesem Programm wird das Leben von ca. 5.000 jungen Menschen verändert werden, durch Unternehmertum, soziale Unternehmungen, Management Training, Mentorship, Ausbildung und Geldern für Start-ups. Ein Programm von IOM unterstützt Jugendliche dabei, neue Fähigkeiten zu erwerben, die auf dem Arbeitsmarkt von Vorteil sind – etwa als Schneider, Installateur oder Elektriker. In Baidoa und Kismayo wurden 300 Jugendliche finanziell unterstützt, um bei lokalen Firmen Berufspraktika absolvieren zu können. Die meisten der Absolventen des Programms können danach ihren Lebensunterhalt mit eigenem Einkommen finanzieren (LIB, Grundversorgung und Wirtschaft).

Einkommen, Tätigkeiten: An Arbeitstätigkeiten genannt werden: Träger am Bau, Arbeiten am Hafen, Köhler, Hilfsarbeiter am Bau, Koranlehrer, Rickshaw-Fahrer, Transporteur mit einer Eselkarre, Transporteur mit einer Scheibtruhe, Arzt, Krankenschwester, Universitätslektor, angestellte und selbstständige Überlandfahrer, Fleischverkäufer, Magd, Hausangestellte, Wäscherin, Marktverkäuferin. In der Verwaltung sind nur wenige Stellen verfügbar. Besser stellt sich die Situation bei Polizei und Armee dar. Viele Menschen leben vom Kleinhandel oder von ihrer Arbeit in Restaurants oder Teehäusern. Allerdings ist eine Arbeit in der Gastwirtschaft mit niedrigem Ansehen verbunden. Die Mehrheitsbevölkerung ist derartige Tätigkeiten sowie jene auf Baustellen äußerst abgeneigt. Dort finden sich vielmehr marginalisierte Gruppen – z. B. IDPs – die oft auch als Tagelöhner arbeiten. Weibliche IDPs arbeiten als Mägde, Hausangestellte oder Wäscherinnen. Manche verkaufen Früchte auf Märkten. Durch den Niedergang der Landwirtschaft, der maßgeblich durch die Dürre verursacht worden ist, ist auch die Nachfrage nach Arbeitskräften in der Landwirtschaft gesunken bzw. haben sich die Löhne dort verringert. Ungelernten Arbeitskräften stehen Jobs wie etwa als Reinigungskraft, Träger oder im Zustelldienst, als Ziegelmacher, Wäscherin oder auchals Buchhalter zur Verfügung. Oft werden derartige Jobs aber von Arbeitgebern an eigene Verwandte vergeben. Zu finden sind Jobs meist über die eigene Verwandtschaft oder persönliche Netzwerke. Es gibt aber auch Websites zur Arbeitsvermittlung. Gesucht werden in Mogadischu Fachkräfte in den Bereichen Medizin (Ärzte, Krankenpfleger), Hotellerie, Wirtschaft und IT (LIB, Grundversorgung und Wirtschaft).

Tagelöhner und Bettler verdienen ca. 30 Dollar im Monat, Reinigungskräfte 60 Dollar. Bauarbeiter verdienen ca. 6-10 Dollar pro Tag. Koranlehrer und Lehrer an Privatschulen verdienen ca. 120 Dollar im Monat. Eine Krankenschwester verdient ca. 200-300 dollar im Monat. In Mogadischu verdienen Soldaten, Polizisten, Installatuere und Taxifahrer ca. 350 Dollar im Monat, Kellner und Köche 300 Dollar im Monat und Zimmermädchen 180 Dollar im Monat (LIB, Grundversorgung und Wirtschaft).

Arbeitslosenquote: Die Arbeitslosenquote ist landesweit hoch und kann nicht exakt angegeben werden. Die Erwerbsquote liegt ca. bei 58% bei Männern und bei 37% bei Frauen und 40 Prozent bei Jugendlichen, wobei es in unterschiedlichen Quellen auch hohe Schwankungsbreiten gibt. Die große Masse der werktätigen Männer und Frauen in Puntland und Süd-/Zentralsomalia arbeitet in Landwirtschaft, Viehzucht und Fischerei (65,6 %). Der nächstgrößere Anteil an Personen arbeitet als Dienstleister oder im Handel (13,5 %) (LIB, Grundversorgung und Wirtschaft).

Frauen: Der vor allem unter Männern vorherrschende Khat-Konsum, der im langjährigen Konflikt geforderte Blutzoll an der männlichen Bevölkerung und die hohe Scheidungsrate haben dazu geführt, dass Frauen immer mehr in ehemals männlich dominierte Wirtschaftsbereiche vorstoßen – etwa bei der Viehzucht, in der Landwirtschaft und im Handel. Frauen tragen nunmehr oft den Hauptteil zum Familieneinkommen bei. Gerade auch die Hungersnot von 2011 und die Dürre 2016/17 haben den Vorstoß von Frauen in männliche Domänen weiter vorangetrieben. In Süd-/Zentralsomalia und Puntland sind Frauen in 43 % der Haushalte mittlerweile die Hauptverdiener. Frauen spielen - außer bei den großen Betrieben - eine führende Rolle beim Unternehmertum. In Mogadischu und Bossaso sind ca. 45 % der formellen Unternehmen im Besitz von Frauen. Trotzdem bietet sich für vom Land in Städte ziehende Frauen meist nur eine Tätigkeit als z. B. Wäscherin an, da es diesen Frauen i. d. R. an Bildung und Berufsausbildung mangelt. Allerdings können sie z. B. auch als Kleinhändlerin tätig werden. Sie verkaufen Treibstoff, Milch, Fleisch, Früchte, Gemüse oder Khat auf Märkten oder auf der Straße. 80-90 % des derart betriebenen Handels wird von Frauen kontrolliert. Außerdem arbeiten Frauen in der Landwirtschaft oder sie verkaufen Kleidung und Essen. Andere arbeiten als Dienstmädchen, Straßenverkäuferin, Köchin, Schneiderin, Müllsammlerin oder aber auch auf Baustellen. Viele der hunderten Straßenreiniger in Mogadischu sind Witwen und die alleinigen Geldverdiener ihrer Familien. Das höchste hier verfügbare Einkommen beträgt 150 US-Dollar im Monat, manche bekommen auch Essensrationen. Die Stadtverwaltung versucht auch, männliche Reinigungskräfte anzuwerben, hat aber wenig Erfolg. Viele Männer weigern sich demnach, solche Arbeiten zu verrichten. Natürlich gibt es für Frauen auch weiterhin kulturelle Einschränkungen bezüglich der Berufsausübung, z. B. können sie nicht Taxifahrerin werden. Sie haben hinsichtlich Einkommensmöglichkeiten eine eingeschränkte Auswahl. Von Frauen abgehaltene Workshops (z. B. Schneiderei-, Henna- und Kochkurse) in Mogadischu tragen zur Verbesserung der Situation von Frauen bei. Allerdings ist auch bekannt, dass Frauen eine geringere Aussicht auf eine Vollzeitanstellung haben (LIB, Grundversorgung und Wirtschaft).

Lebensunterhalt: Die Mehrheit der Bevölkerung lebt von Subsistenzwirtschaft, sei es als Kleinhändler, kleine Viehzüchter oder Bauern. Zusätzlich stellen Remissen für viele Menschen und Familien ein Grundeinkommen dar. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist direkt oder indirekt von der Viehzucht abhängig. Die große Masse der werktätigen Männer und Frauen arbeitet in Landwirtschaft, Viehzucht und Fischerei (62,8 %). Der nächstgrößere Anteil an Personen arbeitet als Dienstleister oder im Handel (14,1 %). 6,9 % arbeiten in bildungsabhängigen Berufen (etwa im Gesundheitsbereich oder im Bildungssektor), 4,8 % als Handwerker, 4,7 % als Techniker, 4,1 % als Hilfsarbeiter und 2,3 % als Manager. Die Mehrheit der IDPs verdingt sich als Tagelöhner. Frauen gehen oft von Tür zu Tür und bieten ihre Dienste an, etwa als Wäscherinnen oder in der Hausarbeit. Männer gehen häufig auf Baustellen - die Städte werden ja wieder aufgebaut und daher braucht es auch viele Tagelöhner. Die begehrtesten Jobs sind jene auf Baustellen, wo der Verdienst höher ist als in anderen Bereichen. Es gibt auch viele Kleinstunternehmer beiderlei Geschlechts. Dabei bekommen die Menschen nicht immer einen Job, sie arbeiten z. B. nur 2-3 Tage in der Woche. Daneben gibt es humanitäre Hilfe, aber damit sind die Menschen nicht ausreichend versorgt.

Insgesamt ist das traditionelle Recht (Xeer) ein soziales Sicherungsnetz, eine Art der Sozial- und Unfall- bzw. Haftpflichtversicherung. Die Mitglieder des Qabiil (diya-zahlende Gruppe; auch Jilib) helfen sich bei internen Zahlungen – z. B. bei Krankenkosten – und insbesondere bei Zahlungen gegenüber Außenstehenden aus. Neben der Kernfamilie scheint der Jilib [Anm.: untere Ebene im Clansystem] maßgeblich für die Abdeckung von Notfällen verantwortlich zu sein. Wenn eine Person Unterstützung braucht, dann wendet sie sich an den Jilib oder – je nach Ausmaß – an untere Ebenen (z. B. Großfamilie). Erweiterte Familie und Clan stellen also das grundlegende soziale Sicherheitsnetz dar. Aufgrund des Fehlens eines formellen Bankensystems ist die Schulden-Kredit-Beziehung (debtcredit relationship) ein wichtiges Merkmal der somalischen Wirtschaft und Gesellschaft. Dabei spielen Vertrauen, persönliche und Clanverbindungen eine wichtige Rolle – und natürlich auch der ökonomische Hintergrund. Es ist durchaus üblich, dass Kleinhändler und Greißler anschreiben lassen. Zusätzlich ist es 2019 gelungen, die Gargaara Company Ltd. Zu etablieren. Über diese Institution werden Kredite an Mikro-, Klein- und mittlere Unternehmen vergeben. Gargaara spielt auch beim Abfedern von Auswirkungen der Covid-19-Pandemie eine Rolle.

Die Lebenshaltungskosten in Mogadischu liegen bei mindestens 200 US-Dollar im Monat, für mittlere Standards jedenfalls bei 300 US-Dollar, wobei die Lebenshaltungskosten zuletzt erheblich gestiegen sind (LIB, Grundversorgung und Wirtschaft).

Remissen: Im Jahr 2020 wurden insgesamt 2,8 Milliarden US-Dollar (2019: 2,3 Milliarden) nach Somalia zurück überwiesen. Davon flossen 1,6 Milliarden an Privathaushalte (2019: 1,3 Milliarden). Wie erwähnt, sind für viele Haushalte Remissen aus der Diaspora eine unverzichtbare Einnahmequelle bzw. ermöglichen sie es vielen somalischen Staatsbürgern, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Diese Remissen, die bis zu 40 % eines durchschnittlichen Haushaltseinkommens ausmachen, tragen also wesentlich zum sozialen Sicherungsnetz bei und fördern die Resilienz der Haushalte. Städtische Haushalte erhalten viel eher regelmäßige monatliche Remissen, dort sind es 72 %. Die durchschnittliche Höhe der monatlichen Überweisungen beträgt 229 US-Dollar. IDPs bekommen verhältnismäßig weniger oft Remissen.

Auch die Bevölkerung in Südsomalia – und hier v. a. im ländlichen Raum – empfängt verhältnismäßig weniger Geld als jene in Somaliland oder Puntland. Ein Grund dafür ist, dass dort ein höherer Anteil marginalisierter Gruppen und ethnischer Minderheiten beheimatet ist. Mindestens 65 % der Haushalte, welche Remissen beziehen, erhalten diese regelmäßig (monatlich), der Rest erhält sie anlassbezogen oder im Krisenfall. Remissen können folglich Fluktuationen im Einkommen bzw. gestiegene Ausgaben ausgleichen. Dies ist gerade in Zeiten einer humanitären Krise - etwa jener von 2017 - wichtig. Durch Remissen können Haushalte Quantität und Qualität der für den Haushalt besorgten Lebensmittel verbessern, und ein sehr großer Teil der Überweisungen wird auch für Lebensmittel aufgewendet. Zusätzlich wird in Somalia in Zeiten der Krise auch geteilt. Menschen bitten z. B. andere Personen, von welchen sie wissen, dass diese Remissen erhalten, um Hilfe (LIB, Grundversorgung und Wirtschaft).

1.3.19. Grundversorgung und humanitäre Lage:

Die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist in weiten Landesteilen nicht gewährleistet. Die Ausmaße der historische Dürre sowie der anhaltende Konflikt mit al Shabaab verschärfen dieses Problem. Öffentliche Dienste gibt es kaum, meist finden sich Angebote wie Wasser- und Stromversorgung sowie Bildung und Gesundheitsdienste bei privaten Dienstleistern. Für viele Menschen sind derartige Dienste nur schwer oder gar nicht zugänglich. Der Gouverneur der somalischen Zentralbank erklärt, dass es für die Zurverfügungstellung eines finanziellen Sicherheitsnetzes für Bedürftige seitens der Regierung keinerlei budgetären Spielraum gibt (LIB, Grundversorgung und humanitäre Lage).

Armut: Weite Teile der Bevölkerung in Somalia leiden unter Armut und Ernährungsunsicherheit. Die Weltbank schätzt, dass 71 % der Bevölkerung unter der Armutsgrenze von 1,90 US-Dollar pro Tag sowie 10 % knapp darüber leben. Besonders stark und weit verbreitet ist Armut in ländlichen Gebieten und in den Siedlungen von Binnenvertriebenen. Es gibt viele IDPs und Kinder, die auf der Straße leben und arbeiten. Generell sind somalische Haushalte aufgrund von Naturkatastrophen, Epidemien, Verletzung oder Tod für Notsituationen anfällig. Mangelnde Bildung, übermäßige Abhängigkeit von landwirtschaftlichem Einkommen, hohe Arbeitslosigkeit, geringer Wohlstand und große Haushaltsgrößen tragen weiter dazu bei. Zwei Drittel der Bevölkerung leben im ländlichen Raum. Sie sind absolut vom Regen abhängig. In den vergangenen Jahren haben Frequenz und Dauer von Dürren zugenommen. Deswegen wurde auch die Kapazität der Menschen, derartigen Katastrophen zu begegnen, reduziert. Mit jeder Dürre wurden ihre Vermögenswerte reduziert: Tiere starben oder wurden zu niedrigen Preisen verkauft, Ernten blieben aus; es fehlte das Geld, um neues Saatgut anzuschaffen. Die Zahl der Menschen, die in Somalia humanitäre Hilfe benötigen, ist im Laufe der Jahre stetig gestiegen, von 5,2 Millionen im Jahr 2020 auf 5,9 Millionen im Jahr 2021; von 7,7 Millionen im Jahr 2022 auf derzeit 8,25 Millionen Menschen im Jahr 2023 (LIB, Grundversorgung und humanitäre Lage).

Dürre, Regenfälle, Überschwemmungen: Die Gu-Regenzeit (April-Juni) 2023 brachte unterschiedliche Erträge. In Nordsomalia sowie im südlichen Gedo und in Lower Juba gab es durchschnittliche bis überdurchschnittliche Niederschläge, in den zentralen Regionen nahezu durchschnittliche bis durchschnittliche Niederschläge. Damit wurde das Ende der Dürrebedingungen in den meisten Teilen Somalias signalisiert. Die Dürre hatte mit fünf ausgefallene Regenzeiten zu einer Dezimierung von Viehbeständen und Ernten geführt, das Land stand am Rand einer Hungersnot. Die Dürre hat zum Verlust von Menschenleben und von wichtigen Nahrungs- und Einkommensquellen und damit zu schweren Schäden an der Lebensgrundlage geführt. Viele ländliche Haushalte haben eine Erosion ihrer Lebensgrundlagen und ihrer Bewältigungskapazitäten erlebt und sahen sich mit wachsenden Lücken in der Nahrungsmittelversorgung konfrontiert. Diese Faktoren haben zum Anstieg der Zahl an Menschen geführt, die aus ländlichen Gebieten in IDP-Lager geflüchtet sind. Von der Dürre waren fast 50 % der Bevölkerung betroffen.

Schon im Rahmen der Gu-Regenzeit kam es zu Überschwemmungen in Hiiraan, Middle Shabelle und Lower Shabelle. Schwere Sturzfluten verursachten in Teilen von Gedo, Bay und Bakool sowie in Teilen der nordwestlichen Regionen schwere Schäden. Menschen mussten flüchten, es kam zu erheblichen Ernteverlusten sowie Einkommensverlusten aus der landwirtschaftlichen Beschäftigung. In Belet Weyne wurden 97 % der Wasserquellen zerstört oder verseucht. Bereits im November 2022 wurde festgehalten, dass es Jahre dauern wird, bevor sich Somalia von der Dürre erholt haben wird. So werden etwa pastoralistische Haushalte in Nord- und Zentralsomalia werden mehrere Saisonen brauchen, bis sie sich von den Verlusten der jüngeren Vergangenheit erholt haben. Doch nun folgt auf die o.g. schlimmste Dürre seit 40 Jahren das Wetterphänomen El Niño, das ungewöhnlich starke Regenfälle, Gewitter und extreme Überschwemmungen mit sich bringt. El Niño wird von einem positiven Dipol im Indischen Ozean begleitet. Somalia wird von einer Flutkatastrophe heimgesucht. Schon ein Monat nach Beginn der Deyr-Regenzeit (Oktober bis Dezember) ist Somalia 2023 mit einer Überschwemmungskatastrophe konfrontiert). Die Regenmenge und –intensität war in den Regionen Hiiraan, Bakool, Bay und Gedo sowie im Bezirk Saakow (Middle Juba) schon im Oktober 2023 außergewöhnlich hoch. In mehreren Gebieten fielen innerhalb von sieben Tagen bis zu 300 mm Niederschlag – weit mehr, als üblicherweise in der gesamten Regenzeit. Sowohl der Juba als auch der Shabelle fühtren Hochwasser. Im November 2023 waren von den Überschwemmungen 1,69 Millionen Menschen betroffen, 654.000 mussten fliehen, 40 Menschen kamen zu Tode und knapp 6.000 Häuser waren beschädigt oder zerstört. In Belet Weyne waren 90 % der Stadt überschwemmt. Ackerland, Vieh und Infrastruktur (etwa die Juba-Brücke von Buurdhuubo und eine Brücke bei Baardheere) wurden vernichtet. Schätzungen zufolge könnten schlussendlich 4,3 Millionen Menschen Hunger leiden, nicht zuletzt, weil 1,5 Millionen Hektar Ackerland und damit auch die landwirtschaftliche Produktion betroffen sein werden, nicht zuletzt auch aufgrund der Zerstörung von Pumpen, Kanälen und Bewässerungsrohren.

Humanitäre Organisationen, Behörden und lokale Gemeinschaften haben die Hilfe für die betroffenen Menschen verstärkt. Bis Ende November 2023 konnten bereits 820.000 Betroffene erreicht werden. Auch z.B. CARE hat auf die Katastrophe reagiert und ein Programm zur finanziellen Unterstützung von 198.000 Personen ausgerollt.

Überschwemmungen und Dürre stellen für Somalia kein neues Phänomen dar. Immer spielt Wasser eine Rolle: Entweder gibt es zu viel davon, oder zu wenig. Derartige Katastrophen ereignen sich seit Jahrzehnten. Im Zuge der Dürre im Jahr 1973 in Nordsomalia wurden mehr als 100.000 Familien nach Lower Shabelle und in die Juba-Regionen übersiedelt. Bei der Hungersnot in den Jahren 1991-1992 starben 300.000 Menschen, im Jahr 2011 mehr als 260.000 – die Hälfte davon Kinder unter fünf Jahren. Somalia ist hinsichtlich des Klimawandels das am zweitstärksten vulnerable Land der Welt und ist dementsprechend als Frontstaat zu bezeichnen. Das Land hat in Ostafrika bislang den größten Temperaturanstieg zu verzeichnen. Seit 1990 war das Land mehr als 30 klimabedingten Gefahren ausgesetzt, darunter Dürren und Überschwemmungen. Das ist eine Verdreifachung gegenüber dem Zeitraum zwischen 1970 und 1990 (LIB, Grundversorgung und humanitäre Lage).

Landwirtschaft, Nahrungsmittel, Preise: Die Getreideproduktion der Gu-Saison 2023 lag in Südsomalia um 34 % unter dem langjährigen Durchschnitt, im Nordwesten sogar um 60%. Das niedrige Produktionsniveau ist das Ergebnis einer Kombination von Faktoren, darunter unterdurchschnittliche Niederschläge, Unsicherheit, Überschwemmungen, Schädlinge und ein Mangel an landwirtschaftlichen Betriebsmitteln. Der Somalische Shilling ist im Allgemeinen stabil. Die Inflation liegt im Jahr 2023 bei 4,2 %, 2024 bei 4,0 %. Seit Juli 2023 sind die Preise für Mais und Sorghum aufgrund des gestiegenen Angebots aus der Gu-Ernte 2023 auf ein Niveau unter dem Vorjahresniveau gesunken und liegen derzeit nahezu im Durchschnitt. Die Preise für importierte Lebensmittel haben sich im vergangenen Jahr auf den meisten Märkten aufgrund des ausreichenden Angebots stabilisiert oder sind gesunken, sie bleiben über dem Fünfjahresdurchschnitt. Somalia gehört weltweit zu den Ländern mit der größten Rate an Menschen, die keinen Zugang zu sauberem Wasser haben. Ca 3,9 bis acht Millionen Menschen, überwiegend Kinder, benötigen Unterstützung im Hygienebereich und bei der Wasserversorgung. Die mäßigen bis starken Gu-Regenfälle (April–Juni) 2023 haben auch den Zugang zu Wasser und Weideland verbessert und den Menschen eine gewisse Erleichterung gebracht. Die Wasserpreise sind teils um etwa 40 % gesunken. Bereits mit Stand Feber 2023 hatten die Pegelstände in den Flüssen Juba und Shabelle wieder annähernd Normalniveau erreicht. Mit der Gu-Regenzeit 2023 hat sich der Zustand des Weidelandes deutlich verbessert. Spätestens für Ende 2023 wird sich das Weideland in ganz Somalia erholt haben. Die Dürre hat mindestens ein Drittel des Viehbestands in Somalia vernichtet. Seit Mitte 2021 sind rund 3,8 Millionen Stück Vieh umgekommen. Die Viehwirtschaft hat bis dahin maßgeblich zur Versorgung der Familien – mit Milch und Fleisch – beigetragen.

Zudem finden sich in der Viehwirtschaft 90 % der informellen Beschäftigten und Vieh bildet 90 % der Exporte des Landes. Die Dürre hatte also akute Auswirkungen auf die Lebensgrundlage von Haushalten. In den meisten Fällen kam es zu einem vollständigen oder nahezu vollständigen Verlust der Viehbestände und zu erheblichen Unterbrechungen landwirtschaftlicher Aktivitäten. 40 % der im Rahmen einer Studie befragten Haushalte verfügten vor der Dürre über ein landwirtschaftliches Einkommen. Danach waren es 12 %. Auch der Verkauf von Produktionsgütern wie Vieh ist überall deutlich zurückgegangen, von 16 % auf 3 % (LIB, Grundversorgung und humanitäre Lage).

Fluchtbewegungen aufgrund von Dürre: Im Jahr 2022 sind in Süd-/Zentralsomalia 1,179.000 Menschen aufgrund der Dürre vertrieben worden. 2023 waren es Stand November 528.000; die meisten diesbezüglich Vertriebenen stammen aus den Regionen Bay (152.000), Lower Shabelle (109.000), Gedo (90.000), Bakool (62.000), Middle Juba (29.000), Bari (24.000) und Lower Juba (19.000). Die wenigsten Menschen flohen aus Woqooyi Galbeed (Somaliland; 0), Benadir (900), Nugaal (1.000), Galgaduud (2.000) und Sanaag, Sool und Togdheer (Somaliland, je 4.000) sowie Awdal (Somaliland; 6.000) (LIB, Grundversorgung und humanitäre Lage).

Hunger, Versorgungslage / IPC: [IPC = Integrated Phase Classification for Food Security; 1-moderat bis 5-Hungersnot]. Mit Stand September 2023 befanden sich ca. 2,8 Millionen Menschen in IPC-Stufe 3 (17 % der Bevölkerung); ca. 920.000 in Stufe 4 (5 %) und keine in Stufe 5 (Hungersnot). Zusammen mit den rund 5,6 Millionen in IPC 2 ist die Hälfte der Gesamtbevölkerung von 17 Millionen Menschen Ernährungsunsicherheit ausgesetzt. Knapp 1,8 Millionen Kinder leiden an Unterernährung. Humanitäre Hilfe verhindert in vielen Bereichen eine Verschlechterung der Ernährungssicherheit und der Ernährungslage. Im Zeitraum August-September 2023 besonders betroffen war das Küstengebiet von Zentralsomalia sowie Laascaanood (IPC 4). Die meisten pastoralen und agropastoralen Lebensräume [livelihoods] in den nördlichen und zentralen Regionen; die agro-pastoralen in ganz Somalia; sowie die Flusslebensräume in Hiiraan, Middle Shabelle, Lower Shabelle und Gedo werden auf Krisenniveau eingestuft (IPC 3); dies gilt auch für die meisten der wichtigsten IDP-Lager im Land. Die meisten städtischen Bevölkerungsgruppen stehen demnach unter Stress (IPC 2). Die Stadtbevölkerung ist oft von IPC 3 oder IPC 4 anteilig weniger betroffen als Menschen in ländlichen Gebieten. Generell finden sich unter IDPs mehr Personen, die unter Ernährungsunsicherheit sowie an Mangel- oder Unterernährung leiden.

Für das Jahr 2022 gb es ca. mit ca. 43.000 Hungertote – die Hälfte davon Kinder unter fünf Jahren. Am stärksten betroffen waren die Regionen Bay, Bakool und Benadir. V.a. Bay und die dortige Hauptstadt Baidoa waren massiv betroffen. Zu den 500.000 Einwohnern der Stadt kamen 600.000 Menschen aus dem Umland. Für das Jahr 2023 wurde bereits im März eine Übersterblichkeit von 18.000-34.000 prognostiziert eine andere Quelle schätzt die Zahl an Menschen, die im ersten Halbjahr 2023 aufgrund der Dürre gestorben sind, auf 135 pro Tag. Die Situation hinsichtlich akuter Unterernährung hat sich im Vergleich zu 2022 im Allgemeinen verbessert. Für den Zeitraum August 2023 bis Juli 2024 wird die Zahl an Kindern unter 5 Jahren, die an akuter Unterernährung leiden, auf ca. 1,5 Millionen geschätzt; davon 330.630 mit schwerer Unterernährung. Auch bei IDPs ist die Quote an Unterernährten zurückgegangen – namentlich in Mogadischu, Baidoa und in Hiiraan. Von Gu 2022 bis Gu 2023 konnten die Zahl von an akuter Unterernährung betroffenen Kindern unter fünf Jahren um 19 % gesenkt werden, jene der Kinder mit schwerer Unterernährung um 36 % (LIB, Grundversorgung und humanitäre Lage).

Humanitäre Hilfe: In Somalia ist die längstdienende humanitäre Mission tätig, jährlich werden Milliarden US-Dollar ausgegeben. Somalia ist auch der am besten finanzierte sog. Humanitarian Plan weltweit; um eine Hungersnot zu vermeiden, umfasste das Engagement im Jahr 2022 2,27 Milliarden US-Dollar, für das Jahr 2023 sind 2,6 Milliarden vorgesehen. Davon waren aber laut Angaben der UN bis November 2023 erst 42 % finanziert. Mit Stand Oktober 2023 waren in Somalia in 71 von 74 Bezirken 248 humanitäre Organisationen aktiv, 115 davon befassten sich in 69 Bezirken mit Ernährungssicherheit. In Zusammenarbeit mit Partnern konnte UNICEF in den ersten zehn Monaten des Jahres 2023 in 70 von 74 Bezirken 517.090 Kinder mit schwerer akuter Unterernährung mit lebensrettender Behandlung versorgen.

Humanitäre Hilfe spielt weiterhin eine entscheidende Rolle bei der Verbesserung der Lage hinsichtlich Ernährungsunsicherheit und in vielen anderen Bereichen. Nahrungsmittel- und Bargeldhilfe erreichten im Zeitraum Jänner-März 2023 durchschnittlich 4,4 Millionen Menschen pro Monat. Diese Zahl ging im Zeitraum April-Juni 2023 auf 3,6 Millionen Menschen pro Monat zurück. Aufgrund von Finanzierungsengpässen musste die humanitäre Hilfe eingeschränkt werden. Bis zum Geldtransferprogramm Baxnaano gab es kein Programm für ein soziales Sicherheitsnetz. Baxnaano ist das erste von der Bundesregierung geleitete Geldtransferprogramm, es wird vom WFP unterstützt und von der Weltbank finanziert. Stand Juni 2023 wurden über dieses Programm monatlich bedingungslose Geldtransfers an 200.000 arme und gefährdete Haushalte mit Kindern bereitgestellt und damit ca. 1,2 Millionen Menschen erreicht. Humanitäre Hilfe erfolgt z.B. durch den Danish Refugee Council. Dieser stellte etwa in Dayniile (Mogadischu) hunderten bedürftigen Haushalten von der EU finanziertes Geld über mobile Lösungen zu. In Galkacyo hat der DRC mit EU-Geldern Brunnen, Tanks und Wasserleitungen für 800 Haushalte gebaut. Ein anderes Beispiel ist jenes Projekt von der FAO und von USAID, mit welchem von der Dürre betroffene Menschen mit Bargeld und Beiträgen zum Lebensunterhalt unterstützt werden, um einen besseren Zugang zu Nahrung und anderen Grundbedürfnissen gewährleisten zu können. In Bossaso stellte die FAO z.B. 400 gefährdeten Fischerfamilien sechs Monate lang Bargeld und Fischverarbeitungsausrüstung zur Verfügung, damit sie ihre dringendsten Bedürfnisse erfüllen und sich besser im Fischereisektor engagieren können. Diese Art der Unterstützung geht mit Schulungen zum effizienten Umgang mit begrenzten Ressourcen einher. Zusätzlich zu den Ausrüstungen erhielten die Teilnehmer sechs Monate lang Geldtransfers in Höhe von 75 US-Dollar pro Monat. Andere Hilfe leistete wiederum UNHCR in Galkacyo, wo 40 Betreiber kleiner Geschäfte, die einem Straßenbau weichen mussten, von UNHCR mit je 1.000 US-Dollar kompensiert worden sind. So konnten sie sich an einem neuen Ort ihr Geschäft wieder aufbauen.

Die Sicherheitslage beeinträchtigt die Arbeit humanitärer Kräfte. Ca. 740.000 Menschen in von nicht-staatlichen Gruppen kontrollierten Gebieten können nur schwerlich an humanitäre Hilfe gelangen. Ohne humanitäre Hilfe würden mehr Menschen an Hunger sterben. Aber auch die humanitären Organisationen stoßen auf Grenzen und haben nicht genügend Ressourcen, um allen zu helfen. Selbst in Mogadischu haben nicht alle IDPs Zugang zu Nahrungsmittelhilfe. Anfang 2023 konnten fast 90 % der IDPs in Mogadischu, Garoowe, Hargeysa und Burco ihre Grundbedürfnisse nicht abdecken. Menschen werden mitunter aufgrund ihrer Clanzugehörigkeit von Hilfe ausgeschlossen. Zudem ist in kurzer Zeit sehr viel Geld mit wenig Kontrolle nach Somalia geflossen, einiges davon kommt nicht bei den Bedürftigen an. Es kommt zu Diebstahl und Fehlleitung humanitärer Güter sowie zur Besteuerung humanitärer Hilfe. In Somalia sind es die mächtigen Gruppen, die den Löwenanteil erhalten: an Jobs, Ressourcen, Verträgen, Remissen und humanitärer Hilfe. Schwache Gruppen erhalten wenig bis gar nichts. Bei der Hungersnot 1991 waren die meisten Hungertoten entweder Digil-Mirifle oder Bantu. Dies gilt auch für die Hungersnot im Jahr 2011. Ein Grund dafür ist, dass humanitäre Hilfe von mächtigeren Clans vereinnahmt wird. Weitere Gründe sind, dass diese Gruppen traditionell über weniger Ressourcen verfügen, weniger Remissen erhalten und Systeme gegenseitiger Unterstützung bei ihnen nicht so gut ausgebaut sind. Al Shabaab hat sich diese Benachteiligung zunutze gemacht (LIB, Grundversorgung und humanitäre Lage).

Gesellschaftliche Unterstützung: Bis auf das o.g. Programm Baxnaano gibt es kein öffentliches Wohlfahrtssystem, keinen sozialen Wohnraum und keine Sozialhilfe. Wohnungs- und Arbeitsmarkt sowie Armutsminderung liegen im privaten Sektor. Das eigentliche soziale Sicherungsnetz ist die erweiterte Familie, der Subclan oder der Clan. Sie bieten oftmals zumindest einen rudimentären Schutz. Ein Vorteil der somalischen Sozialstruktur ist die Verpflichtung zur Hilfe. Wenn eine Person des eigenen Clans Unterstützung braucht, dann ist die Gewährung derselben nicht verhandelbar. Vorrangig stellt die patrilineare (väterliche) Abstammungsgemeinschaft die Solidaritäts- und Schutzgruppe. Aber daneben gibt es auch die Patri-(Vater)-Linie der Mutter und zusätzlich möglicherweise noch angeheiratete Verwandtschaft. Alle drei Linien bilden i.d.R. - wie es ein Experte formuliert - „einen ganz beachtlichen Verwandtschaftskosmos“. Und in diesem Netzwerk kann Hilfe und Solidarität gesucht werden, es besteht diesbezüglich eine moralische Pflicht. Allerdings müssen verwandtschaftliche Beziehungen auch gepflegt werden. Entscheidend ist also nicht unbedingt die Quantität an Verwandten, sondern die Qualität der Beziehungen. Wer als schwacher Akteur in diesem Netzwerk positioniert ist, der wird schlechter behandelt als die stark Positionierten. Diese Art des „Fundraising“ (Qaraan) erfolgt in Somalia und in der Diaspora als nicht nur, um sogenanntes Blutgeld im Fall eines Mordes zu sammeln, sondern auch, um andere Bedürfnisse eines Clanmitglieds abzudecken. Darunter fallen auch Probleme bei der Nahrungsmittelversorgung. In Somalia sind soziale Kontakte im Fall von Dürren und anderen Krisen seit Langem eine Quelle der Widerstandsfähigkeit, ein effizienter Teil der Bewältigungsstrategie, die zum Überleben von Haushalten beigetragen hat. Die bei einer Studie am häufigsten angegebenen Unterstützungsquellen sind Familie, Freunde und Nachbarn (24 %), gefolgt von internationalen (15 %) und lokalen NGOs (8 %). Soziale Kontakte haben auch während der aktuellen Dürre eine entscheidende Rolle gespielt. Ohne die gegenseitige Unterstützung - ohne Teilen – wäre die Katastrophe noch viel größer geworden. Die Haushalte haben sich gegenseitig auf vielfältige Weise unterstützt, auf materielle und immaterielle Art, darunter mit Bargeld, Lebensmitteln, Informationen und emotionaler Unterstützung. Oft teilen diejenigen mit mehr sozialen Verbindungen und besserem Zugang zu Ressourcen mit weniger gut vernetzten Haushalten. Der Zusammenhalt erstreckte sich mitunter auch auf externe Hilfe – etwa Bargeldhilfen durch humanitäre Organisationen. Lokale Führer haben Gemeinschaftstöpfe eingerichte, in welche die Haushalte Teile der erhaltenen Hilfe einzahlen. So wurde einerseits sichergestellt, dass vulnerable Haushalte nicht leer ausgehen, und andererseits wurden derart Spannungen zwischen Haushalten, die Hilfe erhalten, und solchen, die keine Hilfe erhalten, abgemildert. Zu den gefährdeten Gemeindemitgliedern gehören in diesem Zusammenhang z.B. ältere und/oder behinderte Menschen, die ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten können, Waisen und Witwen. NRC berichtet beispielsweise von einer IDP-Familie, die nach Baidoa geflüchtet ist. Dort siedelte sie sich gezielt in einem Lager an, wohin schon vorher Menschen aus der eigenen Community geflüchtet waren. Ein Nachbar ist in diesem Kontext manchmal ein Dorfbewohner von zu Hause, ein entfernter Verwandter. So entsteht ein Unterstützungssystem. Bei einem anderen Beispiel wird hinsichtlich der Überschwemmungen im Rahmen der Deyr-Regenzeit 2023 berichtet, dass die meisten Familien aus dem überfluteten Horseed-1-IDP-Lager in Baidoa bei Verwandten untergekommen sind.

Neben Familie und Clan helfen hierbei auch andere soziale Verbindungen – seien es Freunde, geschlechtsspezifische oder Jugendgruppen, Bekannte, Berufsgruppen oder religiöse Bünde. Meist ist die Unterstützung wechselseitig. Über diese sozialen Netzwerke können auch Verbindungen zwischen Gemeinschaften und Instanzen aufgebaut werden, welche Nahrungsmittel, medizinische Versorgung oder andere Formen von Unterstützung bieten. Auch für IDPs stellen solche Netzwerke die Hauptinformationsquelle dar, wo sie z.B. Unterkunft und Nahrung finden können. Soziale Unterstützung erfolgt auch über islamische Wohltätigkeitsorganisationen und NGOs. Generell ist es auch üblich, Kinder bei engen oder fernen Verwandten unterzubringen, wenn eine Familie diese selbst nicht erhalten kann. 22 % der bei einer Studie befragten IDP-Familien haben Kinder bei Verwandten, 28 % bei institutionellen Pflegeeinrichtungen (7 %) untergebracht. Weitere 28 % schicken Kinder zum Essen zu Nachbarn.

In der somalischen Gesellschaft - auch bei den Bantu - ist die Tradition des Austauschs von Geschenken tief verwurzelt. Menschen, die selbst wenig haben, teilen ihre wenigen Habseligkeiten und helfen anderen beim Überleben. Es herrscht eine starke Solidarität Ein Gemeindeführer eines Dorfes bei Garoowe erklärt beispielsweise, dass Menschen ihre Verwandten nicht zurücklassen würden. Es wird demnach geteilt, so lange es etwas zu teilen gibt. Auch Remissen werden mitunter mit Nachbarn, Verwandten und Freunden geteilt. Oft borgen Haushalte also Geld oder Waren von lokalen Betrieben. Selbst Kleinhändlerinnen in IDPLagern, die ihre Ware selbst nur auf Kredit bei einem größeren Geschäft angeschafft haben, lassen anschreiben und streichen manchmal die Schulden von noch ärmeren Menschen. Eine Hilfestellung bieten Remissen aus dem Ausland. Nach Somalia fließen jährlich mehr als 1,7 Milliarden US-Dollar. Remissen spielen damit eine entscheidende Rolle bei der Verringerung der Armut. Sie steuerten in den Jahren 2021 und 2022 jeweils 27,3 % zum BIP bei. So kommt weit mehr Geld ins Land als durch Entwicklungshilfe. Eine Erhebung im November und Dezember 2020 hat gezeigt, dass 22 % der städtischen, 12 % der ländlichen und 6 % der IDP-Haushalte Remissen beziehen. Diese stellen einen bedeutenden Anteil des Budgets von Privathaushalten dar, v.a. für die unteren 40%, wo Remissen 54% aller Haushaltsausgaben decken. Laut einer Studie von IOM aus dem Jahr 2021 sind 67 % der Empfänger von Remissen arbeitslos. Für viele Menschen sind die Überweisungen ein Rettungsanker. Überweisungen werden hauptsächlich für allgemeine Haushaltsausgaben (z.B. Nahrung, Wasser) sowie Bildung und Gesundheit verwendet. Minderheiten mangelt es oft am Zugang zu Remissen. In einem Artikel berichtet ein Geschäftsmann und zehnfacher Vater, der seinen Betrieb zusperren musste, dass er von seiner Schwester in Saudi-Arabien mit 200 US-Dollar pro Monat unterstützt wird. Ein anderer Verkäufer, dem es wegen der Dürre ähnlich ergangen ist, erhält pro Monat 150 US-Dollar von einem Onkel in Südafrika, der auch noch für zwei seiner Brüder die Semestergebühren an der Universität in Mogadischu finanziert. Ein weiterer Verkäufer hat sich einerseits an einen Onkel in Großbritannien gewandt und ist andererseits mit seiner Familie zurück zu seinen Eltern gezogen, um sich die 20 US-Dollar Miete zu sparen. Vom Onkel in Großbritannien erhält er 250 US-Dollar im Monat.

Gegenwärtig sind die Systeme sozialer Absicherung allerdings deutlich überdehnt. Diese Überlastung zeigt sich auch an der hohen Anzahl an IDPs. Auch generell sind manche Clans nicht mehr in der Lage, der Armut ihrer Mitglieder entsprechend zu begegnen. Wenn Menschen in weit von ihrer eigentlichen Clanheimat entfernte Gebiete fliehen, verlieren sie zunehmend an Rückhalt und setzen sich größeren Risiken aus. Bei einer Studie haben 56 % der befragten Haushalte angegeben, über keinerlei Unterstützungsquellen zu verfügen. 85 % gaben an, dass sie es nicht geschafft haben, irgendwo einen Kredit zu bekommen. Ein Viehzüchter aus Awdal berichtet beispielsweise, dass er aufgrund des Verlusts von Vieh bei einem lokalen Geschäft auf Kredit eingekauft hat. Als seine Schulden 1.000 US-Dollar erreicht haben, wurden ihm weitere Einkäufe versagt; seitdem leben er und seine Familie von dem, was Verwandte ihnen geben (LIB, Grundversorgung und humanitäre Lage).

1.3.20. Rückkehrspezifische Grundversorgung:

Einkommen: Somalis aus der Diaspora - aus Europa oder den USA - die freiwillig zurückkehren, nehmen oft keine Hilfspakete in Anspruch, sondern kehren einfach zurück. Viele der Rückkehrer aus Kenia und dem Jemen gehen in die großen Städte Kismayo, Mogadischu und Baidoa, weil sie sich dort bessere ökonomische Möglichkeiten erwarten. Der UNHCR hat für eine repräsentative Studie von 2018 bis Dezember 2021 fast 2.900 Haushalte mit mehr als 17.000 Angehörigen – darunter vor allem unterstützte Rückkehrer aus Kenia, Äthiopien und dem Jemen – zu ihrer Situation in Somalia befragt. Insgesamt haben 59 % der Rückkehrerhaushalte angegeben, dass ihr Einkommen nicht ausreicht. Dies wird zu 43 % auf mangelnde Jobmöglichkeiten zurückgeführt. Die meisten Rückkehrer leben von Einkommen als Taglöhner oder als Selbstständige sowie von humanitärer Hilfe. Nach Angaben einer Quelle ist Somalia auf eine Rückkehr von Flüchtlingen in großem Ausmaß nicht vorbereitet, und es kann davon ausgegangen werden, dass sich ein erheblicher Teil der Rückkehrer als IDPs wiederfinden wird. Arbeitslose Rückkehrer im REINTEG-Programm (siehe unten) berichten über mangelnde Möglichkeiten; über eingeschränkte Erfahrungen, Fähigkeiten und Informationen über den Arbeitsmarkt. Nur 30 % der REINTEGRückkehrer sind mit ihrer ökonomischen Situation zufrieden, viele klagen über niedriges Einkommen und lange Arbeitsstunden. Viele von ihnen sind diesbezüglich Druck seitens ihrer Familie ausgesetzt – v. a. wenn sie aufgrund ihrer „abgebrochenen“ Migration noch Schulden offen haben. Manche Rückkehrer gehen deshalb explizit nicht in Regionen, wo Mitglieder des eigenen Clans leben. Andererseits werden in Kismayo Somali, die nach Jahrzehnten in Kenia nach Somalia zurückgekehrt sind, auch in der Verwaltung eingesetzt – mitunter in hohen Funktionen. Viele der Rückkehrer aus Kenia arbeiten in ganz Somalia für Behörden oder NGOs. Laut einer Quelle muss eine nach Mogadischu zurückgeführte Person nicht damit rechnen, ohne Angehörige zu verhungern. Selbst wenn jemand tatsächlich überhaupt niemanden kennen sollte, dann würde diese Person in ein IDP-Lager gehen und dort in irgendeiner Form Hilfe bekommen. Die Person ist auf Mitleid angewiesen; Hilfe findet sich vielleicht auch in einer Moschee. Jedenfalls würde eine solche Person so schnell wie möglich versuchen, dorthin zu gelangen, wo sich ein Familienmitglied befindet. Dass gar keine Familie existiert, ist sehr unwahrscheinlich. Rückkehrer, die im Ausland ausgebildet wurden, können - bei vorhandenen, besseren Fähigkeiten - am Arbeitsmarkt Vorteile haben. Jedenfalls sind Netzwerke aus Familie, Nachbarn und Freunden für Rückkehrer höchst relevant. Die Unterstützung, die ein Rückkehrer aus diesen Netzwerken ziehen kann, hängt maßgeblich davon ab, wie sehr er diese Netzwerke während seines Auslandsaufenthalts gepflegt hat. Natürlich spielen auch Clannetzwerke eine Rolle. Dies ist mit ein Grund dafür, dass Rückkehrer sich oft in Gebieten ansiedeln, die von eigenen Clanmitgliedern bewohnt werden (LIB, Rückkehrspezifische Grundversorgung).

Unterstützung / Netzwerk: Der Jilib [Anm.: untere Ebene im Clansystem] ist unter anderem dafür verantwortlich, Mitglieder in schwierigen finanziellen Situationen zu unterstützen. Das traditionelle Recht (Xeer) bildet hier ein soziales Sicherungsnetz, eine Art der Sozial- und Unfallversicherung. Wenn eine Person Unterstützung braucht, dann wendet sie sich an den Jilib oder – je nach Ausmaß – an untere Ebenen (z. B. Großfamilie). Jedenfalls versucht die Mehrheit der Rückkehrer in eine Region zu kommen, wo zumindest Mitglieder ihres Clans leben, denn eine erfolgreiche Rückkehr und Reintegration kann in erheblichem Maße von der Clanzugehörigkeit bzw. von lokalen Beziehungen der rückkehrenden Person abhängig sein. Rückkehrer ohne Clan- oder Familienverbindungen am konkreten Ort der Rückkehr finden sich ohne Schutz in einer Umgebung wieder, in der sie oftmals als Fremde angesehen werden. Nach anderen Angaben ist es bei einer Rückkehr weniger entscheidend, ob jemand Verwandte hat oder nicht. Entscheidend ist vielmehr, wie diese persönlichen Verwandtschaftsbeziehungen funktionieren und ob sie aktiv sind, ob sie gepflegt wurden. Denn Solidarität wird nicht bedingungslos gegeben. Wer sich lange nicht um seine Beziehungen gekümmert hat, wer einen (gesellschaftlichen) Makel auf sich geladen hat oder damit behaftet ist, der kann - trotz vorhandener Verwandtschaft - nicht uneingeschränkt auf Solidarität und Hilfe hoffen. Laut Angestellten von IOM in Somaliland würde ein Rückkehrer ohne Beziehungen oder Kontakten in Hargeysa in der Stadt trotzdem mit Wasser, Nahrung und Unterkunft versorgt werden. Dies erfolgt informell und aus Gründen der Gastfreundschaft und anderen kulturellen Werten. Die Verfügbarkeit derartiger kulturell bedingter Unterstützung kann aber weder geplant werden, noch ist diese längerfristig garantiert. Auch in Mogadischu sind Freundschaften und Clannetzwerke sehr wichtig. Zur Aufnahme kleinerer oder mittelgroßer wirtschaftlicher Aktivitäten ist aber kein Netzwerk notwendig. Insgesamt herrschen am Arbeitsmarkt Nepotismus und Korruption (LIB, Rückkehrspezifische Grundversorgung).

Unterstützung extern: Für Rückkehrer aus dem Jemen und Kenia gibt es seitens des UNHCR Rückkehrpakete. Deutschland unterstützt in Jubaland ein Vorhaben, das der Vorbereitung der aufnehmenden Gemeinden für freiwillige Rückkehrer dient. Der UNHCR unterstützt ausgewählte Haushalte in unterschiedlichen Teilen Somalias mit Ausbildungs-, Schulungs- und finanziellen Maßnahmen (LIB, Rückkehrspezifische Grundversorgung).

Rückkehrprogramme: Bis Ende 2022 setzt IOM für Österreich das Rückkehrprogramm Restart III um, das auch Somalia umfasst. Das Programm bietet Rückkehrern 500 Euro Bargeld sowie 2.800 Euro Sachleistungen - etwa im Rahmen einer Unternehmensgründung oder für Bildungsmaßnahmen; Beratung nach der Rückkehr; situationsspezifische Unterstützung vor Ort - etwa für vulnerable Rückkehrer; Zuweisung zu weiteren spezifischen Organisationen; Monitoring (LIB, Rückkehrspezifische Grundversorgung).

Die auf Rückkehrer spezialisierte Organisation IRARA kooperiert mit Frontex, um u. a. in Somalia eine Reintegration zu gewährleisten. Hierbei werden nicht nur freiwillige, sondern auch unfreiwillige Rückkehrer unterstützt und vom Programm abgedeckt. Einerseits bietet IRARA Leistungen bei der Ankunft (Abholung vom Flughafen; Unterstützung bei der Weiterreise; temporäre Unterkunft; dringende medizinische Betreuung; spezielle Betreuung vulnerabler Personen; Geldaushilfe). Zum anderen bietet die Organisation auch sogenannte post-return assistance (Hilfe beim Aufbau eines Betriebes; langfristige Unterstützung bei der Unterkunft; soziale, rechtliche und medizinische Unterstützung; Hilfe bei der Arbeitssuche; Bildung und Berufsausbildung; Geldaushilfe. Im ebenfalls von IOM geführten Programm RESTART III wird Somalia als Projektland für freiwillige Rückkehr angeführt. Dieses wird dort über Büros in Mogadischu und Bossaso abgewickelt. Voraussetzung einer Rückführung ist hier eine Freigabe durch somalische Behörden vor der Rückkehr (Kontakt über Operations bei IOM Österreich) (LIB, Rückkehrspezifische Grundversorgung).

Unterkunft: Der Zugang zu einer Unterkunft oder zu Bildung wird von Rückkehrern im REINTEGProgramm als problematisch beschrieben. Ein Appartementzimmer in einer sichereren Wohngegend Mogadischus kostet rund 200 US-Dollar im Monat, in Gegenden mit niedrigerem Lebensstandard zahlt eine Einzelperson für ein Zimmer in einem Mietshaus 80-100 US-Dollar. Mieten für Wellblechhäuser beginnen bei 45 US-Dollar. Nach Angaben von IOMMitarbeitern in Mogadischu spielt die Clanmitgliedschaft bei der Anmietung einer Unterkunft keine Rolle. Grundsätzlich braucht es zur Anmietung eines Objektes einen Bürgen, der vor Ort bekannt ist. Dies ist i. d. R. ein Mann. Für eine alleinstehende Frau gestaltet sich die Wohnungssuche dementsprechend schwierig, dies ist kulturell unüblich und wirft unter Umständen Fragen auf. In Hargeysa kann es vorkommen, dass mehrere alleinstehende Frauen zusammen ein Objekt anmieten. In Mogadischu verfügen viele Haushalte über Fließwasser. Es gibt auch kollektive Wasserstellen. Im Feber 2023 kostete ein Kubikmeter Wasser 1,5 US-Dollar (LIB, Rückkehrspezifische Grundversorgung).

Es gibt keine eigenen Lager für Rückkehrer, daher siedeln sich manche von ihnen in IDPLagern an, nach anderen Angaben finden sich viele der Rückkehrer aus dem Jemen und aus Kenia schlussendlich in IDP-Lagern wieder. IOM-Mitarbeiter erklären, dass der durchschnittliche Rückkehrer sich vorübergehend nur eine Wellblechhütte oder eine traditionelle Wohnstatt als Unterkunft leisten kann. Gemäß der bereits weiter oben erwähnten Rückkehrer-Studie des UNHCR haben hingegen nur 22 % der unterstützten und 38 % der nicht unterstützten, von UNHCR befragten 2.900 Rückkehrerhaushalte angegeben, in einem IDP-Lager zu wohnen.

Vom Returnee Management Office (RMO) der somalischen Immigrationsbehörde kann gegebenenfalls eine Unterkunft und ein inner-somalischer Weiterflug organisiert und bezahlt werden, die Rechnung ist vom rückführenden Staat zu begleichen. Generell mahnen Menschenrechtsorganisationen, dass sich Rückkehrer in einer prekären Situation befinden und die Grundvoraussetzungen für eine freiwillige Rückkehr nicht gewährleistet sind (LIB, Rückkehrspezifische Grundversorgung).

Frauen und Minderheiten: Prinzipiell gestaltet sich die Rückkehr für Frauen schwieriger als für Männer. Eine Rückkehrerin ist auf die Unterstützung eines Netzwerks angewiesen, das i.d.R. enge Familienangehörige – geführt von einem männlichen Verwandten – umfasst. Für alleinstehende Frauen ist es mitunter schwierig, eine Unterkunft zu mieten oder zu kaufen. Auch für Angehörige von Minderheiten – etwa den Bantus – gestaltet sich eine Rückkehr schwierig. Ein Mangel an Netzwerken schränkt z. B. den Zugang zu humanitärer Hilfe ein. Für eine weibliche Angehörige von Minderheiten, die weder Aussicht auf familiäre noch Clanunterstützung hat, stellt eine Rückkehr tatsächlich eine Bedrohung dar (LIB, Rückkehrspezifische Grundversorgung).

1.3.21. Medizinische Versorgung – Süd-/Zentralsomalia und Puntland:

Das somalische Gesundheitssystem ist das zweitfragilste weltweit. Die medizinische Versorgung ist im gesamten Land äußerst mangelhaft und nicht durchgängig gesichert. Die Infrastruktur bei der medizinischen Versorgung ist minimal und beschränkt sich meist auf Städte und sichere Gebiete. Die Ausrüstung reicht nicht, um auch nur die grundlegendsten Bedürfnisse der Bevölkerung ausreichend abdecken zu können. Es mangelt an Geld, Personal, Referenzsystemen, Diagnoseeinrichtungen, an Ausbildungseinrichtungen, Regulierungen und Managementfähigkeiten. 2021 betrug das Budget des Gesundheitsministeriums 33,6 Millionen US-Dollar. Allerdings zeigt sich in Aufwärtstrend: 2020 wurden 1,3 % des Budgets für den Gesundheitsbereich ausgegeben, 2021 wurden dafür 5 % veranschlagt. Nach anderen Angaben wurden für den Gesundheitsbereich in den Jahren 2017-2021 jährlich durchschnittlich 2 % des Budgets ausgegeben. Insgesamt zählt die Gesundheitslage zu den schlechtesten der Welt. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist zwar von 45,3 Jahren im Jahr 1990 auf heute 57,1 Jahre beträchtlich gestiegen, bleibt aber immer noch niedrig (WB 6.2021, S. 29). Erhebliche Teile der Bevölkerung haben keinen Zugang zu trinkbarem Wasser oder zu hinreichenden sanitären Einrichtungen; daran sterben jährlich 87 von 100.000 Einwohnern (Äthiopien: 44). Die Quoten von Mütter- und Säuglingssterblichkeit sind unter den höchsten Werten weltweit. Eine von zwölf Frauen stirbt während der Schwangerschaft, eines von sieben Kindern vor dem fünften Geburtstag. Bei der hohen Kindersterblichkeit schwingt Unterernährung bei einem Drittel der Todesfälle als Faktor mit. Selbst in Somaliland und Puntland werden nur 44 % bzw. 38 % der Mütter von qualifizierten Geburtshelfern betreut. Insgesamt haben nur ca. 15 % der Menschen in ländlichen Gebieten Zugang zu medizinischer Versorgung. Die Rate an grundlegender Immunisierung für Kinder liegt bei Nomaden bei 1 %, in anderen ländlichen Gebieten bei 14 %, in Städten bei 19 %. Zudem gibt es für medizinische Leistungen und pharmazeutische Produkte keinerlei Qualitäts- oder Sicherheitsstandards. Es mangelt an Personal für die medizinische Versorgung. Besonders akut ist der Mangel an Psychiatern, an Technikern für medizinische Ausrüstung und an Anästhesisten. Am größten aber ist der Mangel an einfachen Ärzten. Insgesamt kommen auf 10.000 Einwohner 4,28 medizinisch ausgebildete Personen (Subsaharaafrika: 13,3; WHO-Ziel: 25). Nach anderen Angaben kommen auf 100.000 Einwohner fünf Ärzte, vier Krankenpfleger und eine Hebamme. Dabei herrscht jedenfalls eine Ungleichverteilung: In Puntland gibt es 356 Ärzte, in Jubaland nur 54 und in Galmudug und im SWS je nur 25. Die Weltbank hat das mit 100 Millionen US-Dollar dotierte „Improving Healthcare Services in Somalia Project / Damal Caafimaad“ genehmigt. Damit soll die Gesundheitsversorgung für ca. 10 % der Gesamtbevölkerung Somalias, namentlich in Gebieten von Nugaal (Puntland),Bakool und Bay (SWS), Hiiraan und Middle Shabelle verbessert werden. Die Gesundheitsdirektion der Benadir Regional Administration (BRA) verfügt über 69 Gesundheitszentren für die Primärversorgung, sechs Stabilisierungszentren für unterernährte Kinder und elf Zentren für die Behandlung von Tuberkulose. Zusätzlich gibt es in der Hauptstadtregion fast 80 private Gesundheitszentren. Insgesamt sind diese Zahlen zwar vielversprechend, decken aber keinesfalls die Bedürfnisse der Bevölkerung ab. Nach anderen Angaben gibt es in Benadir 61 Gesundheitseinrichtungen, in HirShabelle 81. In anderen Bundesstaaten stehen folgende Gesundheitseinrichtungen zur Verfügung: Nach anderen Angaben gibt es in ganz Somalia elf öffentliche und 50 andere Spitäler. In Mogadischu

gibt es demnach vier öffentliche und 46 andere Gesundheitszentren. Jedenfalls müssen Patienten oft lange Wegstrecken zurücklegen, um an medizinische Versorgung zu gelangen. In Mogadischu gibt es mindestens zwei Spitäler, die für jedermann zugänglich sind. In manchen Spitälern kann bei Notlage über die Ambulanzgebühr verhandelt werden. Im Gegensatz zu Puntland werden in Süd-/Zentralsomalia Gesundheitseinrichtungen vorwiegend von internationalen NGOs unter Finanzierung von Gebern betrieben. Das Keysaney Hospital wird von der Somali Red Crescent Society (SRCS) betrieben. Zusätzlich führt die SRCS Rehabilitationszentren in Mogadischu und Galkacyo. Die Spitäler Medina und Keysaney (Mogadischu) sowie in Kismayo und Baidoa werden vom Roten Kreuz unterstützt. Insgesamt gibt es im Land nur 5,34 stationäre Krankenhausbetten pro 10.000 Einwohnern (WHO-Ziel: 25 Betten). In Gebieten von al Shabaab mangelt es – mit der Ausnahme von Apotheken – generell an Gesundheitseinrichtungen.

Zudem sind die öffentlichen Krankenhäuser mangelhaft ausgestattet, was Ausrüstung, medizinische Geräte, Medikamente, ausgebildete Kräfte und Finanzierung angeht. Die am besten ausgerüsteten Krankenhäuser Somalias befinden sich in Mogadischu. Der Standard von Spitälern außerhalb Mogadischus ist erheblich schlechter. Die Mehrheit der Krankenhäuser bietet außerdem nicht alle Möglichkeiten einer tertiären Versorgung. Speziellere medizinische Versorgung – etwa Chirurgie – ist nur eingeschränkt verfügbar – in öffentlichen Einrichtungen fast gar nicht, unter Umständen aber in privaten. So werden selbst am Banadir Hospital – einem der größten Spitäler des Landes, das über vergleichsweise gutes Personal verfügt und auch Universitätsklinik ist – nur einfache Operationen durchgeführt. Relativ häufig müssen daher Patienten von öffentlichen Einrichtungen an private verwiesen werden. Immerhin stellt der private Sektor 60 % aller Gesundheitsleistungen und 70 % aller Medikamente. Und auch in öffentlichen Gesundheitseinrichtungen wird der Großteil der Dienste über NGOs erbracht. Qatar Charity hat in Bossaso ein Gesundheitszentrum eröffnet. Dieses soll 10.000 Unterprivilegierten aus Bossaso und dem Umland dienen. Das Zentrum verfügt über Abteilungen für Geburten, Notfälle, Impfungen, über ein Labor, Radiologie und eine Apotheke. 2021 hatte Qatar Charity bereits Gesundheitszentren in Puntland, Galmudug, dem SWS und in Mogadischu eröffnet. Fünf weitere Zentren sowie neun Geburts- und Mütterzentren sind in Bau.

Die Primärversorgung wird oftmals von internationalen Organisationen bereitgestellt und ist für Patienten kostenfrei. Allerdings muss manchmal für Medikamente bezahlt. Oft handelt es sich bei dieser Primärversorgung um sogenannte „Mother Health Clinics“, von welchen es in Somalia relativ viele gibt. Diese werden von der Bevölkerung als Gesamtgesundheitszentren genutzt, weil dort die Diagnosen eben kostenlos sind. Private Einrichtungen, die spezielle Leistungen anbieten, sind sehr teuer. Schon ein kleiner operativer Eingriff kostet 100 US-Dollar. Am Banadir-Hospital in Mogadischu wird eine Ambulanzgebühr von 5-10 US-Dollar eingehoben, die Behandlungsgebühr an anderen Spitälern beläuft sich auf 5-12 US-Dollar. Medikamente, die Kindern oder ans Bett gebundenen Patienten verabreicht werden, sind kostenlos. Üblicherweise sind die Kosten für eine Behandlung aber vom Patienten zu tragen. Am türkischen Spital in Mogadischu, das als öffentliche Einrichtung wahrgenommen wird, werden nur geringe Kosten verrechnet, arme Menschen werden gratis behandelt. Generell gilt, wenn z.B. ein IDP die Kosten nicht aufbringen kann, wird er in öffentlichen Krankenhäusern auch umsonst behandelt. Zusätzlich kann man sich auch an Gesundheitseinrichtungen wenden, die von UN-Agenturen betrieben werden. Bei privaten Einrichtungen sind alle Kosten zu bezahlen. Es gibt keine Krankenversicherung, nach anderen Angaben ist diese so gut wie nicht existent, im Jahr 2020 waren nur 2 % der Haushalte hinsichtlich Ausgaben für Gesundheit versichert.

Beispiel Garoowe: Quellen von EASO berichten, dass am Garoowe Group Hospital (GGH) eine Aufnahmegebühr von 5 US-Dollar zu entrichten ist, bei der Aufnahme zur Behandlung bei einem Spezialisten auch bis zu 10 US-Dollar. Auch Labortests müssen selbst bezahlt werden; ein normaler Bluttest kostet 1-4 US-Dollar. Normale Betten kosten nichts, Einzelzimmer 10 US-Dollar pro Nacht. Die Pflege, normale Dienste und im Spital lagernde Medikamente sind kostenfrei. Für Operationen muss allerdings bezahlte werden. Ein Kaiserschnitt kostet ca. 350 US-Dollar.

In privaten Krankenhäusern ist die Aufnahmegebühr etwas höher als am GGH. Alle Dienste und Übernachtungen müssen bezahlt werden. Operationen kosten in etwa so viel, wie am GGH. Es gibt auch mobile Gesundheitseinrichtungen, etwa durch die Organisation Somali Aid in Lower Juba. Damit wird der Zugang für die Menschen, die ansonsten weite, teure und manchmal gefährliche Reisen zum nächstgelegenen Spital auf sich nehmen müssen, verbessert. Die SRCS betreibt 53 stationäre und zwölf mobile Kliniken zur primären medizinischen Versorgung. Im Jahr 2020 wurden dort mehr als 1,2 Millionen Patienten behandelt. Davon waren 45 % Kinder und 40 % Frauen. Die häufigsten Behandlungen erfolgten in Zusammenhang mit akuten Atemwegserkrankungen (24 %), Durchfallerkrankungen (12,4 %), Anämie (15,6 %), Hautkrankheiten (6,2 %), Harnwegs- (10 %) und Augeninfektionen (5,2 %).

Die am öftesten diagnostizierten chronischen Krankheiten sind Diabetes und Bluthochdruck. Mobile Kliniken versorgen wöchentlich oder zweiwöchentlich IDP-Lager am Stadtrand von Mogadischu. Diese Versorgung erfolgt allerdings nur unregelmäßig. Gesundheitspartner der UN haben von Jänner bis November in Somalia 2,6 Millionen präventive und heilkundliche Konsultationen durchgeführt, u. a. 12.000 Konsultationen zur psychischen Gesundheit. Versorgungs- und Gesundheitsmaßnahmen internationaler Hilfsorganisationen mussten auch

immer wieder wegen Kampfhandlungen oder aufgrund von Anordnungen unterbrochen werden. Zudem mangelt es an Rettungsdiensten. So gibt es selbst in Mogadischu bei einer Bevölkerung von ca. drei Millionen Menschen nur zwei Krankenwagen, die kostenfrei Covid-19-Patienten transportieren.

Psychiatrie: Für 16,8 Millionen Einwohner gibt es in ganz Somalia (inkl. Somaliland) nur 82 professionelle Kräfte im Bereich psychischer Gesundheit, nur vier davon sind Psychiater). In Süd-/Zentralsomalia und Puntland gibt es nur einen Psychiater, elf Sozialarbeiter für psychische Gesundheit sowie 19 Pflegekräfte. Folgende psychiatrische Einrichtungen sind bekannt: An psychiatrischen Spitälern gibt es nur zwei, und zwar in Mogadischu; daneben gibt es drei entsprechende Abteilungen an anderen Spitälern und vier weitere Einrichtungen. Nach Angaben einer Quelle gibt es in Bossaso, Mogadischu, Baidoa und Belet Weyne psychiatrische Abteilungen an Krankenhäusern. Nach anderen Angaben gibt es auch am Rand von Garoowe eine Psychiatrie, dort fallen für einen monatlichen Aufenthalt 100 US-Dollar an Kosten an. Es gibt eine hohe Rate an Personen mit posttraumatischer Belastungsstörung. Psychische Probleme werden durch den bestehenden Konflikt und den durch Instabilität, Arbeits- und Hoffnungslosigkeit verursachten Stress gefördert. Schätzungen zufolge sind 30 % der Bevölkerung betroffen, die absolute Zahl wird mit 1,9 Millionen Betroffenen beziffert. Nach anderen Angaben (Stand 2020) wurden bei 4,3 % der Bevölkerung durch einen Arzt eine psychische Erkrankung diagnostiziert, während man von einer Verbreitung von 14 % ausgeht. Im Falle psychischer Erkrankung sind die meisten Somali von der Unterstützung durch Familie und Gemeinde abhängig. Oft werden die Dienste traditioneller und spiritueller Heiler in Anspruch genommen; andere Patienten greifen zu Selbstmedikation oder Drogen. Psychisch Kranken haftet meist ein mit Diskriminierung verbundenes Stigma an, es kommt zu dadurch verursachter Diskriminierung. Nach wie vor ist das Anketten psychisch Kranker eine weitverbreitete Praxis. Dies gilt selbst für psychiatrische Einrichtungen – etwa in Garoowe. Die WHO schätzt, dass 90 % der Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen bereits einmal in ihrem Leben angekettet worden sind. Aufgrund des Mangels an Einrichtungen werden psychisch Kranke mitunter an Bäume gebunden oder zu Hause eingesperrt. Im Zweifelsfall suchen Menschen mit psychischen und anderen Störungen Zuflucht im Glauben. Spirituelle Heilungsanstalten bzw. -Programme heißen Ilaaj. Es gibt ein Netzwerk an diesen Ilaaj. Jedermann kann eine solche Anstalt eröffnen – ohne Qualifikation; viele werden von pseudo-religiösen Heilern betrieben, die „traditionelle“ Mittel anwenden. Selbst aus der Diaspora werden Jugendliche, die an psychischen Krankheiten leiden oder drogensüchtig sind, nach Somalia zur Heilung geschickt. Dort werden sie manchmal gegen ihren Willen festgehalten und mitunter angekettet.

Verfügbarkeit: Nur 5 % der Einrichtungen sind in der Lage, Krankheiten wie Tuberkulose, Diabetes oder Gebärmutterhalskrebs zu diagnostizieren und zu behandeln. Durch die anhaltenden Konflikte, Angriffe auf Krankenhäuser, aber auch durch die Dürre wird der Zugang zu Therapiemöglichkeiten erschwert, wenn dieser überhaupt gegeben ist. Dies gilt für Tuberkulose und andere gängige Krankheiten.

Diabetes: Kurz- und langwirkendes Insulin ist kostenpflichtig verfügbar. Medikamente können überall gekauft werden. Die Behandlung erfolgt an privaten Spitälern.

Medikamente: Grundlegende Medikamente sind verfügbar, darunter solche gegen die am meisten üblichen Krankheiten sowie jene zur Behandlung von Diabetes, Bluthochdruck, Epilepsie und von Geschwüren. Auch Schmerzstiller sind verfügbar. In den primären Gesundheitszentren ländlicher Gebiete kann es bei Medikamenten zur Behandlung chronischer Krankheiten zu Engpässen kommen.

Nach anderen Angaben kommt es in Krankenhäusern allgemein immer wieder zu Engpässen bei der Versorgung mit Medikamenten und medizinischen Verbrauchsmaterialien. Es gibt keine lokale Medikamentenproduktion, alle Medikamente werden importiert. Im Jahr 2014 gelangten 30% der verfügbaren Medikamente durch Spenden der internationalen Gemeinschaft ins Land. Der Rest wird v.a. aus Indien, der Türkei, auch Ägypten und der VR China importiert. Es kommt mitunter auch zu Großspenden, etwa Anfang November 2022, als die WHO 39 Tonnen medizinische Versorgungsgüter an Somalia übergeben hat. Es gibt keine Regulierung des Imports von Medikamenten. Nach anderen Angaben ist im Jahr 2015 zwar ein Regulatorium für Medikamente eingeführt worden, um Registrierung, Lizenzierung, Herstellung, Import und andere Aspekte zu regulieren. Aber es gibt diesbezüglich keine Rechtsdurchsetzung. Jeder kann sich ein Zertifikat holen, um eine Apotheke zu eröffnen, es gibt für Apotheken keinerlei Aufsicht. Es gibt keine Standards zur Qualitätssicherung. Einige der verfügbaren Medikamente sind abgelaufen, andere sind Fälschungen oder enthalten giftige Zutaten. Die Versorgung mit Medikamenten erfolgt in erster Linie über private Apotheken. Medikamente können ohne Verschreibung gekauft werden. Die zuständige österreichische Botschaft kann zur Medikamentenversorgung in Mogadischu keine Angaben machen.

1.3.22. Rückkehr – Süd-/Zentralsomalia und Puntland:

Rückkehr international: Seit Jahren steigt die Anzahl der nach Somalia zurückgekehrten somalischen Flüchtlinge, wobei ich diese 2020 aufgrund der Covid-Pandemie verlangsamte. Seit 2009 kommen Somali der Diaspora zurück in ihre Heimat, viele mit Bildung, Fähigkeiten und einer unternehmerischen Einstellung. Viele Somalis in der Diaspora wollen zurückkommen und das Land aufbauen. Die USA, Kanada, Großbritannien, Finnland, Dänemark, die Niederlande, Belgien und Norwegen führen grundsätzlich Abschiebungen nach Mogadischu durch. Aus Europa wurden im Jahr 2022 – in geringen Zahlen – jedenfalls Somali nach Somalia rückgeführt, die meisten davon freiwillig. Österreich beteiligt sich am von IOM geführten Programm RESTART III, das freiwillige Rückkehr nach Somalia abwickelt. Insgesamt hat IOM von 2020 bis 2022 bei 187 freiwilligen Rückführungen aus Europa Unterstützung geleistet.

Rückkehr regional: Die Rückkehrbewegung nach Somalia hat sich seit 2020 deutlich verlangsamt. Insgesamt sind von Ende 2014 bis Jänner 2022 knapp 134.000 Menschen mit oder ohne Unterstützung nach Somalia zurückgekehrt. Der UNHCR und andere internationale Partner unterstützen seit 2014 die freiwillige Rückkehr von Somaliern aus Diese gingen vor allem nach Kismayo und das südliche Jubaland. Noch nie wurde ein Bus, welcher Rückkehrer transportiert, angegriffen. Allerdings kommt es aufgrund von Gewalt und Konflikten sowie durch die Pandemie bedingte Reisebeschränkungen immer wieder zu Unterbrechungen bei der Rückkehrbewegung. Trotz seiner Rolle bei der Rückführung aus Kenia warnt der UNHCR angesichts der aktuellen Lage in Somalia davor, Personen in Gebiete in Süd- oder Zentralsomalia zwangsweise zurückzuschicken, da die Sicherheit nicht gewährt werden kann.

Behandlung: Die Zahl der von westlichen Staaten zurückgeführten somalischen Staatsangehörigen nimmt stetig zu. Mit technischer und finanzieller Unterstützung haben sich verschiedene westliche Länder über die letzten Jahre hinweg für die Schaffung und anschließende Professionalisierung eines speziell für Rückführung zuständigen Returnee Management Offices (RMO) innerhalb des Immigration and Naturalization Directorates (IND) eingesetzt. Das RMO hat für alle Rückführungsmaßnahmen nach Somalia eine einheitliche Prozedur festgelegt, die konsequent zur Anwendung gebracht wird. Es liegen keine Informationen dahingehend vor, dass abgelehnte Asylwerber am Flughafen in Mogadischu Probleme seitens der Behörden erfahren. Das RMO befragt sie hinsichtlich Identität, Nationalität, Familienbezügen sowie zum gewünschten zukünftigen Aufenthaltsort. Eine Unterkunft und ein innersomalischer Weiterflug kann vom RMO organisiert werden, die Rechnung begleichen die rückführenden Staaten. Staatliche Repressionen sind nicht die Hauptsorge der Rückkehrer. Nach vorliegenden Erkenntnissen werden Rückkehrer vom RMO/IND grundsätzlich mit Respekt behandelt. Eine strukturelle Diskriminierung von Rückkehrern aus dem Ausland gibt es nicht.

2. Beweiswürdigung:

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den Verwaltungsakt sowie in den Gerichtsakt, durch Einvernahme der Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung und durch Einsichtnahme in die im Verfahren eingebrachten Urkunden.

Die Feststellungen basieren auf den in den Klammern angeführten Beweismitteln.

2.1. Zu den Feststellungen zur Person der Beschwerdeführerin:

2.1.1. Die Feststellungen zur Identität der Beschwerdeführerin ergeben sich aus ihren Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor dem Bundesamt, in der Beschwerde und vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die getroffenen Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdatum der Beschwerdeführerin gelten ausschließlich zur Identifizierung der Person der Beschwerdeführerin im Asylverfahren. Die Identität der Beschwerdeführerin ist mangels Vorlage von Originaldokumenten nicht erwiesen.

2.1.2. Die Feststellungen bezüglich ihrer Staats- und Religionszugehörigkeit sowie der somalischen Herkunft der Beschwerdeführerin und ihrer Clanzugehörigkeit ergeben sich aus ihren insoweit glaubhaften und unbestrittenen Angaben in den bisherigen Befragungen sowie ihren Kenntnissen der somalischen Sprache. Die Feststellungen zu ihrem Familienstand gründen sich auf ihren diesbezüglich schlüssigen und stringenten Angaben. Das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen im gesamten Verfahren gleich gebliebenen Aussagen der Beschwerdeführerin zu zweifeln.

2.1.5. Die Angaben der Beschwerdeführerin zu ihren Familienangehörigen und den Kontakt zu diesen waren nicht glaubhaft, dies aus folgenden Gründen:

Die Beschwerdeführerin gab zu Beginn der Verhandlung an, dass sie bei der Erstbefragung müde gewesen sei. Es sei daher zu Fehlern gekommen. Sie habe niemals angegeben, dass ihr Sohn bei ihrer Schwester in Somalia leben würde. Die Dolmetscherin gab jedoch in der mündlichen Verhandlung an, dass sich diese Divergenz sprachlich nicht erklären lässt. Es scheidet daher ein sprachliches Missverständnis aus. Zudem ist anzumerken, dass sowohl bei der Erstbefragung als auch bei der Einvernahme vor dem Bundesamt derselbe Dolmetscher beigezogen wurde (AS 4, AS 39). Dieser ist gerichtsbekannt und zudem auch bekannt dafür, dass er sehr erfahren ist und sehr gut übersetzt. Es ist daher auch ein Fehler oder eine Unstimmigkeit aufgrund des beigezogenen Dolmetschers nicht plausibel. Zudem stellte die Beschwerdeführerin am 27.04.2023 den gegenständlichen Asylantrag. Die Erstbefragung fand erst am Abend des nächsten Tages (28.04.2023, 17:00 Uhr) statt (AS 4). Es ist daher für das Gericht nicht nachvollziehbar, dass die Beschwerdeführerin noch von der Flucht vom selben Tag ermüdet gewesen wäre und es daher zu den Divergenzen im Protokoll gekommen sei. Zudem ist dem Erstbefragungsprotokoll auch zu entnehmen, dass eine Rückübersetzung stattgefunden hat (AS 9). Das Gericht hat daher keinen Zweifel daran, dass die in der Erstbefragung protokollierten Angaben der Beschwerdeführerin rückübersetzt wurden und diese Angaben von der Beschwerdeführerin auch in dieser konkreten Ausführung während der Erstbefragung auch getätigt wurden. Das Gericht legt daher auch die Angaben der Beschwerdeführerin in der Erstbefragung der Beweiswürdigung zu Grunde.

Die Beschwerdeführerin gab in der Erstbefragung an, dass ihr Sohn von den türkischen Behörden abgeschoben worden sei (AS 5). Nach diesen Angaben ist davon auszugehen, dass sich der Sohn der Beschwerdeführerin in Somalia aufhalten müsste. Die Beschwerdeführerin ergänzte diese Angaben noch dahingehend, dass sie in der Erstbefragung bei ihren Fluchtgründen auch angab, dass ihr Sohn von den türkischen Behörden nach Somalia abgeschoben worden sei und dieser bei den Kindern ihrer verstorbenen Schwester in Somalia lebe (AS 8). Es ist daher davon auszugehen, dass der Sohn der Beschwerdeführerin noch in Somalia lebt und die Beschwerdeführerin – da sie auch zu den Kindern ihrer Schwester in Somalia Kontakt hatte (AS 47) – auch noch zu ihrem Sohn in Somalia Kontakt hat.

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist ein gesteigertes Vorbringen nicht als glaubwürdig anzusehen. Vielmehr müsse grundsätzlich den ersten Angaben des Asylwerbers ein erhöhter Wahrheitsgehalt zuerkannt werden (so schon VwGH 08.04.1987, 85/01/0299), weil es der Lebenserfahrung entspricht, dass Angaben, die in zeitlich geringerem Abstand zu den darin enthaltenen Ereignissen gemacht werden, der Wahrheit in der Regel am nächsten kommen (VwGH 11.11.1998, 98/01/0261, mwH). Es sind daher die diesbezüglichen Angaben der Beschwerdeführerin in der Erstbefragung für die Feststellungen heranzuziehen.

Die Beschwerdeführerin gab in der Erstbefragung auch an, dass sie zwei Brüder habe, names XXXX und XXXX . In der mündlichen Verhandlung gab die Beschwerdeführerin jedoch an, dass sie nur einen Bruder namens XXXX habe und XXXX sei tatsächlich der Stiefbruder gewesen (VP S. 9, VP S. 8). Vor dem Bundesamt sprach die Beschwerdeführerin jedoch mehrfach davon, dass sie zwei Brüder habe, so habe der Stiefbruder zu den Brüdern (Mehrzahl) gesagt, dass er sie zur Gruppierung bringen werde (AS 47), der Stiefbruder habe die Brüder (Mehrzahl) bedroht (AS 45), der Stiefbruder habe uns körperlich attackiert und die Brüder (Mehrzahl) bedroht (AS 45). Es ist daher davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin zwei Brüder hat und sie tatsächlich überhaupt keinen Stiefbruder hat, zumal sie diesen auch in der Erstbefragung mit keinem Wort erwähnt hat. Hätte der Stiefbruder versucht sie zu vergewaltigen, hätte dieser den Vater getötet oder hätte dieser sie und die Brüder bedroht, wäre davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin dies in der Erstbefragung zumindest kurz erwähnt hätte.

Es ist für das Gericht auch nicht plausibel, dass die Schwester der Beschwerdeführerin verstorben sein solle. Zum einen waren die Angaben der Beschwerdeführerin dazu vage und ausweichend. Zum anderen machte die Beschwerdeführerin auch zur Rückreise der Schwester, zum Tod von deren Ehemann und zum Zeitpunkt des Ablebens und von wem sie davon erfahren habe, divergierende Angaben. Es ist für das Gericht daher nicht glaubhaft, dass die Schwester der Beschwerdeführerin überhaupt verstorben ist. So gab die Beschwerdeführerin in der Verhandlung einmal an, dass ihr Schwager schon lange verstorben sei (PS 9-10), jedoch auch, dass er erst kurz vor dem Tod der Schwester verstorben sei. In der Erstbefragung gab die Beschwerdeführerin an, dass die Schwester bis 2022 in Saudi-Arabien gelebt habe. Sie gab jedoch auch an, dass der Ehemann der Beschwerdeführerin schon lange davor an Covid in Somalia verstorben sei. Die Angaben der Beschwerdeführerin zur Schwester sind nicht glaubhaft. Das Gericht geht daher davon aus, dass die Schwester noch in Somalia bei den Brüdern lebt und, dass der Sohn der Beschwerdeführerin dort ebenfalls im Heimatort lebt.

Das Gericht geht daher davon aus, dass der Sohn der Beschwerdeführerin immer noch bei den Kindern ihrer Schwester in Somalia lebt und die Beschwerdeführerin zu diesem auch in Kontakt steht.

Das Gericht geht auch davon aus, dass es der Familie in Somalia gut geht, zumal die Beschwerdeführer auch zu den finanziellen Verhältnissen ihrer Familie widersprüchliche Angaben gemacht hat. Sie gab beim Bundesamt an, dass ihre beiden Brüder die Tiere des Vaters weiter bewirtschaftet hätten (AS 42). In der Verhandlung gab sie jedoch an, dass der Stiefbruder sich das mobile Haus und die Tiere genommen hätte (VP S. 8). Während die Beschwerdeführerin beim Bundesamt angab auf Ziegen aufgepasst zu haben (AS 42), gab diese in der mündlichen Verhandlung an, dass ihre Familie Ziegen und Schafe gehabt hätte (VP S. 8). Die Beschwerdeführerin gab einmal an, dass sie nicht wisse woher das Geld für die Ausreise stamme (AS 47). In der Verhandlung gab sie jedoch an, dass der Bruder das Geld von Freunden des Vaters gesammelt habe (VP S. 14). Die Angaben der Beschwerdeführerin zu den finanziellen Verhältnissen der Familie sind widersprüchlich und daher nicht glaubhaft.

Die Beschwerdeführerin gab beim Bundesamt an, dass die Schwester nach dem Tod des Ehemannes bei der Stiefmutter gelebt habe (AS 49). In der Verhandlung gab die Beschwerdeführerin jedoch an, dass die Schwester in einem eigenen mobilen Heim in Somalia im Heimatort gelebt habe. Nachdem die Beschwerdeführerin auch angab, dass die Stiefmutter sie beschnitten habe und sie zudem von der Stiefmutter auch schlecht behandelt worden wären, wäre nicht plausibel, dass die Schwester der Beschwerdeführerin weiter bei der Stiefmutter wohnen sollte. Die Angaben der Beschwerdeführerin zu den finanziellen Verhältnissen sowie zur Schwester sind nicht plausibel und nicht nachvollziehbar.

Das Gericht geht daher davon aus, dass die Beschwerdeführerin versucht die finanzielle Situation der Familie zu verschleiern und, dass die finanzielle Situation der Familie gut war und immer noch gut ist.

Auch die Angaben zum Kontakt zu ihrer Familie in Somalia waren widersprüchlich und nicht glaubhaft. Die Beschwerdeführerin gab beim Bundesamt an, dass sie selber Kontakt zu den Kindern der Schwester gehabt habe, da sie denen auch Geld geschickt habe. In der Verhandlung bestritt die Beschwerdeführerin einen derartigen Kontakt. Einmal gab sie an von den Kindern der Schwester vom Tod der Schwester erfahren zu haben, einmal gab sie an dies von Nachbarn erfahren zu haben. Vom Tod der Schwester zu erfahren, müsste besonders einprägsam sein, sodass in Erinnerung bleiben müsste von wem sie diese Nachricht erhalten hätte. Die Angaben der Beschwerdeführerin zu ihren familiären Kontakten in Somalia sind daher auch aus diesem Grund nicht glaubhaft. Das Gericht geht daher davon aus, dass die Beschwerdeführerin zu ihren Verwandten in Somalia noch Kontakt hat.

Da die Beschwerdeführerin bereits bei der Erstbefragung angab, dass ihre Eltern verstorben seien und dies aufgrund des Bürgerkrieges plausibel scheint, wurde dies dem Erkenntnis auch zu Grunde gelegt.

2.1.6. Die Feststellung zur Aus- und Einreise sowie das Datum der Antragsstellung ergeben sich aus dem Akteninhalt sowie aus den Angaben der Beschwerdeführerin.

2.1.7. Die Feststellungen, dass die Beschwerdeführerin an keiner lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Krankheit leidet sowie zu ihrer Arbeitsfähigkeit stützen sich auf ihre Angaben in der Beschwerdeverhandlung und den Umstand, dass im Verfahren nichts Gegenteiliges hervorkam.

Die Feststellungen zur Beschneidung ergeben sich aus den Angaben der Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung (VP S. 12f). Das Gericht geht davon aus, dass die Beschwerdeführerin nicht defibuliert ist und diese auch keine Defibulation plant, zumal sie im Herbst 2023 bereits in der gynäkologischen Abteilung vorstellig war und auch bisher kein operativer Eingriff tatsächlich geplant ist oder diesbezüglich konkrete Schritte gesetzt wurden. Sie gab an, dass sie derzeit keinen operativen Eingriff plant und auch noch keinen diesbezüglichen konkreten Termin hat (VP S. 13).

2.2. Zu den Feststellungen zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführerin:

Die Beschwerdeführerin konnte ihre Fluchtgründe nicht glaubhaft machen.

2.2.1. Lediglich am Rande darf in diesem Zusammenhang auch angemerkt werden, dass die Beschwerdeführerin im Rahmen ihrer Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes ihren Stiefbruder, Rekrutierungsversuche, drohende Vergewaltigungen oder die Tötung ihres Vaters, mit keinem Wort erwähnt hat. Diesbezüglich wird weder die seitens der Rechtsprechung der Höchstgerichte des öffentlichen Rechts hierüber bereits aufgezeigten Bedenken gegen die Verwertung von Beweisergebnissen der Erstbefragung (vgl etwa VfGH vom 20. Februar 2014, U 1919/2013-15, U 1921/2013-16, und E vom 28.Mai 2014, Ra 2014/20/0017, 0018) übersehen noch, dass sich die Erstbefragung gemäß § 19 Abs. 1 AsylG nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat. Dennoch scheint fraglich, aus welchem Grund die Beschwerdeführerin den Stiefbruder und den Tod des Vaters sowie Rekrutierungsversuche und Übergriffe des Stiefbruders in der Erstbefragung nicht einmal in einem Satz erwähnt hat. Tatsächlich stützte sich die Beschwerdeführerin bei ihrer Erstbefragung bei ihren Fluchtgründen auf den Bürgerkrieg und eine wirtschaftlich schlechte Lage.

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist ein gesteigertes Vorbringen nicht als glaubwürdig anzusehen. Vielmehr müsse grundsätzlich den ersten Angaben des Asylwerbers ein erhöhter Wahrheitsgehalt zuerkannt werden (so schon VwGH 08.04.1987, 85/01/0299), weil es der Lebenserfahrung entspricht, dass Angaben, die in zeitlich geringerem Abstand zu den darin enthaltenen Ereignissen gemacht werden, der Wahrheit in der Regel am nächsten kommen (VwGH 11.11.1998, 98/01/0261, mwH). Es ist davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin damit versucht, ihrem Vorbringen einen zusätzlichen Aspekt hinzuzufügen.

2.2.2. Zudem sind sowohl der Stiefbruder als auch die Stiefmutter wesentlicher Bestandteil der Fluchterzählung. Das Gericht geht jedoch – wie oben ausgeführt – davon aus, dass die Beschwerdeführerin weder eine Stiefmutter hatte, noch einen Stiefbruder. Auch unter diesem Aspekt sind die Angaben der Beschwerdeführerin zu den Fluchtgründen nicht glaubhaft.

2.2.3. Neben diesen bereits sehr wesentlichen Gründen, gab es noch eine Vielzahl an Widersprüchen und Unplausibilitäten, die die Fluchterzählung insgesamt unglaubhaft wirken lassen:

Die Beschwerdeführerin gab in der mündlichen Verhandlung das erste Mal an, dass der Stiefbruder versucht habe, sie zu vergewaltigen. Beim Bundesamt gab die Beschwerdeführerin dazu an, dass sie vor dem Stiefbruder Angst bekommen habe, dass er sie vergewaltige, weil er ihr so nahe gekommen sei. Diese Situation steigerte sie jedoch in der mündlichen Verhandlung erheblich dahingehend, dass sie in der Verhandlung angab, dass der Stiefbruder auf sie losgegangen sei, er habe sie gewürgt. Er habe sie nach draußen zerren und vergewaltigen wollen (VP S. 14). Diese Steigerung würde sich zwar damit erklären lassen, dass beim Bundesamt ein männlicher Dolmetscher anwesend war und dies daher die Beschwerdeführerin daran gehindert habe offen über die Vorfälle in Somalia zu sprechen. Die Beschwerdeführerin gab jedoch in der Beschwerde an, dass der Stiefbruder sie mehrmals gewürgt und versucht habe, sie zu vergewaltigen. Dass es diesbezüglich jedoch mehrfache Vorfälle gab bzw. die Beschwerdeführerin mehrfach gewürgt worden wäre, gab diese in der mündlichen Verhandlung nicht an. Die Angaben der Beschwerdeführerin sind daher auch aus diesem Grund nicht in Einklang zu bringen und nicht glaubhaft.

2.2.4. Die Beschwerdeführerin präsentierte vor dem Bundesamt, als sie aufgefordert wurde ihre Fluchtgründe so konkret und detailliert wie möglich zu schildern, zunächst nur eine grobe Rahmengeschichte ohne lebensnahe Details an: „Mein Vater war Ratsältester. Der Sohn meiner Stiefmutter sagte zu ihm, dass meine Brüder sich einer bewaffneten Gruppierung anschließen sollen. Das hat er aber abgelehnt, weil er selbst ein Ratsältester war, der bei Auseinandersetzungen den Streit schlichtet und für Frieden sorgt. Weil dieser Sohn meiner Stiefmutter von meinem Vater großgezogen wurde, hat mein Vater zu meiner Stiefmutter gesagt, dass er sich von dieser Gruppe fernhalten soll. Sie soll ihm sagen, dass er nicht zu ihnen gehen soll. Deswegen hat er meinen Vater getötet.“ (AS 43). Die Beschwerdeführerin ergänzte diese Geschichte erst auf weitere Nachfragen vom Bundesamt. Es ist hier nicht nachvollziehbar, dass die Beschwerdeführerin nicht von vornherein eine detaillierte und konkrete Aussage zu ihren Fluchtgründen gemacht hat. Zudem präsentierte die Beschwerdeführerin auch in der mündlichen Verhandlung eine grobe Rahmengeschichte, die sie selbst auf Nachfragen kaum mit lebensnahen Details ergänzen konnte. Die Angaben der Beschwerdeführerin zu den Fluchtgründen machen nicht den Eindruck als würde es sich dabei um tatsächliche Erlebnisse handeln.

2.2.5. In der mündlichen Verhandlung gab die Beschwerdeführerin auch an, dass sie den Tod des Vaters mit eigenen Augen gesehen habe (er hat den Vater vor unseren Augen getötet, er hat ihn erschossen und eiskalt darüber gelacht – VP S. 13). Die Beschwerdeführerin gab dazu im Widerspruch beim Bundesamt und auch bei den weiteren Angaben in der Verhandlung jedoch an, dass sie nur einen Schuss gehört haben und sie dann den Vater tot am Feld aufgefunden hätten. Die Angaben der Beschwerdeführerin zu den damaligen Vorfällen sind widersprüchlich und nicht glaubhaft.

Die Angaben der Beschwerdeführerin zu ihren Fluchtgründen in Somalia sind daher aus den oben genannten Gründen nicht glaubhaft.

2.2.6. Zur Beschneidung der Beschwerdeführerin:

Der Beschwerdeführerin ist derzeit nach pharaonischer Art beschnitten. Es haben sich auch keine Hinweise darauf ergeben, dass der beschnittenen weiblichen Beschwerdeführerin eine erneute Beschneidung in Somalia drohen könnte. Zum einen plant diese in Österreich derzeit nicht sich einer Defibulation zu unterziehen. Doch selbst wenn die Beschwerdeführerin eine solche in Zukunft vornehmen lassen würde, ergibt sich aus den Länderberichten, dass die Frage einer Deinfibulation oder Reinfibulation nach einer Eheschließung gesellschaftlich generell an Bedeutung verliert, da die Vorgabe der Reinheit/Jungfräulichkeit irrelevant geworden ist. Für verheiratete oder geschiedene Frauen und für Witwen gibt es keinen Grund, eine Jungfräulichkeit vorzugeben. Die Gesellschaft hat kein Problem damit, wenn eine Deinfibulation nach einer Geburt bestehen bleibt, und es gibt üblicherweise keinen Druck, sich einer Reinfibulation zu unterziehen. Frauen in Somalia können sich nach der Geburt gegen eine Reinfibulation entscheiden. Es kommt in diesem Zusammenhang weder zu Zwang noch zu Gewalt. Keine deinfibulierte Rückkehrerin nach Somalia wurde dort zwangsweise reinfibuliert. Es kann daher auch in diesem Zusammenhang unter Berücksichtigung der aktuellen Länderberichte keine Gefährdung der Beschwerdeführerin aufgrund der bereits erfolgten Beschneidung erkannt werden. Ihr droht bei einer Rückkehr in Somalia sohin keine erneute Beschneidung.

2.3. Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat:

Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert haben.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides – Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten

3.1. § 3 Asylgesetz 2005 (AsylG) lautet auszugsweise:

„Status des Asylberechtigten

§ 3. (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.

(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn 1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht oder 2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat.

…“

3.2. Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder der staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG liegt es am Beschwerdeführer, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat eine Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht.

Nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr kann relevant sein, diese muss im Entscheidungszeitpunkt vorliegen. Auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).

3.3. Die Beschwerdeführerin wurde nicht von ihrem Stiefbruder oder anderen Mitgliedern der Al Shabaab bedroht. Weder sie noch ihr Vater oder ihre Brüder wurden von diesem angegriffen, verletzt oder getötet. Die Beschwerdeführerin hat weder eine Stiefmutter noch einen Stiefbruder. Es haben sich auch keine Hinweise dahingehend ergeben, dass der Beschwerdeführerin in Somalia eine Zwangsheirat durch die Al Shabaab oder durch andere Personen drohen könnte.

In Somalia leben noch beide Brüder, die Schwester, der Neffe, der Sohn und die Kinder der Schwester der Beschwerdeführerin. Sie kann bei diesen wohnen und muss nicht in ein IDP-Lager gehen. Die finanzielle Situation der Familie ist gut. Sie kann daher in Somalia auch auf den männlichen Schutz ihrer Familie zurückgreifen.

Die Beschwerdeführerin gehört keinem Minderheitenclan, sondern einem Mehrheitsclan an. Sie kann daher von ihrem Mehrheitsclan Schutz erhalten.

3.4. Die Beschwerdeführerin wird in Somalia weder von der Al Shabaab noch von anderen Personen gesucht. In Somalia droht der Beschwerdeführerin weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in ihre körperliche Integrität durch die Al Shabaab oder durch andere Personen. Die Beschwerdeführerin ist gegenwärtig keiner konkreten Verfolgung bzw. Bedrohung in ihrem Herkunftsstaat Somalia ausgesetzt.

Bei einer Rückkehr nach Somalia droht der Beschwerdeführerin auch keine Zwangsheirat.

3.5. Im Hinblick auf die derzeit vorliegenden herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen zur aktuellen Lage von Frauen in Somalia haben sich zwar keine ausreichenden Anhaltspunkte dahingehend ergeben, dass alle somalischen Frauen gleichermaßen bloß auf Grund ihres gemeinsamen Merkmals der Geschlechtszugehörigkeit und ohne Hinzutreten weiterer konkreter und individueller Eigenschaften im Fall ihrer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen, im gesamten Staatsgebiet Somalias einer systematischen asylrelevanten (Gruppen-)Verfolgung ausgesetzt zu sein. Die Intensität von solchen Einschränkungen und Diskriminierungen kann bei Hinzutreten weiterer maßgeblicher individueller Umstände, insbesondere fehlender Schutz durch den Clan oder Familienangehörige, jedoch Asylrelevanz erreichen.

Die Beschwerdeführerin hat jedoch noch Familienangehörige in Somalia, nämlich ihre beiden Brüder und ihre Schwester sowie deren Familien. Sie hat zu diesen auch noch Kontakt. Sie kann daher auf den Schutz durch Ihre Familie zurückgreifen. Die wirtschaftliche Situation ihrer Familie ist gut, sodass schutzfähige und schutzwillige familiäre Strukturen der Beschwerdeführerin in Somalia vorhanden sind. Zudem gehört die Beschwerdeführerin einem noblen Mehrheitsclan (Hawiye, Abgaal, XXXX ) an, sodass sie auch auf den Clanschutz zurückgreifen kann. Der Sub-Sub-Clan der Beschwerdeführerin ist im Heimatort der Mehrheitsclan (VP S. 9), sodass dieser auch schutzfähig ist. Die Beschwerdeführerin ist daher auch unter Berücksichtigung ihrer Geschlechtszugehörigkeit keiner asylrelevanten Verfolgung in Somalia ausgesetzt.

Es haben sich auch keine Hinweise darauf ergeben, dass der beschnittenen weiblichen Beschwerdeführerin eine erneute Beschneidung in Somalia drohen könnte. Zum einen plant diese in Österreich derzeit nicht sich einer Defibulation zu unterziehen. Doch selbst wenn die Beschwerdeführerin eine solche in Zukunft vornehmen lassen würde, ergibt sich aus den Länderberichten, dass die Frage einer Deinfibulation oder Reinfibulation nach einer Eheschließung gesellschaftlich generell an Bedeutung verliert, da die Vorgabe der Reinheit/Jungfräulichkeit irrelevant geworden ist. Für verheiratete oder geschiedene Frauen und für Witwen gibt es keinen Grund, eine Jungfräulichkeit vorzugeben. Die Gesellschaft hat kein Problem damit, wenn eine Deinfibulation nach einer Geburt bestehen bleibt, und es gibt üblicherweise keinen Druck, sich einer Reinfibulation zu unterziehen. Keine deinfibulierte Rückkehrerin nach Somalia wurde dort zwangsweise reinfibuliert. Es kann daher auch in diesem Zusammenhang keine Gefährdung der Beschwerdeführerin erkannt werden.

3.6. Sohin kann nicht erkannt werden, dass der Beschwerdeführerin aus den von ihr ins Treffen geführten Gründen in Somalia asylrelevante Verfolgung droht.

Da insgesamt weder eine individuell-konkrete Verfolgung, eine Gruppenverfolgung oder Verfolgungsgefahr noch eine begründete Furcht festgestellt wurden, liegen die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 AsylG nicht vor.

Auch die Durchsicht der aktuellen Länderberichte zu Somalia erlaubt es nicht anzunehmen, dass gegenständlich sonstige mögliche Gründe für die Befürchtung einer entsprechenden Verfolgungsgefahr vorliegen.

3.7. Auch die UNHCR-Richtlinien oder die EUAA-Leitlinien geben keinen konkreten Hinweis auf eine konkrete asylrelevante Verfolgung der Beschwerdeführerin in Somalia.

Da die Beschwerdeführerin in Somalia ihre Brüder und ihre Schwester hat, und somit auch auf männliche Familienangehörige zurückgreifen kann, ist diese nicht als alleinstehende Frau zu betrachten. Sie kann sowohl auf den Schutz ihrer Familie als auch auf den Schutz ihres Clans zurückgreifen. Zudem kann sie auch weiterhin bei ihren Brüdern in Somalia wohnen, sodass die Beschwerdeführerin sich nicht in einem IDP-Camp ansiedeln muss. Es ist auch kein Hinweis darauf gegeben, dass die Beschwerdeführerin in Somalia von Zwangsheirat bedroht sein könnte. Da die Beschwerdeführerin bereits beschnitten ist und ihr keine erneute Beschneidung in Somalia droht, kann auch hier keine konkrete Gefährdung erkannt werden. Es ist daher – entgegen dem Vorbringen in der Beschwerde – diesbezüglich kein Risikoprofil der UNHCR-Richtlinien erfüllt.

Nach den EUAA-Leitlinien besteht nicht für alle Frauen und Mädchen eine hinreichend große Gefahr, um eine begründete Furcht vor Verfolgung festzustellen. Maßgebliche individuelle Faktoren können unter anderem das Alter, das Herkunftsgebiet, der soziale Status sowie die Clanzugehörigkeit sein. Die Beschwerdeführerin kommt aus einer Stadt in Mittel-Shabelle (Zentral-Somalia). Sie gehört einem Mehrheitsclan an und kann auf den Schutz des Clans zurückgreifen, da ihr Sub-Sub-Clan in ihrem Heimatort der Mehrheitsclan ist. Sie hat mit ihren Brüdern auch männliche Angehörige in Somalia, sodass sie auch auf familiären Schutz zurückgreifen kann. Sie kann auch weiterhin bei ihrer Familie in Somalia leben, sodass nicht die Gefahr besteht, dass sich die Beschwerdeführerin in einem IDP-Camp (für Binnenvertriebene) ansiedeln müsste. Es kann daher auch unter diesem Aspekt keine Gefahr einer konkreten, asylrelevanten Verfolgung bei der Beschwerdeführerin erkannt werden.

Nach den EUAA-Leitlinien besteht auch nicht für alle Frauen und Mädchen eine hinreichend große Gefahr, um eine begründete Furcht vor Verfolgung im Zusammenhang mit Gewalt durch die Al Shabaab festzustellen. Maßgebliche individuelle Faktoren können unter anderem das Alter, das Herkunftsgebiet und die Kontrolle und Präsenz durch die Al Shabaab, der soziale Status sowie die Clanzugehörigkeit sein. Wie bereits ausgeführt, kann die Beschwerdeführerin auf den Schutz ihres Clans sowie den Schutz ihrer Familie zurückgreifen. Nach den EUAA-Leitlinien (S. 12) ist die Heimatstadt der Beschwerdeführerin ( XXXX , auch XXXX geschrieben) und das umliegende Gebiet unter Kontrolle der ATMIS und der Regierung und nicht unter Kontrolle der Al Shabaab, sodass auch diesbezüglich keine Gefährdung ersichtlich ist.

3.8. Eine Verfolgungsgefahr ist zudem nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes nur dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht. Es muss sich zudem um eine aktuelle Verfolgungsgefahr handeln.

Die Beschwerden gegen Spruchpunkte I. der angefochtenen Bescheide waren daher als unbegründet abzuweisen.

Zu B)

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer solchen Rechtsprechung. Die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen sowohl auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes als auch auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.

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