JudikaturBvwgL501 2276872-1

L501 2276872-1 – Bundesverwaltungsgericht Entscheidung

Entscheidung
24. April 2024

Spruch

L501 2276872-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Irene ALTENDORFER als Einzelrichterin über die Beschwerde von Herrn XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Syrien, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Die beschwerdeführende Partei (in der Folge „bP“) eine syrische Staatsangehörige, stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet am 23.12.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz. Im Rahmen der Erstbefragung gab sie zum Fluchtgrund befragt an, sie habe ihr Heimatland 2015 verlassen, sie wolle in Sicherheit leben, bei einer Rückkehr werde sie abgeschlachtet, in ihrer Heimat gebe es überall Milizen.

Am 29.06.2023 wurde die bP durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge „BFA“ bzw. „belangte Behörde“) niederschriftlich einvernommen. Sie gab an, aus der Stadt XXXX im Gouvernement XXXX zu stammen, wo sie bis zu ihrer illegalen und schlepperunterstützten Ausreise in die Türkei im Jahr 2015 ihr ganzes Leben verbracht habe. Zum Fluchtgrund befragt, erklärte sie, sie habe Syrien verlassen, da sie nicht zum Militär wolle, sie habe einrücken müssen, wolle aber nicht kämpfen und niemanden umbringen. Ihren Militärdienst habe sie bereits von 2010 bis 2012 in Homs abgeleistet, das Militärbuch habe sie verloren und keine Kopie. Im Rückkehrfall befürchte sie von der syrischen Armee oder den Kurden rekrutiert oder umgebracht zu werden, das Regime führe Krieg gegen die Sunniten.

Mit dem in Beschwerde gezogenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag der bP auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab, erkannte ihr den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung.

In ihrer fristgerecht erhobenen Beschwerde brachte die bP im Wesentlichen vor, dass ihr im Falle einer Rückkehr Zwangsrekrutierung durch die syrische Armee und die kurdische Volksverteidigungseinheit bzw. bei Weigerung eine Verfolgung aufgrund unterstellter oppositioneller Gesinnung und unverhältnismäßig hohen Strafen drohen. Es sei bekannt, dass alle Konfliktparteien bereits schwere Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder andere Handlungen, die der Satzung der Vereinten Nationen zuwiderlaufen, begangen hätten. Das syrische Militär könne auch im kurdischen Gebiet auf die bP zugreifen und es bestehe die Gefahr, dass sie beim Verlassen ihres Heimatdorfes in ihrer Heimatregion an einem Checkpoint verhaftet werde. Im Übrigen werde ihr aufgrund der Asylantragstellung im Ausland und der illegalen Ausreise mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine oppositionelle politische Gesinnung unterstellt. Die belangte Behörde hätte darlegen müssen, warum sie die Einschätzung von UNHCR und EASO im Hinblick auf eine Verfolgung durch das syrische Regime bzw. die Kurden nicht teilt. Eine Steigerung des Vorbringens sei nicht erkennbar, vielmehr sei die bP bei der Erstbefragung müde und erschöpft von der Reise gewesen. Die Überlegungen zum Freikauf seien spekulativ und wolle die bP die syrische Regierung keinesfalls bei weiteren Menschenrechtsverletzungen finanziell unterstützen, auch könne es aufgrund der Willkür trotzdem zu einer Zwangsrekrutierung kommen. Schließlich stehe der bP, die nicht über die notwendigen Dokumente verfüge, eine legale und sichere Ein- bzw. Weiterreise in ihr Herkunftsgebiet nicht offen.

Mit Schriftsatz vom 26.01.2024 brachte die bP ergänzend vor, dass sie in der Stadt XXXX an ungefähr 25 Demonstrationen gegen das syrische Regime teilgenommen habe. Sie bringe das erst jetzt vor, da sie eine Informationsweitergabe an die syrischen Behörden befürchtet habe; ein Verstoß gegen das Neuerungsverbot könne darin aber nicht erblickt werden. Auch habe sie an einer gegen die syrische Regierung gerichteten Demonstration in Wien teilgenommen.

Am 15.04.2024 führte das erkennende Gericht im Beisein der bP, deren Rechtsvertreterin und eines Dolmetschers für die arabische Sprache eine mündliche Verhandlung durch. Ein Behördenvertreter ist entschuldigt nicht erschienen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

II.1. Feststellungen:

II.1.1. Die am 05.01.1991 in XXXX (auch XXXX ; Gouvernement Ar-Raqqa) geborene bP führt den Namen XXXX , ist syrische Staatsangehörige, gehört der Volksgruppe der Araber an und bekennt sich zum sunnitischen Islam.

Die bP verbrachte die Zeit nach dem Tod ihrer Mutter im Jahr 1992 bis zum Besuch der ersten Grundschulklasse in der Obhut einer Tante väterlicherseits, danach lebte sie in einem XXXX XXXX . Sie absolvierte eine neunjährige Schulausbildung und war nebenbei als Friseurin tätig. Nach der Ableistung ihrer Wehrpflicht als Rekrutin in der Artillerie der syrischen Armee (SAA) (2010 bis ca. 2012) war sie wieder als Friseurin XXXX tätig.

Im Jahr 2015 verließ die bP schließlich Syrien illegal und schlepperunterstützt in Richtung Türkei und reiste anschließend über Griechenland, Nordmazedonien, Serbien und Ungarn spätestens am 23.12.2022 unter Umgehung der Grenzkontrollen in Österreich ein. Mit dem angefochtenen Bescheid wurde ihr der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt.

Die Muttersprache der bP ist Arabisch. Sie leidet an keinen lebensbedrohlichen physischen oder psychischen Erkrankungen, sie bedarf auch keiner medikamentösen Behandlung.

Die bP ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

Der leibliche Bruder der bP hat gesundheitliche Probleme, er lebt nach wie vor in Syrien. Der Vater sowie dessen Ehefrau leben mit den Halbgeschwistern der bP in der Türkei, ein Halbbruder und eine Halbschwester befinden sich in Saudi-Arabien.

II.1.2. Die bP stammt aus der im gleichnamigen Gouvernement gelegenen Stadt Ar-Raqqa. Der Herkunftsort der bP befindet sich im Zentrum des Gouvernements und steht – so wie wie das Umland - seit November 2017 unter der Kontrolle der kurdisch dominierten Syrian Democratic Forces (SDF) bzw. der Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien (AANES, auch unter Rojava bekannt). Im Laufe des Jahres 2013 wurde die FSA, die bis dahin nach dem syrischen Regime die Kontrolle über die Stadt hatte, von der Terrormiliz Da’esh (auch bekannt als IS bzw. ISIL) vertrieben. Der Herkunftsort wurde auch im Zeitpunkt der Ausreise der bP im Jahr 2015 von Da’esh kontrolliert. Ar-Raqqa und die umliegenden Ortschaften befinden sich nicht unter der Kontrolle der syrischen Regierung und sind dort auch keine Truppen der syrischen Armee stationiert.

Der Herkunftsort ist für die bP ohne Kontakt zum syrischen Regime erreichbar Für die Einreise in den Herkunftsstaat steht ihr insbesondere der nicht von der syrischen Regierung kontrollierte Grenzübergang Semalka/Faysh Khabur (Gouvernement Al-Hasakah, Syrien – Autonome Region Kurdistan, Irak) zur Verfügung und ist es ihr anschließend möglich, ihren Herkunftsort auf dem Landweg zu erreichen, und zwar ohne mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer Zwangsrekrutierung oder sonstiger behördlicher Maßnahmen durch das syrische Regime ausgesetzt zu sein. Sie verfügt über einen Personalausweis im Original und kann sohin ihre Herkunft aus dem AANES-Gebiet gegebenenfalls nachweisen.

II.1.3. Die bP hat den verpflichtenden Wehrdienst in der syrischen Armee von 2010 bis 2012 ca. 40 km von der Stadt Homs entfernt abgeleistet. Sie ist nicht im Besitz eines Militärbuches. Der Geburtsjahrgang der bP gehört dem Reservedienst an, sie kann sohin grundsätzlich einberufen werden. Die syrische Regierung ist in der Herkunftsregion der bP ( XXXX ) allerdings weiterhin nicht in der Lage, Männer im wehrpflichtigen Alter zum verpflichtenden Wehrdienst bzw. zum Reservedienst in der syrischen Armee zwangsweise zu rekrutieren. Die Wehrpflichtigen der Region sind für das syrische Regime mangels Einflusses des syrischen Militärs nicht greifbar. Die nächstgelegene Grenze zu dem von der syrischen Regierung kontrollierten Gebiet befindet sich etwa 20 km südöstlich der Heimatstadt der bP, die Regierungsenklaven Qamishli und Hasaka liegen über 200 km entfernt.

Im Fall einer Rückkehr droht der bP in ihrer Herkunftsregion nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine reale Gefahr zum Militärdienst bei der syrischen Armee eingezogen zu werden.

II.1.4. a) Im Juni 2019 ratifizierte die AANES ein Gesetz zur „Selbstverteidigungspflicht", das den verpflichtenden Militärdienst regelt, den Männern über 18 Jahre im Gebiet der AANES ableisten müssen. Im Allgemeinen werden die Menschen entlassen, nachdem sie ein Jahr gedient haben (vgl. EB 15.8.2022; vgl. DIS 6.2022). Am 4.9.2021 wurde das Dekret Nr. 3 erlassen, welches die Selbstverteidigungspflicht auf Männer beschränkt, die 1998 oder später geboren wurden und ihr 18. Lebensjahr erreicht haben. Gleichzeitig wurden die Jahrgänge 1990 bis 1997 von der Selbstverteidigungspflicht befreit. (vgl. ANHA, 4.9.2021, LIB, Version 11 vom 27.03.2024)

Im Falle einer Verweigerung würde die "Pflicht zur Selbstverteidigung" als Strafmaßnahme 15 Monate betragen. Verspätete Einberufungen sind verpflichtet, einen weiteren Monat zu dienen. (vgl. EUAA Syria Country focus). Der Versuch, der Selbstverteidigungspflicht zu entgehen, wird mit einer Verlängerung der Selbstverteidigungspflicht um einen Monat sanktioniert, einigen Quellen zufolge auch in Verbindung mit einer Haftstrafe für einen kürzeren Zeitraum von ein bis zwei Wochen. Von Misshandlungen der Inhaftierten berichten die Quellen nicht.

Eine Verweigerung des Dienstes bei den kurdischen Selbstverteidigungskräften führt nicht zur Unterstellung einer oppositionellen Gesinnung seitens der Kurden als Konfliktpartei. (vgl. DIS 6/2022, ÖB Damaskus 12/2022)

Wird der Dienst in der Selbstverteidigungseinheit HXP verweigert, so drohen keine unverhältnismäßigen Konsequenzen wie Folter, unmenschliche Strafe oder Behandlung (vgl. DIS 6/2022)

Das Nachkommen der Selbstverteidigungspflicht kann aufgrund einer Ausbildung, eines Auslandsaufenthalts, der Behinderung von Brüdern, des Kriteriums „einziger Sohn“ oder auch aufgrund medizinischer Gründe verschoben oder aufgehoben werden. (vgl. DIS 6/2022). Die meisten kurdischen jungen Männer melden sich freiwillig bei den SDF und sind daher von der Selbstverteidigungspflicht befreit (ACCORD vom 06.09.2023 [a-12188], konkret Al-Mustafa).

Bei den kurdischen Einheiten dienen Wehrpflichtige in den Selbstverteidigungseinheiten (HXP), eine von den SDF separate Streitkraft, die vom Demokratischen Rat Syriens (Syrian Democratic Council, SDC) verwaltet wird und über eigene Militärkommandanten verfügt. Die SDF weisen den HXP Aufgaben zu und bestimmen, wo diese eingesetzt werden sollen. Die Einsätze der Rekruten im Rahmen der Selbstverteidigungspflicht erfolgen normalerweise in Bereichen wie Nachschub oder Objektschutz. Rekruten droht daher weder mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ein Fronteinsatz, noch ist mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass sich Rekruten im Rahmen der Selbstverteidigungspflicht an völkerrechtswidrigen Militäraktionen beteiligen müssten. Es finden sich auch keine Berichte über von der HXP begangene völkerrechtswidrigen Aktionen. (vgl. DIS 6/2022; ACCORD vom 06.09.2023 [a-12188])

Wehrpflichtige erhalten 45 Tage Erstausbildung, in denen es nicht möglich ist, eine Beurlaubung zu erhalten. Nach der Erstausbildung können Wehrpflichtige bis zu sieben Tage im Monat Urlaub beurlauben. Die Ausbildung besteht sowohl aus militärischer Grundausbildung als auch aus politischer Bildung. Im Allgemeinen hängt die Schulung, die HXP Rekruten erhalten, von den Aufgaben ab, die sie ausführen werden. (vgl. DIS 6/2022)

Während des Dienstes in der HXP erhalten die Verpflichteten ein symbolisches Gehalt, Kost und Logis sowie kostenlose medizinische Behandlungen in bestimmten Krankenhäusern. (vgl. DIS 6/2022)

Die bP ist vor der Machtübernahme der Kurden in ihrem Herkunftsort aus Syrien ausgereist. Sie hatte folglich bislang noch nicht dieser in den Gebieten der AANES bestehenden „Selbstverteidigungspflicht“ für Männer nachzukommen, sie hat diese Verpflichtung daher bislang nicht verweigert. Die bP gehört überdies seit der Erlassung des Dekrets 3 vom 4.9.2021 aufgrund ihres Geburtsjahrgangs 1991 nicht mehr zum wehrpflichtigen Personenkreis. Ihr droht im Fall einer Rückkehr nicht die Einberufung zum Wehrdienst in den Selbstverteidigungseinheiten HXP.

II.1.4. b) Die dem Board of Defence (entspricht einem Verteidigungsministerium) der AANES unterstehenden Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) sind eine Dachorganisation, die sich aus mehreren bewaffneten Gruppen zusammensetzt, darunter die YPG und das YPJ.

Die Einstellung in den SDF erfolgt nur auf freiwilliger Basis. Viele Menschen entscheiden sich aufgrund der relativ hohen Löhne für den Beitritt zur SDF, einige um ihr lokales Gebiet zu schützen. Die SDF findet mit diesen Personen ihr Auslangen. Das entscheidende Kriterium für eine Aufnahme in die Streitkräfte ist Loyalität. Die Rekrutierung für die zwei großen SDF Gruppen, YPG und YPJ, erfolgt gleichfalls freiwillig.

Weder die PKK noch ihr militärischen Flügels HPG oder die YPG/YPJ rekrutiert neue Mitglieder in den AANES Gebieten mit Gewalt. (vgl. DIS 6/2022).

Die bP unterlag bisher keiner (Zwangs-)Rekrutierung durch sonstige militärische Gruppierungen noch droht ihr im Rückkehrfall in ihre Herkunftsregion mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer (Zwangs-)Rekrutierung durch sonstige militärische Gruppierungen, wie die SDF, die YPG oder auch die PKK.

II.1.5. Die bP wird im Falle der Rückkehr in ihre Herkunftsregion nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung ausgesetzt sein. Sie war und ist nicht politisch tätig, ist nicht Mitglied einer oppositionellen Gruppierung und auch nicht in das Blickfeld der Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien (AANES) oder der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) oder anderer Konfliktparteien geraten.

Die bP wird im Falle einer Rückkehr in ihre Herkunftsregion auch keiner anderweitigen und mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretenden individuellen Gefährdung, psychischen und/oder physischen Gewalt oder Strafverfolgung ausgesetzt sein. Sie unterliegt insbesondere keiner individuellen Gefährdung aufgrund ihrer sunnitisch-arabischen Identität, ihrer Familien- bzw. Stammeszugehörigkeit, wegen politischer Betätigung oder wegen der unrechtmäßigen Ausreise aus Syrien sowie des in Österreich durchlaufenen Asylverfahrens oder des Aufenthaltes in Europa.

II.1.6. Zur (allgemeinen) Lage im Herkunftsstaat werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der der abgekürzt zitierten und gegenüber der bP offen gelegten Quellen getroffen:

II.1.6.1. Politische Lage

Im Jahr 2011 erreichten die Umbrüche in der arabischen Welt auch Syrien. Auf die zunächst friedlichen Proteste großer Teile der Bevölkerung, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und ein Ende des von Bashar al-Assad geführten Ba’ath-Regimes verlangten, reagierte dieses mit massiver Repression gegen die Protestierenden, vor allem durch den Einsatz von Armee und Polizei, sonstiger Sicherheitskräfte und staatlich organisierter Milizen (Shabiha). So entwickelte sich im Laufe der Zeit ein zunehmend komplexer werdender bewaffneter Konflikt (AA 13.11.2018). Die tiefer liegenden Ursachen für den Konflikt sind die Willkür und Brutalität des syrischen Sicherheitsapparats, die soziale Ungleichheit und Armut vor allem in den ländlichen Gegenden Syriens, die weitverbreitete Vetternwirtschaft und nicht zuletzt konfessionelle Spannungen (Spiegel 29.08.2016).

Die Entscheidung Moskaus, 2015 in Syrien militärisch zu intervenieren, hat das Assad-Regime in Damaskus effektiv geschützt. Russische Luftstreitkräfte und nachrichtendienstliche Unterstützung sowie von Iran unterstützte Milizen vor Ort ermöglichten es dem Regime, die Opposition zu schlagen und seine Kontrolle über große Teile Syriens brutal wiederherzustellen. Seit März 2020 scheint der Konflikt in eine neue Patt-Phase einzutreten, in der drei unterschiedliche Gebiete mit statischen Frontlinien abgegrenzt wurden (IPS 20.05.2022). Das Assad-Regime kontrolliert rund 70% des syrischen Territoriums. Seit dem Höhepunkt des Konflikts, als das Regime – unterstützt von Russland und Iran - unterschiedslose, groß angelegte Offensiven startete, um Gebiete zurückzuerobern, hat die Gewalt deutlich abgenommen. Auch wenn die Gewalt zurückgegangen ist, kommt es entlang der Konfliktlinien im Nordwesten und Nordosten Syriens weiterhin zu kleineren Scharmützeln. Im Großen und Ganzen hat sich der syrische Bürgerkrieg zu einem internationalisierten Konflikt entwickelt, in dem fünf ausländische Streitkräfte - Russland, Iran, Türkei, Israel und die Vereinigten Staaten - im syrischen Kampfgebiet tätig sind und Überreste des Islamischen Staates (IS) regelmäßig Angriffe durchführen (USIP 14.03.2023). Solange das militärische Engagement von Iran, Russland, Türkei und USA auf bisherigem Niveau weiterläuft, sind keine größeren Veränderungen bei der Gebietskontrolle zu erwarten (AA 2.2.2024).

Der Machtanspruch des syrischen Regimes wird in einigen Gebieten unter seiner Kontrolle angefochten. Dem Regime gelingt es dort nur bedingt, das staatliche Gewaltmonopol durchzusetzen. Im Gouvernement Suweida kommt es beispielsweise seit dem 20.8.2023 zu täglichen regimekritischen Protesten, darunter Straßenblockaden und die zeitweise Besetzung von Liegenschaften der Regime-Institutionen (AA 2.2.2024). In den vom Regime kontrollierten Gebieten unterdrücken die Sicherheits- und Geheimdienstkräfte des Regimes, die Milizen und die Verbündeten aus der Wirtschaft aktiv die Autonomie der Wähler und Politiker. Ausländische Akteure wie das russische und das iranische Regime sowie die libanesische Schiitenmiliz Hizbollah üben ebenfalls großen Einfluss auf die Politik in den von der Regierung kontrollierten Gebieten aus (FH 9.3.2023).

In den übrigen Landesteilen üben unverändert de facto Behörden Gebietsherrschaft aus. Im Nordwesten kontrolliert die von der islamistischen Terrororganisation Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) gestellte Syrische Errettungsregierung (SSG) weiterhin Gebiete in den Gouvernements Idlib, Lattakia, Hama und Aleppo. In Teilen des Gouvernements Aleppo sowie in den von der Türkei besetzten Gebieten im Norden beansprucht weiterhin die von der syrischen Oppositionskoalition (SOC/Etilaf) bestellte Syrische Interimsregierung (SIG) den Regelungsanspruch. Die von kurdisch kontrollierten Kräften abgesicherten sogenannten Selbstverwaltungsbehörden im Nordosten (AANES) üben unverändert Kontrolle über Gebiete östlich des Euphrats in den Gouvernements ar-Raqqah, Deir ez-Zor und al-Hassakah sowie in einzelnen Ortschaften im Gouvernement Aleppo aus (AA 2.2.2024). Ungeachtet der vorstehenden Ausführungen bleibt Syrien, bis hin zur subregionalen Ebene, territorial fragmentiert. In vielen Fällen wird die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen sind möglich (v. a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen (AA 29.3.2023). Im syrischen Bürgerkrieg hat sich die Grenze zwischen Staat und Nicht-Staat zunehmend verwischt.

Die politische Gesamtlage in Syrien zeigt sich [im Berichtszeitraum März 2023 - Oktober 2023] nicht wesentlich verändert (AA 2.2.2024). Der Konflikt in Syrien befindet sich in einer Patt-Situation mit wenig Aussicht auf eine baldige politische Lösung (USIP 14.3.2023; vgl. AA 29.3.2023). Eine realistische Perspektive für eine Veränderung des politischen Status Quo in den Regimegebieten, etwa zugunsten oppositioneller Kräfte, ob auf politischem oder militärischem Wege, besteht aktuell nicht. Auch der politische Prozess für eine von den Konfliktparteien verhandelte, inklusive Lösung des Konflikts gemäß Sicherheitsratsresolution 2254 der Vereinten Nationen (VN) (vorgesehen danach u. a. Ausarbeitung einer neuen Verfassung, freie und faire Wahlen unter Aufsicht der VN und unter Beteiligung der syrischen Diaspora) unter Ägide der VN stagniert. Ausschlaggebend dafür bleibt die anhaltende Blockadehaltung des Regimes, das keinerlei Interesse an einer politischen Lösung des Konflikts zeigt und vor diesem Hintergrund jegliche Zugeständnisse verweigert. Alternative politische Formate unter Führung verschiedener Mächte haben bislang keine Fortschritte gebracht (AA 2.2.2024). Letztlich ist es das Ziel der Assad-Regierung, die Kontrolle über das gesamte syrische Territorium wiederzuerlangen (Alaraby 31.5.2023; vgl. IPS 20.5.2022). Russland, die Türkei, die Vereinigten Staaten und Iran unterstützen die Kriegsparteien weiterhin militärisch und finanziell (HRW 11.1.2024).

Im Äußeren gelang es dem syrischen Regime, sich dem Eindruck internationaler Isolation entgegenzusetzen (AA 2.2.2024). Das propagierte "Normalisierungsnarrativ" verfängt insbesondere bei einer Reihe arabischer Staaten (AA 29.3.2023). Im Mai 2023 wurde Syrien wieder in die Arabische Liga aufgenommen, von der es im November 2011 aufgrund der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste ausgeschlossen worden war (Wilson 6.6.2023; vgl. SOHR 7.5.2023). Als Gründe für die diplomatische Annäherung wurden unter anderem folgende Interessen der Regionalmächte genannt: Rückkehr von syrischen Flüchtlingen in ihr Heimatland, die Unterbindung des Drogenschmuggels in die Nachbarländer - insbesondere von Captagon (CMEC 16.5.2023; vgl. Wilson 6.6.2023, SOHR 7.5.2023), Ängste vor einer Machtübernahme islamistischer Extremisten im Fall eines Sturzes des Assad-Regimes sowie die Eindämmung des Einflusses bewaffneter, von Iran unterstützter Gruppierungen, insbesondere im Süden Syriens. Das syrische Regime zeigt laut Einschätzung eines Experten für den Nahen Osten dagegen bislang kein Interesse, eine große Anzahl an Rückkehrern wiederaufzunehmen und Versuche, den Drogenhandel zu unterbinden, erscheinen in Anbetracht der Summen, welche dieser ins Land bringt, bislang im besten Fall zweifelhaft (CMEC 16.5.2023). Am 3.7.2023 reiste erneut der jordanische Außenminister Ayman Safadi nach Damaskus, um Bemühungen zur Schaffung von Bedingungen für die Rückkehr von syrischen Geflüchteten aus Jordanien zu intensivieren (AA 2.2.2024). Die EU-Mitgliedsstaaten in ihrer Gesamtheit und die USA stellen sich den Normalisierungsbestrebungen politisch unverändert entgegen (AA 2.2.2024).

II.1.6.1.1. Syrische Interimsregierung und syrische Heilsregierung

Im März 2013 gab die Nationale Koalition der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte als höchste offizielle Oppositionsbehörde die Bildung der syrischen Interimsregierung (Syrian Interim Government, SIG) bekannt, welche die Gebiete außerhalb der Kontrolle des Regimes im ganzen Land verwalten soll. Im Laufe der Zeit schrumpften die der Opposition angehörenden Gebiete jedoch, insbesondere nach den Vereinbarungen von 2018, die dazu führten, dass Damaskus die Kontrolle über den Süden Syriens und die Oppositionsgebiete im Süden von Damaskus und im Umland übernahm. Der Einfluss der SIG ist nun auf die von der Türkei unterstützten Gebiete im Norden Aleppos beschränkt (SD 18.3.2023). Formell erstreckt sich ihr Zuständigkeitsbereich auch auf die von Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) kontrollierte Zone. Dort wurde sie von der HTS jedoch an den Rand gedrängt (Brookings 27.1.2023). Die von der HTS kontrollierten Gebiete in Idlib und Teile der Provinzen Aleppo und Latakia werden inzwischen von der syrischen Heilsregierung (Syrian Salvation Government, SSG), dem zivilen Flügel der HTS, regiert (SD 18.3.2023).

Nicht-staatliche Akteure in Nordsyrien haben systematisch daran gearbeitet, sich selbst mit Attributen der Staatlichkeit auszustatten. Sie haben sich von aufständischen bewaffneten Gruppen in Regierungsbehörden verwandelt. In Gebieten, die von der HTS, einer sunnitischen islamistischen politischen und militärischen Organisation, kontrolliert werden, und in Gebieten, die nominell unter der Kontrolle der SIG stehen, haben bewaffnete Gruppen und die ihnen angeschlossenen politischen Flügel den institutionellen Rahmen eines vollwertigen Staates mit ausgefeilten Regierungsstrukturen wie Präsidenten, Kabinetten, Ministerien, Regulierungsbehörden, Exekutivorganen usw. übernommen (Brookings 27.1.2023).

Die nordwestliche Ecke der Provinz Idlib, an der Grenze zur Türkei, ist die letzte Enklave der traditionellen Opposition gegen Assads Herrschaft. Sie beherbergt Dutzende von hauptsächlich islamischen bewaffneten Gruppen, von denen die HTS die dominanteste ist (MEI 26.4.2022). Mit der im November 2017 gegründeten (NPA 4.5.2023) syrischen Heilsregierung hat die HTS ihre Möglichkeiten zur Regulierung, Besteuerung und Bereitstellung begrenzter Dienstleistungen für die Zivilbevölkerung erweitert. Doch wie jüngste Studien gezeigt haben, sind diese Institutionen Mechanismen, die hochrangige Persönlichkeiten innerhalb der herrschenden Koalitionen ermächtigen und bereichern (Brookings 27.1.2023). In dem Gebiet werden keine organisierten Wahlen abgehalten und die dortigen Lokalräte werden von bewaffneten Gruppen beherrscht oder von diesen umgangen. Die HTS versucht in Idlib, eine autoritäre Ordnung mit einer islamistischen Agenda durchzusetzen. Obwohl die Mehrheit der Menschen in Idlib sunnitische Muslime sind, ist HTS nicht beliebt. Die von der HTS propagierten religiösen Dogmen sind nur ein Aspekt, der den Bürgerinnen und Bürgern missfällt. Zu den anderen Aspekten gehören der Mangel an grundlegenden Dienstleistungen, willkürliche Verhaftungen, Gewalt und Missbrauch (BS 23.2.2022).

In den von der Türkei besetzten und kontrollierten Gebieten in Nordwest- und Nordzentral-Syrien ist die SIG die nominelle Regierungsbehörde. Innerhalb der von der Türkei kontrollierten Zone ist eine von der Türkei unterstützte Koalition bewaffneter Gruppen, die Syrische Nationale Armee (SNA) - nicht zu verwechseln mit Assads Syrischen Streitkräften -, mächtiger als die SIG, die sie routinemäßig ignoriert oder außer Kraft setzt (Brookings 27.1.2023). Beide wiederum operieren de facto unter der Autorität der Türkei (Brookings 27.1.2023; vgl. SD 18.3.2023). Die von der Türkei unterstützten Oppositionskräfte bildeten nach ihrer Machtübernahme 2016 bzw. 2018 in diesem Gebiet Lokalräte, die administrativ mit den angrenzenden Provinzen der Türkei verbunden sind. Laut einem Forscher des Omran Center for Strategic Studies können die Lokalräte keine strategischen Entscheidungen treffen, ohne nicht die entsprechenden türkischen Gouverneure einzubinden. Gemäß anderen Quellen variiert der Abhängigkeitsgrad der Lokalräte von den türkischen Behörden von einem Rat zum nächsten (SD 18.3.2023). Die Anwesenheit der Türkei bringt ein gewisses Maß an Stabilität, aber ihre Abhängigkeit von undisziplinierten lokalen Vertretern, ihre Unfähigkeit, die Fraktionsbildung unter den Dutzenden bewaffneter Gruppen, die mit der SNA verbunden sind, zu überwinden, und ihre Toleranz gegenüber deren Missbrauch und Ausbeutung der Zivilbevölkerung haben dazu geführt, dass ihre Kontrollzone die am wenigsten sichere und am brutalsten regierte im Norden Syriens ist (Brookings 27.1.2023).

II.1.6.1.2. Selbstverwaltungsgebiet Nord- und Ostsyrien

2011 soll es zu einem Übereinkommen zwischen der syrischen Regierung, der iranischen Regierung und der Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê, PKK) gekommen sein, deren Mitglieder die Partei der Demokratischen Union (Partiya Yekîtiya Demokrat, PYD) gründeten. Die PYD, ausgestattet mit einem bewaffneten Flügel, den Volksverteidigungseinheiten (YPG), hielt die kurdische Bevölkerung in den Anfängen des Konfliktes davon ab, sich effektiv an der Revolution zu beteiligen. Demonstrationen wurden aufgelöst, Aktivisten festgenommen, Büros des Kurdischen Nationalrats in Syrien, einer Dachorganisation zahlreicher syrisch-kurdischer Parteien, angegriffen. Auf diese Weise musste die syrische Armee keine 'zweite Front' in den kurdischen Gebieten eröffnen und konnte sich auf die Niederschlagung der Revolution in anderen Gebieten konzentrieren. Als Gegenleistung zog das Ba'ath-Regime Stück für Stück seine Armee und seinen Geheimdienst aus den überwiegend kurdischen Gebieten zurück. In der zweiten Jahreshälfte 2012 wurden Afrîn, 'Ain al-'Arab (Kobanê) und die Jazira/Cizîrê von der PYD und der YPG übernommen, ohne dass es zu erwähnenswerten militärischen Auseinandersetzungen mit der syrischen Armee gekommen wäre (Savelsberg 8.2017).

Im November 2013 - etwa zeitgleich mit der Bildung der syrischen Interimsregierung (SIG) durch die syrische Opposition - rief die PYD die sogenannte Demokratische Selbstverwaltung (DSA) in den Kantonen Afrîn, Kobanê und Cizîrê aus und fasste das so entstandene, territorial nicht zusammenhängende Gebiet unter dem kurdischen Wort für "Westen" (Rojava) zusammen. Im Dezember 2015 gründete die PYD mit ihren Verbündeten den Demokratischen Rat Syriens (SDC) als politischen Arm der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) (SWP 7.2018). Die von den USA unterstützten SDF (TWI 18.7.2022) sind eine Koalition aus syrischen Kurden, Arabern, Turkmenen und anderen Minderheitengruppen (USDOS 20.3.2023), in dem der militärische Arm der PYD, die YPG, die dominierende Kraft ist (KAS 4.12.2018). Im März 2016 riefen Vertreter der drei Kantone (Kobanê war inzwischen um Tall Abyad erweitert worden) den Konstituierenden Rat des "Demokratischen Föderalen Systems Rojava/Nord-Syrien" (Democratic Federation of Northern Syria, DFNS) ins Leben (SWP 7.2018). Im März 2018 (KAS 4.12.2018) übernahm die Türkei völkerrechtswidrig die Kontrolle über den kurdischen Selbstverwaltungskanton Afrîn mithilfe der Syrischen Nationalen Armee (SNA), einer von ihr gestützten Rebellengruppe (taz 15.10.2022). Im September 2018 beschloss der SDC die Gründung des Selbstverwaltungsgebiets Nord- und Ostsyrien (Autonomous Administration of North and East Syria, AANES) auf dem Gebiet der drei Kantone (abzüglich des von der Türkei besetzten Afrîn). Darüber hinaus wurden auch Gebiete in Deir-ez Zor und Raqqa (K24 6.9.2018) sowie Manbij, Takba und Hassakah, welche die SDF vom Islamischen Staat (IS) befreit hatten, Teil der AANES (SO 27.6.2022).

Der Krieg gegen den IS forderte zahlreiche Opfer und löste eine Fluchtwelle in die kurdischen Selbstverwaltungsgebiete aus. Die syrischen Kurden stehen zwischen mehreren Fronten und können sich auf keinen stabilen strategischen Partner verlassen. Die erhoffte Kriegsdividende, für den Kampf gegen den IS mit einem autonomen Gebiet 'belohnt' zu werden, ist bisher ausgeblieben (KAS 4.12.2018). Die syrische Regierung erkennt weder die kurdische Enklave noch die Wahlen in diesem Gebiet an (USDOS 20.3.2023). Türkische Vorstöße auf syrisches Gebiet im Jahr 2019 führten dazu, dass die SDF zur Abschreckung der Türkei syrische Regierungstruppen einlud, in den AANES Stellung zu beziehen (ICG 18.11.2021). Die Gespräche zwischen der kurdischen Selbstverwaltung und der Regierung in Damaskus im Hinblick auf die Einräumung einer Autonomie und die Sicherung einer unabhängigen Stellung der SDF innerhalb der syrischen Streitkräfte sind festgefahren (ÖB Damaskus 1.10.2021). Mit Stand Mai 2023 besteht kein entsprechender Vertrag zwischen den AANES und der syrischen Regierung (Alaraby 31.5.2023). Unter anderem wird über die Verteilung von Öl und Weizen verhandelt, wobei ein großer Teil der syrischen Öl- und Weizenvorkommen auf dem Gebiet der AANES liegen (K24 22.1.2023). Normalisierungsversuche der diplomatischen Beziehungen zwischen der Türkei und der syrischen Regierung wurden in den AANES im Juni 2023 mit Sorge betrachtet (AAA 24.6.2023). Anders als die EU und USA betrachtet die Türkei sowohl die Streitkräfte der YPG als auch die Partei PYD als identisch mit der von der EU als Terrororganisation gelisteten PKK und daher als Terroristen und Gefahr für die nationale Sicherheit der Türkei (AA 2.2.2024).

Die Führungsstrukturen der AANES unterscheiden sich von denen anderer Akteure und Gebiete in Syrien. Die "autonome Verwaltung" basiert auf der egalitären, von unten nach oben gerichteten Philosophie Abdullah Öcalans, der in der Türkei im Gefängnis sitzt [Anm.: Gründungsmitglied und Vorsitzender der PKK]. Frauen spielen eine viel stärkere Rolle als anderswo im Nahen Osten, auch in den kurdischen Sicherheitskräften. Lokale Nachbarschaftsräte bilden die Grundlage der Regierungsführung, die durch Kooptation zu größeren geografischen Einheiten zusammengeführt werden (MEI 26.4.2022). Es gibt eine provisorische Verfassung, die Lokalwahlen vorsieht (FH 9.3.2023). Dies ermöglicht mehr freie Meinungsäußerung als anderswo in Syrien und theoretisch auch mehr Opposition. In der Praxis ist die PYD nach wie vor vorherrschend, insbesondere in kurdisch besiedelten Gebieten (MEI 26.4.2022), und der AANES werden autoritäre Tendenzen bei der Regierungsführung und Wirtschaftsverwaltung des Gebiets vorgeworfen (Brookings 27.1.2023; vgl. SD 22.7.2021). Die mit der PYD verbundenen Kräfte nehmen regelmäßig politische Opponenten fest. Während die politische Vertretung von Arabern formal gewährleistet ist, werden der PYD Übergriffe gegen nicht-kurdische Einwohner vorgeworfen (FH 9.3.2023). Teile der SDF haben Berichten zufolge Übergriffe verübt, darunter Angriffe auf Wohngebiete, körperliche Misshandlungen, rechtswidrige Festnahmen, Rekrutierung und Einsatz von Kindersoldaten, Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie willkürliche Zerstörung und Abriss von Häusern. Die SDF haben die meisten Vorwürfe gegen ihre Streitkräfte untersucht. Einige Mitglieder der SDF wurden wegen Missbrauchs strafrechtlich verfolgt, jedoch lagen dazu keine genauen Zahlen vor (USDOS 20.3.2023).

Zwischen den rivalisierenden Gruppierungen unter den Kurden gibt es einerseits Annäherungsbemühungen, andererseits kommt es im Nordosten aus politischen Gründen und wegen der schlechten Versorgungslage zunehmend auch zu innerkurdischen Spannungen zwischen dem sogenannten Kurdish National Council, der Masoud Barzanis KDP [Anm.: Kurdistan Democratic Party - Irak] nahesteht und dem ein Naheverhältnis zur Türkei nachgesagt wird, und der PYD, welche die treibende Kraft hinter der kurdischen Selbstverwaltung ist, und die aus Sicht des Kurdish National Council der PKK zu nahe steht (ÖB 1.10.2021).

Seitdem der Islamische Staat (IS) 2019 die Kontrolle über sein letztes Bevölkerungszentrum verloren hat, greift er mit Guerilla- und Terrortaktiken Sicherheitskräfte und lokale zivile Führungskräfte an (FH 9.3.2023). Hauptziele sind Einrichtungen und Kader der SDF sowie der syrischen Armee (ÖB 1.10.2021)

II.1.6.2. Sicherheitslage:

Die militärische Landkarte Syriens hat sich nicht substantiell verändert. Das Regime kontrolliert weiterhin rund 60 Prozent des syrischen Staatsgebiets, mit Ausnahme von Teilen des Nordwestens, des Nordens und des Nordostens (AA 2.2.2024). United Nations Geospatial veröffentlichte eine Karte mit Stand Juni 2023, in welcher die wichtigsten militärischen Akteure und ihre Einflussgebiete verzeichnet sind (UNGeo 1.7.2023):

UNGeo 1.7.2023 (Stand: 6.2023)

Die folgende Karte zeigt Kontroll- und Einflussgebiete unterschiedlicher Akteure in Syrien, wobei auch Konvoi- und Patrouille-Routen eingezeichnet sind, die von syrischen, russischen und amerikanischen Kräften befahren werden. Im Nordosten kommt es dabei zu gemeinsam genutzten Straßen

CC 13.12.2023 (Stand: 30.9.2023)

Die militärische Intervention Russlands und die damit einhergehende Luftunterstützung für Assads Streitkräfte sowie die erheblich ausgeweitete indirekte Bodenintervention Irans in Form eines Einsatzes ausländischer Milizen konnten 2015 den Zusammenbruch des syrischen Regimes abwenden (KAS 4.12.2018). Die syrische Regierung hat derzeit die Kontrolle über ca. zwei Drittel des Landes, inklusive größerer Städte, wie Aleppo und Homs. Unter ihrer Kontrolle sind derzeit die Provinzen Suweida, Daraa, Quneitra, Homs sowie ein Großteil der Provinzen Hama, Tartus, Lattakia und Damaskus. Auch in den Provinzen Aleppo, Raqqa und Deir ez-Zor übt die syrische Regierung über weite Teile die Kontrolle aus (Barron 6.10.2023). Aktuell sind die syrischen Streitkräfte mit Ausnahme von wenigen Eliteeinheiten technisch sowie personell schlecht ausgerüstet und können gerade abseits der großen Konfliktschauplätze nur begrenzt militärische Kontrolle ausüben (AA 2.2.2024). Die Opposition konnte eingeschränkt die Kontrolle über Idlib und entlang der irakisch-syrischen Grenze behalten. (CFR 24.1.2024).

Das Regime, Pro-Regime-Milizen wie die Nationalen Verteidigungskräfte (National Defense Forces - NDF), bewaffnete Oppositionsgruppen, die von der Türkei unterstützt werden, die Syrian Democratic Forces (SDF), extremistische Gruppen wie Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) und IS (Islamischer Staat), ausländische Terrorgruppen wie Hizbollah sowie Russland, Türkei und Iran sind in den bewaffneten Konflikt involviert (USDOS 20.3.2023) Es kann laut Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts im gesamten Land jederzeit zu militärischer Gewalt kommen. Gefahr kann dabei einerseits von Kräften des Regimes gemeinsam mit seinen Verbündeten Russland und Iran ausgehen, welches unverändert das gesamte Staatsgebiet militärisch zurückerobern will und als Feinde betrachtete „terroristische“ Kräfte bekämpft. Das Regime ist trotz begrenzter Kapazitäten grundsätzlich zu Luftangriffen im gesamten Land fähig, mit Ausnahme von Gebieten unter türkischer oder kurdischer Kontrolle sowie in der von den USA kontrollierten Zone rund um das Vertriebenenlager Rukban an der syrisch-jordanischen Grenze. Nichtsdestotrotz basiert seine militärische Durchsetzungsfähigkeit fast ausschließlich auf der massiven militärischen Unterstützung durch die russische Luftwaffe und Einheiten Irans, bzw. durch seitens Iran unterstützte Milizen, einschließlich Hizbollah (AA 2.2.2024). Wenngleich offene Quellen seit August 2022 den Abzug militärischer Infrastruktur (insb. Luftabwehrsystem S-300) vermelden, lassen sich Auswirkungen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine auf die russische Einsatzfähigkeit in Syrien bislang nicht substantiieren. (AA 29.3.2023).

Die folgende Karte zeigt die verschiedenen internationalen Akteure und deren militärische Interessenschwerpunkte in Syrien:

Quelle: Jusoor 30.7.2023

II.1.5.2.1. Sicherheitslage in Nordwest-Syrien:

Während das Assad-Regime etwa 60 Prozent des Landes kontrolliert, was einer Bevölkerung von rund neun Millionen Menschen entspricht, gibt es derzeit [im Nordwesten Syriens] zwei Gebiete, die sich noch außerhalb der Kontrolle des Regimes befinden: Nord-Aleppo und andere Gebiete an der Grenze zur Türkei, die von der von Ankara unterstützten Syrischen Nationalarmee (Syrian National Army, SNA) kontrolliert werden, und das Gebiet von Idlib, das von der militanten islamistischen Gruppe Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) kontrolliert wird. Zusammen kontrollieren sie 10 Prozent des Landes mit einer Bevölkerung von etwa 4,4 Millionen Menschen, wobei die Daten zur Bevölkerungsanzahl je nach zitierter Institution etwas variieren (ISPI 27.6.2023).

Auf diesem Kartenausschnitt sind die Machtverhältnisse in Nordwest-Syrien eingezeichnet:

II.1.6.2.1.1. Das Gebiet unter Kontrolle von Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS)

In der nordwestlichen Provinz Idlib und den angrenzenden Teilen der Provinzen Nord-Hama und West-Aleppo befindet sich die letzte Hochburg der Opposition in Syrien (BBC 2.5.2023). Das Gebiet wird von dem ehemaligen al-Qaida-Ableger Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) [Anm.: übersetzt soviel wie: Komitee zur Befreiung der Levante] beherrscht, der nach Ansicht von Analysten einen Wandel durchläuft, um seine Herrschaft in der Provinz zu festigen (Alaraby 5.6.2023).

Das Gebiet beherbergt aber auch andere etablierte Rebellengruppen, die von der Türkei unterstützt werden (BBC 2.5.2023). HTS hat die stillschweigende Unterstützung der Türkei, die die Gruppe als Quelle der Stabilität in der Provinz und als mäßigenden Einfluss auf die radikaleren, transnationalen dschihadistischen Gruppen in der Region betrachtet. Durch eine Kombination aus militärischen Konfrontationen, Razzien und Festnahmen hat die HTS alle ihre früheren Rivalen wie Hurras ad-Din und Ahrar ash-Sham effektiv neutralisiert. Durch diese Machtkonsolidierung unterscheidet sich das heutige Idlib deutlich von der Situation vor fünf Jahren, als dort eine große Anzahl an dschihadistischen Gruppen um die Macht konkurrierte. HTS hat derzeit keine nennenswerten Rivalen. Die Gruppe hat Institutionen aufgebaut und andere Gruppen davon abgehalten, Angriffe im Nordwesten zu verüben. Diese Tendenz hat sich nach Ansicht von Experten seit dem verheerenden Erdbeben vom 6.2.2023, das Syrien und die Türkei erschütterte, noch beschleunigt (Alaraby 5.6.2023).

Aufgrund des militärischen Vorrückens der Regime-Kräfte und nach Deportationen von Rebellen aus zuvor vom Regime zurückeroberten Gebieten, ist Idlib in Nordwestsyrien seit Jahren Rückzugsgebiet vieler moderater, aber auch radikaler, teils terroristischer Gruppen der bewaffneten Opposition geworden (AA 29.11.2021). Zehntausende radikal-militanter Kämpfer, insb. der HTS, sind in Idlib präsent. Unter diesen befinden sich auch zahlreiche Foreign Fighters (Uiguren, Tschetschenen, Usbeken) (ÖB Damaskus 12.2022). Unter dem Kommando der HTS stehen zwischen 7.000 und 12.000 Kämpfer, darunter ca. 1.000 sogenannte Foreign Terrorist Fighters (UNSC 25.7.2023). Viele IS­-Kämpfer übersiedelten nach dem Fall von Raqqa 2017 nach Idlib - großteils Ausländer, die für den Dschihad nach Syrien gekommen waren und sich nun anderen islamistischen Gruppen wie der Nusra­-Front [Jabhat al-Nusra], heute als HTS bekannt, angeschlossen haben. Meistens geschah das über persönliche Kontakte, aber ihre Lage ist nicht abgesichert. Ausreichend Geld und die richtigen Kontaktleute ermöglichen derartige Transfers über die Frontlinie (Zenith 11.2.2022). Der IS sieht den Nordwesten als potenzielles Einfallstor in die Türkei und als sicheren Rückzugsort, wo seine Anhänger sich unter die Bevölkerung mischen (UNSC 25.7.2023). Laut einem Bericht des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom Februar 2023 sind neben HTS und Hurras ad-Din unter anderem auch die zentralasiatischen Gruppierungen Khatiba at-Tawhid wal-Jihad (KTJ) - im März 2022 in Liwa Abu Ubayda umbenannt - und das Eastern Turkistan Islamic Movement (ETIM) - auch bekannt als Turkistan Islamic Party (TIP) - in Nordwestsyrien präsent (UNSC 13.2.2023).

Im Jahr 2012 stufte Washington Jabhat an-Nusra [Anm.: nach Umorganisationen und Umbenennungen nun HTS] als Terrororganisation ein (Alaraby 8.5.2023). Auch die Vereinten Nationen führen HTS als terroristische Vereinigung (AA 2.2.2024). Die Organisation versuchte, dieser Einstufung zu entgehen, indem sie 2016 ihre Loslösung von al-Qaida ankündigte und ihren Namen mehrmals änderte, aber ihre Bemühungen waren nicht erfolgreich und die US-Regierung führt sie weiterhin als "terroristische Vereinigung" (Alaraby 8.5.2023; vgl. CTC Sentinel 2.2023). HTS geht gegen den IS und al-Qaida vor (COAR 28.2.2022; vgl. CTC Sentinel 2.2023) und reguliert nun die Anwesenheit ausländischer Dschihadisten mittels Ausgabe von Identitätsausweisen für die Einwohner von Idlib, ohne welche z.B. das Passieren von HTS-Checkpoints verunmöglicht wird. Die HTS versucht so, dem Verdacht entgegenzutreten, dass sie das Verstecken von IS-Führern in ihren Gebieten unterstützt, und signalisiert so ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der internationalen Gemeinschaft bei der Terrorismusbekämpfung (COAR 28.2.2022). Im Mai 2023 startete die HTS in den Provinzen Idlib und Aleppo beispielsweise eine Verhaftungskampagne gegen Hizb ut-Tahrir (HuT) als Teil der langfristigen Strategie, andere islamistische Gruppen in den von ihr kontrollierten Gebieten zu unterwerfen und die Streichung der HTS von internationalen Terroristenlisten zu erwirken (ACLED 8.6.2023; vgl. Alaraby 8.5.2023). Das Vorgehen gegen radikalere, konkurrierende Gruppierungen und die Versuche der Führung, der HTS ein gemäßigteres Image zu verpassen, führten allerdings zu Spaltungstendenzen innerhalb der verschiedenen HTS-Fraktionen (AM 22.12.2021). Im Dezember 2023 wurden diese Spaltungstendenzen evident. Nach einer Verhaftungswelle, die sich über ein Jahr hinzog, floh eine Führungspersönlichkeit in die Türkei, um eine eigene rivalisierende Gruppierung zu gründen. Die HTS reagierte mit einer Militäroperation in Afrin (Etana 12.2023). HTS verfolgt eine Expansionsstrategie und führt eine Offensive gegen regierungsnahe Milizen im Raum Aleppo durch (UNSC 25.7.2023).

Konfliktverlauf im Gebiet

Im Jahr 2015 verlor die syrische Regierung die Kontrolle über Idlib und diverse rivalisierende oppositionelle Gruppierungen übernahmen die Macht (BBC 18.2.2020), wobei die Freie Syrische Armee (FSA) manche Teile der Provinz schon 2012 erobert hatte (KAS 4.2020). Während die syrische Regierung die gesamte Provinz zurückerobern will, versucht Ankara zu verhindern, dass Idlib an Damaskus fällt, und daraufhin noch mehr Syrer in die Türkei flüchten (ORF 14.3.2021; vgl. Alaraby 25.1.2023). Die Türkei hat HTS als terroristische Organisation eingestuft, doch hat sie die Rebellengruppe in den letzten Jahren nicht aktiv daran gehindert, die Verwaltungsmacht in Idlib zu übernehmen (USCIRF 11.2022). Im Mai 2017 einigten sich Russland, Iran und die Türkei im Rahmen der Astana-Verhandlungen auf die Errichtung vier sogenannter Deeskalationszonen (DEZ) in Syrien (KAS 6.2020), wobei Idlib Teil einer DEZ wurde, die sich von den nordöstlichen Bergen Lattakias bis zu den nordwestlichen Vororten von Aleppo erstreckt und sowohl durch Hama als auch durch Idlib verläuft (SOHR 2.12.2022). Gemeint waren damit kampffreie Räume, in denen Zivilisten vor Angriffen geschützt sein sollten (KAS 6.2020; vgl. SD 18.8.2019). Gemäß der Übereinkunft von Astana rückte die türkische Armee im Oktober 2017 in die DEZ Idlib ein und errichtete Beobachtungsposten zur Überwachung der Waffenruhe. Ankara hatte sich in Astana verpflichtet, die Rebellen zu entwaffnen und den freien Verkehr auf den Fernstraßen M4 und M5 zu gewährleisten. Im Gegenzug hatten Moskau und Damaskus zugesichert, die Provinz nicht anzugreifen. Zusagen, die letztlich keine Seite einhielt. Die syrische Regierung führte im Zeitraum 2018-2020 Offensiven in Idlib durch, die zur Flucht von rund einer Million Menschen führten (KAS 6.2020).

Das syrische Regime hat den Wunsch geäußert, die Provinz zurückzuerobern, doch seit einer Offensive im März 2020, die mit einer für die syrische Regierung katastrophalen Niederlage gegen die Türkei endete, hat das Gebiet den Besitzer nicht mehr gewechselt (Alaraby 5.6.2023). Im März 2020 vermittelten Russland und die Türkei einen Waffenstillstand, um einen Vorstoß der Regierung zur Rückeroberung von Idlib zu stoppen (BBC 26.6.2023). Die vereinbarte Waffenruhe in der DEZ Idlib wurde weitestgehend eingehalten (AA 2.2.2024), sie führte zu einer längeren Pause in der Gewalt, aber sporadische Zusammenstöße, Luftangriffe und Beschuss gehen weiter (BBC 26.6.2023). Der Konflikt ist derzeit weitgehend eingefroren, auch wenn es immer wieder zu Kämpfen kommt (AJ 15.3.2023).

Insbesondere im Süden der DEZ kommt es unverändert regelmäßig zu Kampfhandlungen zwischen Einheiten des Regimes und seiner Verbündeten und regimefeindlichen bewaffneten Oppositionsgruppen (AA 2.2.2024; vgl. UNSC 20.4.2023), inklusive schwerer Artillerieangriffe durch das syrische Regime und Luftschläge der russischen Luftwaffe (AA 2.2.2024; vgl. USDOS 20.3.2023).

Im Oktober 2023 kam es zu einer erneuten Eskalation, die vom Vorsitzenden der CoI als größte Eskalation von Kampfhandlungen in Syrien in vier Jahren bezeichnet (UNHRC 24.10.2023). Angefangen hat die Gewaltperiode am 5.10.2023 durch einen Drohnenangriff auf die Ausmusterungsveranstaltung der Militärakademie in Homs, bei dem 89 Personen getötet und 270 verletzt wurden. Die Hay'at Tahrir ash-Sham wird verdächtigt, hinter dem Anschlag zu stehen. Die russischen Streitkräfte intensivierten ihre Luftangriffe und die Syrische Armee den Beschuss. Die HTS und ihre Verbündeten reagierten wiederum mit Artilleriebeschuss, Scharfschützen, Lenkflugkörpern und mutmaßlich auch weiteren Drohnenangriffen. Die Situation in Nordwestsyrien beruhigte sich im November wieder und die Kampfhandlungen gingen auf das Niveau vor der Eskalation im Oktober 2023 zurück, waren aber auch im Dezember 2023 noch unverändert evident (ICG 10.2023).

Organisation Hay’at Tahrir al-Sham (HTS):

Hay’at Tahrir al-Sham (HTS) war früher als Jabhat al-Nusra bekannt und wurde 2011 in Syrien als Ableger von Al-Qaida im Gegensatz zur Regierung der Arabischen Republik gegründet. Jabhat Al-Nusra entwickelte sich schnell zu einer leistungsfähigen Organisation, die eine wachsende Zahl von Kämpfern anzog. Jabhat al-Nusra beherrschte die Durchführung aufständischer Angriffe und die Sicherung wirtschaftlicher Einnahmen, vor allem durch Geber aus den Golfstaaten, aber auch durch Steuern und Beschlagnahmungen von Vermögenswerten in den von der Organisation kontrollierten Gebieten. Im Jahr 2016 wurde Jabhat al-Nusra aufgelöst und stattdessen Jabhat Fatah al-Sham gegründet. Im Jahr 2017 fusionierte Jabhat Fatah al-Sham jedoch mit mehreren anderen islamistischen Gruppen, wie Harakat Nour al-Din al-Zinki, Liwa al-Haq, Jaysh al-Sunna und Jabhat Ansar al-Din. Infolgedessen wurde al-Nusra erneut umbenannt und neu organisiert, um sich als Hay’at Tahrir al-Sham zu etablieren. (DIS 12.2022)

Seit 2017 versucht HTS, sich von einer Fraktion der globalen Dschihad-Bewegung und einem Al-Qaida-Ableger zu einer de facto militärischen und regierenden konservativen Macht im Nordwesten Syriens zu entwickeln. Seitdem besteht das Hauptziel von HTS darin, in den von ihm kontrollierten Gebieten eine islamische Herrschaft zu etablieren, indem es die syrische Regierung und die iranischen Milizen bekämpft, Nordsyrien verteidigt und erhält und die Einheit unter dschihadistischen Gruppen im Nordwesten Syriens anstrebt. (DIS 12.2022)

Im Jahr 2017 gründete HTS die syrische Heilsregierung, die aus zehn Ministerien besteht, darunter Ministerien für Inneres, Justiz, Stiftungen, Bildung, Gesundheit, lokale Verwaltung und Dienstleistungen, Wirtschaft und Ressourcen, Entwicklung und humanitäre Angelegenheiten, Hochschulbildung und Landwirtschaft. Die Organisation funktioniert somit eher wie eine quasi-staatliche Einheit mit einer zentralen Führung, die die verschiedenen militärischen, politischen und wirtschaftlichen Aspekte und Komponenten von HTS kontrolliert. Laut einer syrischen Menschenrechtsorganisation ist HTS viel besser organisiert als SNA. Die von ihr kontrollierten Gebiete sind sicherer und geschützter als die von SNA kontrollierten Gebiete. (DIS 12.2022)

Seit November 2022 kontrolliert HTS große Teile des Großraums Idlib. Laut einer für diesen Bericht konsultierten syrischen Menschenrechtsorganisation kontrolliert HTS 50 % des Gouvernements Idlib. HTS kontrolliert auch Teile des nordwestlichen Gouvernements Hama und einen Teil der westlichen Landschaft von Aleppo. HTS kontrolliert Gebiete im nördlichen Umland von Aleppo und im nordöstlichen Umland von Latakia. Dies ist im nordwestlichen Teil der unter Pkt. II.1.5.2. abgebildeten Karte von Syrien (UNGeo 1.7.2023, Stand: 6.2023 ) in durchgehendem Grün und schraffiertem Grün dargestellt. (DIS 12.2022)

II.1.6.2.1.2. Gebiete unter Kontrolle der Türkei und Türkei-naher Milizen

Die Opposition im Nordwesten Syriens ist in zwei große Gruppen/Bündnisse gespalten: HTS im Gouvernement Idlib und die von der Türkei unterstützte SNA im Gouvernement Aleppo.

Zur Freien Syrischen Armee (FSA)

Ab 2022 existiert die Freie Syrische Armee (FSA) nicht mehr als zusammenhängende Militärmacht. Seit 2018 hat sich die FSA in Süd- und Zentralsyrien aufgelöst, nachdem die syrische Regierung (GoS) 2018 von der Opposition kontrollierte Gebiete übernommen hatte. An anderen Orten im Norden und Nordwesten Syriens, in Gebieten unter der Kontrolle der Opposition, haben sich ehemalige FSA-Gruppen mit der Syrischen Nationalarmee zusammengeschlossen (SNA) nach 2018, teilweise aufgrund der Dezimierung solcher FSA-Gruppen bei bewaffneten Zusammenstößen mit der GoS in Idlib im Jahr 2020. (DIS 12.2022)

Seit November 2022 ist die Freie Syrische Armee (FSA) ein umgangssprachlicher Begriff, den gewöhnliche Syrer verwenden, um Oppositionsgruppen zu beschreiben, bei denen es sich nicht um den Islamischen Staat, die HTS oder kurdisch geführte Kräfte wie die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) handelt. Gewöhnliche Syrer bezeichnen mit dem Begriff „Freie Syrische Armee“ Rebellen- und Oppositionsgruppen, die von Forschern hingegen als spezifische und individuelle bewaffnete Oppositionsgruppen identifiziert wurden. Nach Angaben des Syrischen Netzwerks für Menschenrechte (SNHR) bezeichnen sich alle bewaffneten nichtislamischen Oppositionsgruppen als „Freie Syrische Armee“, obwohl jede Gruppe einen eigenen Namen hat und tatsächlich Teil der (SNA) sein kann. (DIS 12.2022)

Die SNA ist auf dem Papier die Streitkraft der syrischen Übergangsregierung (SIG), die rund 2,3 Millionen Syrer regiert. In Wirklichkeit ist die SNA allerdings keine einheitliche Truppe, sondern setzt sich aus verschiedenen Fraktionen zusammen, die unterschiedliche Legionen bilden und nicht unbedingt der Führung des Verteidigungsministers der SIG folgen (Forbes 22.10.2022). Eine hochrangige syrische Oppositionsquelle in Afrîn sagte, dass innerhalb der SNA strukturelle Probleme bestehen, seit die von der Türkei unterstützten Kräfte das Gebiet 2018 von kurdischen Kräften erobert haben (MEE 15.10.2022) und es wird von internen Kämpfen der SNA-Fraktionen berichtet (MEE 25.10.2022). Trotz der internen Streitigkeiten operieren die SIG-Verwaltungen und die bewaffneten Gruppen innerhalb der SNA innerhalb der von Ankara vorgegebenen Grenzen (Forbes 22.10.2022; vgl. Brookings 27.1.2023).

Die SNA ist in den nördlichen und nordwestlichen Teilen der Gouvernements Aleppo, Raqqa und Hasaka präsent, in Gebieten, in denen die Türkei seit 2016 drei separate Militäreinsätze gestartet hat. Diese Gebiete sind als Operation Euphrates Shield-Gebiet (2016), Operation Olive Branch-Gebiet (2018) und Operation Peace Spring-Gebiet (2019) bekannt. Diese sind auf der unter Pkt. II.1.5.2. abgebildeten Karte von Syrien (UNGeo 1.7.2023) in den mit grüner Farbe und weißen Punkten markierten Gebieten dargestellt. (DIS 12.2022)

„Operation Friedensquelle“ (türk. „Barış Pınarı Harekâtı“)

Nachdem der ehemalige US-Präsident Donald Trump Anfang Oktober 2019 ankündigte, die US-amerikanischen Truppen aus der syrisch-türkischen Grenzregion abzuziehen, startete die Türkei am 9.10.2019 eine Luft- und Bodenoffensive im Nordosten Syriens. Im Zuge dessen riefen die kurdischen Behörden eine Generalmobilisierung aus. Einerseits wollte die Türkei mithilfe der Offensive die YPG und die von der YPG geführten Syrian Democratic Forces (SDF) aus der Grenzregion zur Türkei vertreiben, andererseits war das Ziel der Offensive, einen Gebietsstreifen entlang der Grenze auf syrischer Seite zu kontrollieren, in dem rund zwei der ungefähr 3,6 Millionen syrischen Flüchtlinge, die in der Türkei leben, angesiedelt werden sollen (CNN 10.10.2019).

Die syrische Armee von Präsident Bashar al-Assad ist nach einer Einigung mit den SDF am 14.10.2019 in mehrere Grenzstädte eingerückt, um sich der „türkischen Aggression“ entgegenzustellen, wie Staatsmedien berichteten (Standard 15.10.2019). Laut der Vereinbarung übernahmen die Einheiten der syrischen Regierung in einigen Grenzstädten die Sicherheitsfunktionen, die Administration soll aber weiterhin in kurdischer Hand sein (WP 14.10.2019). Seitdem verblieben die Machtverhältnisse [mit Stand April 2023] weitgehend unverändert (GEG 3.4.2023). Die syrischen Regierungstruppen üben im Gebiet punktuell Macht aus, etwa mit Übergängen zwischen einzelnen Stadtvierteln (z. B. Stadt Qamischli im Gouvernement Al-Hassakah) (AA 29.3.2023). Nach Vereinbarungen zwischen der Türkei, den USA und Russland richtete die Türkei eine „Sicherheitszone“ in dem Gebiet zwischen Tall Abyad und Ra’s al-ʿAyn ein (SWP 1.1.2020), die 120 Kilometer lang und bis zu 14 Kilometer breit ist (AA 19.5.2020)

II.1.6.2.2. Nordost-Syrien (Selbstverwaltungsgebiet Nord- und Ostsyrien (Autonomous Administration of North und East Syria – AANES) und das Gebiet der SNA (Syrian National Army)

Besonders volatil stellt sich laut Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amtes die Lage im Nordosten Syriens (v. a. Gebiete unmittelbar um und östlich des Euphrats) dar. Als Reaktion auf einen, von der Türkei der Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê, PKK) zugeschriebenen, Terroranschlag mit mehreren Toten in Istanbul startete das türkische Militär am 19.11.2022 eine mit Artillerie unterstützte Luftoperation gegen kurdische Ziele u. a. in Nordsyrien. Bereits zuvor war es immer wieder zu vereinzelten, teils schweren Auseinandersetzungen zwischen türkischen und Türkei-nahen Einheiten und Einheiten der kurdisch dominierten SDF (Syrian Democratic Forces) sowie Truppen des Regimes gekommen, welche in Abstimmung mit den SDF nach Nordsyrien verlegt wurden. Als Folge dieser Auseinandersetzungen, insbesondere auch von seit Sommer 2022 zunehmenden türkischen Drohnenschlägen, wurden immer wieder auch zivile Todesopfer, darunter Kinder, vermeldet (AA 29.3.2023). Auch waren die SDF gezwungen, ihren Truppeneinsatz angesichts türkischer Luftschläge und einer potenziellen Bodenoffensive umzustrukturieren. Durch türkische Angriffe auf die zivile Infrastruktur sind auch Bemühungen um die humanitäre Lage gefährdet (Newlines 7.3.2023). Die Angriffe beschränkten sich bereits im 3. Quartal 2022 nicht mehr nur auf die Frontlinien, wo die überwiegende Mehrheit der Zusammenstöße und Beschussereignisse stattfanden; im Juli und August 2022 trafen türkische Drohnen Ziele in den wichtigsten von den SDF kontrollierten städtischen Zentren und töteten Gegner (und Zivilisten) in Manbij, Kobanê, Tell Abyad, Raqqa, Qamishli, Tell Tamer und Hassakah (CC 3.11.2022). Bereits im Mai 2022 hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan eine vierte türkische Invasion seit 2016 angekündigt (HRW 12.1.2023). Anfang Oktober 2023 begannen die türkischen Streitkräfte wieder mit der Intensivierung ihrer Luftangriffe auf kurdische Ziele in Syrien, nachdem in Ankara ein Bombenanschlag durch zwei Angreifer aus Syrien verübt worden war (REU 4.10.2023). Die Luftangriffe, die in den Provinzen Hasakah, Raqqa und Aleppo durchgeführt wurden, trafen für die Versorgung von Millionen von Menschen wichtige Wasser- und Elektrizitätsinfrastruktur (HRW 26.10.2023; vgl. AA 2.2.2024).

Die Türkei unterstellt sowohl den Streitkräften der Volksverteidigungseinheiten (YPG) als auch der Democratic Union Party (PYD) Nähe zur von der EU als Terrororganisation gelisteten PKK und bezeichnet diese daher ebenfalls als Terroristen und Gefahr für die nationale Sicherheit der Türkei (AA 29.11.2021).

Der Think Tank Newslines Institute for Strategy and Policy sieht auf der folgenden Karte besonders die Gebiete von Tal Rifa'at, Manbij und Kobanê als potenzielle Ziele einer türkischen Offensive. Auf der Karte sind auch die Strecken und Gebiete mit einer Präsenz von Regime- und pro-Regime-Kräften im Selbstverwaltungsgebiet ersichtlich, die sich vor allem entlang der Frontlinien zu den pro-türkischen Rebellengebieten und entlang der türkisch-syrischen Grenze entlangziehen. In Tal Rifa'at und an manchen Grenzabschnitten sind sie nicht präsent:

Der Rückzug der USA aus den Gebieten östlich des Euphrat im Oktober 2019 ermöglichte es der Türkei, sich in das Gebiet auszudehnen und ihre Grenze tiefer in Syrien zu verlegen, um eine Pufferzone gegen die SDF zu schaffen (CMEC 2.10.2020). Aufgrund der türkischen Vorstöße sahen sich die SDF dazu gezwungen, mehrere tausend syrische Regierungstruppen aufzufordern, in dem Gebiet Stellung zu beziehen, um die Türkei abzuschrecken, und den Kampf auf eine zwischenstaatliche Ebene zu verlagern (ICG 18.11.2021). Regimekräfte sind seither in allen größeren Städten in Nordostsyrien präsent (AA 29.11.2021). Die Türkei stützte sich bei ihrer Militäroffensive im Oktober 2019 auch auf Rebellengruppen, die in der 'Syrian National Army' (SNA) zusammengefasst sind; seitens dieser Gruppen kam es zu gewaltsamen Übergriffen, insbesondere auf die kurdische Zivilbevölkerung sowie Christen und Jesiden (Ermordungen, Plünderungen und Vertreibungen). Aufgrund des Einmarsches wuchs die Zahl der intern vertriebenen Menschen im Nordosten auf über eine halbe Million an (ÖB Damaskus 1.10.2021).

Auf der folgenden Karte sind die militärischen Akteure der Region wie auch militärische und infrastrukturelle Maßnahmen, welche zur Absicherung der kurdischen "Selbstverwaltung" (Autonomous Administration of North and East Syria - AANES) nötig wären, eingezeichnet. Auf dieser Karte ist entlang der gesamten Frontlinie zu pro-türkischen Gebieten bzw. der türkisch-syrischen Grenze die Präsenz einer Kooperation zwischen SDF, Regime und russischen Truppen mit Ausnahme entlang des Tigris im äußersten Nordosten verzeichnet:

TWI 15.3.2022

Entgegen früheren Ankündigungen bleiben die USA weiterhin militärisch präsent (ÖB Damaskus 1.10.2021; vgl. AA 29.11.2021; JsF 9.9.2022). Am 4.9.2022 errichteten die US-Truppen einen neuen Militärstützpunkt im Dorf Naqara im Nordosten Syriens, der zu den drei Standorten der US-geführten internationalen Koalition in der Region Qamishli gehört. Der neue Militärstützpunkt kann dazu beitragen, die verstärkten Aktivitäten Russlands und Irans in der Region zu überwachen; insbesondere überblickt er direkt den von den russischen Streitkräften betriebenen Luftwaffenstützpunkt am Flughafen Qamishli. Er ist nur wenige Kilometer von den iranischen Militärstandorten südlich der Stadt entfernt (JsF 9.9.2022). Hinzukamen wiederholte Luft- bzw. Drohnenangriffe zwischen den in Nordost-Syrien stationierten US-Truppen und Iran-nahen Milizen (AA 2.2.2024).

SDF, YPG und YPJ [Anm.: Frauenverteidigungseinheiten] sind nicht nur mit türkischen Streitkräften und verschiedenen islamistischen Extremistengruppen in der Region zusammengestoßen, sondern gelegentlich auch mit kurdischen bewaffneten Gruppen, den Streitkräften des Assad-Regimes, Rebellen der Freien Syrischen Armee und anderen Gruppierungen (AN 17.10.2021). Die kurdisch kontrollierten Gebiete im Nordosten Syriens umfassen auch den größten Teil des Gebiets, das zuvor unter der Kontrolle des IS in Syrien stand (ICG 11.10.2019; vgl. EUAA 9.2022). Raqqa war de facto die Hauptstadt des IS (PBS 22.2.2022), und die Region gilt als "Hauptschauplatz für den Aufstand des IS" (ICG 11.10.2019; vgl. EUAA 9.2022).

Die kurdischen YPG stellen einen wesentlichen Teil der Kämpfer und v. a. der Führungsebene der SDF, welche in Kooperation mit der internationalen Anti-IS-Koalition militärisch gegen die Terrororganisation IS in Syrien vorgehen (AA 29.11.2021). In Reaktion auf die Reorganisation der Truppen zur Verstärkung der Front gegen die Türkei stellten die SDF vorübergehend ihre Operationen und andere Sicherheitsmaßnahmen gegen den Islamischen Staat ein. Dies weckte Befürchtungen bezüglich einer Stärkung des IS in Nordost-Syrien (Newlines 7.3.2023). Die SDF hatten mit Unterstützung US-amerikanischer Koalitionskräfte allein seit Ende 2021 mehrere Sicherheitsoperationen durchgeführt, in denen nach eigenen Angaben Hunderte mutmaßliche IS-Angehörige verhaftet und einzelne Führungskader getötet wurden (AA 2.2.2024).

Der IS führt weiterhin militärische Operationen in der AANES durch. Die SDF reagieren auf die Angriffe mit routinemäßigen Sicherheitskampagnen, unterstützt durch die Internationale Koalition. Bisher konnten diese die Aktivitäten des IS und seiner affiliierten Zellen nicht einschränken. SOHR dokumentierte von Anfang 2023 bis September 2023 121 Operationen durch den IS, wie bewaffnete Angriffe und Explosionen, in den Gebieten der AANES. Dabei kamen 78 Personen zu Tode, darunter 17 ZivilistInnen und 56 Mitglieder der SDF (SOHR 24.9.2023).

Türkische Angriffe und eine Finanzkrise destabilisieren den Nordosten Syriens (Zenith 11.2.2022). Die Autonome Verwaltung von Nord- und Ostsyrien befindet sich heute in einer zunehmend prekären politischen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Lage (TWI 15.3.2022). Wie in anderen Bereichen üben die dominanten Politiker der YPG, der mit ihr verbündeten Organisationen im Sicherheitsbereich sowie einflussreiche Geschäftsleute Einfluss auf die Wirtschaft aus, was verbreiteten Schmuggel zwischen den Kontrollgebieten in Syrien und in den Irak ermöglicht (Brookings 27.1.2023). Angesichts der sich rapide verschlechternden wirtschaftlichen Bedingungen im Nordosten Syriens haben die SDF zunehmend drakonische Maßnahmen ergriffen, um gegen abweichende Meinungen im Land vorzugehen und Proteste zum Schweigen zu bringen, da ihre Autorität von allen Seiten bedroht wird (Etana 30.6.2022). Nach den Präsidentschaftswahlen im Mai 2021 kam es in verschiedenen Teilen des Gebiets zu Protesten, unter anderem gegen den niedrigen Lebensstandard und die Wehrpflicht der SDF (al-Sharq 27.8.2021) sowie gegen steigende Treibstoffpreise (AM 30.5.2021). In arabisch besiedelten Gebieten im Gouvernement Hassakah und Manbij (Gouvernement Aleppo) starben Menschen, nachdem Asayish [Anm: Sicherheitskräfte der kurdischen Autonomieregion] in die Proteste eingriffen (al-Sharq 27.8.2021; vgl. AM 30.5.2021). Die Türkei verschärft die wirtschaftliche Lage in AANES absichtlich, indem sie den Wasserfluss nach Syrien einschränkt (KF 5.2022). Obwohl es keine weitverbreiteten Rufe nach einer Rückkehr des Assad-Regimes gibt, verlieren einige Einwohner das Vertrauen, dass die kurdisch geführte AANES für Sicherheit und Stabilität sorgen kann (TWI 15.3.2022).

II.1.6.3. Rechtsschutz/Justizwesen

II.1.6.3.1. Gebiete außerhalb der Kontrolle des Regimes unter HTS- oder SNA Dominanz

In Gebieten außerhalb der Kontrolle des syrischen Regimes ist die Lage von Justiz und Verwaltung von Region zu Region und je nach den örtlichen Herrschaftsverhältnissen unterschiedlich (AA 2.2.2024). In von oppositionellen Gruppen kontrollierten Gebieten wurden unterschiedlich konstituierte Gerichte und Haftanstalten aufgebaut, mit starken Unterschieden bei der Organisationsstruktur und bei der Beachtung juristischer Normen. Manche Gruppen folgen dem (syrischen) Strafgesetzbuch, andere folgen dem Entwurf eines Strafgesetzbuches auf Grundlage der Scharia, der von der Arabischen Liga aus dem Jahr 1996 stammt, während wiederum andere eine Mischung aus Gewohnheitsrecht und Scharia anwenden. Erfahrung, Expertise und Qualifikation der Richter in diesen Gebieten sind oft sehr unterschiedlich und häufig sind diese dem Einfluss der dominanten bewaffneten Gruppierungen unterworfen (USDOS 11.3.2020). Auch die Härte des angewandten islamischen Rechts unterscheidet sich, sodass keine allgemeinen Aussagen getroffen werden können (ÖB Damaskus 1.10.2021).

Doch werden insbesondere jene religiösen Gerichte, welche in (vormals) vom Islamischen Staat (IS) und von Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) [Anm.: HTS wird von den Vereinigten Staaten aufgrund ihrer Verbindungen zu Al Qa'ida als ausländische Terrororganisation eingestuft (CRS 8.11.2022)] kontrollierten Gebieten Recht sprechen, als nicht mit internationalen Standards im Einklang stehend charakterisiert (ÖB Damaskus 1.10.2021). Die Gerichte extremistischer Gruppen verhängen in ihren religiösen Gerichten harte Strafen wegen in ihrer Wahrnehmung religiösen Verfehlungen (FH 9.3.2023). Urteile von Scharia-Räten der Opposition resultieren manchmal in öffentlichen Hinrichtungen, ohne dass Angeklagte Berufung einlegen oder Besuch von ihren Familien erhalten können (USDOS 20.3.2023).

Das Gebiet unter Kontrolle der von der Türkei unterstützten syrischen Oppositionsgruppen wird von der "Syrischen Interimsregierung" (Syrian Interim Government - SIG) verwaltet. Das Justizsystem ist hauptsächlich mit erfahrenem Personal als Richter, Staatsanwälte und Anwälte besetzt, aber die Justiz gilt als direkt und indirekt unter Einfluss der türkischen Streitkräfte und ihrer lokalen syrischen Verbündeten stehend. Implizit werden Korruption und Schikanen durch diese von der Justiz toleriert. Gleichzeitig wird gegen jegliche Opposition zur SIG oder der türkischen Präsenz strikt vorgegangen. Neben einem zivilen Justizsystem gibt es auch eine Militärjustiz, welche für militärische Strafverfahren und für das Militärpersonal zuständig ist (NMFA 5.2022).

In Idlib übernehmen quasi-staatliche Strukturen der sogenannten „Errettungs-Regierung“ der HTS Verwaltungsaufgaben (AA 2.2.2024) und verfügen auch über eine Justizbehörde. Die Gruppe unterhält auch geheime Gefängnisse. Die HTS unterwirft ihre Gefangenen geheimen Verfahren, den sogenannten "Scharia-Sitzungen". In diesen werden die Entscheidungen von den Scharia- und Sicherheitsbeamten (Geistliche in Führungspositionen der HTS, die befugt sind, Fatwas [Rechtsgutachten] und Urteile zu erlassen) getroffen. Die Gefangenen können keinen Anwalt zu ihrer Verteidigung hinzuziehen und sehen ihre Familien während ihrer Haft nicht (NMFA 6.2021). Die COI (die von der UNO eingesetzte Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic) stellt in ihrem Bericht vom Februar 2022 fest, dass durch HTS und andere bewaffnete Gruppierungen eingesetzte, rechtlich nicht legitimierte Gerichte Urteile bis hin zur Todesstrafe aussprechen. Dies sei als Mord einzustufen und stelle insofern ein Kriegsverbrechen dar (AA 2.2.2024).

II.1.6.3.2. Nordost-Syrien

In Gebieten unter Kontrolle der sogenannten „Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien“ übernimmt diese quasi-staatliche Aufgaben wie Verwaltung und Personenstandswesen (AA 2.2.2024). Es wurde eine von der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) geführte Verwaltung geschaffen, die neben diesen Rechtsinstitutionen auch eine eigene Polizei, Gefängnisse und Ministerien umfasst (AI 12.7.2017). Das Justizsystem in den kurdisch kontrollierten Gebieten besteht aus Gerichten, Rechtskomitees und Ermittlungsbehörden (USDOS 20.3.2023). Juristen, welche unter diesem Justizsystem agieren, werden von der syrischen Regierung beschuldigt, eine illegale Justiz geschaffen zu haben. Richter und Justizmitarbeiter sehen sich mit Haftbefehlen der syrischen Regierung konfrontiert, verfügen über keine Pässe und sind häufig Morddrohungen ausgesetzt (JS 28.10.2019).

In den Gebieten unter der Kontrolle der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien (engl. Abk.: AANES) - auch kurd. "Rojava" genannt, setzten die Behörden einen Rechtskodex basierend auf einem "Gesellschaftsvertrag" ("social contract") durch. Dieser besteht aus einer Mischung aus syrischem Straf- und Zivilrecht und Gesetzen, die sich in Bezug auf Scheidung, Eheschließung, Waffenbesitz und Steuerhinterziehung an EU-Recht orientieren. Allerdings fehlen gewisse europäische Standards für faire Verfahren, wie das Verbot willkürlicher Festnahmen, das Recht auf gerichtliche Überprüfung und das Recht auf einen Anwalt (USDOS 20.3.2023). Zudem mangelt es an der Durchsetzung der Rechte für einen fairen Prozess (NMFA 6.2021).

Leute, die im Zusammenhang mit einem Gerichtsverfahren gesucht werden, erhalten keine Vorladung, sondern werden einfach verhaftet. In Pressekonferenzen der Asayish werden nur Verhaftungen von Verdächtigen in Strafverfahren vermeldet - nicht die Verhaftungen von Personen, welche wegen ihrer Meinungsäußerungen festgenommen oder die entführt wurden (NMFA 6.2021). Die SDF (Syrian Democratic Forces) führen willkürliche Verhaftungen von ZivilistInnen, einschließlich JournalistInnen durch (HRW 11.1.2024).

Verfahren gegen politische Gefangene werden in der Regel vor Strafgerichten oder vor einem Gericht für Terrorismusbekämpfung verhandelt. In Strafgerichten können Inhaftierte einen Anwalt beauftragen, in Gerichten für Terrorismusbekämpfung geht dies laut International Center for Transitional Justice (ICTJ) nicht und auch eine Berufung ist nicht möglich. Die meisten Inhaftierten werden nicht vor Gericht gestellt, sondern entweder freigelassen - oft unter Bedingungen, die mit Stammesführern ausgehandelt wurden - oder die Betroffenen verschwinden unter Gewaltanwendung (NMFA 6.2021).

Im März 2021 einigten sich Repräsentanten von kurdischen, jesidischen, arabischen und assyrischen Stämmen im Nordosten Syriens auf die Einrichtung eines Stammesgerichtssystems, bekannt als "Madbata", für die Klärung von intertribalen Streitigkeiten, Raubüberfällen, Rache und Plünderungen in der Jazira-Region in der Provinz Hassakah. Es besteht aus einer Reihe von Gesetzen und Bräuchen, die als Verfassung dienen, welche die Stammesbeziehungen regeln und die Anwendung dieser Gesetze überwachen, auf die sich eine Gruppe von Stammesältesten geeinigt hat. Aufgrund von schlechten Sicherheitsbedingungen und dem Fehlen einer effektiven und unparteiischen Justiz wurde wieder auf dieses traditionelle Rechtssystem zurückgegriffen (AM 4.4.2021).

II.1.6.4. Wehr- und Reservedienst bei den syrischen Streitkräften:

Für männliche syrische Staatsbürger ist im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes verpflichtend (ÖB Damaskus 12.2022). Laut Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 Art. 4 lit b gilt dies vom 1. Januar des Jahres, in dem das Alter von 18 Jahren erreicht wird, bis zum Überschreiten des Alters von 42 Jahren (PAR 12.5.2007).

Das syrische Wehrdienstgesetz sieht vor, dass bestimmte Personengruppen, wie zum Beispiel der einzige Sohn einer Familie, aus medizinischen Gründen Untaugliche (DIS 5.2020; vgl. FIS 14.12.2018), manche Regierungsangestellte (FIS 14.12.2018) und Personen, welche eine Befreiungsgebühr bezahlen, vom Wehrdienst ausgenommen sind. Manche Studenten und Personen mit bestimmten Abschlüssen, wie auch Personen mit vorübergehenden Erkrankungen können den Wehrdienst aufschieben, wobei die Rückstellungen jedes Jahr erneuert werden müssen (DIS 5.2020). Das Risiko der Willkür ist immer gegeben (STDOK 8.2017; vgl. DRC/DIS 8.2017).

Als einziger Sohn der Familie kann man sich vom Wehrdienst befreien lassen. Mehrere Quellen des Danish Immigration Service haben angegeben, dass es keine Fälle gibt, in denen die einzigen Söhne einer Familie trotzdem zur Wehrpflicht herangezogen worden sind (DIS 1.2024).

Seit einer Änderung des Wehrpflichtgesetzes im Juli 2019 ist die Aufschiebung des Militärdienstes jedenfalls nur bis zum Alter von 37 Jahren möglich und kann durch Befehl des Oberbefehlshabers beendet werden (ÖB Damaskus 12.2022).

Am 1.12.2023 trat das neue Gesetzesdekret Nr.37 in Kraft, wonach sich Rekruten, die das 40. Lebensjahr vollendet haben und noch nicht in den Reservedienst eingetreten sind, sich von ebendiesem freikaufen können durch eine Zahlung von 4.800 USD. Für jeden Monat, in dem derjenige den Reservedienst bereits geleistet hat, werden 200 USD abgezogen (SANA 1.12.2023).

Binnenvertriebene sind wie andere Syrer zur Ableistung des Wehrdienstes verpflichtet und werden rekrutiert (FIS 14.12.2018). Auch geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehren, müssen mit Zwangsrekrutierung rechnen (AA 2.2.2024).

II.1.6.4.1. Die Umsetzung der Wehrpflicht:

Bei der Einberufung neuer Rekruten sendet die Regierung Wehrdienstbescheide mit der Aufforderung, sich zum Militärdienst anzumelden, an Männer, die das wehrfähige Alter erreicht haben. Die Namen der einberufenen Männer werden in einer zentralen Datenbank erfasst. (DIS 5.2020). Laut Gesetz sind in Syrien junge Männer im Alter von 17 Jahren dazu aufgerufen, sich ihr Wehrbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Im Alter von 18 Jahren wird man einberufen, um den Wehrdienst abzuleisten. (STDOK 8.2017; vgl. DIS 7.2023). Die Rekruten müssen eine 45-tägige militärische Grundausbildung absolvieren. Männer mit niedrigem Bildungsstand werden häufig in der Infanterie eingesetzt, während Männer mit einer höheren Bildung oft in prestigeträchtigeren Positionen eingesetzt werden. Gebildetere Personen kommen damit auch mit höherer Wahrscheinlichkeit in Positionen, in denen sie über andere Personen Bericht erstatten oder diese bestrafen müssen (STDOK 8.2017).

Obwohl die offizielle Wehrdienstzeit etwa zwei Jahre beträgt, werden Wehrpflichtige in der Praxis auf unbestimmte Zeit eingezogen (NMFA 5.2022; vgl. AA 29.3.2022), wobei zuletzt von einer "Verkürzung" des Wehrdienstes auf 7,5 Jahre berichtet wurde. Die tatsächliche Dauer richtet sich laut UNHCR Syrien jedoch nach Rang und Funktion der Betreffenden (ÖB Damaskus 12.2022). Personen, die aufgrund ihrer besonderen Fachkenntnisse von großem Wert für die Armee und nur schwer zu ersetzen sind, können daher über Jahre hinweg im Militärdienst gehalten werden. Personen, deren Beruf oder Fachwissen in der Gesellschaft sehr gefragt ist, wie z.B. Ärzte, dürfen eher nach Ablauf der offiziellen Militärdienstzeit ausscheiden (NMFA 5.2022).

Seit März 2020 hat es in Syrien keine größeren militärischen Offensiven an den offiziellen Frontlinien mehr gegeben. Scharmützel, Granatenbeschuss und Luftangriffe gingen weiter, aber die Frontlinien waren im Grunde genommen eingefroren. Nach dem Ausbruch von COVID-19 und der Einstellung größerer Militäroperationen in Syrien Anfang 2020 verlangsamten sich Berichten zufolge die militärischen Rekrutierungsmaßnahmen der SAA. Die SAA berief jedoch regelmäßig neue Wehrpflichtige und Reservisten ein. Im Oktober 2021 wurde ein Rundschreiben herausgegeben, in dem die Einberufung von männlichen Syrern im wehrpflichtigen Alter angekündigt wurde. Auch in den wiedereroberten Gebieten müssen Männer im wehrpflichtigen Alter den Militärdienst ableisten (EUAA 9.2022). Der Personalbedarf des syrischen Militärs bleibt aufgrund von Entlassungen langgedienter Wehrpflichtiger und zahlreicher Verluste durch Kampfhandlungen unverändert hoch (AA 2.2.2024).

II.1.6.4.2. Rekrutierungspraxis

Es gibt, dem Auswärtigen Amt zufolge, zahlreiche glaubhafte Berichte, laut denen wehrpflichtige Männer, die auf den Einberufungsbescheid nicht reagieren, von Mitarbeitern der Geheimdienste abgeholt und zwangsrekrutiert werden (AA 2.2.2024). Junge Männer werden an Kontrollstellen (Checkpoints) sowie unmittelbar an Grenzübergängen festgenommen und zwangsrekrutiert (AA 2.2.2024; vgl. NMFA 5.2022), wobei es in den Gebieten unter Regierungskontrolle zahlreiche Checkpoints gibt (NMFA 5.2022; vgl. NLM 29.11.2022). Glaubhaften Berichten zufolge gibt es Zwangsrekrutierungen junger Männer durch syrische Streitkräfte auch unmittelbar im Kampfgebiet (AA 2.2.2024).

Rekrutierungen finden auch in Ämtern statt, beispielsweise wenn junge Männer Dokumente erneuern wollen, sowie an Universitäten, in Spitälern und an Grenzübergängen, wo die Beamten Zugang zur zentralen Datenbank mit den Namen der für den Wehrdienst gesuchten Männer haben. Nach Angaben einer Quelle fürchten auch Männer im wehrfähigen Alter, welche vom Militärdienst laut Gesetz ausgenommen sind oder von einer zeitweisen Amnestie vom Wehrdienst Gebrauch machen wollen, an der Grenze eingezogen zu werden (DIS 5.2020). Lokale Medien berichteten, dass die Sicherheitskräfte der Regierung während der Fußballweltmeisterschaft der Herren 2022 mehrere Cafés, Restaurants und öffentliche Plätze in Damaskus stürmten, wo sich Menschen versammelt hatten, um die Spiele zu sehen, und Dutzende junger Männer zur Zwangsrekrutierung festnahmen (USDOS 20.3.2023).

Während manche Quellen davon ausgehen, dass insbesondere in vormaligen Oppositionsgebieten (z. B. dem Umland von Damaskus, Aleppo, Dara‘a und Homs) immer noch Rekrutierungen mittels Hausdurchsuchungen stattfinden (DIS 5.2020; vgl. ICG 9.5.2022, EB 6.3.2020), berichten andere Quellen, dass die Regierung nun weitgehend davon absieht, um erneute Aufstände zu vermeiden (DIS 5.2020). Hausdurchsuchungen finden dabei v.a. eher in urbanen Gebieten statt, wo die SAA stärkere Kontrolle hat, als in ruralen Gebieten (DIS 1.2024). Mehrere Quellen berichteten im Jahr 2023 wieder vermehrt, dass Wehr- und Reservedienstpflichtige aus ehemaligen Oppositionsgebieten von der syrischen Regierung zur Wehrpflicht herangezogen wurden, um mehr Kontrolle über diese Gebiete zu erlangen bzw. um potenzielle Oppositionskämpfer aus diesen Gebieten abzuziehen (NMFA 8.2023; vgl. DIS 7.2023). Eine Quelle des Danish Immigration Service geht davon aus, dass Hausdurchsuchungen oft weniger die Rekrutierung als vielmehr eine Erpressung zum Ziel haben (DIS 1.2024).

Während manche Quellen berichten, dass sich die syrische Regierung bei der Rekrutierung auf Alawiten und regierungstreue Gebiete konzentrierte (EASO 4.2021), berichten andere, dass die syrische Regierung Alawiten und Christen nun weniger stark in Anspruch nimmt (ÖB Damaskus 12.2022; vgl. EASO 4.2021). Da die Zusammensetzung der syrisch-arabischen Armee ein Spiegelbild der syrischen Bevölkerung ist, sind ihre Wehrpflichtigen mehrheitlich sunnitische Araber, die vom Regime laut einer Quelle als "Kanonenfutter" im Krieg eingesetzt wurden. Die sunnitisch-arabischen Soldaten waren (ebenso wie die alawitischen Soldaten und andere) gezwungen, den größeren Teil der revoltierenden sunnitisch-arabischen Bevölkerung zu unterdrücken. Der Krieg forderte unter den alawitischen Soldaten bezüglich der Anzahl der Todesopfer einen hohen Tribut, wobei die Eliteeinheiten der SAA, die Nachrichtendienste und die Shabiha-Milizen stark alawitisch dominiert waren (Al-Majalla 15.3.2023).

Im Rahmen sog. lokaler "Versöhnungsabkommen" in den vom Regime zurückeroberten Gebieten sowie im Kontext lokaler Rückkehrinitiativen aus Libanon hat das Regime Männern im wehrpflichtigen Alter eine sechsmonatige Schonfrist zugesichert. Diese wurde jedoch in zahlreichen Fällen, auch nach der Einnahme des Südwestens, nicht eingehalten. Sowohl in Ost-Ghouta als auch in den südlichen Gouvernements Dara‘a und Quneitra soll der Militärgeheimdienst dem Violations Documentation Center zufolge zahlreiche Razzien zur Verhaftung und zum anschließenden Einzug ins Militär durchgeführt haben (AA 2.2.2024).

II.1.6.4.3. Rekrutierung von Personen aus Gebieten außerhalb der Regierungskontrolle

Gebiete unter HTS- oder SNA-Dominanz

Das Gouvernement Idlib befindet sich außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung, die dort keine Personen einberufen kann (Rechtsexperte 14.9.2022), mit Ausnahme einiger südwestlicher Sub-Distrikte (Nahias) des Gouvernements, die unter Regierungskontrolle stehen (ACLED 1.12.2022; vgl. Liveuamap 17.5.2023). Die syrische Regierung kontrolliert jedoch die Melderegister des Gouvernements Idlib (das von der syrischen Regierung in das Gouvernement Hama verlegt wurde), was es ihr ermöglicht, auf die Personenstandsdaten junger Männer, die das Rekrutierungsalter erreicht haben, zuzugreifen, um sie für die Ableistung des Militärdienstes auf die Liste der "Gesuchten" zu setzen. Das erleichtert ihre Verhaftung zur Rekrutierung, wenn sie das Gouvernement Idlib in Richtung der Gebiete unter Kontrolle der syrischen Regierung verlassen (Rechtsexperte 14.9.2022).

Die Syrische Nationale Armee (Syrian National Army, SNA) ist die zweitgrößte Oppositionspartei, die sich auf das Gouvernement Aleppo konzentriert. Sie wird von der Türkei unterstützt und besteht aus mehreren Fraktionen der Freien Syrischen Armee (Free Syrian Army, FSA). Sie spielt nach wie vor eine wichtige Rolle in Nordsyrien, wird aber von politischen Analysten bisweilen als türkischer Stellvertreter gebrandmarkt. Die SNA hat die Kontrolle über die von der Türkei gehaltenen Gebiete (Afrin und Jarabulus) in Syrien und wird von der Türkei geschützt. Die syrische Regierung unterhält keine Präsenz in den von der Türkei gehaltenen Gebieten und kann keine Personen aus diesen Gebieten für die Armee rekrutieren, es sei denn, sie kommen in Gebiete, die von der syrischen Regierung kontrolliert werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Auch mit Stand Februar 2023 hat die syrische Armee laut einem von ACCORD befragten Syrienexperten keine Zugriffsmöglichkeit auf wehrdienstpflichtige Personen in Jarabulus (ACCORD 20.3.2023).

Nordost-Syrien

Die syrische Regierung ist – mit Ausnahme der Regierungsenklaven in Qamischli und Hasaka - in den von der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien (AANES) kontrollierten Gebieten de facto nicht in der Lage, die Wehrpflicht durchzusetzen oder Oppositionelle zu verhaften. (ACCORD Themendossier Wehrdienst vom 20.03.2024; Länderinformation der Staatendokumentation; ACCORD Anfragebeantwortung a-12197 vom 24.08.2023; DIS, Juni 2022, S. 1; Themenbericht der Staatendokumentation, Syrien-Grenzübergänge, S. 5)

Entsprechend dem Abkommen zwischen den Syrian Democratic Forces (SDF) und der syrischen Regierung vom 14.10.2019 rückte die syrische Armee von Präsident Bashar al-Assad in einige kurdisch kontrollierte Gebiete vor, um sich - wie Staatsmedien berichteten - der "türkischen Aggression" entgegenzustellen (Standard 15.10.2019).

Laut einem von ACCORD kontaktierten Syrienexperten sind aus diesem Grunde u.a. Regierungstruppen in den Gebieten in und um Manbidsch, Ain Al-Arab, Tal Rifaat und an der türkischen Grenze zwar präsent, führten jedoch hauptsächlich nur Patrouillen, meist zusammen mit der russischen Militärpolizei aus. Die SDF (Syrian Democratic Forces) ist aber nach wie vor der Hauptakteur in der Region. Die SDF hat der Regierung lediglich erlaubt, Truppen einzusetzen, um eine mögliche türkische Militäroperation in Nordsyrien zu verhindern. Der auf kurdische Angelegenheiten spezialisierte Reporter und Analyst Wladimir van Wilgenburg stimmt zu, dass die syrischen Behörden in den Gebieten um Manbidsch, Ain Al-Arab und in der Nähe der türkischen Grenze nicht in der Lage sind, Wehrpflichtige bzw. Reservepersonal einzuziehen. In Tal Rifaat ist die Situation jedoch eine andere als in den anderen Gebieten. Es ist unklar, ob es in Tal Rifaat zu Rekrutierungen kommt. Die Kurden würden es allgemein nicht gestatten, dass die Regierung Personen in den von ihnen kontrollierten Gebieten zum Militärdienst einziehe (Anfragebeantwortung vom 24.08.2023, ACCORD, a-12197; Syrienexperte, 17. August 2023, Van Wilgenburg, 17. August 2023).

Das Danish Immigration Service (DIS) veröffentlicht im Juni 2022 einen Bericht über Rekrutierung durch die syrische Armee in der Provinz Hasaka (die spezifische Situation von Reservisten wird im Bericht jedoch nicht behandelt, Anmerkung ACCORD). Laut DIS rekrutiere die syrische Regierung keine Wehrpflichtigen in von der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien (AANES) kontrollierten Gebieten (DIS, Juni 2022, S. 1).

Auch Fabrice Balanche, Associate Professor und Forschungsdirektor an der Universität Lyon, erklärt in einer E-Mail an ACCORD vom August 2023, dass das Gebiet an der türkischen Grenze in der Provinz al-Hasaka (östlich von Ras Al-Ain) unter der Kontrolle der SDF stehe. Es gebe ein paar syrische Militärposten, doch diese seien isoliert und symbolischer Natur. Die syrische Armee könne in dieser Gegend nichts unternehmen (ACCORD, Anfragebeantwortung vom 23.08.2023, a-12197). Auch der Syrienexperte von Wilgenburg gibt an, dass die Kontrollpunkte der syrischen Armee nicht die Befugnis haben, Menschen in den Städten zu kontrollieren, sondern der Abschreckung der Türkei dienten. (van Wilgenburg 2.9.2023 in Länderinformation der Staatendokumentation)

Südlich von Qamischli gibt es eine Reihe von Dörfern, die von Stämmen bewohnt werden, die mit der syrischen Regierung sympathisieren und die AANES nicht anerkennen. Einzelpersonen aus diesen Dörfern können der syrischen Armee freiwillig beitreten (DIS, Juni 2022, S. 50).

Rekrutierung in den Regierungsenklaven Qamischli und Hasaka

Über zehn Jahre nach Konfliktbeginn hat das syrische Regime die Souveränität über seine Grenzen nicht vollständig wiedererlangt. Neben jenen Gebieten im Norden des Landes an der Grenze zur Türkei und dem Irak, die sich weitgehend oder ganz der Kontrolle des Regimes entziehen, sind in den Gebieten unter Regierungskontrolle gemeinsam mit den syrischen staatlichen Sicherheitskräften auch nicht-staatliche und ausländische Akteure entlang der internationalen Grenzen aktiv. In diesem Zusammenhang sind insbesondere mit Iran verbundene Milizen zu nennen. Rojava (AANES) erhält eine gewisse De facto-Autonomie in Nord- und Ost-Syrien aufrecht, während das syrische Regime in einigen Gebieten und besonders entlang der Highways vertreten ist. Verhandlungen haben dann und wann zwischen den beiden Seiten stattgefunden, aber eine politische Einigung bleibt außer Reichweite (van Wilgenburg 09.10.2023). Die SDF haben die Lage großteils unter Kontrolle, vorausgesetzt die USA halten ihre Militärpräsenz im Nordosten aufrecht (van Wilgenburg 09.10.2023).

Innerhalb der Städte Qamishli und al-Hassakah gibt es Gebiete unter Regimekontrolle. In Qamishli gibt es einen „Sicherheitsabschnitt“ („security square“), der unter der Kontrolle der syrischen Armee steht, während der Rest der Stadt von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (KR: Yekîneyên Parastina Gel, YPG) kontrolliert wird. In al-Hassaka ist die Regierungskontrolle auf einen sehr kleinen Abschnitt beschränkt, der weniger als einen Quadratkilometer umfasst (ACCORD 14.06.2023). In diesen "Sicherheitsabschnitten" (al-Morabat al-Amniya) befinden sich verschiedene staatliche Behörden, darunter auch solche mit Zuständigkeit für die Rekrutierung. (DIS 6.2022). In beiden Städten können die syrischen Sicherheitskräfte beim Betreten der „Sicherheitsabschnitte“ Kontrollen durchführen. Der Flughafen [Anm.: von Qamishli] wird von syrischen Regierungskräften kontrolliert (van Wilgenburg 02.09.2023), auch in der Nähe des Flughafens befindet sich eine Zone im Graubereich, wo es möglich ist, von regierungsnahen Kräften festgenommen zu werden (ACCORD 14.06.2023). Abgesehen davon ist es in den AANES-kontrollierten Gebieten relativ sicher („quite safe“) (Balanche, 24.05.2023).

Das Danish Immigration Service (DIS) veröffentlichte im Juni 2022 einen Bericht über Rekrutierung in der Provinz Hasaka und befragte dazu im Jänner und Februar 2022 vier Expertinnen sowie drei Bewohner der Provinz Hasaka zur Rekrutierung Wehrpflichtiger durch die syrische Armee in der Provinz. Fabrice Balanche, Associate Professor und Forschungsdirektor an der Universität von Lyon, ein kurdischer Journalist und Autor aus Qamischli, die Vertretung der AANES in der Autonomen Region Kurdistan im Irak, sowie drei Bewohner von Gebieten unter Kontrolle der AANES in der Provinz Hasaka stimmen darin überein, dass Personen, die für den Militärdienst der syrischen Armee gesucht werden und die diese von der syrischen Regierung kontrollierten Gebiete in der Provinz betreten, verhaftet werden. Laut einem politischen Analysten ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ein Araber in der beschriebenen Situation festgenommen wird. Bei einer Person kurdischer Herkunft sei die Situation eine andere. Der genannte kurdische Journalist fügt hinzu, dass die syrische Regierung nicht in der Lage ist, Personen gewaltsam zu rekrutieren, die in von der AANES kontrollierten Gebieten wohnen. Er kennt jedoch Fälle aus Qamischli und Hasaka, in denen Personen, die für den Militärdienst gesucht wurden, festgenommen wurden.

Ein befragter Rechtsexperte der ÖB Damaskus berichtet, dass die syrische Regierung in den Gebieten unter Kontrolle der Selbstverwaltung dort rekrutieren kann, wo sie im "Sicherheitsquadrat" im Zentrum der Gouvernements präsent ist, wie z. B. in Qamishli oder in Deir ez-Zor (Rechtsexperte 14.9.2022). Ein befragter Militärexperte gab dagegen an, dass die syrische Regierung grundsätzlich Zugriff auf die Wehrpflichtigen in den Gebieten unter der Kontrolle der PYD [Partiya Yekîtiya Demokrat] hat, diese aber als illoyal ansieht und daher gar nicht versucht, sie zu rekrutieren (BMLV 12.10.2022).

Die Absolvierung des "Wehrdiensts" gemäß der "Demokratischen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien" [Autonomous Administration of North and East Syria (AANES)] befreit nicht von der nationalen Wehrpflicht in Syrien. Männer im wehrpflichtigen Alter, die sich zwischen den Gebieten unter Kontrolle der SDF und der Regierungstruppen hin- und herbewegen, können von Rekrutierungsmaßnahmen auf beiden Seiten betroffen sein, da keine der beiden Seiten die Dokumente der anderen Seite [z.B. über einen abgeleisteten Wehrdienst, Aufschub der Wehrpflicht o. Ä.] anerkennt (EB 15.8.2022).

II.1.6.4.4. Einsatz von Rekruten im Kampf

Grundsätzlich vermeidet es die syrische Armee, neu ausgebildete Rekruten zu Kampfeinsätzen heranzuziehen, jedoch können diese aufgrund der asymmetrischen Art der Kriegsführung mit seinen Hinterhalten und Anschlägen trotzdem in Kampfhandlungen verwickelt werden (BMLV 12.10.2022), wie in der Badia-Wüste, wo es noch zu Konfrontationen mit dem IS kommt (DIS 7.2023). Alle Eingezogenen können laut EUAA (European Union Agency for Asylum) unter Berufung auf einen Herkunftsländerbericht vom April 2021 potenziell an die Front abkommandiert werden. (EUAA 2.2023; vgl. DIS 7.2023). Ihr Einsatz hängt laut EUAA vom Bedarf der Armee für Truppen sowie von den individuellen Qualifikationen der Eingezogenen und ihrem Hintergrund oder ihrer Kampferfahrung ab (EUAA 2.2023). Andere Quellen hingegen geben an, dass die militärische Qualifikation oder die Kampferfahrung keine Rolle spielt, beim Einsatz von Wehrpflichtigen an der Front (DIS 7.2023). Eingezogene Männer aus "versöhnten" Gebieten werden disproportional oft kurz nach ihrer Einberufung mit minimaler Kampfausbildung als Bestrafung für ihre Illoyalität gegenüber dem Regime an die Front geschickt. Reservisten werden in (vergleichsweise) kleinerer Zahl an die Front geschickt (EUAA 2.2023; vgl. NMFA 8.2023).

II.1.6.4.5. Befreiung, Aufschub, Befreiungsgebühren, Strafen bei Erreichung des 43. Lebensjahrs ohne Ableistung des Wehrdiensts:

Das syrische Wehrdienstgesetz sieht vor, dass bestimmte Personengruppen, wie zum Beispiel der einzige Sohn einer Familie, aus medizinischen Gründen Untaugliche (DIS 5.2020; vgl. FIS 14.12.2018), manche Regierungsangestellte (FIS 14.12.2018) und Personen, welche eine Befreiungsgebühr bezahlen, vom Wehrdienst ausgenommen sind. Manche Studenten und Personen mit bestimmten Abschlüssen, wie auch Personen mit vorübergehenden Erkrankungen können den Wehrdienst aufschieben, wobei die Rückstellungen jedes Jahr erneuert werden müssen (DIS 5.2020). Das Risiko der Willkür ist immer gegeben (STDOK 8.2017; vgl. DRC/DIS 8.2017).

Als einziger Sohn der Familie kann man sich vom Wehrdienst befreien lassen. Mehrere Quellen des Danish Immigration Service haben angegeben, dass es keine Fälle gibt, in denen die einzigen Söhne einer Familie trotzdem zur Wehrpflicht herangezogen worden sind (DIS 1.2024).

Einem von der European Union Asylum Agency (EUAA) befragten syrischen Akademiker zufolge werden Wehrpflichtbefreiungen erlassen für Personen mit Erkrankungen, die es ihnen verunmöglichen, militärische Pflichten zu erfüllen, wie beispielsweise Herzerkrankungen oder Sehschwächen. Teilweise werden aber anstatt einer Befreiung, diese Personen auf Positionen ohne Gefechtsbereitschaft bzw. auf denen sie keiner physischen Belastung ausgesetzt sind, wie in der Administration, verpflichtet (EUAA 10.2023; vgl. DIS 01.2024). Zur Entscheidung, ob und welcher Art eine Person wehrpflichtig ist, errechnen die Behörden einen Prozentgrad der Behinderung bzw. der gesundheitlichen Beeinträchtigung zum Zeitpunkt der medizinischen Untersuchung (DIS 1.2024). Wobei eine vertrauliche Quelle des niederländischen Außenministeriums angibt, dass sechs Monate Grundausbildung unabhängig des Gesundheitszustandes komplett zu durchlaufen sind (NMFA 8.2023). Welche gesundheitlichen Beeinträchtigungen zur Untauglichkeit bzw. zum eingeschränkten Wehrdienst führen ist unklar, wobei es bestimmte, offensichtliche Behinderungen gibt, die eine Untauglichkeit bedingen, wie Blindheit oder Lähmungen. Einer vom niederländischen Außenministerium befragten Quelle zufolge werden medizinische Befreiungen häufig ignoriert und die Betroffenen müssen dennoch ihren Wehrdienst ableisten (NMFA 5.2022). Die tatsächliche Handhabung der Tauglichkeitskriterien ist schwer eruierbar, da sie von den Entscheidungen der medizinischen Ausschüsse abhängen (DIS 5.2020; vgl. DIS 1.2024). Der Prozess nimmt manchmal auch viel Zeit in Anspruch, sogar bei offensichtlichen Beeinträchtigungen, wie dem Downsyndrom (DIS 1.2024).

Seit einer Änderung des Wehrpflichtgesetzes im Juli 2019 ist die Aufschiebung des Militärdienstes jedenfalls nur bis zum Alter von 37 Jahren möglich und kann durch Befehl des Oberbefehlshabers beendet werden (ÖB Damaskus 12.2022).

Am 1.12.2023 trat das neue Gesetzesdekret Nr.37 in Kraft, wonach sich Rekruten, die das 40. Lebensjahr vollendet haben und noch nicht in den Reservedienst eingetreten sind, sich von eben diesem freikaufen können durch eine Zahlung von 4.800 USD. Für jeden Monat, in dem derjenige den Reservedienst bereits geleistet hat, werden 200 USD abgezogen (SANA 1.12.2023)

II.1.6.4.6. Befreiungsgebühr für Syrer mit Wohnsitz im Ausland

Das syrische Militärdienstgesetz erlaubt es syrischen Männern und registrierten Palästinensern aus Syrien im Militärdienstalter (18-42 Jahre) und mit Wohnsitz im Ausland, eine Gebühr ("badal an-naqdi") zu entrichten, um von der Wehrpflicht befreit und nicht wieder einberufen zu werden. Bis 2020 konnten Männer, die sich mindestens vier aufeinanderfolgende Jahre außerhalb Syriens aufgehalten haben, einen Betrag von 8.000 USD zahlen, um vom Militärdienst befreit zu werden (DIS 5.2020), wobei noch weitere Konsulargebühren anfallen (EB 2.9.2019; vgl. SB Berlin o.D.). Im November 2020 wurde mit dem Gesetzesdekret Nr.31 (Rechtsexperte 14.09.2022) die Dauer des erforderlichen Auslandsaufenthalts auf ein Jahr reduziert und die Gebühr erhöht (NMFA 6.2021). Das Wehrersatzgeld ist nach der Änderung des Wehrpflichtgesetzes im November 2020 gestaffelt nach der Anzahl der Jahre des Auslandsaufenthalts und beträgt 10.000 USD (ein Jahr), 9.000 USD (zwei Jahre), 8.000 USD (drei Jahre) bzw. 7.000 USD (vier Jahre) ISPI 5.6.2023; vgl. AA 2.2.2024). Die Person bekommt einen Beleg für den Freikauf, den sie bei der Einreise am Flughafen vorweisen kann. Um auch möglichst problemlos Checkpoints passieren zu können, muss die Person zusätzlich zum Beleg einen Eintrag in sein Militärbuch machen lassen (DIS 7.2023). Laut der Einschätzung verschiedener Organisationen dient die Möglichkeit der Zahlung des Wehrersatzgeldes für Auslandssyrer maßgeblich der Generierung ausländischer Devisen (AA 2.2.2024; vgl. ISPI 5.6.2023)

Die Zahlung des Wehrersatzgeldes ist an die Vorlage von Dokumenten geknüpft, die eine Vielzahl der ins Ausland Geflüchteten aufgrund der Umstände ihrer Flucht nicht beibringen können oder die nicht ohne ein Führungszeugnis der Sicherheitsdienste des syrischen Regimes nachträglich erworben werden können, wie etwa einen Nachweis über Aus- und Einreisen (Ausreisestempel) oder die Vorlage eines Personalausweises (AA 2.2.2024). Die Syrische Regierung respektiert die Zahlung dieser Befreiungsgebühr mehreren Experten, die vom Danish Immigration Service befragt wurden, zufolge und zieht Männer, die diese Gebühr bezahlt haben, im Allgemeinen nicht ein. Drei vertrauliche Quellen, die vom niederländischen Außenministerium im März 2023 und November 2022 befragt wurden, gehen davon aus, dass jemand, der sich vom Militärdienst freigekauft hat, auch nicht mehr zum Militärdienst einberufen wird. Eine Quelle gibt auch an, dass Personen, die die Gebühr bezahlt haben problemlos ins Land einreisen können. Probleme bekommen vor allem jene Männer, die ihre Dokumente zum Beweis, dass sie befreit sind, nicht vorweisen können. Des Weiteren berichten Quellen des Danish Immigration Service von Fällen, bei denen Personen, die ihren Status mit der Regierung geklärt hatten, dennoch verhaftet worden sind, weil sie aus Gründen der Sicherheit von den Sicherheitskräften gesucht worden sind. Die Behörden geben normalerweise keine Auskunft darüber, ob man von den Sicherheitsbehörden gesucht wird. Mehrere Quellen gehen aber von Erpressungen gegenüber Wehrpflichtigen an Checkpoints durch Streit- und Sicherheitskräfte an Checkpoints aus, insbesondere gegenüber Personen aus Europa bzw. Geschäftsleuten. Eine Quelle sprach auch von Racheaktionen gegenüber Wehrpflichtigen, die aus ehemaligen Oppositionsgebieten kommen, bei denen die syrischen Behörden diese an Checkpoints festhalten und erpressen (DIS 1.2024). Auch das Auswärtige Amt schreibt, dass staatlich ausgestellte Nachweise über die Ableistung des Wehrdienstes bzw. Zahlung des Wehrersatzgeldes an Kontrollstellen der Sicherheitsdienste des Regimes durchgängig anerkannt werden (AA 2.2.2024).

Auch Männer, die Syrien illegal verlassen haben, können Quellen zufolge durch die Zahlung der Gebühr vom Militärdienst befreit werden (NMFA 5.2022; vgl. Rechtsexperte 14.9.2022; NMFA 8.2023). Diese müssen ihren rechtlichen Status allerdings zuvor durch einen individuellen "Versöhnungsprozess" bereinigen (NMFA 5.2022)

Bevor die Zahlung durchgeführt wird, kontaktiert die Botschaft das syrische Verteidigungsministerium, um eine Genehmigung zu erhalten. Dabei wird ermittelt, ob die antragstellende Person sich vom Wehrdienst freikaufen kann (NMFA 5.2020). Die syrische Botschaft in Berlin gibt beispielsweise an, dass u. a. ein Reisepass oder Personalausweis sowie eine Bestätigung der Ein- und Ausreise vorgelegt werden muss (SB Berlin o.D.), welche von der syrischen Einwanderungs- und Passbehörde ausgestellt wird ("bayan harakat"). So vorhanden, sollten die Antragsteller auch das Wehrbuch oder eine Kopie davon vorlegen (Rechtsexperte 14.9.2022).

Offiziell ist dieser Prozess relativ einfach, jedoch dauert er in Wirklichkeit sehr lange, und es müssen viele zusätzliche Kosten aufgewendet werden, unter anderem Bestechungsgelder für die Bürokratie. Beispielsweise müssen junge Männer, die mit der Opposition in Verbindung standen, aber aus wohlhabenden Familien kommen, wahrscheinlich mehr bezahlen, um vorab ihre Akte zu bereinigen (Balanche 13.12.2021).

II.1.6.4.7. Haltung des Regimes gegenüber Wehrdienstverweigerern

In Syrien besteht keine Möglichkeit der legalen Wehrdienstverweigerung. Auch die Möglichkeit eines (zivilen) Ersatzdienstes gibt es nicht. Nach dem Wehrpflichtgesetz ist es syrischen Männern im wehrpflichtigen Alter möglich, sich durch Zahlung eines sogenannten Wehrersatzgeldes von der Wehrpflicht freizukaufen, sofern sie mindestens ein Jahr ohne Wiedereinreise nach Syrien ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland hatten (AA 2.2.2024)

Das syrische Wehrpflichtgesetz (Art. 97) ermöglicht es, das Vermögen von Männern zu beschlagnahmen, die sich bis zum Erreichen des 43. Lebensjahres (Altersgrenze zur Einberufung) der Wehrpflicht entzogen haben und sich weigern, ein Wehrersatzgeld in Höhe von 8.000 USD zu entrichten. Das Gesetz erlaubt die Beschlagnahme des Vermögens nicht nur von Männern, die nicht im Militär gedient haben, sondern auch von deren unmittelbaren Familienangehörigen, einschließlich Ehefrauen und Kindern (AA 2.2.2024 vgl. Rechtsexperte 14.9.2022; vgl. NMFA 8.2023).

Manche Experten gehen davon aus, dass Wehrdienstverweigerung vom Regime als Nähe zur Opposition gesehen wird. Bereits vor 2011 war es ein Verbrechen, den Wehrdienst zu verweigern. Nachdem sich im Zuge des Konflikts der Bedarf an Soldaten erhöht hat, wird Wehrdienstverweigerung im besten Fall als Feigheit betrachtet und im schlimmsten im Rahmen des Militärverratsgesetzes (qanun al-khiana al-wataniya) behandelt. In letzterem Fall kann es zur Verurteilung vor einem Feldgericht und Exekution kommen oder zur Inhaftierung in einem Militärgefängnis (Üngör 15.12.2021).

Wehrdienstverweigerung wird aber nicht unbedingt als oppositionsnahe gesehen. Das syrische Regime ist sich der Tatsache bewusst, dass viele junge Männer nach dem Studium das Land verlassen haben, einfach um nicht zu sterben. Daher wurde die Möglichkeit geschaffen, sich frei zu kaufen, damit die Regierung zumindest Geld in dieser Situation einnehmen kann. Hinzu kommen Ressentiments der in Syrien verbliebenen Bevölkerung gegenüber Wehrdienstverweigerern, die das Land verlassen haben und sich damit "gerettet" haben, während die verbliebenen jungen Männer im Krieg ihr Leben riskiert bzw. verloren haben (Balanche 13.12.2021) Gemäß Auswärtigem Amt legen einige Berichte nahe, dass Familienangehörige von Deserteuren und Wehrdienstverweigerern ebenfalls Verhören und Repressionen der Geheimdienste ausgesetzt sein könnten (AA 2.2.2024).

Wehrdienstentzug wird gemäß dem Militärstrafgesetzbuch bestraft. In Art. 98-99 ist festgehalten, dass mit einer Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft wird, wer sich der Einberufung entzieht (AA 2.2.2024; vgl. Rechtsexperte 14.9.2022). Desertion wird von Soldaten begangen, die bereits einer Militäreinheit beigetreten sind, während Wehrdienstverweigerung in den meisten Fällen von Zivilisten begangen wird, die der Einberufung zum Wehrdienst nicht gefolgt sind. Desertion wird meist härter bestraft als Wehrdienstverweigerung.

Die Gesetzesbestimmungen werden nicht konsistent umgesetzt (Landinfo 3.1.2018), und die Informationslage bezüglich konkreter Fälle von Bestrafung von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren ist eingeschränkt, da die syrischen Behörden hierzu keine Informationen veröffentlichen (Rechtsexperte 14.9.2022). Manche Quellen geben an, dass Betroffene sofort (DIS 5.2020; vgl. Landinfo 3.1.2018) oder nach einer kurzen Haftstrafe (einige Tage bis Wochen) eingezogen werden, sofern sie in keinerlei Oppositionsaktivitäten involviert waren (DIS 5.2022). Andere geben an, dass Wehrdienstverweigerer von einem der Nachrichtendienste aufgegriffen und gefoltert oder "verschwindengelassen" werden können. Die Konsequenzen hängen offenbar vom Einzelfall ab (Landinfo 3.1.2018).

Es gibt verschiedene Meinungen darüber, ob Wehrdienstpflichtige zurzeit sofort eingezogen, oder zuerst inhaftiert und dann eingezogen werden: Laut Balanche ist der Bedarf an Soldaten weiterhin hoch genug, dass man wahrscheinlich nicht inhaftiert, sondern mit mangelhafter oder ohne Ausbildung direkt an die Front geschickt wird (Balanche 13.12.2021). Die Strafe für Wehrdienstentzug ist oft Haft und im Zuge dessen auch Folter. Während vor ein paar Jahren Wehrdienstverweigerer bei Checkpoints meist vor Ort verhaftet und zur Bestrafung direkt an die Front geschickt wurden (als "Kanonenfutter"), werden Wehrdienstverweigerer derzeit laut Uğur Üngör wahrscheinlich zuerst verhaftet. Seit die aktivsten Kampfgebiete sich beruhigt haben, kann das Regime es sich wieder leisten, Leute zu inhaftieren (Gefängnis bedeutet immer auch Folter, Wehrdienstverweigerer würden hier genauso behandelt wie andere Inhaftierte oder sogar schlechter) (Üngör 15.12.2021).

Selbst für privilegierte Personen mit guten Verbindungen zum Regime ist es nicht möglich, als Wehrdienstverweigerer nach Syrien zurückzukommen - es müsste erst jemand vom Geheimdienst seinen Namen von der Liste gesuchter Personen löschen. Auch nach der Einberufung ist davon auszugehen, dass Wehrdienstverweigerer in der Armee unmenschliche Behandlung erfahren werden (Üngör 15.12.2021). Laut Kheder Khaddour würde man als Wehrdienstverweigerer wahrscheinlich ein paar Wochen inhaftiert und danach in die Armee eingezogen (Khaddour 24.12.2021). Auch einige Quellen des Danish Immigration Service geben an, dass Wehrdienstverweigerer mit einer Haftstrafe von bis zu neun Monaten rechnen müssen. Andere Quellen des Danish Immigration Service wiederum berichteten, dass Wehrdienstverweigerer direkt zum Wehrdienst eingezogen, ohne vorher inhaftiert zu werden. Wer an einem Checkpoint als Wehrdienstverweigerer erwischt wird, wird dem Geheimdienst übergeben. Ein Wehrdienstverweigerer, der nicht aus anderen Gründen gesucht wird, wird dem Militär zur Ableistung des Wehrdienstes übergeben. Wehrdienstverweigerer werden meist direkt an die Front geschickt (DIS 1.2024). Wehrdienstverweigerer aus den Gebieten, die von der Opposition kontrolliert wurden, werden dabei mit größerem Misstrauen betrachtet und mit größerer Wahrscheinlichkeit inhaftiert oder verhaftet (NMFA 8.2023).

Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen berichtete im zweiten Halbjahr 2022 weiterhin von willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen durch die Regierungskräfte, darunter auch von Personen, die sich zuvor mit der Regierung "ausgesöhnt" hatten. Andere wurden vor der am 21.12.2022 angekündigten Amnestie für Verbrechen der "internen und externen Desertion vom Militärdienst" aufgrund von Tatbeständen im Zusammenhang mit der Wehrpflicht inhaftiert (UNHRC 07.02.2023).

II.1.6.5. Nicht-staatliche bewaffnete regierungsfreundliche Gruppierungen

Manche Quellen berichten, dass die Rekrutierung durch regierungsfreundliche Milizen im Allgemeinen auf freiwilliger Basis geschieht. Personen schließen sich häufig auch aus finanziellen Gründen den National Defense Forces (NDF) oder anderen regierungstreuen Gruppierungen an (FIS 14.12.2018). Andere Quellen berichten von der Zwangsrekrutierung von Kindern im Alter von sechs Jahren durch Milizen, die für die Regierung kämpfen, wie die Hizbollah und die NDF (auch als "shabiha" bekannt) (USDOS 29.7.2022). In vielen Fällen sind bewaffnete regierungstreue Gruppen lokal organisiert, wobei Werte der Gemeinschaft wie Ehre und Verteidigung der Gemeinschaft eine zentrale Bedeutung haben. Dieser soziale Druck basiert häufig auf der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft (FIS 14.12.2018). Oft werden die Kämpfer mit dem Versprechen, dass sie in der Nähe ihrer lokalen Gemeinde ihren Einsatz verrichten können und nicht in Gebieten mit direkten Kampfhandlungen und damit die Wehrpflicht umgehen könnten, angeworben. In der Realität werden diese Milizen aber trotzdem an die Front geschickt, wenn die SAA Verstärkung braucht bzw. müssen die Männer oft nach erfolgtem Einsatz in einer Miliz trotzdem noch ihrer offiziellen Wehrpflicht nachkommen (EUAA 10.2023). In manchen Fällen aber führte der Einsatz bei einer Miliz tatsächlich dazu, der offiziellen Wehrpflicht zu entgehen, bzw. profitierten einige Kämpfer in regierungsnahen Milizen von den letzten Amnestien, sodass sie nach ihrem Einsatz in der Miliz nur mehr die sechsmonatige Grundausbildung absolvieren mussten um ihrer offiziellen Wehrpflicht nachzugehen, berichtet eine vertrauliche Quelle des niederländischen Außenministeriums (NMFA 8.2023).

II.1.6.6. Wehrpflichtgesetz der Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien (AANES):

Auch aus den nicht vom Regime kontrollierten Gebieten Syriens gibt es Berichte über Zwangsrekrutierungen. Im Nordosten des Landes hat die von der kurdischen Partei PYD [Partiya Yekîtiya Demokrat, Partei der Demokratischen Union] dominierte "Demokratische Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien" [Autonomous Administration of North and East Syria, AANES] 2014 ein Wehrpflichtgesetz verabschiedet, welches vorsah, dass jede Familie einen "Freiwilligen" im Alter zwischen 18 und 40 Jahren stellen muss, der für den Zeitraum von sechs Monaten bis zu einem Jahr in den YPG [Yekîneyên Parastina Gel, Volksverteidigungseinheiten] dient (AA 2.2.2024).

Im Juni 2019 ratifizierte die AANES ein Gesetz zur "Selbstverteidigungspflicht", das den verpflichtenden Militärdienst regelt, den Männer über 18 Jahren im Gebiet der AANES ableisten müssen (EB 15.8.2022; vgl. DIS 6.2022). Am 4.9.2021 wurde das Dekret Nr. 3 erlassen, welches die Selbstverteidigungspflicht auf Männer beschränkt, die 1998 oder später geboren wurden und ihr 18. Lebensjahr erreicht haben. Gleichzeitig wurden die Jahrgänge 1990 bis 1997 von der Selbstverteidigungspflicht befreit (ANHA, 4.9.2021). Der Altersrahmen für den Einzug zum Wehrdienst ist nun in allen betreffenden Gebieten derselbe, während er zuvor je nach Gebiet variierte. So kam es in der Vergangenheit zu Verwirrung, wer wehrpflichtig war (DIS 6.2022). Mit Stand September 2023 war das Dekret noch immer in Kraft (ACCORD 7.9.2023).

Die Wehrpflicht gilt in allen Gebieten unter der Kontrolle der AANES, auch wenn es Gebiete gibt, in denen die Wehrpflicht nach Protesten zeitweise ausgesetzt wurde. Es ist unklar, ob die Wehrpflicht auch für Personen aus Afrin gilt, das sich nicht mehr unter der Kontrolle der "Selbstverwaltung" befindet. Vom Danish Immigration Service (DIS) befragte Quellen machten hierzu unterschiedliche Angaben. Die Wehrpflicht gilt nicht für Personen, die in anderen Gebieten als den AANES wohnen oder aus diesen stammen. Sollten diese Personen jedoch seit mehr als fünf Jahren in den AANES wohnen, würde das Gesetz auch für sie gelten. Wenn jemand in seinem Ausweis als aus Hasakah stammend eingetragen ist, aber sein ganzes Leben lang z.B. in Damaskus gelebt hat, würde er von der "Selbstverwaltung" als aus den AANES stammend betrachtet werden und er müsste die "Selbstverteidigungspflicht" erfüllen. Alle ethnischen Gruppen und auch staatenlose Kurden (Ajanib und Maktoumin) sind zum Wehrdienst verpflichtet. Araber wurden ursprünglich nicht zur "Selbstverteidigungspflicht" eingezogen, dies hat sich allerdings seit 2020 nach und nach geändert (DIS 6.2022; vgl. NMFA 8.2023).

Ursprünglich betrug die Länge des Wehrdiensts sechs Monate, sie wurde aber im Jänner 2016 auf neun Monate verlängert (DIS 6.2022). Artikel zwei des Gesetzes über die "Selbstverteidigungspflicht" vom Juni 2019 sieht eine Dauer von zwölf Monaten vor (RIC 10.6.2020). Aktuell beträgt die Dauer ein Jahr und im Allgemeinen werden die Männer nach einem Jahr aus dem Dienst entlassen. In Situationen höherer Gewalt kann die Dauer des Wehrdiensts verlängert werden, was je nach Gebiet entschieden wird. Beispielsweise wurde der Wehrdienst 2018 aufgrund der Lage in Baghouz um einen Monat verlängert. In Afrin wurde der Wehrdienst zu drei Gelegenheiten in den Jahren 2016 und 00000002017 um je zwei Monate ausgeweitet. Die Vertretung der "Selbstverwaltung" gab ebenfalls an, dass der Wehrdienst in manchen Fällen um einige Monate verlängert wurde. Wehrdienstverweigerer können zudem mit der Ableistung eines zusätzlichen Wehrdienstmonats bestraft werden (DIS 6.2022).

Nach dem abgeleisteten Wehrdienst gehören die Absolventen zur Reserve und können im Fall "höherer Gewalt" einberufen werden. Diese Entscheidung trifft der Militärrat des jeweiligen Gebiets. Derartige Einberufungen waren den vom DIS befragten Quellen nicht bekannt (DIS 6.2022).

Die Aufrufe für die "Selbstverteidigungspflicht" erfolgen jährlich durch die Medien, wo verkündet wird, welche Altersgruppe von Männern eingezogen wird. Es gibt keine individuellen Verständigungen an die Wehrpflichtigen an ihrem Wohnsitz. Die Wehrpflichtigen erhalten dann beim "Büro für Selbstverteidigungspflicht" ein Buch, in welchem ihr Status bezüglich Ableistung des Wehrdiensts dokumentiert wird - z. B. die erfolgte Ableistung oder Ausnahme von der Ableistung. Es ist das einzige Dokument, das im Zusammenhang mit der Selbstverteidigungspflicht ausgestellt wird (DIS 6.2022). Das Wehrpflichtgesetz von 2014 wird laut verschiedenen Menschenrechtsorganisationen mit Gewalt durchgesetzt. Berichten zufolge kommt es auch zu Zwangsrekrutierungen von Jungen und Mädchen (AA 2.2.2024).

Es kommt zu Überprüfungen von möglichen Wehrpflichtigen an Checkpoints und auch zu Ausforschungen (ÖB Damaskus 12.2022). Die Selbstverwaltung informiert einen sich dem Wehrdienst Entziehenden zweimal bezüglich der Einberufungspflicht durch ein Schreiben an seinen Wohnsitz, und wenn er sich nicht zur Ableistung einfindet, sucht ihn die "Militärpolizei" unter seiner Adresse. Die meisten sich der "Wehrpflicht" entziehenden Männer werden jedoch an Checkpoints ausfindig gemacht (DIS 6.2022).

Die Sanktionen für die Wehrdienstverweigerung ähneln denen im von der Regierung kontrollierten Teil (ÖB Damaskus 12.2022). Laut verschiedener Menschenrechtsorganisationen wird das "Selbstverteidigungspflichtgesetz" auch mit Gewalt durchgesetzt (AA 2.2.2024), während der DIS nur davon berichtet, dass Wehrpflichtige, welche versuchen, dem Militärdienst zu entgehen, laut Gesetz durch die Verlängerung der "Wehrpflicht" um einen Monat bestraft würden - zwei Quellen zufolge auch in Verbindung mit vorhergehender Haft "für eine Zeitspanne". Dabei soll es sich oft um ein bis zwei Wochen handeln, um einen Einsatzort für die Betreffenden zu finden (DIS 6.2022). Ähnliches berichteten ein von ACCORD befragter Experte, demzufolge alle Wehrdienstverweigerer nach dem Gesetz der Selbstverteidigungspflicht gleich behandelt würden. Die kurdischen Sicherheitsbehörden namens Assayish würden den Wohnort der für die Wehrpflicht gesuchten Personen durchsuchen, an Checkpoints Rekrutierungslisten überprüfen und die Gesuchten verhaften. Nach dem Gesetz werde jede Person, die dem Dienst fernbleibe, verhaftet und mit einer Verlängerung des Dienstes um einen Monat bestraft (ACCORD 6.9.2023). Die ÖB Damaskus erwähnt auch Haftstrafen zusätzlich zur [Anm.: nicht näher spezifizierten] Verlängerung des Wehrdiensts. Hingegen dürften die Autonomiebehörden eine Verweigerung nicht als Ausdruck einer bestimmten politischen Gesinnung sehen (ÖB Damaskus 12.2022). Einem von ACCORD befragten Syrienexperten zufolge hängen die Konsequenzen für die Wehrdienstverweigerung vom Profil des Wehrpflichtigen ab sowie von der Region, aus der er stammt. In al-Hasakah beispielsweise könnten Personen im wehrpflichtigen Alter zwangsrekrutiert und zum Dienst gezwungen werden. Insbesondere bei der Handhabung des Gesetzes zur Selbstverteidigungspflicht gegenüber Arabern in der AANES gehen die Meinungen der Experten auseinander. Grundsätzlich gilt die Pflicht für Araber gleichermaßen, aber einem Experten zufolge könne die Behandlung je nach Region und Zugriffsmöglichkeit der SDF variieren und wäre aufgrund der starken Stammespositionen oft weniger harsch als gegenüber Kurden. Ein anderer Experte wiederum berichtet von Beleidigungen und Gewalt gegenüber arabischen Wehrdienstverweigerern (ACCORD 6.9.2023).

Bei Deserteuren hängen die Konsequenzen abseits von einer Zurücksendung zur Einheit und einer eventuellen Haft von ein bis zwei Monaten von den näheren Umständen und eventuellem Schaden ab. Dann könnte es zu einem Prozess vor einem Kriegsgericht kommen (DIS 6.2022).

Eine Möglichkeit zur Verweigerung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen besteht nicht (DIS 6.2022; vgl. EB 12.7.2019).

Einsatzgebiet von Wehrpflichtigen

Die Selbstverteidigungseinheiten [Hêzên Xweparastinê, HXP] sind eine von den SDF separate Streitkraft, die vom Demokratischen Rat Syriens (Syrian Democratic Council, SDC) verwaltet wird und über eigene Militärkommandanten verfügt. Die SDF weisen den HXP allerdings Aufgaben zu und bestimmen, wo diese eingesetzt werden sollen. Die HXP gelten als Hilfseinheit der SDF. In den HXP dienen Wehrpflichtige wie auch Freiwillige, wobei die Wehrpflichtigen ein symbolisches Gehalt erhalten. Die Rekrutierung von Männern und Frauen in die SDF erfolgt dagegen freiwillig (DIS 6.2022).

Die Einsätze der Rekruten im Rahmen der "Selbstverteidigungspflicht" erfolgen normalerweise in Bereichen wie Nachschub oder Objektschutz (z.B. Bewachung von Gefängnissen wie auch jenes in al-Hasakah, wo es im Jänner 2022 zu dem Befreiungsversuch des sogenannten Islamischen Staats (IS) mit Kampfhandlungen kam). Eine Versetzung an die Front erfolgt fallweise auf eigenen Wunsch, ansonsten werden die Rekruten bei Konfliktbedarf an die Front verlegt, wie z. B. bei den Kämpfen gegen den IS 2016 und 2017 in Raqqa (DIS 6.2022).

Aufschub des Wehrdienstes

Das Gesetz enthält Bestimmungen, die es Personen, die zur Ableistung der "Selbstverteidigungspflicht" verpflichtet sind, ermöglichen, ihren Dienst aufzuschieben oder von der Pflicht zu befreien, je nach den individuellen Umständen. Manche Ausnahmen vom "Wehrdienst" sind temporär und kostenpflichtig. Frühere Befreiungen für Mitarbeiter des Gesundheitsbereichs und von NGOs sowie von Lehrern gelten nicht mehr (DIS 6.2022). Es wurden auch mehrere Fälle von willkürlichen Verhaftungen zum Zwecke der Rekrutierung dokumentiert, obwohl die Wehrpflicht aufgrund der Ausbildung aufgeschoben wurde oder einige Jugendliche aus medizinischen oder anderen Gründen vom Wehrdienst befreit wurden (EB 12.7.2019). Im Ausland (Ausnahme: Türkei und Irak) lebende, unter die "Selbstverteidigungspflicht" fallende Männer können gegen eine Befreiungsgebühr für kurzfristige Besuche zurückkehren, ohne den "Wehrdienst" antreten zu müssen, wobei zusätzliche Bedingungen eine Rolle spielen, ob dies möglich ist (DIS 6.2022).

Proteste gegen die "Selbstverteidigungspflicht"

Im Jahr 2021 hat die Wehrpflicht besonders in den östlichen ländlichen Gouvernements Deir ez-Zour und Raqqa Proteste ausgelöst. Lehrer haben sich besonders gegen die Einberufungskampagnen der SDF gewehrt. Proteste im Mai 2021 richteten sich außerdem gegen die unzureichende Bereitstellung von Dienstleistungen und die Korruption oder Unfähigkeit der autonomen Verwaltungseinheiten. Sechs bis acht Menschen wurden am 1.6.2021 in Manbij (Menbij) bei einem Protest getötet, dessen Auslöser eine Reihe von Razzien der SDF auf der Suche nach wehrpflichtigen Männern war. Am 2.6.2021 einigten sich die SDF, der Militärrat von Manbij und der Zivilrat von Manbij mit Stammesvertretern und lokalen Persönlichkeiten auf eine deeskalierende Vereinbarung, die vorsieht, die Rekrutierungskampagne einzustellen, während der Proteste festgenommene Personen freizulassen und eine Untersuchungskommission zu bilden, um diejenigen, die auf Demonstranten geschossen hatten, zur Rechenschaft zu ziehen (COAR 7.6.2021). Diese Einigung resultierte nach einer Rekrutierungspause in der Herabsetzung des Alterskriteriums auf 18 bis 24 Jahre, was später auf die anderen Gebiete ausgeweitet wurde (DIS 6.2022). Im Sommer 2023 kam es in Manbij zu Protesten gegen die SDF insbesondere aufgrund von Kampagnen zur Zwangsrekrutierung junger Männer in der Stadt und Umgebung (SO 20.7.2023).

II.1.6.7. Folter und unmenschliche Behandlung:

Der Einsatz von Folter, des Verschwindenlassens und schlechter Bedingungen in den Gefängnissen ist keine Neuheit seit Ausbruch des Konflikts, sondern war bereits seit der Ära von Hafez al-Assad Routinepraxis verschiedener Geheimdienst- und Sicherheitsapparate in Syrien (SHRC 24.1.2019).

Medien und Menschenrechtsgruppen gehen von der systematischen Anwendung von Folter in insgesamt 27 Einrichtungen aus, die sich alle in der Nähe der bevölkerungsreichen Städte im westlichen Syrien befinden: Zehn nahe Damaskus, jeweils vier nahe Homs, Latakia und Idlib, drei nahe Dara‘a und zwei nahe Aleppo. Es muss davon ausgegangen werden, dass Folter auch in weiteren Einrichtungen in bevölkerungsärmeren Landesteilen verübt wird (AA 2.2.2024).

Laut Einschätzung des Auswärtigen Amtes unterliegen Personen, die unter dem Verdacht stehen, sich oppositionell zu engagieren oder als regimekritisch wahrgenommen werden, einem besonders hohen Folterrisiko (AA 2.2.2024). Menschenrechtsaktivisten, die Commission of Inquiry für Syrien der UN (COI) und lokale NGOs berichten von Tausenden glaubwürdigen Fällen, in denen die Behörden des Regimes Folter, Missbrauch und Misshandlungen zur Bestrafung wahrgenommener Oppositioneller einsetzen, auch bei Verhören - eine systematische Praxis des Regimes, die während des gesamten Konflikts und bereits vor 2011 dokumentiert wurde (USDOS 12.4.2022). Die willkürlichen Festnahmen, Misshandlungen, Folter und Verschwindenlassen durch syrische Sicherheitskräfte und regierungsfreundliche Milizen betreffen auch Kinder, Menschen mit Beeinträchtigungen, RückkehrerInnen und Personen aus wiedereroberten Gebieten, die "Versöhnungsabkommen" unterzeichnet haben (HRW 12.1.2023)

Auch die Rebellengruppierungen werden außergerichtlicher Tötungen, der Folter von Inhaftierten (darunter laut SNHR drei Todesfälle durch Folter im Jahr 2022), Verschwindenlassen und willkürlicher Verhaftungen beschuldigt. Opfer sind vor allem Personen, die der Regimetreue verdächtigt werden, Kollaborateure und Mitglieder von regimetreuen Milizen oder rivalisierenden bewaffneten Gruppen. Die Berichte dazu betreffen u. a. HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham), SNA (Syrian National Army) und SDF (Syrian Democratic Forces) (USDOS 20.3.2023).

II.1.6.8. Bewegungsfreiheit:

Die Verfassung sieht Bewegungsfreiheit vor, 'außer eine gerichtliche Entscheidung oder die Umsetzung von Gesetzen' schränken diese ein. Das Regime, HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham) und andere bewaffnete Gruppen sehen Restriktionen bei der Bewegungsfreiheit in ihren jeweiligen Gebieten vor und setzen dazu zur Überwachung Checkpoints ein (USDOS 20.3.2023).

Checkpoints werden sowohl von Regimesicherheitskräften sowie lokalen und ausländischen Milizen unterhalten (USDOS 20.3.2023). In den Städten und auf den Hauptverbindungsstraßen Syriens gibt es eine Vielzahl militärischer Kontrollposten der syrischen Sicherheitsbehörden und bewaffneter Milizen, die umfassende und häufig ungeregelte Kontrollen durchführen. Dabei kann es auch zu Forderungen nach Geldzahlungen oder willkürlichen Festnahmen kommen. Insbesondere Frauen sind in diesen Kontrollen einem erhöhten Risiko von Übergriffen ausgesetzt (AA 8.12.2023). Auch können Passierende gewaltsam für den Militärdienst eingezogen werden (NFMA 5.2022).

Überlandstraßen und Autobahnen sind zeitweise gesperrt. Reisen im Land ist durch Kampfhandlungen vielerorts weiterhin sehr gefährlich. Es gibt in Syrien eine Reihe von Militärsperrgebieten, die allerdings nicht immer eindeutig gekennzeichnet sind. Darunter fallen auch die zahlreichen Checkpoints der syrischen Armee und Sicherheitsdienste im Land. Für solche Bezirke gilt ein absolutes Verbot, sie zu betreten. (AA 8.12.2023).

Die Regimesicherheitskräfte erpressen Leute an den Checkpoints (USDOS 20.3.2023) für eine sichere Passage durch ihre Kontrollpunkte. (HRW 20.10.2021). Die Kontrollpunkte grenzen die Stadtteile voneinander ab. Sie befinden sich auch an den Zugängen zu Städten und größeren Autobahnen wie etwa Richtung Libanon, Flughafen Damaskus, und an der M5-Autobahn, welche von der jordanischen Grenze durch Dara'a, Damaskus, Homs, Hama und Aleppo bis zur Grenze mit der Türkei reicht. Zurückeroberte Gebiete weisen eine besonders hohe Dichte an Checkpoints auf (HRW 20.10.2021)

Passierende müssen an den vielen Checkpoints des Regimes ihren Personalausweis und bei Herkunft aus einem wiedereroberten Gebiet auch ihre sogenannte 'Versöhnungskarte' vorweisen. Die Telefone müssen zur Überprüfung der Telefonate übergeben werden. Es mag zwar eine zentrale Datenbank für gesuchte Personen geben, aber die Nachrichtendienste führen auch ihre eigenen Suchlisten. Seit 2011 gibt es Computer an den Checkpoints und bei Aufscheinen (in der Liste) wird die betreffende Person verhaftet (HRW 20.10.2021). Personen können beim Passieren von Checkpoints genaueren Kontrollen unterliegen, u.a., wenn sie z.B. aus früher oppositionell-kontrollierten Gebieten stammen oder auch wenn sie Verbindungen zu Personen in Oppositionsgebieten wie Nordsyrien oder zu bekannten oppositionellen Familien haben. Männer im wehrfähigen Alter werden auch hinsichtlich des Status ihres Wehrdienstes gesondert überprüft. Auch eine Namensähnlichkeit mit einer gesuchten Person kann zu Problemen an Kontrollpunkten führen (DIS/DRC 2.2019). Die Behandlung von Personen an einem Checkpoint kann sehr unterschiedlich sein, je nachdem, wer ihn kontrolliert. Auch die Laune und die Präferenzen des Kommandanten können eine Rolle spielen (DIS 9.2019).

Betreten und Verlassen des Regimegebiets

Zum Betreten und Verlassen des Regimegebiets ist eine Sicherheitsfreigabe durch das Regime nötig, was ein Hindernis für Flüchtlinge und Binnenvertriebene darstellt, welche in ihre Heimatorte zurückkehren möchten. Personen, die vom Regime als kritisch wahrgenommen werden, erhalten diese Genehmigung oft nicht - ebenso ihre Verwandten, frühere Oppositionelle sowie ehemalige BewohnerInnen von als Hochburgen der Opposition wahrgenommen Gebieten (USDOS 20.3.2023).

Laut niederländischem Außenministerium ist es unmöglich, einen Überblick zu vermitteln, welche Übergänge zwischen den Oppositionsgebieten und dem Regimegebiet im Berichtszeitraum offen waren - und zu welchem Zeitpunkt und für welche Personen und Reisezwecke. Es wird aber auf die potenzielle Gefahr von Reisen für ZivilistInnen innerhalb Syriens allgemein und besonders bei Einreisen aus den Oppositionsgebieten in das Regimegebiet wegen der Notwendigkeit des Passierens von Checkpoints der syrischen Geheimdienste, des Militärs und anderer Pro-Regime-Milizen hingewiesen (NMFA 6.2021).

Es ist laut niederländischem Außenministerium nicht möglich, frei vom Regimegebiet in die Gebiete der sog. Errettungsregierung (Anm.: mit HTS als dominante Kraft) oder in das Gebiet der Syrischen Interimsregierung (Anm.: mit den pro-türkischen Einheiten der Syrian National Army) zu reisen und in umgekehrter Richtung. Das gilt für alle BürgerInnen ungeachtet ihres Geschlechts, Alters, ethnischer Zugehörigkeit und Religion, und hat nichts mit der Corona-Pandemie zu tun. Es ist auch nicht möglich, vom kurdischen Selbstverwaltungsgebiet ins Gebiet der Syrischen Interimsregierung zu gelangen. Reisen zwischen dem Gebiet der sog. Errettungsregierung und der Syrischen Interimsregierung sind möglich. Manche Reisen zwischen dem Regimegebiet und dem Selbstverwaltungsgebiet (der SDF) sind möglich, aber die genauen Konditionen sind unbekannt. BewohnerInnen von al-Hassakah und Qamishli sowie Personen, die dort geboren sind, gehören zu den Personengruppen, welche vom Regimegebiet aus in diese beiden Städte reisen können, weil die Behörden dort eine gewisse Präsenz haben. Auch Leute, die im Regimegebiet wohnen, aber aus Teilen von Raqqa und Deir az-Zour stammen, die nun unter Kontrolle der Selbstverwaltung stehen, können Berichten zufolge hin und her reisen, um ihre Besitztümer zu überprüfen oder Land zu kultivieren (NMFA 5.2022).

Die Situation bezüglich des Warenverkehrs stellt sich anders dar als bei Personen - landwirtschaftliche Produkte können vom Regimegebiet aus in andere Landesteile gebracht werden (NMFA 5.2022).

II.1.6.9. Ein- und Ausreise, Situation an Grenzübergängen des Regimes:

Die syrische Regierung kann die Ausstellung von Reisepässen oder anderen wichtigen Dokumenten aufgrund der politischen Einstellung einer Person, deren Verbindung zu oppositionellen Gruppen oder der Verbindung zu einem von der Opposition dominierten geografischen Gebiet verweigern (USDOS 20.3.2023). Das syrische Regime hat zudem Erfordernisse für Ausreisegenehmigungen eingeführt. Die Regierung verbietet durchgängig die Ausreise von Mitgliedern der Opposition oder Personen, die als solche wahrgenommen werden oder mit diesen oder mit Oppositionsgebieten in Verbindung stehen. Deshalb zögern diese sowie ihre Familien, eine Ausreise zu versuchen, aus Angst vor Angriffen/Übergriffen und Festnahmen an den Flughäfen und Grenzübergängen. Auch JournalistInnen und MenschenrechtsaktivistInnen sowie Personen, die sich in der Zivilgesellschaft engagieren, sowie deren Familien und Personen mit Verbindungen zu ihnen werden oft mit einem Ausreiseverbot belegt. Viele Personen erfahren erst von einem Ausreiseverbot, wenn ihnen die Ausreise verweigert wird. Berichten zufolge verhängt das Regime Reiseverbote ohne Erklärung oder explizite Nennung der Dauer. Erhalten AktivistInnen oder JournalistInnen eine Ausreiseerlaubnis, so werden sie bei ihrer Rückkehr verhört (USDOS 20.3.2023). Männern im wehrpflichtigen Alter ist die Ausreise verboten. Der Reisepass wird ihnen vorenthalten, und Ausnahmen werden nur mit Genehmigung des Rekrutierungsbüros, welches bescheinigt, dass der Wehrdienst geleistet wurde, gewährt (AA 2.2.2024).

In Syrien betragen die Kosten für einen Reisepass aktuell 7 USD im regulären Verfahren und 56 USD im sogenannten „Expressverfahren“, welches dennoch mehrere Wochen dauern kann. Im Ausland liegen die Kosten bei 300 USD für das Regel- und 800 USD für das Expressverfahren. Die Gültigkeit beträgt in der Regel nur zwei Jahre. (AA 2.2.2024).

Flüchtlingsbewegungen finden in die angrenzenden Nachbarländer statt. Die Grenzen sind zum Teil für den Personenverkehr geschlossen, bzw. können ohne Vorankündigung kurzfristig geschlossen werden, und eine Ausreise aus Syrien unmöglich machen (AA 16.5.2023). Das Regime schließt regelmäßig den Flughafen von Damaskus sowie Grenzübergänge und begründet dies mit Gewalt, bzw. drohender Gewalt (USDOS 20.3.2023)

Die auf Grund von COVID-19 verhängten Sperren der Grenzübergänge vom regierungskontrollierten Teil in den Libanon, nach Jordanien (Nasib) und in den Irak (Al-Boukamal) für den Personenverkehr wurden zwischenzeitig aufgehoben. Neue Einschränkungen seitens des Libanon sind mehr der Vermeidung illegaler Migration aus Syrien in den Libanon als COVID-Maßnahmen geschuldet. Der libanesische Druck zur freiwilligen Rückkehr einer wachsenden Zahl syrischer Flüchtlinge steigt. Die Grenzen zwischen der Türkei und den syrischen kurdisch besetzten Gebieten sind geschlossen; zum Irak hin sind diese durchlässiger (ÖB Damaskus 12.2022).

II.1.6.10. Rückkehr

Die Regierung erlaubt SyrerInnen, die im Ausland leben, ihre abgelaufenen Reisepässe an den Konsulaten zu erneuern. Viele SyrerInnen, die aus Syrien geflohen sind, zögern jedoch, die Konsulate zu betreten, aus Angst, dass dies zu Repressalien gegen Familienangehörige in Syrien führen könnte (USDOS 20.3.2023).

Die Behandlung von Einreisenden nach Syrien ist stark vom Einzelfall abhängig, über den genauen Kenntnisstand der syrischen Behörden gibt es keine gesicherten Kenntnisse. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste über allfällige exilpolitische Tätigkeiten informiert sind, ebenso ist von vorhandenen 'black lists' betreffend Regimegegner immer wieder die Rede. Je nach Sachlage kann es aber (z.B. aufgrund von Desertion oder Wehrdienstverweigerung oder früherer politischer Tätigkeit) durchaus zu Schwierigkeiten mit den syrischen Behörden kommen. (ÖB Damaskus 12.2022).

Auch länger zurückliegende Gesetzesverletzungen im Heimatland (z. B. illegale Ausreise) können von den syrischen Behörden bei einer Rückkehr verfolgt werden. In diesem Zusammenhang kommt es immer wieder zu Verhaftungen. Z.B. müssen deutsche männliche Staatsangehörige, die nach syrischer Rechtsauffassung auch die syrische Staatsangehörigkeit besitzen, sowie syrische Staatsangehörige mit Aufenthaltstitel in Deutschland auch bei nur besuchsweiser Einreise damit rechnen, zum Militärdienst eingezogen oder zur Zahlung eines Geldbetrages zur Freistellung vom Militärdienst gezwungen zu werden. Eine vorab eingeholte Reisegenehmigung der syrischen Botschaft stellt keinen verlässlichen Schutz vor Zwangsmaßnahmen seitens des syrischen Regimes dar. Auch aus Landesteilen, die aktuell nicht unter der Kontrolle des syrischen Regimes stehen, sind Fälle zwangsweiser Rekrutierung bekannt (AA 16.5.2023). Die Dokumentation von Einzelfällen zeigt immer wieder, dass es insbesondere auch bei aus dem Ausland Zurückkehrenden trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung kommen kann. Häufiger werden die Festgenommenen an Haftanstalten der Geheimdienste oder des Militärs überstellt, oft in den Raum Damaskus (AA 2.2.2024).

Durch das Fehlen klarer Informationen über das Prozedere für eine Rückkehr, durch das Zurückhalten der Gründe für die Ablehnung einer Rückkehr, bzw. durch das Fehlen einer Einspruchsmöglichkeit enthält die syrische Regierung ihren BürgerInnen im Ausland das Recht auf Einreise in ihr eigenes Land vor (UNCOI 7.2.2023).

Die offizielle politische Position des Regimes hinsichtlich der Rückkehr von Geflüchteten wurde im Berichtszeitraum angepasst. In einem anlässlich des UNHCR-Exekutivkomitees am 12.10.2023 veröffentlichten Statement versicherte das syrische Regime, dass es sichere Rückkehrbedingungen schaffe. Die Versprechungen, z. B. zum Wehrdienst, bleiben jedoch vage. Nach Einschätzung vieler Beobachter könne kaum mit großangelegter Flüchtlingsrückkehr gerechnet werden (AA 2.2.2024).

II.1.6.10.1. Wahrnehmung von RückkehrerInnnen ja nach Profil

Die Rückkehr von ehemaligen Flüchtlingen ist trotzdem nicht erwünscht, auch wenn offiziell mittlerweile das Gegenteil gesagt wird (The Guardian 23.3.2023; vgl. Balanche 13.12.2021). Rückkehrende werden vom Regime häufig als „VerräterInnen“ deklariert (AA 2.2.2024), bzw. insgeheim als illoyal gegenüber ihrem Land und als Unterstützer der Opposition und/oder bewaffneter Gruppen angesehen (AI 9.2021). Eine besondere Gefahr, Ziel staatlicher und von Willkür geprägter Repression zu werden, besteht für alle, die sich in der Vergangenheit (regime-)kritisch geäußert oder betätigt haben oder sich auf andere Weise das Missfallen des Regimes zugezogen haben. Dies kann nach Einschätzungen von Menschenrechtsorganisationen bereits dann der Fall sein, wenn Betroffene in familiärer Verbindung zu vermeintlichen Oppositionellen oder Regimefeinden stehen oder ihre regionale Herkunft (z. B. ehemalige Oppositionsgebiete) dies nahelegt. Berichte deuten jedoch darauf hin, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können (AA 2.2.2024).

Jeder, der geflohen ist und einen Flüchtlingsstatus hat, ist in den Augen des Regimes bereits verdächtig (Üngör 15.12.2021). Aus Sicht des syrischen Staates ist es daher besser, wenn diese SyrerInnen im Ausland bleiben, damit ihr Land und ihre Häuser umverteilt werden können, um Assads soziale Basis neu aufzubauen. (The Guardian 23.2.2023). Gemäß Berichten von Menschenrechtsorganisationen kommt es zu systematischen, politisch motivierten Sicherheitsüberprüfungen von Rückkehrwilligen, Ablehnung zahlreicher Rückkehrwilliger und gezielten Menschenrechtsverletzungen gegen Rückkehrende sowie Verletzungen von im Rahmen lokaler Rückkehrinitiativen getroffenen Vereinbarungen (Einzug zum Militärdienst, Verhaftung, etc.) (AA 29.11.2021).

Entscheidend für die Sicherheit von Rückkehrenden bleibt vielmehr die Frage, wie der oder die Rückkehrende von den im jeweiligen Gebiet präsenten Akteuren wahrgenommen wird. Rückkehr auf individueller Basis findet, z. B. aus der Türkei, insbesondere in Gebiete statt, die nicht unter Kontrolle des Regimes stehen. Darüber hinaus können belastbare Aussagen oder Prognosen zu Rückkehrfragen nach geografischen Kriterien weiterhin nicht getroffen werden. Insbesondere für die Gebiete unter Kontrolle des Regimes, einschließlich vermeintlich friedlicherer Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie in der Hauptstadt Damaskus, gilt unverändert, dass eine belastbare Einschätzung der individuellen Gefährdungslage aufgrund des dortigen Herrschaftssystems, seiner teilweise rivalisierenden Geheimdienste sowie regimenaher Milizen ohne umfassende zentrale Steuerung nicht möglich ist (AA 2.2.2024).

Berichte internationaler Organisationen ergeben ein Bild regional unterschiedlicher Bedingungen und Politiken zur Flüchtlingsrückkehr (ÖB Damaskus 1.10.2021), und die Aussagen zur Haltung der Regimekräfte gegenüber Rückkehrern heben unterschiedliche Aspekte zu deren Wahrnehmung und Behandlung hervor:

Der Syrien-Experte Uğur Üngör geht davon aus, dass jeder, der das Land verlassen hat, und nach Europa geflohen ist, vom Regime als verdächtig angesehen wird, weil es im Verständnis des Regimes keinen Grund gab, zu fliehen. Die Flucht nach Europa und das Beantragen von Asyl können negativ gesehen werden - im Sinne einer Zusammenarbeit mit den europäischen Regierungen oder sogar, dass man von diesen bezahlt wurde. Dies gilt jedoch nicht für Personen, die eine offiziell bestätigte regierungsfreundliche Einstellung haben. Weiters werden Personen, die in die Türkei geflohen sind, als Vertreter von Präsident Erdoğans Regierung gesehen. Wer im Ausland negative Äußerungen über das Regime gemacht hat (im Sinne von öffentlichem politischen Aktivismus, aber auch privat in sozialen Medien), kann bei der Rückkehr speziell vom politischen Geheimdienst überprüft werden. Wenn man Glück hat, sind die Anschuldigungen laut Üngör nicht sehr ernst, oder man kann ein Bestechungsgeld zahlen, um freizukommen, andernfalls kann man direkt vor Ort verhaftet werden. Hierbei spielen nicht nur eigene Aktivitäten eine Rolle, sondern auch Aktivitäten von Verwandten und die geografische Herkunft der rückkehrenden Person. Es gibt auch Berichte, dass Familienmitglieder von Journalisten, die in Europa für oppositionelle Medien schreiben, inhaftiert und tagelang festgehalten und wahrscheinlich gefoltert wurden (Üngör 15.12.2021)

Laut dem Syrien-Experten Kheder Khaddour kommt es darauf an, wo im Ausland man sich aufgehalten hat: War man in den Golfstaaten, wird vielleicht davon ausgegangen, dass man geschäftlichen Tätigkeiten nachgegangen ist und nichts mit Politik zu tun hat. Wer in die Türkei gegangen ist, wird als Kollaborateur der Islamisten und Präsident Erdoğans gesehen. Wer in Europa war, wird beschuldigt, von Europa bezahlt worden zu sein, um gegen das Regime zu sein. Der Libanon ist vielleicht noch am neutralsten, quasi wie ein 'erweitertes Syrien', und durch die geografische Nähe stehen Flüchtlingen im Libanon-Korruptionsnetzwerke (zur Absicherung der Rückkehr) zur Verfügung, auf die man in Europa keinen Zugriff hat (Khaddour 24.12.2021).

Bashar al-Assad hat erklärt, dass er jene, die gegen sein Regime sind, als 'Krankheitserreger' sieht. Die Rückkehr ist aber nicht nur für Regimegegner, sondern auch für alle, über deren politischer Position sich das Regime nicht sicher ist, problematisch. Die Behandlung eines Rückkehrers durch die Behörden hängt laut dem syrischen Journalisten und Menschenrechtsaktivisten Mohamad Rasheed allein davon ab, ob die Person für oder gegen das Regime ist. Wer regierungstreu ist, kann auf legalem und gewöhnlichem Weg ein- und ausreisen. Die Unvorhersehbarkeit und Willkür sind große Hindernisse für die Rückkehr nach Syrien. Man kann jederzeit verhaftet und verhört werden und niemand weiß, ob man leben, getötet oder verschwinden gelassen wird. Der Staatsapparat ist durchzogen von Mafias, und im ganzen Land gibt es Milizen, die die Bevölkerung tyrannisieren (Rasheed 28.12.2021).

Laut dem Nahost-Experten Fabrice Balanche kann man, wenn man Teil der Opposition war oder sogar gekämpft hat, nicht nach Syrien zurückkehren, selbst wenn es laut offiziellem Narrativ des Präsidenten eine Amnestie gibt. Dasselbe gilt auch für (andere) politische Flüchtlinge. Zudem besteht immer die Gefahr, vom Geheimdienst verhaftet zu werden, zum Teil, um Geld zu erpressen. Man wird für ein paar Wochen inhaftiert, weil man vom Ausland zurückkommt und davon ausgegangen wird, dass man Geld hat. Die Familie muss dann ein Lösegeld von ein paar Tausend Dollar bezahlen, oder die Person bleibt weitere zwei Wochen im Gefängnis (Balanche 13.12.2021).

Auch die lokale Bevölkerung hegt oft Argwohn gegen Personen, die das Land verlassen haben. Es besteht eine große Kluft zwischen Syrern, die geflohen sind, und jenen, die dort verblieben sind. Erstere werden mit Missbilligung als Leute gesehen, die 'davongelaufen' sind, während Letztere oft Familienmitglieder im Krieg verloren und unter den Sanktionen gelitten haben (Khaddour 24.12.2021; vgl. Üngör 15.12.2021). Es kann daher zu Denunziationen oder Erpressungen von Rückkehrern kommen, selbst wenn diese eigentlich 'sauber' [Anm.: aus Regimeperspektive] sind, mit dem Ziel, daraus materiellen Gewinn zu schlagen (Üngör 15.12.2021)

Ein weiteres soziales Problem sind persönliche Racheakte: Wenn bei Kämpfen zwischen zwei Gruppen jemand getötet wurde, kann es vorkommen, dass jemand, der mit dem Mörder verwandt ist, von der Familie des Ermordeten im Sinne der Vergeltung getötet wird. Dies hindert viele an der Rückkehr in ihren Heimatort (Balanche 13.12.2021)

II.1.6.11. Administrative Verfahren der syrischen Behörden für RückkehrerInnen

Die syrische Regierung bietet administrative Verfahren an, die Rückkehrwillige aus dem Ausland oder aus von der Opposition kontrollierten Gebieten vor der Rückkehr in durch die Regierung kontrollierte Gebiete durchlaufen müssen, um Probleme mit der Regierung zu vermeiden. Im Rahmen dieser Verfahren führen die syrischen Behörden auf die eine oder andere Weise eine Überprüfung der RückkehrerInnen durch. Während des als 'Sicherheitsüberprüfung' (arabisch muwafaka amniya) bezeichneten Verfahrens werden die Namen der AntragstellerInnen mit Fahndungslisten verglichen. Beim sogenannten 'Statusregelungsverfahren' (arabisch: taswiyat wade) beantragen die AntragstellerInnen, wie es in einigen Quellen heißt, die 'Versöhnung', sodass ihre Namen von den Fahndungslisten der syrischen Behörden gestrichen wird (DIS 5.2022). Es mangelt insbesondere an einheitlichen bzw. verlässlichen Verfahren zur Klärung des eigenen Status mit den Sicherheitsbehörden (Überprüfung, ob gegen die/den Betroffene/n etwas vorliegt) und an verfügbaren Rechtswegen (AA 2.2.2024).

Gemäß Berichten von Menschenrechtsorganisationen kommt es zu systematischen, politisch motivierten Sicherheitsüberprüfungen von Rückkehrwilligen, zur Ablehnung zahlreicher Rückkehrwilliger und zu gezielten Menschenrechtsverletzungen gegen Rückkehrende sowie Verletzungen von im Rahmen lokaler Rückkehrinitiativen getroffenen Vereinbarungen (Einzug zum Militärdienst, Verhaftung, etc.) (AA 29.11.2021). Auch die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) berichtet von Menschenrechtsverletzungen in ihrem Berichtszeitraum, darunter den Tod eines Rückkehrers in Haft, dem man lebensrettende medizinische Versorgung verweigert hatte. Er war Anfang 2022 bei seiner Rückkehr nach Syrien trotz eines erfolgten Beilegungs-, bzw. 'Versöhnungsprozesses', verhaftet worden (UNCOI 7.2.2023).

So gilt es zum Beispiel für die Rückkehr nach Homs, in die von der Regierung gehaltenen Teile von Idlib sowie ins Umland von Damaskus (Rif Dimashq) mehrere und sich überlappende Genehmigungsprozesse bei einer Reihe von Behörden zu durchlaufen. Oft beinhalten diese Prozedere eine geheimdienstliche Sicherheitsgenehmigung oder ein Beilegungsabkommen (Anm.: auch 'Versöhnungsabkommen') oder beides, je nachdem woher die Rückkehrenden kommen, wo sie hingehen, und was ihre Profile sind. Einige mussten etwa schon vor ihrer Rückkehr ihren Status bei Zentren zur 'Statusklärung' in Regierungsgebieten 'klären', indem Verwandte oder Freunde vor Ort dies für sie durchführten. Andere gingen direkt zu diesen Zentren, nachdem sie durch Schmuggelrouten in das Gebiet zurückkehrten oder nachdem sie an einem Grenzübergang um eine 'Statusklärung' angesucht hatten. Andere wiederum mussten eine Sicherheitsgenehmigung für einen Wohnsitz, bzw. Aufenthalt ('residence') bereits vor ihrer Rückkehr einholen. Andere versuchten an kollektiven Rückkehraktionen aus dem Libanon teilzunehmen (UNCOI 7.2.2023)

Auch nach vermeintlicher Klärung des Status mit einer oder mehreren der Sicherheitsbehörden innerhalb oder außerhalb Syriens kann es nach Rückkehr jederzeit zu unvorhergesehenen Vorladungen und/oder Verhaftungen durch diese oder Dritte kommen. Berichte verschiedener Menschenrechtsorganisationen bestätigen, dass selbst eine von der jeweiligen Sicherheitsbehörde vorgenommene positive Sicherheitsüberprüfung jederzeit von dieser revidiert werden kann und damit keine Garantie für eine sichere Rückkehr leistet (AA 2.2.2024).

II.1.7. Einreisemöglichkeiten in das von der Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien (AANES) kontrollierte Gebiet:

Die folgende Auflistung stellt offizielle und bedeutsamere Grenzübergänge in Syrien dar (nach BFA-Staatendokumentation, Themenbericht Syrien-Grenzübergänge, vom 25.10.2023):

Von der Türkei aus dürfte eine Einreise in den Nordosten Syriens sehr schwierig sein - die Grenzübergänge sind laut UNDSS gesperrt; in der Karte des EAD der EU werden zwei Grenzübergänge als offen geführt; diese führen allerdings in das von der Türkei okkupierte Gebiet. Zumindest die Weiterreise in das kurdisch kontrollierte Gebiet dürfte mit Schwierigkeiten verbunden sein (Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Einreise in das Kurdengebiet, speziell Provinz al Hassakah, vom 23.06.2021).

Bestimmte Grenzübergänge aus dem Irak (Semalka ganz im Norden und Boukamal ganz im Süden) sind - zumindest - eingeschränkt passierbar. UNDSS qualifiziert diese als „conditional“ offen (der Grenzübergang von Beirut nach Damaskus wird auch so qualifiziert; für ganz Syrien wird kein Grenzübergang von UNDSS als gänzlich „offen“ eingestuft). Der EAD führt diese als „offen“. Semalka wird von den kurdischen Sicherheitskräften kontrolliert; hier wäre eine Einreise ohne Kontakte zu syrischen Regierungsbehörden möglich. Boukamal wird von der Regierung kontrolliert und es wird sich auch eine Weiterreise in den Nordosten weit schwieriger gestalten (Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Einreise in das Kurdengebiet, speziell Provinz al Hassakah, vom 23.06.2021).

Der Grenzübergang von Semalka/Fishkhabur [Anm.: auch Faysh Khabour, Peshkhabour] ist politisch wie wirtschaftlich zentral für das Überleben des Selbstverwaltungsgebiets Nord- und Ostsyrien [Autonomous Administration of North and East Syria, AANES] (TWI/Balanche 10.2.2021). 70 bis 100 LKW-Ladungen mit kommerziellen Gütern werden täglich via Semalka in die AANES gebracht. Der Fluss Tigris trennt die beiden Seiten des Grenzübergangs Fishkhabour/Semalka. Es gibt zwei Flussübergänge - einen für private bzw. zivile Reisebewegungen und einen für kommerzielle und humanitäre Güter. Auf der syrischen Seite kontrolliert die PYD (Partei der Demokratischen Union) den Semalka-Übergang, und laut Journalisten sind zwei Organe der Selbstverwaltungsregion AANES vor Ort: 1.) die Asayish (Sicherheitspolizei) in Form von Wachen (Polizei oder interne Sicherheitskräfte der AANES) und 2.) die zivile Grenzverwaltung, deren Personal für die Dokumente der Reisenden bei Ein- und Ausreise zuständig ist. Am Grenzübergang Semalka sind keine Beamten des syrischen Staates präsent (van Wilgenburg 09.10.2023).

Auf der irakischen Seite betreibt das Kurdistan Regional Government (KRG) der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) unter der Leitung von Direktor Shawkat Barbuhari (Berbihary) den Grenzübergang Fishkhabour. Sein Stellvertreter ist Nazim Hamid Abdullah. Hamid Darbandi ist nicht nur Leiter der Abteilung für Public Relations der Präsidentschaft der KRG, sondern auch für die Beziehungen zu Syrien, bzw. den syrischen Kurd:innen. Er spielt eine Rolle bei Genehmigungen, besonders für Ausländer:innen, welche die Grenze überqueren wollen. Einer zweiten syrisch-kurdischen Quelle zufolge werden beide Seiten des Grenzübergangs von den jeweiligen Innenministerien der kurdischen Regionalverwaltungen KRG und AANES betrieben. So sind es auch auf der irakischen Seite Asayish der KRI (Kurdistan Region Irak) bzw. der KDP, welche in manchen Fällen Personen bei der Einreise aus Syrien oder ihrer Rückkehr befragen, insbesondere, wenn es sich um Ausländer:innen handelt, die nach Syrien reisen (van Wilgenburg 09.10.2023). Der Grenzübergang Semalka gilt politisch, humanitär und wirtschaftlich als Lebensader der AANES. Nur hier können laut Thomas Schmidinger auch politische Delegationen, NGOs und andere humanitäre Organisationen den Norden und Osten Syriens erreichen (Al-Monitor 21.05.2023).

Es gibt laut Wladimir van Wilgenburg nur wenige Rückweisungen am Grenzübergang (van Wilgenburg 09.10.2023). Dabei handelt es sich auf irakischer Seite um Fälle mit politischem Hintergrund, etwa Personen, gegen die in der KRI Dossiers vorliegen. So wurde Syrer:innen das Betreten der KRI wegen des Verdachts einer Verbindung zur PKK, YPG oder PYD (Kurdische Arbeiterpartei, Volksverteidigungseinheiten, Partei der Demokratischen Union), syrischen Nachrichtendiensten oder pro-türkischen Milizen wie der SNA (Syrian National Army) und FSA (Freie Syrische Armee) verwehrt. Personen mit wahrgenommenen Verbindungen zur Selbstverwaltung (AANES), YPG oder SDF (Syrian Democratic Forces) erlangen laut Einschätzung eines von van Wilgenburg befragten Aktivisten nicht so leicht Zutritt (van Wilgenburg 09.10.2023). Auf der syrischen Seite wurde auch syrischen Bewohner:innen der KRI die Rückkehr nach Syrien von AANES-Kräften verweigert - und zwar wegen tatsächlicher oder vermeintlicher Verbindungen zur PDK-S (dem syrischen Zweig der irakischen KDP der Barzani-Familie), zum Kurdish National Council (KNC) [Kurdischer Nationalrat, von Barzani unterstützter Zusammenschluss kurdischer Parteien] oder zu türkischen Nachrichtendiensten, syrischen Oppositionsmilizen (SNA, FSA) oder dem Islamischen Staat etc. (van Wilgenburg 09.10.2023).

Laut van Wilgenburg war es früher für Mitarbeiter:innen der AANES bzw. des Syrian Democratic Council (SDC) [Anm.: Syrischer Demokratischer Rat, politisches Gremium der AANES] leichter, in die KRI einzureisen, während in den letzten Jahren die Einreise durch die KRI verweigert wurde. Gleichzeitig hat die AANES ihrerseits Vertreter:innen des KNC die Einreise verweigert. Hintergrund sind die verstärkten Spannungen zwischen der PKK und der KDP im irakischen Kurdistan. Die syrische PYD ist mit der PKK verbunden, bzw. steht ihr nahe, während der KNC und PDK-S der KDP bzw. KRG nahestehen. Nach früheren, nie umgesetzten Vermittlungsabkommen gab es auch einen Versuch der USA im Jahr 2020, einen Dialog zwischen den beiden Seiten zu vermitteln, der scheiterte. Oft kam es nach dem Bruch der Abkommen zu Spannungen, und die Grenzübergänge wurden geschlossen, und die beiden Seiten verweigerten jeweils den KNC-Funktionären oder den PYD-Vertreter:innen die Einreise (van Wilgenburg 09.10.2023).

Semalka und Yaroubiya können von Schließungen betroffen sein. Semalka wird gelegentlich aus politischen Gründen von der KRG geschlossen, besonders wenn sich Spannungen zwischen der im Nordirak dominanten KDP und der PYD, welche die AANES dominiert, zuspitzen. Allerdings dauern diese Blockaden nicht lange, weil der Handel für beide Seiten sehr profitabel ist. Zwischen den beiden Autonomieverwaltungen gibt es „diplomatische“ Beziehungen. Seit der Militäroffensive „Claw Eagle Operations“ der Türkei im Jahr 2019 erhöht diese den Druck auf die KRG und den Irak, die Grenze zur AANES zu schließen, um diese zu isolieren (Jasim/STDOK 10.10.2023). Laut van Wilgenburg sorgten die Spannungen zwischen der KRG und der AANES und den mit ihr verbundenen Streitkräften besonders im Zeitraum 2013 bis 2018 für Schließungen von Semalka. Im Dezember 2021 kam es zu einer Schließung aufgrund von Spannungen zwischen der KDP und PYD nach einem Protest oder Angriff einer PKK-Jugendgruppe an der Grenze. Im Jahr 2020 war die Grenze wegen der COVID-19-Pandemie geschlossen (van Wilgenburg 09.10.2023). Im Dezember 2021 kam es zu einer Schließung, die 40 Tage andauerte. Während der Schließung im Juni 2021 zum Höhepunkt neuerlicher inner-kurdischer Spannungen war der Grenzübergang für Reisende gesperrt, aber nicht für den humanitären Bereich (Al-Monitor 21.05.2023). Seither wurden die Schließungen weniger. Die letzte Schließung währte vom 20. Mai bis 5. Juni 2023. Grund für die Schließung war, dass die der AANES angegliederte Grenzverwaltung syrisch-kurdischen Beamt:innen den Grenzübertritt zur KRI verweigert hatte, die der Eröffnung des Barzani-Nationalmuseums beiwohnen wollten (K24 03.06.2023). Am 5. Juni 2023 öffnete der Grenzübergang Semalka/Fishkhabour wieder (iMMAP 13.07.2023). Die temporäre Schließung vom 20. Mai bis zum 5. Juni 2023 sorgte für das Fehlen wichtiger Güter in der AANES (van Wilgenburg 09.10.2023). Neuerliche Schließungen sind nicht dokumentiert. Der Grenzübergang ist aktuell offen (van Wilgenburg 09.10.2023).

Gelegentlich zeigt auch die irakische Zentralregierung ihren Unmut über die Existenz der inoffiziellen Grenzübergänge der KRG, was dann dazu führt, dass diese für einige Tage geschlossen werden, bis die Aufmerksamkeit der Regierung geschwunden ist (Jasim/STDOK 10.10.2023). Im Fall von Schließungen ist Nordost-Syrien dann nur über das Regierungsgebiet erreichbar (Al-Monitor 21.05.2023). Die KDP hat bisher auch im Fall von Schließungen immer Nahrungsmittel und Medikamente passieren lassen (CAP 26.05.2021). Die Selbstverwaltung AANES ist (auch) an der irakischen Grenze an den essenziellen Grenzübergängen Fishkhabour und Yaroubiya mit Gefahren konfrontiert. Das Grenzgebiet ist politisch zwischen PKK, irakischen Sicherheitskräften, schiitischen Milizen und mit Barzani verbündeten KDP-Kräften umstritten. Die Türkei hat überdies gedroht, im nahe gelegenen Sinjar zu intervenieren, was die Lage völlig verändern würde. Vor dem Hintergrund des Eigeninteresses der US-Truppen an einer offenen Grenze und der Abhängigkeit der KDP von US-Unterstützung sollten die USA jedoch in der Lage sein, das Thema Fishkhabour zu regeln (CAP 26.05.2021). Der Yarubiya-Grenzübergang ist insofern eine eigene Thematik, als dort nach einem russischen Veto im UN-Sicherheitsrat seit Jänner 2020 keine humanitäre Hilfe der UNO mehr passieren darf. Das schränkt die Einfuhr von essenziellem Medizinbedarf in die AANES ein - auch während der Pandemie gab Russland nicht nach (CAP 26.05.2021).

Es gibt nicht viele Verhaftungen direkt an der Grenze, auch wenn Leuten die Einreise verweigert wird. Einige Fälle von Verhaftungen und Misshandlungen ereigneten sich in den letzten Jahren aufgrund der politischen Ansichten der Reisenden, einer früheren Mitgliedschaft in einer (bewaffneten) Gruppe (van Wilgenburg 09.10.2023) oder weil die Betreffenden den Wehrdienst in der HXP (Selbstverteidigungseinheiten der AANES) vermieden hatten (van Wilgenburg 09.10.2023, van Wilgenburg 17.10.2023). Direkt am Grenzübergang kommt es nicht zu Misshandlungen (van Wilgenburg 09.10.2023). Bassam al-Ahmad, der geschäftsführende Direktor von Syrians for Truth and Justice, gibt an noch nie von Verhaftungen oder Misshandlungen auf einer der beiden Seiten [direkt] an der Grenze gehört zu haben. Auch andere syrisch-kurdische Quellen bestätigten, dass es keine Verhaftungen an der Grenze gab (van Wilgenburg 09.10.2023).

Der Grenzübergang Semalka/Fishkhabur ist weder von Syrien noch vom Irak offiziell anerkannt ist, und das Queren der Grenze ist illegal, auch wenn dies in den meisten Fällen nicht strafrechtlich verfolgt wird, weil sich beide Seiten unter kurdischer Kontrolle befinden (Jasim/STDOK 10.10.2023). Reist jemand aus dem Irak über Fishkhabour nach Syrien ein, ist keine legale Einreise in von der Regierung kontrollierte Gebiete möglich. Wenn eine aus dem Ausland einreisende Person etwa nach Damaskus reisen wollte, müsste sie über einen offiziellen Grenzübergang unter Kontrolle der syrischen Regierung, etwa über den Libanon oder die jordanisch-syrische Grenze, einreisen. Eine Einreise über den Grenzübergang Fishkhabour gilt nicht offiziell als Einreise nach Syrien und der Reisepass wird nicht abgestempelt. Man erhält bei der Einreise lediglich ein „Papiervisum“ (ACCORD 14.06.2023). Semalka ist daher für viele Leute im Nordosten Syriens der bevorzugte Grenzübergang, weil er nicht von der syrischen Regierung anerkannt oder verwaltet wird. Der fehlende Eintrag im Reisepass ist auch für diejenigen Syrer:innen wichtig, die Angst haben, ihre Aufenthaltsgenehmigung im Ausland als Flüchtlinge zu verlieren, wenn ihre Reise nach Syrien aufscheinen würde (Al-Monitor 21.05.2023). Sowohl Hisham Arafat wie auch Bassam al-Ahmad sagten gegenüber van Wilgenburg aus, dass die syrische Regierung nicht am Grenzübergang präsent ist und keine Kontrollmöglichkeit hat (van Wilgenburg 09.10.2023). Bei einer Einreise in die AANES über den Grenzübergang Fishkhabour aus dem Irak erfährt die syrische Regierung offiziell nichts von der Einreise nach Syrien. Es gibt Gerüchte über einen Informationsaustausch zwischen AANES und der syrischen Regierung (van Wilgenburg 09.10.2023) und über die Anwesenheit von Spitzeln des Regimes in der Grenzregion, aber keine bestätigten Informationen dazu.

Eine Möglichkeit den Nordosten Syriens direkt von Europa kommend zu erreichen, ist nach Erbil (Autonome Region Kurdistan Irak) zu fliegen und von dort zum Grenzübergang Semalka - Faysh Khabur zu fahren. Vom Flughafen Erbil brächten Taxis oder Minibusse Reisende zum Grenzübergang. Die Transportkosten vom Flughafen Erbil nach Semalka - Faysh Khabur betrügen in etwa 50 US-Dollar pro Person in einem geteilten Minibus oder etwa 100 US-Dollar für ein privates Taxi. Die Fahrt dauere ca. 2,5 Stunden. Am Grenzübergang angekommen, gehe der/die Reisende ein kurzes Stück zu Fuß, um dann Grenzbeamt·innen Ausweispapiere und etwaige andere Dokumente, nach denen in manchen Fällen gefragt werde, wie den Personalausweis, das Familienbuch, das Personenstandsregister und ähnliches vorzulegen. Wenn es der Person erlaubt wird zu passieren, nehme sie auf syrischer Seite des Grenzüberganges ein neues Auto mit Fahrer, um nach Al-Hasaka zu gelangen. Es sei für Reisende nicht möglich, die Grenze mit einem Auto zu passieren. Fahrer von beiden Seiten würden sich jedoch oft kennen und zusammenarbeiten. Die Fahrt vom Grenzübergang nach Al-Hasaka koste in etwa 50 US-Dollar und dauere circa zwei Stunden. Über den Grenzübergang sind Personen- und Warenverkehr möglich (Syrienexperte, der im Auftrag von ACCORD mit lokalen Quellen vor Ort, inklusive Beamten der Provinz al-Hasaka und der Autonomen Region Kurdistan Irak, sowie Fahrern, die am Grenzübergang Semalka - Faysh Khabur arbeiten, gesprochen hat). Semalka und die umliegende Region sind vergleichsweise recht sicher. UNDSS weist die Straßenverbindungen von Semalka kommend nach al-Hasaka und Qamishli mit der zweitniedrigsten Sicherheitsstufe aus – zum Vergleich: über die niedrigste Einstufung – „normal“ – verfügen nur die Verbindungen von Beirut-Damaskus-Homs-Tartus-Latakia (ÖB Österreichische Botschaft Damaskus 08.06.2021).

Syrische Einwohner:innen der Provinz al-Hassakah und des Gebiets von Kobane benötigen zur Einreise über den Grenzübergang Semalka - Faysh Khabur ein syrisches Reisedokument und die Genehmigung der Grenzbehörde der KRI in Fishkhabour. Die Genehmigung der AANES, wofür ein Sponsor in Syrien nötig ist (auch Expat-Karte genannt) ist nur für Syrer:innen notwendig, die in anderen Provinzen Syriens wohnen. Im Fall einer gerade erfolgten legalen Einreise über den Flughafen Erbil und bei Vorliegen eines KRI-Visums, und ohne noch eine KRI-Visa-Aufenthaltskarte erhalten zu haben, ist eine Rückkehr nach Syrien via Fishkhabour möglich, indem eine Kopie des KRI-Visums beim Grenzübergang eingereicht wird. Van Wilgenburg hat selbst gesehen, dass Syrer:innen aus den Golfstaaten mit einem KRI-Visum so die Regimegebiete umgehen, und in die AANES-Region zurückkehren konnten (van Wilgenburg 09.10.2023). Am Grenzübergang Fishkhabour müssen den GrenzbeamtInnen Ausweispapiere und etwaige andere Dokumente, nach denen in manchen Fällen gefragt werde, wie den Personalausweis, das Familienbuch, das Personenstandsregister und ähnliches vorlegen (Syrienexperte gegenüber ACCORD, 25.04.2022). Fehlende Ausweisdokumente sind einem Rechts- und Menschenrechtsberater beim SJAC zufolge nicht unbedingt ein Hindernis für den Prozess der Rückkehr. Personen, die keinen Reisepass besitzen oder deren Pass abgelaufen ist, können beispielsweise einen Passierschein bei einer syrischen diplomatischen Vertretung im Ausland beantragen (siehe EASO, Syrien: Lage der Rückkehrer aus dem Ausland, S. 25).

Personen, die in die Kurdistan Region Irak (KRI) einreisen wollen, benötigen eine Einreisegenehmigung in Form eines 30-Tage-Visums (Gov.KRD o.D.; vgl. UNHCR 11.2022), sowie einen gültigen Reisepass (Gov.KRD o.D.). In allen drei KRI-Gouvernements ist eine Sicherheitskontrolle durch die Asayish am jeweiligen Einreisekontrollpunkt des Gouvernements notwendig. Personen, die länger als 30 Tage in der KRI bleiben wollen, müssen sich an den Asayish (UNHCR 11.2022; vgl. AA 28.10.2022) und den zuständigen Mukhtar (Leiter der lokalen Verwaltung) wenden, um ihren Aufenthalt zu legalisieren (UNHCR 11.2022). Personen, die über den Flughafen Erbil einreisen, müssen sich binnen 48 Stunden bei den Asayish anmelden, wenn sie beabsichtigen, länger im Land zu bleiben (UNHCR 11.2022).

Es kann auch zur Verweigerung einer Einreise von Syrer:innen in die KRI kommen, wenn diese im Verdacht stehen, mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), den Volksverteidigungseinheiten (YPG), der Partei der Demokratischen Union (PYD), mit dem Geheimdienst des syrischen Regimes, mit dem Islamischen Staat (IS) oder mit den von der Türkei unterstützten Milizen (Syrische Nationale Armee, SNA/ Freie Syrische Armee, FSA) in Verbindung zu stehen. Besonders auch Personen, denen direkte Verbindungen zur AANES, zur YPG oder zu den SDF nachgesagt werden, erhalten meist nicht so leicht eine Einreiseerlaubnis. Einreiseerschwernisse für Beamte der AANES und des Demokratischen Rats Syriens (SDC) sind vor dem Hintergrund zunehmender Spannungen zwischen der PKK und der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) in der KRI zu betrachten. Die syrisch-kurdische PYD steht der PKK nahe, während der Kurdische Nationalrat (KNC) und die Demokratische Partei Kurdistan-Syrien (PDK-S) der KDP und damit der KRG nahestehen (van Wilgenburg 09.10.2023). Die KRI schränkt die Bewegungsfreiheit in den von ihr verwalteten Gebieten für Nicht-Einheimische ein (USDOS 20.03.2023).

II.2. Beweiswürdigung:

II.2.1. Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde Beweis erhoben durch Einsichtnahme in den von der belangten Behörde vorgelegten Verfahrensakt, u.a. durch den vorgelegten Personalausweis, dem Auszug aus dem Familienregister, der Einvernahme der bP in der vor dem erkennenden Gericht durchgeführten mündlichen Verhandlung, ferner durch Einholung aktueller Auszüge aus dem Strafregister, dem Zentralen Melderegister und dem Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister sowie schließlich im Wege der Einsichtnahme in die vom erkennenden Gericht in das Verfahren eingebrachten und der bP unter Angabe der Quellen bekanntgegebenen und übermittelten Länderberichten zur Lage im Herkunftsstaat, insbesondere (UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 6. aktualisierte Fassung, März 2021; Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien: Einreise in das Kurdengebiet, speziell Provinz al-Hassakah, 23.06.2021; Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien: Wehrdienst, vom 27.01.2022; The Danish Immigration Service, COI-Report Syria: Treatment upon return, May 2022; ACCORD Anfragebeantwortung zu Syrien: Voraussetzungen für Einreise syrischer Staatsangehöriger in Gebiete unter Kontrolle der SDF/YPG in Nordostsyrien; Legale Einreise aus dem Irak bzw. der Türkei; Informationen zum Grenzübergang Semalka - Faysh Khabur; Kontrolle der Grenzübergänge zwischen Nordostsyrien und der Türkei/dem Irak [a-11859-1], 06.05.2022; The Danish Immigration Service, COI-Report Syria: Military recruitment in Hasakah Governate, June 2022; EUAA COI-Report Syria, Targeting of Individuals, September 2022; ACCORD Anfragebeantwortung zu Syrien: Wehrdienstverweigerung und Desertion [a-11951], 08.09.2022; Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien: Fragen des BVwG zur Bestrafung von Wehrdienstverweigerung und Desertion, 16.09.2022; Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien: Fragen des BVwG zu Rückkehrern nach Syrien, 14.10.2022; Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien: Fragen des BVwG zur Wehrpflicht in Gebieten außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung (ergänzende AFB), 14.10.2022; EUAA Country Guidance: Syria, February 2023; Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Türkei / Syrien: Einreise türkisch-syrische Grenze, Weiterreise in AANES-Gebiete, besonders Tal Rifaat, 05.04.2023; Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien: Sicherheitslage Nordost-Syrien; Iranische Militärstandorte, 21.04.2023; Anfragebeantwortung zu Syrien: Detailfragen zum Vorgehen der syrischen Grenzbehörden bei der Einreise eines registrierten Reservisten nach mehrjährigem Auslandsaufenthalt [a-12132-2], 14.06.2023; The Danish Immigration Service, COI-Report Syria: Military Service: recruitment procedure, conscripts’ duties and military service for naturalised Ajanbis, July 2023; Information der Staatendokumentation zu Syrien: Wehrdienstverweigerer an syrischen Grenzübergängen inklusive Hinweise auf bereits erstellte Informationen, 17.08.2023; Anfragebeantwortung zu Syrien: Konsequenzen bei Verweigerung des Dienstes in den Selbstverteidigungskräften; Konsequenzen für Angehörige; Wahrnehmung von Personen, die den Dienst in den Selbstverteidigungskräften verweigern; Situation von Arabern; Einsatz von Rekruten im Rahmen der Selbstverteidigungspflicht an der Front [a-12188-v2], vom 18.08.2023 sowie 06.09.2023; Anfragebeantwortung zu Syrien: Möglichkeit der syrischen Behörden, in den kurdisch kontrollierten Gebieten, in denen die Regierung Präsenz hat (Manbij, Ain Al-Arab, Tal Rifaat, Landstreifen entlang der türkischen Grenze) Personen für den Reservedienst einzuziehen; Personenkontrollen in diesen Gebieten, die einen Aufgriff von Regierungskritiker·innen ermöglichen [a-12197], 24.08.2023; Anfragebeantwortung zu Syrien: Rekrutierung Wehrpflichtiger durch die syrische Regierung in Manbidsch (Provinz Aleppo) [a-12201-1], 07.09.2023; Anfragebeantwortung zu Syrien: Aktualität von Dekret Nr. 3 vom 4. September 2021 bezüglich Selbstverteidigungsdienst in der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien (AANES); Anwendung des Dekrets in der Stadt Manbidsch; Einberufung älterer Männer zum Selbstverteidigungsdienst; Höchstalter, bis zu dem Wehrdienstverweigerer eingezogen werden können [a-12201-2], 07.09.2023; EUAA COI-Report Syria – Country Focus, October 2023; EUAA COI-Report Syria – Security Situation, October 2023; Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zur Türkei: Ein- und Durchreisebestimmungen für Syrer, Passieren von Grenzübergängen zu Syrien, 24.10.2023; Themenbericht der Staatendokumentation zu Syrien – Grenzübergänge, 25.10.2023; The Danish Immigration Service, COI-Report Syria: Military Service, January 2024; ACCORD Themendossier zu Syrien: Wehrdienst, 20.03.2024; Länderinformation der Staatendokumentation zu Syrien, 27.03.2024)

II.2.2. Die Feststellungen zur Person

Feststellungen zur Identität und zur Staatsangehörigkeit der bP, ihrer Abstammung sowie ihren persönlichen und familiären Lebensumständen beruhen auf ihren insoweit stringenten Angaben im Verfahren erster Instanz und vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die Identität der bP kann aufgrund des im Verfahren vor der belangten Behörde im Original vorgelegten, am 23.08.2006 ausgestellten Personalausweises (kein Ablauf) festgestellt werden.

II.2.3. Gesundheitlicher Zustand

Die bP legte im Laufe des Verfahrens im Hinblick auf ihren gesundheitlichen Zustand dar, dass es ihr gut gehe. Ausgehend davon und ob des in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindrucks ist daher festzustellen, dass die bP gesund ist und insbesondere an keiner die Tauglichkeit für den Wehrdienst ausschließenden Erkrankung leidet.

II.2.4. Die zur Lage im Herkunftsstaat unter dem Punkt II.1.6. getroffenen Feststellungen ergeben sich aus den vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Erkenntnisquellen (insbesondere dem aktuellen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Version 11 vom 27.03.2024), die der bP mit Schreiben vom 20.03.2024 sowie im Rahmen der mündlichen Verhandlung und unter gleichzeitiger Angabe der herangezogenen Quellen zur Erstattung einer Stellungnahme bekanntgegeben wurden. Die Ausführungen in den Berichten wurden seitens der bP nicht in Abrede gestellt, sondern berief sie sich vielmehr selbst auf die Länderberichte und monierte, dass eine Auseinandersetzung mit der Berichtslage nur ungenügend erfolgt sei.

Die nunmehr getroffenen Feststellungen zur politischen Lage und zu den Machtverhältnissen in Syrien gründen sich im Wesentlichen auf das akturelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl. Zum Zweck einer einheitlichen Darstellung wurden die einschlägigen Inhalte des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation um den Inhalt spezifischerer – insbesondere betreffend die Sicherheits- und Rekrutierungssituation sowie die Lage an den Grenzübergängen – bzw. aktuellerer Länderberichte erweitert. Soweit die bP im Beschwerdeschriftsatz auf weitere Berichte verwies, stehen diese mit der der Entscheidung vom erkennenden Gericht zugrunde gelegten Berichtslage im Einklang.

II.2.5. Machtverhältnisse in der Herkunftsregion

Die Machtverhältnisse in der Herkunftsregion der bP sind nicht strittig. Sie ergeben sich einerseits aus den Angaben der bP sowie andererseits aus der Einsichtnahme in das von den einschlägigenWebsites(https://syria.liveuamap.com/;https://www.cartercenter.org/news/multimedia/map/exploring-historical-control-in-syria.html) abgerufene, in das Verfahren eingeführte und der bP vorgehaltene Kartenmaterial in Zusammenschau mit den Darstellungen und Ausführungen im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation bzw. den sonstigen bekanntgegebenen Quellen.

In ihrer Einvernahme vor der belangten Behörde, aber auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht bestätigte die bP, dass ihr Herkunftsort unter der Kontrolle der Syrian Democratic Forces (SDF) bzw. der Behörden der Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien (AANES) stehe (vgl. VH-NS vom 15.04.2024).

II.2.6. Die zum Wehrdienst und zur Rekrutierungspraxis der Arabischen Republik Syrien sowie der Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien (AANES) getroffenen Feststellungen ergeben sich aus dem Länderinformationsblatt, insbesondere auch aus den entsprechenden Anfragebeantwortungen der Staatendokumentation sowie von ACCORD in Kombination mit dem Report des Danish Immigration Service („Military recruitment in Hasakah Governorate“). Die jeweils im Einzelfall herangezogene Quelle wurde in den Feststellungen ersichtlich gemacht, die Quellen zeigen insgesamt ein übereinstimmendes Gesamtbild und ermöglichen damit zweifelsfreie Feststellungen zur Situation vor Ort.

II.2.7. Die Feststellungen zu den in Syrien nach wie vor bestehenden Menschenrechtsverletzungen durch das syrische Regime, insbesondere in Zusammenhang mit militärischen Operationen, Rückkehrern und Wehrdienstverweigerern, beruhen auf dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, dessen wesentliche Aussagen Bestätigung in anderen Quellen finden (Anfragebeantwortungen, Information Reports der EUAA, Bericht des Danish Immigration Service betreffend „Treatment Upon Return“).

II.2.8. Die zur Lage im Grenzgebiet und zur potentiellen Einreisemöglichkeit in die Herkunftsregion getroffenen Feststellungen beruhen im Wesentlichen auf der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 23.06.2021 betreffend Einreise in das Kurdengebiet, der Anfragebeantwortung von ACCORD vom 06.05.2022 zu den Voraussetzungen für die Einreise syrischer Staatsangehöriger in Gebiete unter Kontrolle der SDF/YPG in Nordostsyrien sowie vom 14.06.2023 zum Vorgehen der syrischen Grenzbehörden bei der Einreise eines registrierten Reservisten nach mehrjährigem Auslandsaufenthalt und schließlich dem Inhalt des Themenberichtes der Staatendokumentation Syrien - Grenzübergänge vom 25.10.2023, der auch aktuelle Einschätzungen zur Rekrutierungssituation im Grenzgebiet umfasst. Hinsichtlich der Rekrutierungssituation und der Lage am Grenzübergang Semalka/Faysh Khabur folgt das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen der Einschätzung des Experten Wladimir van Wilgenburg, der in Erbil lebt und über unmittelbare Wahrnehmungen aus der Region verfügt.

Indifferent gestalten sich die Einschätzungen betreffend die Möglichkeiten des Regimes, Kenntnisse über erfolgte Grenzübertritte am Grenzübergang Semalka/Faysh Khabur zu erlangen. Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes spiegeln die Einschätzungen von Bassam al-Ahmad und von Wladimir van Wilgenburg die Realität wieder, wonach die syrische Regierung nicht die Möglichkeit hat, Grenzübertritte zu überwachen oder zu kontrollieren. Die gegenteiligen Anschauungen gründen sich erkennbar auf Spekulationen und Gerüchte – etwa, dass es eine „informelle Vereinbarung“ zwischen dem syrischen Regime und den Behörden der Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien gebe oder dass das Regime ein Spitzelnetzwerk an der Grenze unterhalte – und sind demgemäß mangels belastbarer Hinweise im Bereich des Tatsächlichen keine hinreichende Basis für entsprechende Feststellungen.

Die bP ist dem Inhalt der den Feststellungen zugrundeliegenden Berichten nicht entgegengetreten.

II.2.9. Das Asylverfahren bietet nur beschränkte Möglichkeiten, Sachverhalte vor Ort zu verifizieren, die sich im Herkunftsstaat des Asylwerbers ereignet haben sollen. Hat der Asylwerber keine anderen Beweismittel, so bleibt ihm lediglich seine Aussage gegenüber den Asylbehörden, um das Schutzbegehren zu rechtfertigen. Diesen Beweisschwierigkeiten trägt das österreichische Asylrecht in der Weise Rechnung, dass es lediglich die Glaubhaftmachung der Verfolgungsgefahr verlangt. Dabei hat der Asylwerber im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach § 15 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage wahrheitsgemäß darzulegen (VwGH 27.05.2019, Ra 2019/14/0153; 15.03.2016, Ra 2015/01/0069).

Im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit von Angaben eines Asylwerbers hat der Verwaltungsgerichtshof als Leitlinien entwickelt, dass es erforderlich ist, dass der Asylwerber die für die ihm drohende Behandlung oder Verfolgung sprechenden Gründe konkret und in sich stimmig schildert (VwGH 26.06.1997, Zl. 95/21/0294) und dass diese Gründe objektivierbar sind (VwGH 05.04.1995, Zl. 93/18/0289). Das Vorbringen des Asylwerbers muss, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit einer Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, genügt zur Dartuung von selbst Erlebtem grundsätzlich nicht (VwGH 10.08.2018, Ra 2018/20/0314).

Es entspricht ferner der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, dass ein Vorbringen im Allgemeinen als nicht glaubwürdig angesehen werden kann, wenn der Asylwerber die nach seiner Meinung einen Asyltatbestand begründenden Tatsachen im Laufe des Verfahrens bzw. der niederschriftlichen Einvernahmen unterschiedlich oder sogar widersprüchlich darstellt, wenn seine Angaben mit den der Erfahrung entsprechenden Geschehnisabläufen oder mit tatsächlichen Verhältnissen bzw. Ereignissen nicht vereinbar und daher unwahrscheinlich erscheinen oder wenn er maßgebliche Tatsachen erst sehr spät im Laufe des Asylverfahrens vorbringt (VwGH 06.03.1996, Zl. 95/20/0650).

II.2.10. Zur Gefahr der Rekrutierung durch das syrische Regime bzw. zu behördlichen Maßnahmen aufgrund einer - allenfalls unterstellten - politischen Gesinnung - ist Folgendes auszuführen:

Die Durchsetzung der Wehrpflicht bzw. die Vornahme einer Zwangsrekrutierung sowie behördlicher Maßnahmen aufgrund einer allenfalls unterstellten oppositionellen politischen Gesinnung oder auch sonstigen Vorwürfen setzen entsprechende Zugriffsmöglichkeiten des syrischen Regimes voraus.

Entgegen den Beschwerdeausführungen ist der aktuellen Berichtslage eindeutig zu entnehmen, dass die syrischen Streitkräfte weder am Herkunftsort der bP noch in dem ebenfalls unter Kontrolle der SDF bzw. der AANES stehenden Umland und somit der Herkunftsregion Zwangsrekrutierungen durchführen kann:

Der Herkunftsort der bP steht – wie sie in der Verhandlung bestätigte – zur Gänze unter kurdischer Kontrolle und liegt auch – wie der Beilage a) zur VH-NS entnommen werden kann, innerhalb eines gleichfalls unter kurdischer Kontrolle stehenden Gebietes, dies bereits seit bald sieben Jahren. In den zugänglichen Quellen wird festgehalten, dass die syrische Regierung in den von der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien (AANES) kontrollierten Gebieten de facto nicht in der Lage ist, Rekrutierungen durchführen und solche aufgrund angenommener mangelnder Loyalität der Wehrpflichtigen auch nicht anstreben; sie unterhalten dort auch keine Polizeibehörden oder Verwaltungsstrukturen. Die von den syrischen Behörden im AANES-Gebiet noch kontrollierten Sicherheitsquadrate bzw. Einflussbereiche – wie in Qamishli oder al Hasaka - sind bekannt und in ihrer Ausdehnung unverändert, was auf die getroffene Übereinkunft zwischen dem Regime und der Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien zurückzuführen ist. Die bP ist im Rückkehrfall somit nicht gezwungen, von den syrischen Behörden kontrollierte Gebiete zu betreten oder zu passieren. Aus Sicht des Heimatorts der bP befindet sich das nächstgelegene „Sicherheitsquadrat“ im etwa 200 Kilometer entfernten al-Hasaka, sohin weit außerhalb der Heimatregion. Wenn die Beschwerde darauf verweist, dass sich in unmittelbarer Nähe des Herkunftsortes die Grenze zum syrischen Regime befindet, so ist festzuhalten, dass der nächstgelegene Grenzbereich doch 20 Kilometer weit entfernt ist.

Es sei nochmals betont, dass das syrische Regime laut der Anfragebeantwortung von ACCORD vom 24.08.2023 nicht in der Lage ist, außerhalb der Sicherheitsquadrate die Wehrpflicht durchzusetzen oder Oppositionelle zu verhaften. Die Gebiete an der türkischen Grenze würden sich zwar durch Präsenz einiger Regierungstruppen auszeichnen, die SDF seien jedoch nach wie vor der Hauptakteur in der Region. Die SDF hätten der Regierung lediglich erlaubt, Truppen einzusetzen, um eine mögliche türkische Militäroperation in Nordsyrien zu verhindern. Daher seien die Regierungstruppen zwar präsent, allerdings beschränke sich diese Präsenz auf die Durchführung von Patrouillen, meist zusammen mit der russischen Militärpolizei. Zurzeit seien die SDF der wichtigste Kontrollakteur, der die Möglichkeit habe, die Lokalbevölkerung zu rekrutieren und zu verhaften. Syrische Militärposten wären „isoliert und symbolischer Natur“, die syrische Armee könne „in dieser Gegend nichts unternehmen“. Die örtlichen Behörden würden nicht gestatten, dass die Regierung Personen in den von ihnen kontrollierten Gebieten zum Militärdienst einziehe. Die Einschätzung vom ACCORD vom 24.08.2023 wird im aktuellen Themendossier Wehrdienst vom 20.03.2024 als nach wie vor aktuell bekräftigt.

In ähnlicher Weise wurde schon im aktuellen EUAA-Bericht „Targeting of Individuals“ vom September 2022 ausgeführt, dass die syrische Regierung im Allgemeinen nicht in der Lage ist, Wehrpflichtige in SDF-kontrollierten Gebieten zu rekrutieren. Einige Quellen berichten, dass in den von der Regierung kontrollierten Sicherheitsquadraten in Hasaka und Qamishli Zwangsrekrutierung in die syrische Armee durchgeführt wird, während andere dagegen nicht einmal erwarten, dass Personen, die diese Sicherheitsquadrate betreten, eingezogen werden würden (im Original: „The GoS is generally not able to recruit conscripts in SDF-controlled areas. Some sources reported that forced recruitment in the SAA is being carried out in GoS-controlled security squares located in Hasaka and Qamishli, while others contrarily did not expect that persons entering these security squares would be conscripted“; vgl. S. 40 des zitierten Berichtes).

Somit ist den einschlägigen Länderberichten in einer Gesamtwürdigung zu entnehmen, dass die syrische Regierung zwar zur Abschreckung der Türkei im Einvernehmen mit dem Hauptakteur – den SDF – militärisch Präsenz zeigt, jedoch nicht in der Lage ist, Rekrutierungen, Verhaftungen oder behördliche Maßnahmen gegenüber (vermeintlichen) Oppositionellen durchzuführen.

Selbst wenn die bP in dem von der Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien kontrollierten Gebiet auf Repräsentanten des syrischen Regimes treffen würde – etwa weil diese unter Duldung der SDF (gemischte) Patrouillen durchführen – wäre damit nicht die maßgebliche Wahrscheinlichkeit von gegen die bP gerichteten Verfolgungshandlungen verbunden. Die SDF dulden nämlich (außerhalb der vom Regime kontrollierten Sicherheitsquadrate, die die bP freilich nicht betreten muss) keine Maßnahmen des syrischen Regimes gegen die örtliche Bevölkerung. Davon abgesehen, ergibt sich aus den Berichten überdies unzweifelhaft, dass das syrische Regime dazu auch gar nicht die Kapazitäten besitzt.

Demnach kann sich die bP in ihrer Herkunftsregion aufhalten, ohne eine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretende (Zwangs-)Rekrutierung oder gar eine Festnahme durch Repräsentanten des syrischen Regimes befürchten zu müssen. Allfällige Zugriffsmöglichkeiten der syrischen Behörden im kurdischen Selbstverwaltungsgebiet sind nicht als maßgeblich wahrscheinlich anzusehen. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes genügt die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung nicht. Um den Status des Asylberechtigten zu erhalten, muss die Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit drohen (statt aller VwGH 15.12.2015, Ra 2015/18/0100 und 0101). Dies ist – wie dargelegt – gegenständlich nicht der Fall. Damit treffen die Erwägungen des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, die auf von der syrischen Regierung kontrollierte Gebiete abstellen, auf die bP nicht zu.

Die bP ist folglich im Falle ihrer Rückkehr in ihre Herkunftsregion nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer Einziehung zum Reservedienst bei den syrischen Streitkräften oder behördlichen Maßnahmen durch Repräsentanten des syrischen Regimes ausgesetzt.

Auch kann die Gefahr einer Lageänderung im Hinblick auf den Herkunftsort angesichts der Länderberichte nicht erkannt werden. Zwar bleibt die militärische Rückeroberung des gesamten Staatsgebietes erklärtes Ziel des syrischen Regimes, allerdings zeichnet sich eine Rückeroberung weiterer Landesteile derzeit nicht ab. Die syrischen Streitkräfte sind den Feststellungen zufolge mit Ausnahme von wenigen Eliteeinheiten technisch sowie personell schlecht ausgerüstet und können gerade abseits der großen Konfliktschauplätze nur begrenzt militärische Kontrolle ausüben. Die militärischen Aktivitäten des syrischen Regimes richten sich gegen jene Gebiete bzw. Konfliktparteien, mit denen das Regime keine Übereinkunft erzielte, insbesondere die Haiʾat Tahrir asch-Scham im Gouvernement Idlib. Mit den SDF und anderen kurdischen Akteuren hat sich das Regime demgegenüber arrangiert. Es sind außerdem keine aktuellen Entwicklungen feststellbar, die die Vorbereitung militärischer Operationen des Regimes oder seiner Verbündeten gegen die Demokratische Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien indizieren würden. Eine Änderung der Machtverhältnisse vor Ort ist demgemäß nicht absehbar. Die bP hat auch selbst zu keinem Zeitpunkt behauptet, dass sie an einen vom syrischen Regime kontrollierten Ort zurückkehren müsste.

Ein weiteres Eingehen auf die in der Beschwerde vorgebrachten Befürchtungen in Bezug auf das syrische Regime erübrigt sich daher aufgrund folgender Erwägungen:

Die bP ist wohl im wehrpflichtigen Reservedienstalter und verkennt das Bundesverwaltungsgericht auch nicht, dass nach Syrien zurückkehrende Staatsbürger, die sich dem Wehr(reserve)dienst durch illegale Ausreise entzogen haben, zumindest als illoyal angesehen werden und ihnen die Nähe zur Opposition unterstellt werden könnte. Im Falle der Einreise in von der syrischen Regierung kontrollierte Gebiete droht außerdem die (Zwangs-)Rekrutierung an Checkpoints oder bei Behördengängen. Es ist der bP auch zuzugestehen, dass die Leistung einer Befreiungsgebühr und das Durchlaufen administrativer Verfahren der syrischen Behörden Rückkehrer (Sicherheitsüberprüfung, Statusregelungsverfahren) nicht zumutbar sind, da sie ausgehend von den herangezogenen Erkenntnisquellen keine Garantie für eine sichere Rückkehr einerseits und der Abstandnahme von Rekrutierungsversuchen in der Zukunft andererseits bieten.

Allerdings fällt – entscheidend – ins Gewicht, dass die Durchsetzung des Reservedienstes sowie behördliche Maßnahmen aufgrund einer der bP allenfalls unterstellten politischen Gesinnung bzw. einer allenfalls tatsächlich stattgefundenen Teilnahme an Demonstrationen an bestehende Zugriffsmöglichkeiten des syrischen Regimes gebunden sind. Wie ausgeführt, steht die Herkunftsregion der bP in Syrien aber unter der Kontrolle der Syrian Democratic Forces (SDF) und wird von den (kurdischen) Behörden der Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien verwaltet. Die Zugriffsmöglichkeit der syrischen Regierung ist daher ausweislich der Länderfeststellung nicht gegeben.

In Ermangelung einer substantiierten, objektiv nachvollziehbaren Begründung ihrer Befürchtungen gelang es der bP mit ihren Ausführungen nicht, eine wohlbegründete Furcht vor einer (Zwangs-)Rekrutierung oder sonstigen Maßnahmen durch das syrische Regime glaubhaft zu machen.

II.2.11. Zur vorgebrachten Gefahr der Rekrutierung durch kurdische Streitkräfte

Ebensowenig droht der bP im Rückkehrfall eine (Zwangs-)Rekrutierung durch die Behörden der Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien oder durch die SDF. Hinsichtlich einer Einberufung zum Wehrdienst in den Selbstverteidigungseinheiten HXP ist festzuhalten, dass das Dekret Nr. 3 vom 04.09.2021 der Einschätzung von ACCORD im Themendossier Wehrdienst vom 16.01.2024 zufolge weiterhin in Kraft ist, welches die Jahrgänge 1990 bis 1979 von der Selbstverteidigungspflicht befreit. Den in der Anfragebeantwortung von ACCORD vom 07.09.2023 angeführten Angaben eines Experten betreffend die angebliche Erlassung eines neuen Gesetzes über die Selbstverteidigungspflicht ist nicht zu folgen, zumal hinsichtlich des oa Punktes bis zum Entscheidungszeitpunkt keine weiteren Quellen oder Hinweise für eine Neufassung der Vorschriften offenkundig wurden (vgl. auch aktuelles LIB, Version 11). Den Angaben nur eines der kontaktierten Experten, kommt aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes auch kein solches Gewicht zu, dass alleine aufgrund dieser vereinzelt gebliebenen Aussage Feststellungen zu treffen wären, die in zahlreichen anderen und verlässlichen Quellen keine Deckung finden. Der von ACCORD kontaktierte Experte spricht zudem selbst davon, dass diese angebliche Neufassung des Gesetzes „nicht veröffentlicht“ sei, welcher Umstand darauf hindeutet, dass diese Gesetzesvorschriften – sofern diese existieren – nicht in Kraft getreten sind. Darüber hinaus sind die Angaben des Experten uneinheitlich, zumal er unter einem bestätigte, dass das Dekret Nr. 3 vom 04.9.2021 weiterhin in Kraft sei und das Dekret alle Männer, die zwischen 1990 und 1997 geboren wurden, von der Pflicht des Selbstverteidigungsdienstes befreie. Wehrpflichtig seien alle Männer, ab dem 18. Geburtstag bis zum Geburtsjahr 1998. Männer, deren Geburtsjahr zwischen 1986 und 1997 liegt, wären nicht verpflichtet, die Selbstverteidigungspflicht auszuüben. Die in „separaten Dekreten“ angeführten Ausnahmen für bestimmte Altersgruppen (Geburtsjahrgänge 1986 bis 1990 und 1990 bis 1997) würden weiterhin gelten. Für die Annahme einer Ausdehnung der Selbstverteidigungspflicht bietet die Anfragebeantwortung von ACCORD vom 07.09.2023 somit keinen Anlass, zumal sich aus dieser Anfragebeantwortung gerade nicht ableiten lässt, dass Personen über der Altersgrenze dennoch eingezogen werden oder die Nichterfüllung einer in der Vergangenheit bestehenden Selbstverteidigungspflicht dazu führen würde, dass die Selbstverteidigungspflicht nachgeholt werden muss. Die Anfragebeantwortung lässt vielmehr klar erkennen, dass keine Hinweise auf eine solche Praxis recherchiert werden konnten und sich nachteilige Folgen nur für Deserteure ergeben und nicht für Personen, die der Selbstverteidigungspflicht lediglich nicht nachgekommen sind. Zusammenfassend ist folglich festzuhalten, dass die 1991 geborene bP einem von der Selbstverteidigungspflicht ausgenommen Jahrgang angehört, sie deshalb nicht (mehr) der Selbstverteidigungspflicht unterliegt und folglich auch nicht verpflichtet ist, den Dienst bei den Selbstverteidigungseinheiten nachzuholen. Die bP ist unzweifelhaft nicht im selbstverteidigungspflichtigen Alter und wird somit bei einer Rückkehr in ihre Herkunftsregion nicht von der Wehrpflicht in der Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien betroffen sein. Die bP unterlag insbesondere im Zeitpunkt ihrer Ausreise nicht der Selbstverteidigungspflicht, zumal ihre Herkunftsregion zu dieser Zeit nicht von den Kurden, sondern vom IS kontrolliert wurde. Sie hat folglich erwiesenermaßen den Dienst in den Selbstverteidigungseinheiten vor der Ausreise nicht verweigert. Der bP drohen sohin im Rückkehrfall auch keine Sanktionen der Behörden der Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien in Zusammenhang mit der Nichterfüllung der Wehrpflicht.

Darüber hinaus ist zu bedenken, dass die bP nicht glaubhaft machte, dass sie den Wehrdienst bei den Selbstverteidigungseinheiten aufgrund politischer oder religiöser Überzeugung oder aus Gewissengründen im weitesten Sinn ablehnen würde:

Im Zuge der mündlichen Verhandlung wurde hinsichtlich des AANES-Gebietes sogar eine erstaunliche Unkenntnis der bP offenbar. So antwortete sie auf die Frage, was sie von dem Selbstverwaltungsgebiet Nord- und Ostsyrien halte, mit „Welche Gebiete genau?“ und nach Darlegung meinte sie „Es sind keine sicheren Gebiete. […] Dort herrscht sozusagen kein Staat, es gibt auch keine Gesetze. Die Waffen sind verbreitet.“ Zur PYD befragt, erklärte sie „Ich kenne mich da nicht aus. Auch nicht mit Parteinamen. Ich weiß, dass Kurden rassistisch gegenüber Araber sind“, zur SDF „Die arbeiten auch nach eigene Gedanken und tun was sie wollen.“ Auf die Frage, ob sie den Dienst in der Selbstverwaltungseinheit der Kurden ablehne, erkundigte sich die bP sogar gegen wen diese kämpfen würde, und legte schließlich auf die Frage, ob sie die Einheit kenne, dar: „Ich will keine Waffen tragen, ich will in Frieden leben.“ Den Aussagen der bP kann sohin gesamt gesehen keine ernsthafte bzw. verinnerlichte politische Überzeugung gegen die Behörden der AANES, der SDF, der Selbstverteidigungseinheit HXP entnommen werden, sie sind oberflächlich und bringen allenfalls nur eine allgemeine Unzufriedenheit mit den in ihrer Herkunftsregion herrschenden Verhältnissen bzw. eine Abneigung gegen die Kurden an sich zum Ausdruck. Auch eine Ablehnung der Teilnahme an Kampfhandlungen aus Gewissensgründen oder religiösen Gründen ist nicht ersichtlich. Die bP leistete ihre Wehrpflicht bei den syrischen Streitkräften ab und erklärte im Rahmen der mündlichen Verhandlung sogar, sie würde im syrischen Herr gegen den IS kämpfen (wenn auch nicht unter diesem Regime). Insgesamt lassen die Angaben der bP nicht den Schluss zu, dass sie jegliche Form der Wehrpflicht aus verinnerlichten weltanschaulichem oder religiösen Gründen oder einem anderen im inhaltlichen Zusammenhang mit den Verfolgungsgründen der Genfer Flüchtlingskonvention stehenden Motiv ablehnen würde. Die bP vermochte mit diesen Äußerungen nicht darzulegen, dass ihr im Zusammenhang mit der Verweigerung der Selbstverteidigungspflicht Verfolgung(shandlungen) drohen, die in einem inhaltlichen Zusammenhang mit den Verfolgungsgründen im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention stehen könnte(n).

Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang aber auch, dass von der Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien bzw. von Repräsentanten der SDF keine Gefahr für zuvor unrechtmäßig ausgereiste Rückkehrerinnen und Rückkehrer aus Europa ausgeht. Dies gilt gegenständlich umso mehr, als die bP zu einem Zeitpunkt ausreiste, als nicht die Kurden, sondern der IS die Kontrolle über die Herkunftsregion der bP innehatte. Im Verfahren kam auch nicht hervor, dass der bP im Rückkehrfalle wegen einer ihr unterstellten oppositionellen Gesinnung Verfolgung durch Akteure vor Ort drohen würde (vgl. überdies Pkt.II.2.12 zur „Blutrache“) Ausweislich der Feststellungen wird selbst Verweigerern der Selbstverteidigung im Gebiet der Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien keine oppositionelle politische Gesinnung unterstellt, was noch vielmehr für die bP gelten muss, die den Dienst in den Selbstverteidigungseinheiten in der Vergangenheit nicht verweigert hat und nun nicht mehr wehrpflichtig ist. (vgl. LIB Version 11, ÖB Damaskus12/2022; ACCORD vom 06.09.2023 [a-12188]).

Das Bundesverwaltungsgericht verkennt im gegebenen Zusammenhang nicht, dass Syrienexperten die Auffassung vertreten, den Dienst in den Selbstverteidigungskräften verweigernde Araber als Gegner der kurdischen Hegemonie im Nordosten Syriens wahrgenommen werden. Allerdings führt dies nicht zu einer individuellen Gefährdung der bP, zumal solche Personen (auch wenn Einzelfälle gewaltsamer Übergriffe in den UNHCR-Erwägungen vom März 2021 erwähnt werden) nicht als Terroristen wahrgenommen werden, sondern als Feiglinge und Gegner der AANES. Die kurdischen Behörden würden es diesfalls bevorzugen, dass Araber, die den Dienst verweigern, nicht in der Armee zu sehen, weil sie sich unter Umständen als Verräter entpuppen könnten. In diesem Sinn berichten die von ACCORD konsultierten Experten, dass Araber, die sich dem Dienst in den Selbstverteidigungskräften entzogen hätten, nicht im gleichen Ausmaß zum Beitritt gezwungen würden, wie Kurden. Die Konsequenzen des Fernbleibens wären für alle Personen gleich, arabische Wehrdienstverweigerer könnten allerdings bei der Festnahme anders behandelt werden und Beleidigungen und Gewalt ausgesetzt sein (Anfragenbeantwortung von ACCORD vom 06.09.2023 betreffend Konsequenzen bei Verweigerung des Dienstes in den Selbstverteidigungskräften). Die bP hat den Dienst bei den Selbstverteidigungskräften den Feststellungen zufolge auch nicht verweigert und ist nunmehr davon befreit. Ausgehend davon droht ihr nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Festnahme. Eine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit im Rückkehrfall eintretendes Verfolgungsszenario ist somit auch bei Berücksichtigung der arabisch-sunnitischen Identität des Beschwerdeführers nicht zu gewonnen.

Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang aber auch darauf, dass das Gesetz zur „Selbstverteidigungspflicht“ bei den Bürgern in den von den SDF kontrollierten Gebieten auf heftige Ablehnung stößt, insbesondere bei vielen jungen Männern, welche die vom Regime kontrollierten Gebiete verlassen hatten, um dem Militärdienst zu entgehen. Im Jahr 2021 löste die Wehrpflicht insbesondere in den östlichen ländlichen Gouvernements Deir ez-Zour und Raqqa Proteste aus. Proteste im Mai 2021 richteten sich außerdem gegen die unzureichende Bereitstellung von Dienstleistungen und die Korruption oder Unfähigkeit der autonomen Verwaltungseinheiten. Sechs bis acht Menschen wurden am 01.06.2021 in Manbij bei einem Protest getötet, dessen Auslöser eine Reihe von Razzien der SDF auf der Suche nach wehrpflichtigen Männern war. Folge dieser Zusammenstöße war eine schon am nächsten Tag erfolgte deeskalierende Einigung zwischen der SDF, dem Militärrat von Manbij und dem Zivilrat von Manbij mit Stammesvertretern und lokalen Persönlichkeiten, welche vorsah, während der Proteste festgenommene Personen freizulassen und eine Untersuchungskommission zu bilden, um diejenigen, die auf Demonstranten geschossen hatten, zur Rechenschaft zu ziehen. Daraus ist abzuleiten, dass die kurdische Verwaltung bestrebt ist, die in ihrem Herrschaftsgebiet geltende „Selbstverteidigungspflicht“ im Einklang mit den Rechten ihrer Bürger und unter deren größtmöglicher Schonung zu handhaben und gegebenenfalls auch zu erheblichen Zugeständnissen bereit ist.

Schließlich ergaben sich im Hinblick auf die bP auch keine Anhaltspunkte dahingehend, dass sie Aktivitäten gesetzt hätte, die eine gegnerische politische Gesinnung nahelegen würde. Bezeichnenderweise beschreibt die EUAA in ihrem Länderleitfaden vom Februar 2023 das entsprechende Profil nicht wie in der Beschwerde wiedergegeben, sondern verweist auf politische Gegnerschaft, die Unterstützung oppositioneller Parteien oder aber Verbindungen zum ISIL oder der Türkei bzw. der SNA als Ausgangspunkte für eine mögliche Verfolgung (vgl. EUAA, Country Guidance, Februar 2023, S 82 ff.).

Hinsichtlich der Frage, welche Konsequenzen im Falle der Entziehung oder Verweigerung des Dienstes in den Selbstverteidigungskräften drohen, sind die Quellen zwar nicht einheitlich, von Misshandlungen, Folter oder unverhältnismäßig langen Haftstrafen wird allerdings grundsätzlich nicht berichtet. DIS führt aus, dass „Wehrpflichtige“, welche versuchen, dem Militärdienst zu entgehen, laut Gesetz durch die Verlängerung der „Wehrpflicht“ um einen Monat bestraft würden – zwei Quellen zufolge auch in Verbindung mit vorhergehender Haft „für eine Zeitspanne“. Dabei soll es sich oft um ein bis zwei Wochen handeln, um einen Einsatzort für die Betreffenden zu finden. EUAA spricht für den Fall einer Verweigerung der Selbstverteidigungspflicht von einer Verlängerung der "Pflicht zur Selbstverteidigung" auf 15 Monate, verspätete Einberufungen seien verpflichtet, einen weiteren Monat zu dienen. (vgl. EUAA Syria Country focus). Die ÖB Damaskus erwähnt auch Haftstrafen zusätzlich zur Verlängerung des Wehrdienstes. Nach Aussage von Repräsentanten der kurdischen Selbstverwaltung gibt es keine Strafen für Personen, die sich der Selbstverteidigungspflicht entziehen. Auch wenn Einzelfälle gewaltsamer Übergriffe betreffend die Jahre 2020 und früher in den UNHCR-Erwägungen vom März 2021 erwähnt werden, führt dies angesichts der diesbezüglich ausführlichen – oben zitierten – Erkenntnisquellen nicht zu einer mit maßgeblichen Wahrscheinlichkeit eintretenden individuellen Gefährdung der bP, wobei nochmals zu betonen ist, dass die bP von der Selbstverteidigungspflicht aufgrund ihres Geburtsjahrganges befreit ist.

Sollte es nun aber im hypothetischen Falle einer Rückkehr gegen aller Wahrscheinlichkeit doch zu einer Einziehung in die Selbstverteidigungseinheit HXP kommen, so wäre es nicht maßgeblich wahrscheinlich, dass die bP dann an Kampfhandlungen und/oder Menschenrechtsverletzungen beteiligt sein würde. Gemäß den Länderfeststellungen erfolgen die Einsätze der Rekruten nämlich im Allgemeinen nicht an der Front, sondern normalerweise in Bereichen wie Nachschub (z.B. logistische Unterstützung der freiwilligen Streitkräfte) oder Objektschutz (z.B. Bewachung von Gefängnissen, an Checkpoints oder Straßensperren). Ihre Aufgaben umfassen hauptsächlich solche der inneren Sicherheit. (vgl. oben, DIS 06/2022). Eine Versetzung an die Front erfolgt fallweise auf eigenen Wunsch, ansonsten werden die Rekruten nur bei Konfliktbedarf an die Front verlegt, wie z. B. bei den Kämpfen gegen den Islamischen Staat in den Jahren 2016 und 2017 in Raqqa. (vgl. DIS 6/2022) Selbst an der Front würden einem Sprecher der SDF zufolge die Selbstverteidigungspflichtigen zum Schutz von befreiten Gebieten, nicht jedoch zum Kampf in selbigen, eingesetzt. Zu beachten ist dahingehend auch, dass der Konflikt bzw. die Frontlinien derzeit weitgehend eingefroren ist. Seitens der Türkei kommt es zwar regelmäßig zu militärischen Aktionen; etwa wurden die (artillerieunterstützten) Luftoffensiven – zuletzt im Zusammenhang mit einem Selbstmordattentat der PKK Anfang Oktober 2023 in Ankara – wieder verstärkt; dennoch findet derzeit keine groß angelegte Bodenoffensive statt und ergibt sich auch nicht, dass eine solche in unmittelbarer Zukunft bevorstünde (vgl.LIB Version 11)

Ein solcher Fronteinsatz droht den Rekruten daher derzeit bzw. in absehbarer Zeit nicht.

Quellen, die von DIS befragt wurden, glaubten überdies nicht, dass die PKK, einschließlich ihres militärischen Flügels, HPG, neue Mitglieder in den AANES Gebieten rekrutiert oder – wenn sie dies tun – mit Gewalt. Ein syrisch-kurdischer Universitätsprofessor erklärte, dass im AANES Gebiet keine Zwangsrekrutierung für die PKK stattfinde. Dies liege zum Teil daran, dass Gewalt im Allgemeinen nicht die Methode sei, die von der PKK zur Rekrutierung neuer Mitglieder verwendet werde, und zum Teil, weil eine große Anzahl aktueller PKK-Mitglieder aus dem AANES stamme, und es strategisch unklug wäre, Gewalt einzusetzen, um neue Mitglieder in ihren eigenen Gemeinschaften zu rekrutieren. (vgl. DIS 6/2022)

Die Rekrutierung bei YPG und YPJ erfolgt gleichfalls freiwillig. Soldaten erhalten ein Gehalt von 200 USD/Monat. Darüber hinaus werden YPG und YPJ-Soldaten von vielen, die sich ihnen anschließen wollen, als Helden angesehen. In der Tat sind die Menschen von AANES im Allgemeinen nicht gegen diese Kräfte, weil Personen, die in diesen Kräften dienen, aus dem lokalen Gebiet stammen, sie das Gebiet verteidigen und Gehälter verdienen, um ihre Familien zu unterstützen. (vgl. DIS 6/2022)

II.2.12. Das Bundesverwaltungsgericht kann auch keine sonstigen Gründe für eine Rückkehrgefährdung erkennen.

Aufgrund der allgemein bekannten Lage in Syrien ist der von der bP im Rahmen der Erstbefragung vorgetragene Fluchtgrund, sie wolle in Sicherheit leben, jedenfalls glaubhaft. Insofern besteht allerdings kein Konnex zu einem Verfolgungsgrund im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention. Im Zuge ihrer Einvernahme vor der belangten Behörde erweiterte die bP ihr Fluchtvorbringen und erklärte, sie habe Syrien verlassen, da sie nicht zum Militär habe gehen wollen, sie hätte einrücken müssen, wolle aber nicht kämpfen und niemanden umbringen. Im Rückkehrfall werde sie von der syrischen Armee oder den Kurden rekrutiert oder umgebracht werden, das Regime führe Krieg gegen die Sunniten. Diese Gründe wurden von der rechtsfreundlich vertretenen bP in der Beschwerde im Hinblick auf Zugriffsmöglichkeiten des Regimes, Verhaftung an Checkpoints, Verfolgungen wegen illegaler Ausreise, unterstellter politischer Gesinnung, Überlegungen zum Freikauf sowie zur sicheren Einreise näher ausgeführt; aber erst mit Schriftsatz vom 26.01.2024 brachte die bP eine Teilnahme an ungefähr 25 Demonstrationen gegen das syrische Regime in der Stadt XXXX sowie eine in Wien ergänzend vor. Der für diese Verspätung vorgetragene Grund, sie habe befürchtet, die Information würden von den österreichischen an die syrischen Behörden weitergeleitet werden, überzeugt nicht. Die bP kam auf der Suche nach Sicherheit ins Bundesgebiet; warum sollte sie hier einen Antrag auf internationalen Schutz stellen, wenn sie nicht von der in Österreich gegebenen Rechtsstaatlichkeit überzeugt gewesen wäre. Hinzutritt, dass die bP vor ihrer niederschriftlichen Einvernahme durch das BFA über die vertrauliche Behandlung ihrer Angaben im Asylverfahren sowie der Nichtweiterleitung an die Behörden ihres Heimatlandes überdies informiert worden war.

Im Zuge der mündlichen Beschwerdeverhandlung kam es schließlich zu einer neuerlichen Steigerung des Vorbringens. Die bP erklärte, sie erwarte in Syrien aufgrund ihrer Teilnahme an den Demonstrationen die Todesstrafe und sie habe nicht nur in der Stadt XXXX demonstriert, sondern auch auf den Straßen von XXXX , usw. Überdies sei sie vom IS 2 bis 3 x für jeweils 4 Tage bis eine Woche festgenommen worden, weil sie als Friseurin gearbeitet habe, sie sei auch ausgepeitscht worden. In der Folge kam es dann noch zu einer weiteren Steigerung im Hinblick auf die Rückkehrbefürchtung. So erklärte sie im Zuge der Verhandlung zunächst, „Im Moment haben die Kurden die Kontrolle. Wir haben mit den Kurden seit über 40 Jahren Probleme. Sie haben unsere Häuser und unsere Geschäfte beschlagnahmt. […] Die Kurden können uns auch nicht vor dem Regime schützen und beide Parteien, also die Kurden und das Regime, sind nicht gerecht.“, um schließlich festzustellen „Wir haben mit den Kurden seit ca. 40 Jahren Problemen. Ich meine meinen Familienstamm und die Kurden. […] Blutrache. Die Kurden haben jemanden aus meine Familienstamm getötet, und zwei meiner Familienangehörigen haben zwei von den Kurden getötet. Seitdem herrschen Probleme zwischen den Beiden.“

Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nicht, dass sich die Erstbefragung § 19 Abs. 1 AsylG 2005 zufolge nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat und gegen eine unreflektierte Verwertung von Beweisergebnissen Bedenken bestehen (vgl. VwGH 13.11.2014, Ra 2014/18/0061 mwN). Dennoch fällt im gegenständlichen Fall ins Gewicht, dass die bP die später vor der belangten Behörde und dann vor dem Verwaltungsgericht vorgetragenen Gründe nicht einmal streifte oder auch nur am Rande kurz erwähnte. Selbst wenn die Erstbefragung keine detaillierte Aufnahme des Ausreisegrundes umfasst, wäre dennoch aus Sicht der erkennenden Richterin zu erwarten, dass der Asylwerber seine wesentlichen Fluchtgründe zuvorderst bei der ersten sich bietenden Gelegenheit darlegt. Dies hat die bP verabsäumt – weder die Furcht vor einer Rekrutierung noch die Todesfurcht aufgrund der „Blutrache“ wurden von ihr erwähnt. Interessanterweise verneinte sie im Rahmen ihrer Einvernahme vor der belangten Behörde die Frage, ob sie sich noch an ihren bei der Erstbefragung vorgebrachten Fluchtgrund erinnern könne, um schließlich auf die Frage, was sie denke als Fluchtgrund angegeben zu haben, analog zur Erstbefragung zu sagen: „Das ich ein sicheres Land suche. […] Weil es in Syrien keine Sicherheit gibt. Aufgrund des Krieges und den Bombenangriffen.“ Die Bedrohung durch die Kriegsereignisse waren für die bP sohin jedenfalls präsent im Vordergrund.

Keinesfalls nachvollziehbar ist jedenfalls, warum es der bP nicht möglich gewesen sein soll, ihre in der Beschwerde bzw. im Nachtragsschreiben bzw. im Rahmen der mündlichen Verhandlung behaupteten gesteigerten bzw. erweiterten Gründe nicht bereits vor der belangten Behörde vorzutragen. Ihre hierfür in der Verhandlung gegebenen Erklärungen, sie habe einfach die Fragen beantwortet und nichts hinzugefügt sowie auf den Vorhalt, sie sei aufgefordert worden, alles ausführlich zu schildern, „Das stimmt. Ich habe aber nur die Fragen geantwortet. Ich kann nichts von alleine aus erzählen.“ sind schlichtweg unglaubwürdig und nicht plausibel.

Insofern ist auf die obige Judikatur zu verweisen, wonach ein Vorbringen eines Asylwerbers insbesondere dann glaubhaft ist, wenn es konkrete, detaillierte Schilderungen der behaupteten Geschehnisse enthält und frei von Widersprüchen ist. Umgekehrt jedoch indizieren unwahre Angaben in zentralen Punkten oder das Verschweigen wesentlicher Sachverhaltsumstände die Unglaubwürdigkeit, ebenso wie sich steigerndes Vorbringen, das heißt das Vorbringen gravierender Eingriffe nicht bei der ersten sich bietenden Gelegenheit, sondern – inhaltlich vom Erstvorbringen abweichend bzw. zunehmend – erst in einem (späteren) Verfahrensstadium, mithin nachdem sich die asylrechtliche Irrelevanz des Erstvorbringens gezeigt hat. Zu betonen ist in diesem Zusammenhang, dass die bP über ihre im Verfahren bestehende Mitwirkungspflichten bereits durch die belangte Behörde informiert wurde; dies wurde von ihr auch nicht bestritten.

Wohl hat die belangte Behörde in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hinzuwirken, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrages geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Beweismittel für diese Angaben bezeichnet oder die angebotenen Beweismittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrages notwendig erscheinen (§ 18 AsylG 2005). Aus dieser Gesetzesstelle kann jedoch keine Verpflichtung abgeleitet werden, Umstände ermitteln zu müssen, die ein Asylwerber gar nicht behauptet hat. § 18 AsylG 2005 zieht nicht die Pflicht nach sich, ohne entsprechendes Vorbringen des Asylwerbers oder ohne sich aus den Angaben konkret ergebende Anhaltspunkte jegliche nur denkbaren Lebenssachverhalte ergründen zu müssen (VwGH 15.10.2018, Ra 2018/14/0143). Die bP hatte vor der belangten Behörde hinreichend Gelegenheit, ihren Standpunkt darzulegen. Ihren Ausführungen kann nicht der geringste Hinweis auf Blutrache oder Demonstrationen etc. entnommen werden.

Im Übrigen war die bP im Rahmen der mündlichen Verhandlung auch nicht einmal annähernd in der Lage, die Gefahr ob der „Blutrache“ darzulegen, zu konkretisieren oder plausibel darzustellen. Anfangs der Einvernahme sah die bP die seit über 40 Jahren bestehenden Probleme mit den Kurden vielmehr nur iZm einem Volksgruppenproblem „Sie haben unsere Häuser und unsere Geschäfte beschlagnahmt“, erst an einer späteren Stelle grenzte sie das seit 40 Jahren bestehende Problem auf ein Problem zwischen einem Kurdenstamm und ihrem Familienstamm ein. Die bP war trotz mehrfacher Nachfrage nicht in der Lage, die Gründe bzw. die Umstände für die „Blutrache“ zu schildern, sie wiederholte lediglich lapidar die ‚Eckdaten‘:

RI: Welche Probleme hatte der Stamm mit den Kurden? bP: Blutrache. Die Kurden haben jemanden aus meine Familienstamm getötet, und zwei meiner Familienangehörigen haben zwei von den Kurden getötet. Seitdem herrschen Probleme zwischen den Beiden.

RI: Wann ist das passiert? bP: Vor 30 bis 40 Jahren.

RI: Mit welchen Stamm hat Ihr Stamm Probleme? bP: Im Moment mit den Kurden, aber nicht mit einem bestimmten Stamm. Den Stamm von den Kurden nennt man Haus Al Kurdu. Das wäre der Familienstamm von den Kurden sozusagen.

RI: Warum suchen die Kurden Sie? bP: Weil sie ein Problem mit meinem Familienstamm haben.

RI: Erzählen Sie mir von dem Problem. bP: Die wollen jemand aus meinem Familienstamm töten wegen der Blutrache.

RI: Genauer? bP: Mein Familienstamm hat in der Vergangenheit jemanden von denen getötet und sie wollen jemand aus meinem Familienstamm als Rache töten.

Abgesehen von dem Unvermögen, das Vorbringen der „Blutrache“ zu konkretisieren, erweist sich dieses auch als konstruiert. So meinte sie, ihr Stamm habe Probleme mit den Kurden, aber nicht mit einem bestimmten Stamm bzw. als der IS da war, sei nichts passiert, weil die Kurden gegen den IS gekämpft hätten bzw. auf die Frage, dass sie auch vor ihrer Ausreise nicht von den Kurden getötet worden sei, „Die waren auch nicht in XXXX “. Wann die Todesfälle passiert seien, könne sie nicht sagen, ihr Vater habe ihr „das mal erzählt“. Ihr Familienstamm umfasse 7 bis 8 Dörfer, ein Dorf habe 500 bis 700 Einwohner, jetzt seien alle aus XXXX , das wären vielleicht 3.000 bis 4.000 Personen, in die Türkei geflüchtet. Würde nun aber tatsächlich eine so große Gefahr bestehen, dass 3.000 bis 4.000 Personen aus Angst vor der „Blutrache“ in ein anderes Land fliehen, so wäre es unvorstellbar, dass der bP die Umstände nicht bekannt wären, vielmehr wäre dies nach der allgemeinen Lebenserfahrung ein Thema über das in der Familie ausführlich gesprochen wird und nicht nur ein „Das weiß ich nicht. Mein Vater hat mir das mal erzählt.“ Nicht vorstellbar ist zudem, dass die bP die „Blutrache“ angesichts der von ihr nunmehr dargestellten Dimension nicht bereits bei der Erstbefragung oder doch zumindest in der Einvernahme vor dem BFA vorgebracht hätte. Die Schilderung der bP zur angeblichen Bedrohung durch „Blutrache“ stellt sich sohin gesamt gesehen als unsubstantiiert, unlogisch und nicht plausibel dar.

Eine stringente Schilderung der wesentlichen Fluchtgründe kann nicht erkannt werden. Die bP hinterließ in der mündlichen Verhandlung vielmehr den Eindruck, sich durch neues Vorbringen verbesserte Aussichten im Verfahren verschaffen zu wollen. Die Gefahr einer „Blutrache“ ist sohin nicht zu gewärtigen.

II.2.13. Zur Wiedereinreisemöglichkeit über den Grenzübergang Semalka-Faysh Khabur an der kurdisch-irakischen und nordost-syrischen Grenzregion

Ausweislich der – im Wesentlichen auf Basis des rezenten und ausführlichen Berichtes „Syrien Grenzübergänge“ der Staatendokumentation vom 25.10.2023 getroffenen – Feststellungen ist der Grenzübergang Semalka/Faysh Khabur geöffnet und wird ausschließlich von kurdischen Sicherheitskräften kontrolliert. Im Wege dieses Grenzüberganges erfolgt eine Einreise in das von der Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien kontrollierte Gebiet ohne Kontakte zu syrischen Regierungsbehörden bzw. Repräsentanten des syrischen Regimes. Eine Möglichkeit, die Herkunftsregion der bP direkt von Europa kommend zu erreichen ist somit, nach Erbil (Autonome Region Kurdistan Irak) zu fliegen und von dort auf dem Landweg zum offenen Grenzübergang Semalka/Faysh Khabur zu gelangen. Personen- und Warenverkehr sind über diesen Grenzübergang möglich. Es kann zwar – wie es im vergangenen Jahr einmal kurzzeitig der Fall war – vorkommen, dass der Grenzübergang Semalka wegen politischer Spannungen vorübergehend geschlossen wird, allerdings dauern solche Schließungen nicht lange, zumal Handel über diesen Grenzübergang sehr profitabel ist. Es ist der bP zumutbar, die Dauer einer allenfalls bestehenden, kurzzeitigen Schließung abzuwarten. Die bP gehört nicht zu jenem Personenkreis, der laut dem Länderbericht von einer Zurückweisung oder von einer Festnahme am Grenzübergang betroffen sein kann. Der Übertritt bleibt dem syrischen Regime verborgen. Der Grenzübergang Semalka/Faysh Khabur wird ausweislich der Erkenntnisquelle von im Ausland lebenden Syrerinnen und Syrern genutzt, um unter Umgehung der Regimegebiete in die AANES-Region zurückzukehren. Das Bundesverwaltungsgericht kann keinen Grund erkennen, weshalb diese Möglichkeit nicht auch von der bP genutzt werden könnte.

Seitens des Verwaltungsgerichts könne auch keine unüberwindbaren administrativen Hürden für das Überqueren des Grenzüberganges erkannt werden.

Wenn die Beschwerde vorbringt, dass die bP über keinen syrischen Reisepass verfügt, so hat sie – die Richtigkeit dieses Vorbringens vorausgesetzt – als subsidiär Schutzberechtigter einen Anspruch auf die Ausstellung eines Fremdenpasses (§ 88 FPG 2005). Mit einem in Österreich ausgestellten Fremdenpass ist die Einreise in die Autonome Region Kurdistan möglich und es wird das Einreisevisum direkt bei der Einreise ausgestellt (vgl. auch die in der Beschwerde zitierte Anfragebeantwortung von ACCORD, Voraussetzungen für die Einreise syrischer Staatsangehöriger in Gebiete unter Kontrolle der SDF/YPG in Nordostsyrien, 12). Wie bereits ausgeführt und entgegen anderslautender Behauptung im Beschwerdeschriftsatz, verfügt die bP auch über weitere Personaldokumente, insbesondere den im Verfahren vorgelegten syrischen Personalausweis im Original. Weiters benötigt die bP als registrierte Bewohnerin eines AANES-Gebietes, die sich mit dem Auszug aus dem Zivilregister ausweisen kann, auch keine Einreisegenehmigung der Behörden der Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien. Hindernisse bei der Einreise sind demgemäß nicht erkennbar. Unüberbrückbare administrative Hindernisse bei der Einreise sind demgemäß nicht erkennbar, sodass die bP in der Lage sein wird, ihre Herkunftsregion zu erreichen, ohne einen vom syrischen Regime kontrollierten Grenzübergang zu nutzen.

Ein Eingehen auf das seitens der bP ins Treffen geführte Rückkehrhindernis der legalen Einreisemöglichkeit erübrigt sich im Hinblick auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. zuletzt VwGH vom 29.02.2024, Ra 2024/18/0043), wonach es aus asylrechtlicher Sicht nicht darauf ankommt, ob die Einreise in einen verfolgungssicheren Landesteil aus der Sicht des potentiellen Verfolgers (hier: des syrischen Regimes) legal stattfindet.

Anschließend besteht die Möglichkeit, über den Landweg von Semalka kommend nach XXXX zu fahren Die Kontrolle in jenem Gebietsabschnitt von Syrien, den die bP zwecks Erreichung ihres Herkunftsorts vom Grenzübergang aus ausgehend zu passieren hätte, liegt - bis auf kleine Enklaven bei den Städten al-Hasaka und Qamishli – durchgehend bei den kurdischen Kräften. Die bP wird in der Lage sein, diesen Weg ohne Kontakt mit Repräsentanten des syrischen Regimes zu bestreiten (vgl. auch zum Stichtag die Darstellung der aktuellen Gebietskontrolle und Einflussbereiche auf https://syria.liveuamap.com).

Die kurdische Kontrolle im Großraum der AANES-Region ist unstrittig und wurde insbesondere auch während der mündlichen Verhandlung seitens der bP nicht in Zweifel gezogen. Auch wenn Verkehrswege von (gemischten) Patrouillen des Regimes befahren werden oder es auf der Hauptstraße vereinzelte Kontrollen gäben sollte, so ist von einem möglichen Ausweichen der bP auf anderer Verkehrswege auszugehen. Wenn in der Beschwerde behauptet wird, die von Ost nach West verlaufende M4 werde insbesondere von Regierungskräften gesichert, so ist im Hinblick auf den Text der zitierten Anfragebeantwortung festzuhalten, dass die Straße insbesondere gemeinsam mit den Verbündeten, sohin SDF u.a. kurdischen Kräften, gesichert wird und betont wird, dass damit das pro-türkische Gebiet nördlich davon fast vollständig eingegrenzt wird. Die Herkunftsregion der bP liegt davon allerdings weit entfernt im Süden, die im Text erwähnte Strecke der M4 ist für das Erreichen des Herkunftsortes der bP nicht erforderlich. Abschließend ist aber nochmals zu betonen, dass die syrischen Streitkräfte ausweislich der Feststellungen von den Behörden der Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien bzw. den SDF nur zur Abschreckung gegenüber der Türkei geduldet werden und diese keine Personenkontrollen oder Rekrutierungen durchführen dürfen bzw. dazu in der Lage sind. Zu der in der Beschwerde vorgebrachten notorischen Unsicherheit des Reiseweges ist darauf zu verweisen, dass gegenständlich lediglich eine Prüfung im Hinblick auf eine mögliche Verfolgungsgefahr vorzunehmen ist, einer allenfalls bestehenden Gefährdung der Sicherheit schon bereits durch die Gewährung von subsidiären Schutzes Rechnung getragen wurde.

II.3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A) Abweisung der Beschwerde

II.3.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 AsylG 2005 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der Statusrichtlinie verweist).

Als Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK ist anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.

Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffes ist nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0413).

Entscheidend ist, ob die betroffene Person im Zeitpunkt der Entscheidung bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (vgl. etwa VwGH 23.06.2021, Ra 2021/18/0164, mwN). Die Verfolgungsgefahr muss aktuell sein, was bedeutet, dass sie zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen muss (VwGH 17.03.2009, 2007/19/0459). Auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in seinem Heimatstaat Verfolgung zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233, mwN; vgl. ferner unter Hinweis auf diese Entscheidung VfGH 27.2.2023, E 3307/2022; VwGH 23.05.2023, Ra 2023/20/0110).

II.3.2. Auch einer Wehrdienstverweigerung kann Asylrelevanz zukommen, wenn das Verhalten des Betroffenen auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht oder dem Betroffenen wegen seiner Wehrdienstverweigerung vom Staat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird und den Sanktionen - wie etwa bei Anwendung von Folter - jede Verhältnismäßigkeit fehlt. Würde der Wehrdienst dazu zwingen, an völkerrechtswidrigen Militäraktionen teilzunehmen, kann nach der höchstgerichtlichen Rechtsprechung auch schon eine Bestrafung mit einer "bloßen" Gefängnisstrafe asylrelevante Verfolgung sein (vgl. dazu VwGH Ra 2019/18/0274 unter Hinweis auf VwGH 25.6.2019, Ra 2018/19/0705, mwN).

Die Bestimmung des Heimatortes des Asylwerbers ist Grundlage für die Prüfung, ob dem Asylwerber dort mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Verfolgung droht (vgl. etwa VwGH 25.08.2022, Ra 2021/19/0442).

Die Herkunftsregion der bP steht derzeit unter der Kontrolle der Syrian Democratic Forces (SDF) und wird von den (kurdischen) Behörden der „Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien“ verwaltet. Wie beweiswürdigend ausgeführt, ist das Regime in den AANES Gebieten wegen fehlender Zugriffsmöglichkeiten nicht in der Lage, (Zwangs-) Rekrutierungen sowie behördliche Maßnahmen wegen einer allenfalls unterstellten politischen Gesinnung oder aus sonstigen Gründen durchzuführen. Dies gilt – wie ausgeführt – iSd Erkenntnisses des VwGH vom 4.7.2023, Ra 2023/18/0108, auch für die Frage des Grenzübertrittes nach Syrien und die Weiterreise in die Heimatregion. Insofern erübrigt sich eine Befassung mit den Erwägungen von UNHCR zur Verweigerung des Wehrdienstes in der syrischen Armee, zumal die bP dem Zugriff des Regimes entzogen ist. Die Furcht der bP ist daher aus diesem Grunde nicht wohlbegründet.

II.3.3. Weigerung im AANES Gebiet bestehenden Selbstverteidigungspflicht nachzukommen

Die „Demokratische Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien“ ist ein de facto autonomes Gebiet im Nordosten von Syrien, das jedoch nicht anerkannt ist. Bereits aus diesem Grund liegt – mangels Militärdienstes eines souveränen Staates – im Hinblick auf die „Selbstverteidigungspflicht“ in der Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien der Tatbestand einer Verfolgungshandlung gemäß Art. 9 Abs. 2 lit. e der Statusrichtlinie nicht vor.

Von einer – nicht asylrelevanten – Zwangsrekrutierung durch einen nichtstaatlichen Akteur ist jene Verfolgung zu unterscheiden, die an die tatsächliche oder nur unterstellte politische Gesinnung anknüpft, die in der Weigerung, sich den Rekrutierenden anzuschließen, gesehen wird. Auf das Auswahlkriterium für die Rekrutierung selbst kommt es in einem solchen Fall nicht an. Dabei ist entscheidend, mit welchen Reaktionen auf Grund der Weigerung, sich dem Willen der Rekrutierenden zu beugen, zu rechnen ist und ob in dem Verhalten eine – sei es auch nur unterstellte – politische oder religiöse oppositionelle Gesinnung erblickt wird (vgl. VwGH 19.04.2016, Ra 2015/01/0079).

Wie dargelegt, besteht für die bP im Falle einer Rückkehr nach Syrien aufgrund ihres Geburtsjahrgangs nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr, ihrer Selbstverteidigungspflicht nachkommen zu müssen. Doch selbst im unwahrscheinlichen Falle einer Rekrutierung kann aber eine Verbindung zu einem der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 genannten Gründe der GFK trotzdem nicht erkannt werden: So folgt aus den Länderfeststellungen, dass der bP im Falle der Verweigerung der „Selbstverteidigungspflicht“ in der Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien keine politische oppositionelle Gesinnung unterstellt werden würde. Soweit die bP von den Folgen der Verweigerung der „Selbstverteidigungspflicht“ in der „Demokratischen Selbstverwaltung für Nord- und Ostsyrien“ betroffen sein könnte, haben sich auch keine konkreten Hinweise für eine auf Konventionsgründen beruhende unverhältnismäßige Bestrafung der bP ergeben; noch steht die Teilnahme an völkerrechtswidrigen Militäraktionen im Raum. Wie im Rahmen der Beweiswürdigung ausführlich dargelegt, weist die bP zudem keine glaubhaft verinnerlichte politische Überzeugung gegen kurdischen Autonomiebehörden bzw. die Selbstverteidigungseinheiten auf.

Das vom Hochkommissar der Vereinten Nationen in seinen Erwägungen vom März 2021 zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, in diesem Zusammenhang definierte Risikoprofil („Personen, die tatsächliche oder vermeintliche Gegner der Syrian Democratic Forces (SDF) / Volksschutzeinheiten (YPG), der Partei der Demokratischen Union (PYD) und der Institutionen der Autonomieregion sind“) trifft auf die bP nicht zu. Ausweislich der Feststellungen besteht kein Anlass zu Annahme, dass der bP eine SDF/YPG-feindliche Gesinnung und/oder eine Unterstützung des Islamischem Staates oder der SNA im Rückkehrfall unterstellt werden würde. Sie hat sich auch nicht an Aktivitäten beteiligt, die von den SDF/YPG als gegen sie gerichtet wahrgenommen werden könnte und ist den kurdischen Behörden auch nicht z.B. aufgrund einer früheren Inhaftierung bekannt. Die maßgeblichen Umstände des Einzelfalles indizieren daher nicht die Notwendigkeit, Flüchtlingsschutz zuzuerkennen. Aus den genannten Gründen erfüllt die bP auch nicht das im EUAA Syrien Country focus unter den Pkt. 4.5. und 4.6. angeführte Profil.

Eine Verknüpfung zu einem Konventionsgrund ist daher bei gesamthafter Betrachtung jedenfalls nicht herzustellen.

II.3.4. Der bP droht in ihrem Herkunftsgebiet schließlich auch keine Verfolgung durch andere Gruppierungen oder Milizen, wie SDF, PKK, YPG, usw. Sie wurde in Syrien niemals bedroht oder verfolgt.

II.3.5. Die im Verfahren behauptete Furcht der bP, in Syrien mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen verfolgt zu werden, ist folglich nicht begründet. Das Bundesverwaltungsgericht gelangte aus den im Rahmen der Beweiswürdigung erörterten Gründen zur Überzeugung, dass die bP keiner individuellen Gefährdung oder psychischen und/oder physischen Gewalt durch staatliche Organe oder nichtstaatliche Akteure im Herkunftsstaat ausgesetzt war und im Falle ihrer Rückkehr dorthin auch keiner mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretenden individuellen Gefährdung oder psychischen und/oder physischen Gewalt ausgesetzt wäre.

Eine Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK liegt sohin nicht vor.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Schließlich liegt der Schwerpunkt im gegenständlichen Verfahren im Bereich der Tatsachenfragen. Die in Bezug auf einen Antrag auf internationalen Schutz vom Bundesverwaltungsgericht im Einzelfall vorzunehmende Beweiswürdigung ist nicht revisibel (vgl. VwGH vom 30.08.2018, Ra 2018/21/0149, mwN).

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