W274 2318554-1/4E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch Mag. LUGHOFER als Einzelrichter über die Beschwerden der 1.) XXXX , geboren am XXXX , und 2.) mj. XXXX , geboren am XXXX , beide syrische Staatsangehörige, beide XXXX , der mj. 2. Beschwerdeführer vertreten durch die 1. Beschwerdeführerin, beide vertreten durch Verein ZEIGE (Zentrum f. Europäische Integration u. Globalen Erfahrungsaustausch), Ottakringer Straße 54/4/2, 1170 Wien, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, Außenstelle Wiener Neustadt, jeweils vom 28.07.2025, 1.) Zl. 1417175405/241700550, und 2.) Zl. 1442525701/250918333, wegen §§ 3 und 8 AsylG, zu Recht:
Den Beschwerden wird teilweise Folge gegeben und die Bescheide dahingehend abgeändert, dass der Spruch jeweils insgesamt lautet:
„Der Antrag auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG wird abgewiesen.
Der Beschwerdeführerin/dem Beschwerdeführer wird gemäß § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihr/ihm gemäß § 8 Abs 4 AsylG jeweils eine auf 1 Jahr befristete Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte erteilt.“
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG jeweils nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
XXXX (im Folgenden: BF1) reiste etwa um den 6.10.2024 aus Deutschland in Österreich ein und beantragte am 6.11.2024 vor der Abteilung Fremdenpolizei und Anhaltevollzug der LPD Wien internationalen Schutz. Dabei gab sie zusammengefasst an, sie habe Syrien wegen des Krieges verlassen. Sie verfüge über einen syrischen Reisepass und sei 2 Jahre in Deutschland gewesen, wo ihr Bruder lebe. Dort habe sie „durch die Familienzusammenführung“ Asyl bekommen. Aus Syrien sei sie 2022 zunächst in den Libanon und die Türkei gereist. Ihr Ehemann XXXX sei in Österreich asylberechtigt. Sie sei schwanger.
Im Akt finden sich zahlreiche Schreiben des XXXX , worin dieser um dringende Erledigung ersucht und bittet, der BF1, die er am 31.10.2024 in Dänemark geheiratet habe, die Möglichkeit zu geben, dauerhaft bei ihm in Österreich zu bleiben und „das Asylverfahren der BF1 aus humanitären und familiären Gründen in Österreich zu übernehmen“. Er selbst habe seit 2015 Asyl in Österreich und arbeite im Bereich der Behindertenbetreuung. Er beantrage auch den „Selbsteintritt seiner Ehefrau (der BF1) gemäß Art 17 der Dublin III-Verordnung“.
Das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) teilte am 15.11.2024 mit, die BF1 sei am 23.12.2022 in das Bundesgebiet erstmals eingereist, habe keinen Asylantrag gestellt und eine Aufenthaltserlaubnis bis 15.01.2025 über das Aufenthaltsgesetz.
Das dänische Ministerium für Immigration und Integration (Danish Immigration Service) teilte am 25.11.2024 mit, der BF1 sei keine Aufenthaltsgenehmigung in Dänemark erteilt worden und sie sei unbekannt im dänischen Fremdenregister.
Im Akt erliegt ein Trauschein betreffend die BF1 und XXXX vom 31.10.2024 der XXXX Ærøskøbing, auf einer Ostseeinsel.
Vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (belangte Behörde) gab die BF1 bei ihrer niederschriftlichen Einvernahme am 27.05.2025 zusammengefasst an, sie habe am 31.10.2024 in Dänemark geheiratet. In Österreich lebten ihr Ehemann und eine Tante. In Syrien habe sie in Deir ez-Zor gelebt und sechs Jahre lang die Schule besucht, bis sie wegen des Krieges die Ortschaft verlassen habe müssen. Sie habe mit ihrer Mutter, zwei Schwestern und drei Brüdern in einem Eigentumshaus gewohnt. Derzeit lebten in Syrien noch je zwei Onkel väterlicherseits und mütterlicherseits in Deir ez-Zor, die gelegentlich arbeiteten. Ihr Fluchtgrund sei der Krieg, sie habe die Ortschaft verlassen müssen und in Zelten ohne Wasser und Strom gewohnt. Ihre Brüder seien nach Deutschland geflüchtet. Wo sie gewohnt habe, gebe es viele Bomben, außerdem habe sie in Syrien überhaupt keine Rechte und die Krankenhäuser und Schulen seien nicht mehr intakt.
XXXX (im Folgenden: BF2) wurde am XXXX von der BF1 in Österreich geboren.
Am 10.07.2025 stellte der Ehemann der BF1 und Vater des BF2, XXXX , für den BF2 per Email unter Anschluß der Geburtsurkunde einen Antrag auf internationalen Schutz und verwies auf die Fluchtgründe der BF1.
Mit den bekämpften Bescheiden wies die belangte Behörde die Anträge hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und eines subsidiär Schutzberechtigten ab (Spruchpunkt II.), erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigenden Gründen (Spruchpunkt III.), stellte fest, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 9 Abs 2 und 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig sei und erteilte eine Aufenthaltsberechtigung gemäß § 55 AsylG (Spruchpunkt IV.).
Die Behörde traf Feststellungen zur Person der BF und führte aus, die BF1 habe Syrien aufgrund einer Familienzusammenführung nach Deutschland verlassen. Sie sei in Syrien weder verfolgt noch bedroht worden und wäre auch bei Rückkehr keiner Verfolgung ausgesetzt. Außerdem könne nicht festgestellt werden, dass sie im Falle einer Rückkehr einer realen Gefahr der Verletzung von Art 2, Art 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention ausgesetzt wäre oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts vorherrschen könnte. Die elementare Grundversorgung in Syrien sei gewährleistet, ihre Onkel vor Ort könnten sie in Bezug auf eine Wohnmöglichkeit und auch finanziell unterstützen.
Rechtlich führte die belangte Behörde aus, die BF1 habe mit keinem Wort eine konkret gegen sie persönlich gerichtete Verfolgungsgefahr ins Treffen geführt. Die BF1 gehöre auch keinem Personenkreis an, von dem anzunehmen sei, dass er sich in Bezug auf die individuelle Versorgungslage als qualifiziert schutzbedürftiger darstelle als die übrige Bevölkerung, die ebenfalls für ihre Existenzsicherung aufkommen könne.
Im Hinblick auf den BF2 verwies die belangte Behörde im Wesentlichen auf die fehlenden Gründe für internationalen Schutz der BF1.
Lediglich gegen die Spruchpunkte I. und II. dieser Bescheide richtet sich die Beschwerde der BF wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften mit dem Antrag, diesen nach öffentlicher mündlicher Verhandlung den Status eines Asylberechtigten, in eventu Subsidiärschutz zuzuerkennen.
Die Heimatregion der BF1 gehöre zu den gefährlichsten und rückständigsten Gebieten Syriens. Es seien dort noch Zellen des IS präsent und aktiv und führten Angriffe gegen Bewohner und Infrastruktur durch. Die IS-Zellen stünden in regelmäßigen Kampfhandlungen mit den SDF. Zudem sei die in der Region ansässige Bevölkerung bei ihren notwendigen alltäglichen Tätigkeiten der Todesgefahr durch Minenexplosionen ausgesetzt. Besonders viele Opfer gebe es unter den Kindern. Die Heimatregion der BF1 (Deir ez-Zor) weise die höchste Anzahl an Vorfällen mit explosiven Kampfstoffen auf. Der Fluchtgrund der BF1 und des BF2 sei der Krieg und dessen aktuelle Nachwirkungen in Deir ez-Zor. Zu berücksichtigen sei, dass es sich bei der BF1 um die Mutter eines neugeborenen Kindes handle. Sie sei daher einer besonders vulnerablen Personengruppe zuzurechnen.
Die belangte Behörde legte die Beschwerden samt den diesbezüglichen Verwaltungsakten dem Verwaltungsgericht vor, wo sie am 29.08.2025 einlangten.
Die Beschwerden sind im Ergebnis teilweise berechtigt:
Aufgrund des Akteninhaltes steht folgender Sachverhalt fest:
Zur BF1:
Die BF1 wurde am XXXX in Deir ez-Zor/Syrien geboren, ist syrische Staatsangehörige, Araberin und Sunnitin. Ihre Muttersprache ist Arabisch. Sie wuchs in Deir ez-Zor im Eigentumshaus mit Mutter und fünf Geschwistern auf und lebte dort bis zum Jahr 2022, als sie im Rahmen einer Familienzusammenführung zunächst zu ihren Brüdern nach Deutschland zog. Im Oktober 2024 kam sie nach Österreich, wobei sie am 31.10.2024 in Dänemark ihren jetzigen Ehemann, XXXX , heiratete. Die Ehe wurde nachträglich am Standesamt XXXX registriert.
XXXX war in Österreich seit 07.06.2016 asylberechtigt. Am 01.07.2025 leitete die belangte Behörde diesen betreffend ein Verfahren zur Aberkennung des Asylstatus ein. Mit Bescheid des BFA Regionaldirektion NÖ vom 4.9.2025 wurde XXXX zu Zahl XXXX der Status des Asylberechtigten aufgrund Zutreffens der „Wegfall- der-Umstände-Klausel (§ 7 Abs 1 Z 2 AsylG iVm Art 1 Abschnitt C Z 5 GFK) aberkannt und der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt, wobei in der Begründung ausgeführt wurde, dass keine Rückkehrentscheidung nach Syrien ergehe.
Die BF1 besuchte in Syrien rund sechs Jahre die Schule und ging keiner Arbeit nach. In Syrien leben noch je zwei Onkel der BF1 mütterlicherseits und väterlicherseits, die jeweils in Deir ez-Zor wohnen und nur gelegentlich arbeiten. In Österreich lebt (neben ihrem Ehemann) noch eine Tante der BF1.
Die BF1 ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
Zum BF2:
Der BF2 wurde am XXXX in Österreich als Sohn der BF1 und ihres oben genannten Ehemannes geboren. Er ist syrischer Staatsangehöriger.
Das Gouvernement Deir ez-Zor wird zum Teil von der (neuen) syrischen Regierung und zum Teil von der kurdischen Selbstverwaltung (AANES) kontrolliert.
Zur Möglichkeit der Rückkehr der BF nach Syrien:
Die BF1 wäre als Mutter eines Neugeborenen bei einer Rückkehr nach Deir ez-Zor mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aufgrund ihrer bloßen Anwesenheit infolge der dort vorhandenen Kampfmittelrückstände (Blindgänger und Landminen) sowie der gewalttätigen Präsenz des IS einer realen Bedrohung ihres Lebens oder ihrer körperlichen Unversehrtheit ausgesetzt.
Der BF2 wäre als minderjähriges (Klein-)Kind bei einer Rückkehr nach Deir ez-Zor mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aufgrund seiner bloßen Anwesenheit infolge der dort vorhandenen Kampfmittelrückstände (Blindgänger und Landminen) sowie der gewalttätigen Präsenz des IS einer realen Bedrohung seines Lebens oder seiner körperlichen Unversehrtheit ausgesetzt.
Zur relevanten Situation in Syrien:
Nachfolgend werden die für den konkreten Fall relevanten Passagen des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation des BFA zu Syrien vom 08.05.2025 (Version 12) wiedergegeben:
Aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA vom 08.05.2025:
Politische Lage: Entwicklungen seit dem Sturz des Assad-Regimes am 08.12.2024
Die Transformation des syrischen Staates ist noch nicht abgeschlossen und es wurden bereits Änderungen für März 2025 angekündigt. Im Folgenden wird der aktuelle Stand dargelegt, wie er sich aus öffentlich zugänglichen Quellen ergibt. Teilweise werden Falschinformationen, insbesondere auf Social-Media-Kanälen verbreitet, die in weiterer Folge auch Eingang in andere Berichte finden.
Am 08.12.2024 erklärten die Oppositionskräfte in Syrien die 24-jährige Herrschaft von Präsident Baschar Al-Assad für beendet. Zuvor waren Kämpfer in die Hauptstadt eingedrungen, nachdem Oppositionsgruppierungen am 27.11.2024 eine Offensive gegen das Regime gestartet und innerhalb weniger Tage die Städte Aleppo, Hama und große Teile des Südens eingenommen hatten. Assad war aus Damaskus geflohen (AJ, 08.12.2024). Ihm und seiner Familie wurde Asyl in Russland gewährt (VB Moskau, 10.12.2024). Er hatte das Land seit 2000 regiert, nachdem er die Macht von seinem Vater Hafez Al-Assad übernommen hatte, der zuvor 29 Jahre regiert hatte (BBC, 08.12.2024a). Er kam mit der Ba‘ath-Partei an die Macht, die in Syrien seit den 1960er-Jahren Regierungspartei war (NTV, 09.12.2024). Baschar Al-Assad hatte friedliche Proteste gegen sein Regime im Jahr 2011 gewaltsam unterdrückt, was zu einem Bürgerkrieg führte. Mehr als eine halbe Million Menschen wurden getötet, sechs Millionen weitere wurden zu Flüchtlingen (BBC, 08.12.2024a). Die Offensive gegen Assad wurde von HTS angeführt (BBC, 09.12.2024). HTS wurde ursprünglich 2012 unter dem Namen Jabhat an-Nusra (an-Nusra-Front) gegründet, nennt sich aber seit 2016 nach dem Abbruch der Verbindungen zur al-Qaida Hay‘at Tahrir ash-Sham. Sie festigte ihre Macht in den Provinzen Idlib und Aleppo, wo sie ihre Rivalen, darunter Zellen von al-Qaida und des IS, zerschlug. Sie setzte die SSG ein, um das Gebiet nach islamischem Recht zu verwalten (BBC, 09.12.2024). HTS wurde durch die von der Türkei unterstützte SNA, lokale Kämpfer im Süden und andere Gruppierungen unterstützt (Al-Monitor, 08.12.2024). Auch andere Rebellengruppierungen erhoben sich (BBC, 08.12.2024b), etwa solche im Norden, Kurdenmilizen im Nordosten, sowie IS-Zellen (Tagesschau, 08.12.2024). Im Süden trugen verschiedene bewaffnete Gruppierungen dazu bei, die Regierungstruppen aus dem Gebiet zu vertreiben. Lokale Milizen nahmen den größten Teil der Provinz Dara‘a sowie die überwiegend drusische Provinz Suweida ein (Al-Monitor, 08.12.2024). Das Military Operations Department, dem auch HTS angehört, kontrollierte mit Stand 11.12.2024 70% des syrischen Territoriums (Arabiya, 11.12.2024).
In der ersten Woche nach der Flucht Assads aus dem Land gelang es den neuen Machthabern, ein vollständiges Chaos, größere Gewaltausbrüche und den Zusammenbruch des Staates abzuwenden (MEI, 19.12.2024). Ehemalige Regimeoffiziere sollen viele Regierungsgebäude niedergebrannt haben, um Beweise für ihre Verbrechen zu verstecken, nachdem sie nach dem Sturz des Regimes von Präsident Baschar Al-Assad aus dem Innenministerium geflohen waren (Araby, 16.12.2024). Die neuen de-facto-Führer Syriens bemühten sich um Sicherheit, Stabilität und Kontinuität. Obwohl es Berichte über Plünderungen in der Zentralbank und über Menschen gab, die den persönlichen Wohnsitz Assads und die Botschaft des Irans, seines Hauptunterstützers, durchwühlten, standen am 09.12.2024 Rebellenkämpfer vor Regierungsgebäuden in der gesamten Hauptstadt Wache. Die neuen Behörden verbreiteten auch Bilder von Sicherheitskräften, das durch die Straßen von Damaskus patrouillierte, in den sozialen Medien (NYT, 12.12.2024).
Der HTS-Anführer Mohammed Al-Joulani, der mittlerweile anstelle seines Kampfnamens seinen bürgerlichen Namen Ahmad Asch-Scharaa verwendet (Nashra, 08.12.2024), traf sich am 09.12.2024 mit dem ehemaligen Ministerpräsidenten und Vizepräsidenten von Assad, um die Modalitäten für eine Machtübergabe zu besprechen (DW, 10.12.2024). Bis zu ihrer Übergabe blieben die staatlichen Einrichtungen Syriens unter seiner Aufsicht (REU, 08.12.2024). Die Macht des Assad-Regimes wurde auf ein Übergangsgremium übertragen, das vom Premierminister der SSG, Mohammed Al-Baschir, geleitet wurde (MEI, 09.12.2024). Al-Baschir kündigte am ersten Tag seiner Ernennung an, dass die Prioritäten seiner Regierung folgende seien: Gewährleistung von Sicherheit, Bereitstellung von Dienstleistungen und Aufrechterhaltung der staatlichen Institutionen. (AJ, 27.01.2025a). Am 29.01.2025 wurde de-facto-Herrscher Ahmed Asch-Scharaa zum Übergangspräsidenten ernannt (Standard, 29.01.2025).
Die Übergangsregierung ließ laut Medienberichten die Verwaltungsbeamten auf ihren Posten (LTO, 09.12.2024). Eine diplomatische Quelle eines europäischen Staates wiederum berichtet von einer Beurlaubung aller Staatsbeamten: Durch die Beurlaubung aller Staatsbeamter gibt es in Syrien zwar nun (interimistische) Minister, aber kaum Beamte, soll heißen, keine funktionierende Verwaltung. Mit ganz wenigen Ausnahmen stehen die Ministerien leer. Die einzigen Ordnungskräfte sind diejenigen Gruppen, die aus Idlib mitgekommen sind und die sich – personell überlastet – um ein Minimum an Ordnung in den Städten bemühen. Die kommunale Versorgung ist nicht vorhanden bzw. derzeit auf Privatinitiativen reduziert (SYRDiplQ1, 05.02.2025). In Damaskus und anderen Orten kam es häufig zu Gewaltausbrüchen, weil Polizei und Armee nicht über genügend Personal verfügen, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Die Straßen sind oft mit Müll übersät, und anstelle der Polizei leiten Teenager den Verkehr (FT, 25.03.2025). Syrienexperte Daniel Gerlach sagte, dass die leitende Beamtenebene im Land fehlt, die zwischen politischen Entscheidungsträgern und der Verwaltung – die ihre Arbeit wiederaufgenommen hat – steht. Es fehlen diejenigen, die mit den Verwaltungsträgern in Kontakt sind und die Politik umsetzen. Diejenigen, die in Syrien politische Entscheidungen träfen, seien ungefähr 15 bis 16 Personen, schätzt Gerlach (AC, 23.01.2025). Alle Minister der Übergangsregierung waren aus dem 7. Kabinett der SSG, das im Februar 2024 ernannt worden war (AlMon, 11.12.2024). Asch-Scharaa und der Interims-Premierminister haben Loyalisten zu Gouverneuren in mehreren Provinzen und zu Ministern in der Übergangsregierung ernannt (ISW, 19.12.2024). Al-Baschir hat gegenüber Al Jazeera erklärt, dass die Minister der SSG vorerst die nationalen Ministerämter übernehmen werden (AJ, 15.12.2024a). Asch-Scharaa, sagte, dass in den ersten 100 Tagen keine internen und externen Parteien berücksichtigt werden. Er hat allen seinen Mitstreitern sehr deutlich gemacht, dass er diese Phase nur Leuten anvertraut, die sein persönliches Vertrauen haben. Er hat seine Partner und Freunde gebeten, ihm in dieser Phase beizustehen und sich darauf vorzubereiten, die Form einer neuen Regierung zu diskutieren (Akhbar, 31.12.2024). Die HTS, die in der neuen Regierung erheblichen Einfluss hat, verfügt einem Bericht des Atlantic Council zufolge nicht über ausreichende technokratische Fachkenntnisse, um eine so komplexe Nation wie Syrien zu verwalten (AC, 23.01.2025).
Die Regierung hat keinen Zeitplan für die Durchführung von Wahlen festgelegt. Asch-Scharaa stellte am 16.12.2024 fest, dass Syrien nicht bereit für Wahlen sei. Das Ende der Amtszeit der Übergangsregierung wurde mit März 2025 festgesetzt (ISW, 16.12.2024). Am 29.03.2025 ernannte der Präsident die neue syrische Regierung. Diese besteht aus Technokraten, Angehörigen ethnischer Minderheiten und mehreren engen Vertrauten Asch-Scharaas. Fast die Hälfte der Ernannten steht in keiner Verbindung zu HTS. Unter den Ernannten sind eine Frau, ein Druse, ein Kurde und ein Alawit (FT, 30.03.2025). Das einzige weibliche Kabinettsmitglied ist katholische Christin (VN, 01.04.2025). Keiner der Vertreter dieser Gruppen erhielt ein wichtiges Ressort. Syrien-Experte Fabrice Balanche erklärte, dass wichtige Ressorts an „ehemalige Mitstreiter vergeben wurden, die bereits Teil der Syrischen Heilsregierung in der Provinz Idlib“ im Nordwesten Syriens waren (AlMon, 30.03.2025). Der Verteidigungsminister und der Außenminister der Übergangsregierung behielten ihre Ämter. Innenminister Khattab war zuvor Leiter des Geheimdienstes (Independent, 29.03.2025). Auch Außenminister Asch-Schaibani behielt sein Amt (AlMon, 30.03.2025). Mehrere der neuen Minister waren unter dem Assad-Regime tätig. Zu den ehemaligen Assad-Beamten gehören Yarab Badr, der neue Verkehrsminister, und Nidal Asch-Scha‘r, der zum Wirtschaftsminister ernannt wurde (NYT, 30.03.2025). Die Mitglieder sind für fünf Jahre bestellt (FT, 30.03.2025). Das Kabinett hat keinen Premierminister, da gemäß der vorläufigen Verfassung die Regierung einen Generalsekretär haben wird (Independent, 29.03.2025). Ein neues Gremium, das Ende März per Dekret bekannt gegeben wurde, das Generalsekretariat für politische Angelegenheiten, gewährte Asch-Scharaas Stellvertreter, Außenminister Asch-Schaibani, weitreichende Befugnisse hinsichtlich der Führung von Ministerien und Regierungsbehörden – ähnlich der Rolle eines Premierministers (FT, 30.03.2025).
Die Kurden im Nordosten Syriens stellen sich gegen die neue syrische Regierung. Das Kabinett spiegele nicht die Vielfalt des Landes wider, teilte die AANES mit. Man sehe sich daher nicht an die Entscheidungen der neuen Regierung gebunden (Zeit Online, 30.03.2025; Standard, 30.03.2025; K24, 30.03.2025). Obwohl der neuen Regierung mit Bildungsminister Mohammad Turko ein Kurde angehört, sind keine Vertreter der AANES ins neue Kabinett berufen worden (MEE, 30.03.2025). Einige Kritiker weisen auf die Diskrepanz zwischen Asch-Scharaas Rhetorik bei Treffen mit internationalen Vertretern und dem vermeintlichen Fehlen eines integrativen Diskurses mit einheimischen Akteuren hin (Etana, 10.01.2025). In den ersten fünfzig Tagen der neuen Regierung wurden in den Behörden eine Reihe von Ernennungen vorgenommen, darunter neben den Ministern auch die meisten Gouverneure und Direktoren der wichtigsten Regierungsbehörden und Abteilungen, die hoheitliche Funktionen haben, wie der Geheimdienst, die Zentralbank und der Kassationshof (AJ, 27.01.2025a). Die Problematik besteht darin, dass der Kreis der Entscheidungsträger – zumindest derzeit – besonders klein ist und ausschließlich aus engsten Vertrauten Scharaas aus Idlib besteht. Hinzu kommen bereits interne Unstimmigkeiten: So mancher militärischen Gruppierung und manchem Weggefährten aus Idlib geht der moderate Zugang der Übergangsbehörden bereits zu weit. War man in den ersten euphorischen Wochen nach der Machtübernahme noch zuversichtlich-optimistisch bzw. vielmehr überzeugt, die Erfahrungen aus dem Modell Idlib auf das ganze Land übertragen zu können (die Argumentation dabei war: Idlib als erfolgreicher Mikrokosmos Gesamtsyriens, da ja bewaffnete Gruppen aus dem ganzen Land nach Idlib transferiert worden waren), so hat 50 Tage nach dem Fall des Assad-Regimes die Realität die neuen Machthaber eingeholt. Das katastrophale administrative Erbe, die schlechte Wirtschaftslage, die schiere Größe und Vielfalt des Landes, sowie der Mangel an allem, auch an Fachwissen und Erfahrung. Die Verwaltung eines Stadtstaates (Idlib) hat eine ganz andere Dimension als die eines komplexen und zerstörten Landes (SYRDiplQ1, 05.02.2025).
Die Übergangsregierung kündigte an, dass eine umfassende nationale Dialogkonferenz, eine vorläufige Verfassungserklärung abgeben, einen Ausschuss zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung bilden und eine Übergangsregierung bestätigen wird, die die Macht von Al-Baschirs Regierung übernehmen wird (AJ, 27.01.2025a). Am 12.02.2025 bestätigten Quellen gegenüber Al Jazeera, dass der syrische Präsident ein Vorbereitungskomitee für die Nationale Konferenz gebildet hat, das aus fünf Männern und zwei Frauen besteht (AJ, 12.02.2025; Sky News, 12.02.2025). Zur Vorbereitung der Konferenz hat das siebenköpfige Vorbereitungskomitee Anhörungen in den Gouvernements organisiert und manchmal mehrere zweistündige Sitzungen pro Tag abgehalten, um die 14 Provinzen Syriens in einer Woche abzudecken. Fünf Mitglieder des Komitees gehörten HTS an oder stehen ihm nahe. Vertreter der Drusen oder Alawiten, zwei der großen Minderheiten in Syrien, waren nicht dabei (BBC, 25.02.2025). Mit 12.02.2025 nahm dieses Komitee seine Arbeit auf, um die nationale Konferenz vorzubereiten und die Einladungen an die Teilnehmer zu verschicken (AJ, 12.02.2025). Die sieben Mitglieder des Vorbereitungskomitees haben etwa 4.000 Menschen in ganz Syrien konsultiert, um Meinungen einzuholen, die bei der Ausarbeitung einer Verfassungserklärung, eines neuen Wirtschaftssystems und eines Planes für institutionelle Reformen helfen sollen, teilte das Komitee am 23.02.2025 Reportern mit (REU, 23.02.2025; AlHurra, 23.02.2025). Am 25.02.2025 fand die Konferenz zum Nationalen Dialog in Damaskus statt. Hunderte von Vertretern verschiedener gesellschaftlicher Gruppen waren anwesend, aber viele andere Persönlichkeiten und Gruppierungen waren nicht anwesend (AlHurra, 25.02.2025). Ca. 400 Vertreter der Zivilgesellschaft, der Glaubensgemeinschaften, der Opposition und der Künstler nahmen teil (AlHurra, 25.02.2025). Laut BBC waren es sogar 600 Teilnehmer (BBC, 25.02.2025). Die Kurdische Autonomieverwaltung und ihr militärischer Arm, die SDF, haben keine Einladung zur Teilnahme an der Konferenz erhalten. Die Organisatoren hatten zuvor mitgeteilt, dass keine militärischen Einheiten oder Formationen, die noch ihre Waffen behalten, eingeladen wurden (AlHurra, 25.02.2025). Nach der Eröffnung der Konferenz wurden die Teilnehmer in sechs Workshops eingeteilt, die sich mit zentralen Themen befassten, darunter „persönliche Freiheiten“, „Verfassungsaufbau“ und „Übergangsjustiz.“ In der Abschlusserklärung der Konferenz wurde die rasche Bildung des provisorischen Legislativrates gefordert, der die Aufgaben der Legislative nach „Kriterien der Kompetenz und der gerechten Vertretung“ übernehmen soll (BBC, 25.02.2025). Das Komitee der Dialogkonferenz gibt Empfehlungen heraus und trifft keine Entscheidungen (AJ, 21.02.2025). Diese Empfehlungen sollen in die Verfassungserklärung und den Plan für institutionelle Reformen einfließen, versichert der Sprecher des Komitees (AlHurra, 23.02.2025; BBC, 23.02.2025). Auf der Konferenz wurden mehrere Erklärungen abgegeben, darunter ein Bekenntnis zur Übergangsjustiz, zu den Menschenrechten und zur Gewährleistung der Meinungsfreiheit. Eine am Ende der eintägigen Konferenz veröffentlichte Erklärung – die nur wenige Tage zuvor angekündigt wurde und vielen potenziellen Teilnehmern nur wenig Vorbereitungszeit ließ – ebnete den Weg für die Bildung eines siebenköpfigen Ausschusses, der mit der Ausarbeitung einer Übergangserklärung zur Verfassung beauftragt wurde (TNA, 03.03.2025). Am 02.03.2025 gab die neue Regierung die Bildung dieses siebenköpfigen Ausschusses bekannt. Der Ausschuss besteht aus einem Expertenkomitee, dem auch zwei Frauen angehören und dessen Aufgabe es ist, die Verfassungserklärung, die die Übergangsphase regelt, in Syrien zu entwerfen. Das Komitee werde „seine Vorschläge dem Präsidenten vorlegen“, hieß es in einer Erklärung, ohne einen Zeitrahmen anzugeben (FR24, 02.03.2025; BBC, 03.03.2025). Weniger als zwei Stunden nach dieser Entscheidung wurden die Texte der Artikel, die in diese Erklärung aufgenommen werden sollen, bekannt, was bei den Syrern sowohl Bestürzung als auch Spott hervorrief, zumal die Informationen von arabischen Satellitenkanälen und nicht von lokalen Sendern stammten (Nahar, 04.03.2025). Der Ausschuss stellte fest, dass die Verfassungserklärung die allgemeinen Grundlagen des Regierungssystems festlegen wird, um Flexibilität und Effizienz bei der Verwaltung des Staates in dieser sensiblen Zeit zu gewährleisten, um die politische und soziale Einheit und die territoriale Integrität des Landes zu bewahren. Die Ideen aus den nationalen Dialogen und Diskussionen, die in den Workshops zur Verfassungsgebung während der Nationalen Dialogkonferenz stattgefunden haben, sollen vom Ausschuss berücksichtigt werden (SANA, 03.03.2025).
Am 13.03.2025 unterzeichnete Asch-Scharaa die angekündigte Verfassungserklärung (NYT, 14.03.2025). Das vorläufige Dokument besteht aus vier Kapiteln und 53 Artikeln (AlHurra, 14.03.2025). Es sieht eine fünfjährige Übergangsphase vor (BBC, 14.03.2025). Nach dieser Übergangsphase soll eine dauerhafte Verfassung verabschiedet und Wahlen für den Präsidenten abgehalten werden (NYT, 14.03.2025). Die Erklärung legt fest, dass der syrische Präsident Muslim sein muss, wie es schon in der vorherigen Verfassung geschrieben stand. Anders als in der Verfassung von 2012, schreibt diese Verfassungserklärung die islamische Rechtslegung als wichtigste Quelle der Gesetzgebung fest. Daneben werden die Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz verankert sowie die Rechte der Frauen garantiert (BBC, 14.03.2025). Der Präsident ist jedoch allein für die Ernennung der Richter des neuen Verfassungsgerichtes Syriens verantwortlich. Die Richter müssen unparteiisch sein (NYT, 14.03.2025). Eine Verantwortlichkeit des Präsidenten ist in der Verfassung nicht vorgesehen. Der Erklärung zufolge wird Asch-Scharaa neben dem Präsidenten der Republik die folgenden Ämter bekleiden: Premierminister, Oberbefehlshaber der Armee und der Streitkräfte und Vorsitzender des Nationalen Sicherheitsrates. In Art. 41 räumt die Verfassungserklärung dem Präsidenten die Möglichkeit ein, mit Zustimmung des Nationalen Sicherheitsrates, dessen Mitglieder er selbst auswählt, den Ausnahmezustand auszurufen (AlHurra, 14.03.2025). Der neu gebildete Nationale Sicherheitsrat setzt sich aus Scharaa-Getreuen zusammen, darunter Verteidigungsminister Murhaf Abu Qasra, Innenminister Ali Keddah, Außenminister As‘ad Asch-Schaibani und Geheimdienstchef Anas Khattab (ISW, 13.03.2025). Der Meinung des Syrienexperten Fabrice Balanche nach ist der Nationale Sicherheitsrat „die eigentliche Regierung“ (AlMon, 30.03.2025). Die Erklärung garantiert Meinungs-, Ausdrucks-, Informations-, Veröffentlichungs- und Pressefreiheit. Allerdings können alle Rechte, einschließlich der Religionsfreiheit, eingeschränkt werden, wenn die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung bedroht sind. Die Verpflichtung zur Gewährleistung der Meinungs-, Ausdrucks-, Informations-, Veröffentlichungs- und Pressefreiheit ist mit einigen Ausnahmen verbunden, darunter die Verherrlichung des Assad-Regimes (NYT, 14.03.2025). Auch die Symbole des Assad-Regimes werden verboten sowie seine Verbrechen zu leugnen, zu loben, zu rechtfertigen oder zu verharmlosen (AlHurra, 14.03.2025). Die Verfassungserklärung garantiert Frauen das Recht auf Bildung und Arbeit und fügt hinzu, dass sie volle soziale, wirtschaftliche und politische Rechte haben werden (NYT, 14.03.2025). Aussagen eines Mitgliedes des Ausschusses für die Verfassungserklärung zufolge werde eine neue Volksversammlung die volle Verantwortung für die Gesetzgebung tragen. Zwei Drittel ihrer Mitglieder würden von einem vom Präsidenten ausgewählten Ausschuss ernannt, ein Drittel vom Präsidenten selbst. Außerdem werde ein Ausschuss gebildet, der eine neue dauerhafte Verfassung ausarbeiten solle (BBC, 14.03.2025). Diese temporäre Verfassung konzentriert viel Macht in den Händen des Präsidenten. So werden dem Präsidenten die Exekutivgewalt und die Befugnis, den Ausnahmezustand zu erklären, gewährt (NYT, 14.03.2025). Das Parlament ist nicht befugt, den Präsidenten anzuklagen, Minister zu ernennen oder zu entlassen oder die Exekutive zu kontrollieren (HRW, 25.3.2025). Immerhin spricht die Verfassungserklärung dem Präsidenten die Befugnis ab, allgemeine Amnestiegesetze zu erlassen, die Assad zuvor für sich monopolisiert hatte (AlHurra, 14.03.2025). In der Verfassung ist Syrien als „arabische“ Republik definiert mit Arabisch als einziger Amtssprache (LSE, 28.03.2025). Sie löste innerhalb Syriens viele Diskussionen aus. Umstritten sind insbesondere jene Passagen, die dem Präsidenten ein Machtmonopol einräumen (AlHurra, 14.03.2025). Der Syrische Demokratische Rat, der politische Arm der kurdisch geführten Kräfte, die den Nordosten Syriens kontrollieren, erklärte, das neue Dokument sei „eine neue Form des Autoritarismus“ und kritisierte die seiner Meinung nach uneingeschränkten Exekutivbefugnisse (NYT, 14.03.2025). Das International Centre for Dialogue Initiatives schreibt, dass diese Reformen einseitig von einem ebenfalls vom Präsidenten ernannten Verfassungsausschuss ausgearbeitet wurden, der dann behauptete, ihre Legitimität stamme aus einem Dialogprozess. Die sogenannte Nationale Dialogkonferenz wurde so zu einem politischen Deckmantel für vorab festgelegte Verfassungsänderungen, die unter dem Deckmantel der Reform die autoritäre Herrschaft festigten (ICDI, 04.04.2025). Trotz der weitverbreiteten Kritik an der aktuellen Verfassung ist keine kurzfristige Überarbeitung vorgesehen. Die vorliegende Fassung ist das Ergebnis eines beschleunigten Verfahrens, das unmittelbar nach der Nationalen Dialogkonferenz im Februar 2025 in Gang gesetzt wurde. Ein siebenköpfiges Gremium erarbeitete die Verfassung in kürzester Zeit und wird in ihrer aktuellen Form noch nicht ihren Ansprüchen für einen pluralistischen, freien und gerechten Staat gerecht (AdRev, 03.04.2025).
Als Reaktion auf die neue Verfassung gründeten 34 verschiedene syrische Parteien und Organisationen am 22.03.2025 die Allianz für gleiche Staatsbürgerschaft in Syrien (Syrian Equal Citizenship Alliance bzw. Tamasuk). Zu den Organisationen der Allianz gehört der Syrische Demokratische Rat (ISW, 24.03.2025), die Partei des Volkswillens, die Demokratische Ba‘ath-Partei und die Kommunistische Arbeiterpartei (TNA, 23.03.2025) sowie andere kurdische, christliche und drusische Gruppierungen (ISW, 24.03.2025). Das Bündnis bezeichnet sich selbst nicht als Opposition und verlangt eine dezentrale Machtverteilung (TNA, 23.03.2025).
Die Verfassung und das Parlament wurden während der dreimonatigen Übergangszeit suspendiert, so die interimistischen Behörden (Almodon 08.01.2025). Laut Leaks wird der Übergangspräsident die Volksversammlung innerhalb von 60 Tagen nach der Veröffentlichung der Verfassungserklärung ernennen. Die Volksversammlung wird 100 Mitglieder umfassen, wobei eine gerechte Vertretung der Komponenten und Kompetenzen berücksichtigt wird, und wird vom Präsidenten der Republik durch ein republikanisches Dekret für eine Amtszeit von zwei Jahren ernannt (AlHurra, 03.03.2025). Am 29.12.2024 sagte Asch-Scharaa in einem Interview, dass die Durchführung legitimer Wahlen eine umfassende Volkszählung benötige (Arabiya, 29.12.2024). In einem Interview gab er an, dass es, damit in Syrien freie, faire und integre Wahlen abgehalten werden können, einer Volkszählung, der Rückkehr der im Ausland lebenden Menschen, der Öffnung der Botschaften und der Wiederherstellung des legalen Kontaktes mit der Bevölkerung bedarf. Darüber hinaus sind viele der Menschen, die innerhalb des Landes vertrieben wurden oder in Lagern in den Nachbarländern leben, nicht bei den Flüchtlingskommissionen registriert u.s.w. (Economist, 03.02.2025). Abgesehen von der wiederholten Aussage, dass Ausschüsse gebildet und Fachleute hinzugezogen würden, gab Asch-Scharaa nicht viel Auskunft darüber, wie der Wahlprozess aussehen würde (NYT, 30.12.2024). Asch-Scharaa hatte angemerkt, dass die Einrichtung dieser Ausschüsse in naher Zukunft unwahrscheinlich sei. Er teilte der BBC am 18.12.2024 mit, dass ein syrisches Komitee von Rechtsexperten zusammentreten werde, um eine Verfassung zu verfassen und über eine Reihe nicht näher bezeichneter rechtlicher Fragen, darunter den Alkoholkonsum, zu entscheiden. Es ist unklar, auf welche Rechtsexperten sich Asch-Scharaa bezieht und ob diese Experten repräsentativ für die multiethnische und -religiöse Bevölkerung Syriens sind oder ob es sich um HTS-nahe sunnitische Gelehrte handelt (ISW, 19.12.2024).
Am 29.01.2025 versammelten sich die Führer der militärischen Gruppierungen, die an der militärischen Kampagne zum Sturz Assads beteiligt waren, zu einer Zeremonie im Präsidentenpalast, um den Sieg zu erklären. In der Siegeserklärung kündigten sie neun Schritte an, die in drei Hauptthemen unterteilt sind, wie beispielsweise: Füllen des Machtvakuums durch die Annullierung der Verfassung von 2012, die Aussetzung aller Ausnahmegesetze, die Auflösung der während der Zeit des vorherigen Regimes gebildeten Volksversammlung und aller aus ihr hervorgegangenen Komitees und die Ernennung des Befehlshabers des militärischen Operationskommandos, Ahmed Asch-Scharaa, zum Präsidenten des Landes während der Übergangszeit. Bei der Zeremonie wurde die Auflösung von vier Institutionen, welche die Säulen der Herrschaft und Kontrolle des früheren Regimes darstellten und die Schaffung eines neuen Regimes behindern, angekündigt, nämlich: die Armee, die Sicherheitsdienste mit ihren verschiedenen Zweigen und alle damit verbundenen Milizen, die Ba‘ath-Partei, die Parteien der Nationalen Progressiven Front und die ihnen angeschlossenen Organisationen, Institutionen und Komitees und das Verbot ihrer Wiedererrichtung auch unter einem anderen Namen und Rückgabe ihrer Vermögenswerte an den syrischen Staat (AJ, 31.01.2025a). Die Ba‘ath-Partei des gestürzten syrischen Machthabers Baschar Al-Assad stellte nach eigenen Angaben mit 12.12.2024 sämtliche Aktivitäten ein. Dies gelte bis auf Weiteres, hieß es in einer auf der Website der Parteizeitung veröffentlichten Erklärung. Die Vermögenswerte und die Gelder der Partei würden unter die Aufsicht des Finanzministeriums gestellt, Fahrzeuge und Waffen sollen nach Parteiangaben an das Innenministerium übergeben werden. Die Ba‘ath-Partei war seit 1963 in Syrien an der Macht (Tagesschau, 12.12.2024). Viele Mitglieder der Parteiführung sind untergetaucht und einige aus dem Land geflohen. In einem symbolischen Akt haben die neuen Machthaber Syriens das ehemalige Hauptquartier der Partei in Damaskus in ein Zentrum umgewandelt, in dem ehemalige Mitglieder der Armee und der Sicherheitskräfte Schlange stehen, um sich registrieren zu lassen und ihre Waffen abzugeben (AP, 30.12.2024). Am 11.02.2025 gab das Präsidialamt bekannt, dass die wichtigsten Oppositionsgremien Syriens, die im Exil tätig waren, der Übergangsregierung die von ihnen bearbeiteten Akten übergeben haben, als Teil der Bemühungen, die während des Konfliktes gebildeten Institutionen „aufzulösen“. Dieser Schritt kommt der Abschaffung der wichtigsten unbewaffneten Oppositionsgruppen Syriens gleich und erinnert an Asch-Scharaas Versuch, alle bewaffneten Gruppen aufzulösen und in die Armee zu integrieren (FR24, 12.02.2025). Für die in den Kriegsjahren im und aus dem Ausland tätige Opposition hat er nur Geringschätzung übrig (SYRDiplQ1, 05.02.2025).
Während Scharaa ein gewisses Maß an Pragmatismus gezeigt hat, insbesondere im Umgang mit lokalen Gemeinschaften, sind die Strukturen der Übergangsregierung nach wie vor zentralistisch und hierarchisch, wobei die Macht in einem kleinen Führungskreis konzentriert ist. Dies schränkt die Möglichkeiten für eine integrative Entscheidungsfindung ein und verstärkt die Wahrnehmung der Ausgrenzung von Minderheiten und Frauen (AC, 20.12.2024). HTS hat in Idlib einerseits bemerkenswerte Zugeständnisse an die lokale Bevölkerung gemacht. So erlaubte sie beispielsweise Christen, Gottesdienste abzuhalten und Frauen, Universitäten zu besuchen und Autos zu fahren – Maßnahmen, die angesichts der radikalen dschihadistischen Vergangenheit der Gruppe bemerkenswert sind. Darüber hinaus hat HTS Zivilisten in seine Regierungsverwaltung integriert und einen technokratischen Regierungsstil eingeführt, selbst in sensiblen ideologischen Bereichen wie Bildung und Religion, in denen die Gruppe ursprünglich ausschließlich eigenes Personal ernennen wollte. Andererseits ist die mangelnde Bereitschaft, politische Opposition zuzulassen, nach wie vor besorgniserregend. In Idlib hat HTS nach und nach die Macht monopolisiert und etablierte de facto einen Einparteienstaat. Politische Opposition und zivilgesellschaftlicher Aktivismus wurden unterdrückt (DIIS, 16.12.2024). Zu den ersten Entscheidungen der Übergangsregierung unter Al-Baschir gehörten die Entsendung von Polizeikräften in Großstädte und das Verbot von Rauchen und Alkoholkonsum (MAITIC, 17.12.2024). HTS wurden u.a. von HRW immer wieder schwere Menschenrechtsverletzungen gegen Oppositionelle, Frauen und religiöse Minderheiten vorgeworfen. Es kam auch zu groß angelegten Protesten gegen HTS und Asch-Scharaa (Rosa Lux, 17.12.2024). Laut Terrorismusexperte Peter Neumann haben die HTS-Kämpfer für ein islamistisches Regime gekämpft. Er hält es für möglich, dass es zu einer Opposition in der eigenen Bewegung kommen könnte (Spiegel, 11.12.2024). Auch Terrorismusexperte Hans-Jakob Schindler spricht von Videos von Personen aus dem HTS-Umfeld, die ein Kalifat aufbauen wollen (WiWo, 09.12.2024). Alberto M. Fernandez, Vizepräsident des Middle East Media Research Institutes, wiederum sieht nicht so sehr die Gefahr, dass Syrien nun ein islamischer Staat sein wird, sondern dass es ein gescheiterter Staat sein wird. Die Gefahr besteht eher darin, dass die Anarchie die Oberhand gewinnt und nicht das Scharia-Recht. Dennoch sehen auch die genannten Experten Asch-Scharaa, HTS und viele ihrer Verbündeten als Hardcore-Islamisten. Am ehesten ähnle HTS nicht IS und al-Qaida, sondern den Taliban und der Hamas, also Gruppen, die sowohl islamistisch als auch nationalistisch sind (MEMRI, 09.12.2024). Etwa 70% der syrischen Bevölkerung sind sunnitische Muslime, darunter auch Kurden, die etwa 10% der Bevölkerung ausmachen. Die arabischen Sunniten sind sich jedoch in ihren Zielen nicht einig, und viele wünschen sich für die Zukunft Syriens keinen islamischen Staat (SWI, 13.02.2025).
Trotz der Kritik ergab eine im März 2025 im Auftrag von „The Economist“ durchgeführte Umfrage, an der 1.500 Syrer aus allen Provinzen und konfessionellen Gruppen des Landes teilnahmen, dass 81% die Herrschaft von Asch-Scharaa befürworten. Nur 22% sind der Meinung, dass seine Vergangenheit als al-Qaida-Führer ihn für eine Führungsrolle disqualifiziert. Eine große Zahl der Befragten gibt an, dass sie seine neue Ordnung als sicherer, freier und weniger konfessionell geprägt empfinden als das Assad-Regime. Etwa 70% sind optimistisch, was die allgemeine Richtung der Entwicklung des Landes angeht. Die zufriedenste Provinz ist Idlib, Asch-Scharaas ehemaliges Machtgebiet, wo 99 der 100 Befragten sich optimistisch äußern. Tartus, wo Anfang März 2025 mehrere Massaker an der alawitischen Minderheit stattgefunden haben, ist die pessimistischste Provinz. Selbst dort gaben 49% an, optimistisch zu sein, während 23% sich pessimistisch äußerten (Economist, 02.04.2025).
Anfänglich drängten die VN auf eine Rückkehr zum lange stagnierenden politischen Übergang auf der Grundlage der Resolution 2254 (National, 09.12.2024). Die 2015 verabschiedete Resolution 2254 des Sicherheitsrates, die einen politischen Übergang in Syrien durch Verhandlungen zwischen der Regierung des gestürzten Regimes und der Opposition forderte, ist inzwischen gegenstandslos geworden, da das Regime, mit dem verhandelt werden sollte, gestürzt ist (AJ, 28.12.2024a). Asch-Scharaa sieht dafür keine Notwendigkeit mehr und macht keinen Hehl aus seiner mangelnden Achtung des UN-Gesandten Geir Pedersen. Die neue Regierung hat kein Interesse mehr an der Resolution 2254 und ihren Bestimmungen. Asch-Scharaa sagte, dass die vergangenen Jahre die Ineffektivität der VN gezeigt hätten, weshalb er die Resolution mit dem Sturz des Regimes als hinfällig betrachte (Akhbar, 31.12.2024).
Syrien steht auf der US-amerikanischen Liste der Länder, die den Terrorismus unterstützen und HTS wird von der EU, der Türkei und den USA als ausländische terroristische Organisation eingestuft (AJ, 15.12.2024a). HTS wurde im Mai 2014 auf die Terrorliste der UN gesetzt, als der Sicherheitsausschuss zu dem Schluss kam, dass es sich um eine terroristische Organisation mit Verbindungen zur al-Qaida handelt. Die Miliz unterliegt drei Sanktionsmaßnahmen: Einfrieren von Vermögenswerten, Reiseverbot und Waffenembargo. Das bedeutet, dass international von allen Mitgliedstaaten erwartet wird, dass sie diese Maßnahmen einhalten. Um HTS nicht mehr als Terrororganisation zu listen, müsste ein Mitgliedstaat die Streichung von der Liste vorschlagen, und dieser Vorschlag würde dann an den zuständigen Ausschuss des Sicherheitsrates weitergeleitet. Der Ausschuss, der sich aus Vertretern aller 15 Länder zusammensetzt, die den Sicherheitsrat bilden, müsste dann einstimmig beschließen, den Vorschlag zu genehmigen (UN News, 12.12.2024). Die internationale Gemeinschaft akzeptierte in bilateralen und multilateralen Formaten, dass HTS, trotz Einstufung als terroristische Vereinigung, einen Platz am Verhandlungstisch benötigt (MEI, 09.12.2024).
Sicherheitslage: Entwicklungen seit dem Sturz des Assad-Regimes am 08.12.2024
Im Folgenden wird der aktuelle Stand dargelegt, wie er sich aus öffentlich zugänglichen Quellen ergibt. Teilweise werden Falschinformationen, insbesondere auf Social-Media-Kanälen verbreitet, die in weiterer Folge auch Eingang in andere Berichte finden.
Trotz des Sturzes der 54 Jahre währenden Assad-Herrschaft ist der Bürgerkrieg noch lange nicht vorbei (Leb24, 13.02.2025). Trotz der Bemühungen der neuen syrischen Regierung bleibt die Sicherheitslage fragil, und die Zukunft Syriens ist unklar (VB Amman, 09.02.2025). Der UNHCR beschreibt die Lage vor Ort als „fluid.“ Sie könne sich nach derzeitigem Stand in alle Richtungen entwickeln (ÖB Amman, 06.02.2025). Die neue syrische Übergangsregierung ist nicht in der Lage, das gesamte syrische Staatsgebiet zu kontrollieren (AlHurra, 06.02.2025a). Seit Jahresbeginn 2025 hat sich die Sicherheitslage in Syrien nach dem Sturz von Baschar Al-Assad weiterhin als instabil erwiesen. Die neuen Machthaber, dominiert von islamistischen Gruppierungen, bemühen sich um die Etablierung von Ordnung und Sicherheit, stoßen jedoch auf erhebliche Herausforderungen (VB Amman, 09.02.2025). Außenminister Asch-Schaibani gibt Sicherheitsprobleme in Teilen Syriens zu, bezeichnete sie aber als Einzelfälle: Offenbar hat HTS, das offiziell aufgelöst wurde, Schwierigkeiten, seine teils sehr radikalen islamistischen Untergruppen in den Griff zu bekommen. Zwischen Verfolgung von Angehörigen des Assad-Regimes, die Verbrechen begangen haben, und Racheakten v.a. gegen die Volksgruppe der Alawiten, aus der die Assads stammen, ist nicht immer leicht zu unterscheiden (Standard, 23.01.2025). Die Sicherheitskräfte der Übergangsregierung sind bei ihrem Versuch, das Land zu stabilisieren, mit zunehmenden Bedrohungen konfrontiert, darunter gewalttätige Überreste des Regimes, sektiererische Gewalt und Entführungen. Im Nordosten sind die SDF gezielten Angriffen von IS-Zellen und anhaltenden Feindseligkeiten mit der von der Türkei unterstützten SNA ausgesetzt (Etana, 22.02.2025). Die fragile Sicherheitslage bedroht weiterhin den politischen Fortschritt, warnte der Sondergesandte des Generalsekretärs der VN für Syrien, Geir Pedersen, und verwies auf die anhaltenden Feindseligkeiten im Nordosten, einschließlich täglicher Zusammenstöße, Artilleriebeschuss und Luftangriffe, die Zivilisten und die Infrastruktur treffen (UN News, 12.02.2025).
In Syrien kam es weiterhin zu einer Zunahme von Entführungen. Die Civil Peace Group dokumentierte seit dem Sturz des Regimes 64 Entführungsfälle – 19 Opfer wurden später hingerichtet aufgefunden, nur drei führten zu Lösegeldforderungen. Auch Vorfälle sektiererischer Gewalt, die sich hauptsächlich gegen schiitische und alawitische Gemeinschaften richten, sind weit verbreitet (Etana, 22.02.2025). Das Middle East Institute berichtet auch von eindeutig sektiererischen Vorfällen, wie der Zerstörung eines Schreins im ländlichen Hama durch zwei sunnitische Zivilisten und Fällen von Schikanen an Kontrollpunkten, konstatiert aber, dass die meisten Verstöße, die von Sicherheitskräften in ganz Syrien begangen wurden, sich gegen bestimmte Anhänger des ehemaligen Regimes zu richten scheinen. Eines der drängendsten Probleme sind nicht sektiererisch motivierte Angriffe, sondern vielmehr der undurchsichtige Prozess der gezielten Verfolgung von Männern, die in den Streitkräften des Regimes gedient haben (von denen die meisten aufgrund der Natur des Regimes Alawiten sind) (MEI, 21.1.2025). Die Kriminalität ist dramatisch gestiegen, nicht zuletzt auch aufgrund der Freilassung nicht nur politischer Gefangener aus den Gefängnissen (SYRDiplQ1, 05.02.2025). Kriminelle Banden und Einzelpersonen versuchen das entstandene Machtvakuum auszunutzen. Die schwereren Verbrechen ereignen sich in der Regel auf dem Land, wo die Sicherheitspräsenz geringer ist und sich eine höhere Konzentration von ehemaligen Schabiha-Angehörigen (Schabiha sind die irregulären, bewaffneten pro-Assad-Gruppierungen) befindet (MEI, 21.01.2025).
Seit dem Machtwechsel im Dezember 2024 kam es in mehreren Gebieten zu Zusammenstößen und Schießereien, wobei Sicherheitsbeamte bewaffnete Anhänger der vorherigen Regierung beschuldigten (FR24, 01.03.2025). In mehreren Gebieten kommt es weiterhin zu Zwischenfällen mit verirrten Kugeln. Im Februar sind bei solchen Vorfällen 18 Menschen, darunter drei Frauen und vier Kinder, getötet und vier weitere, darunter zwei Kinder, verwundet worden. Die Opfer verteilen sich auf die von der Regierung in Damaskus, der AANES und der SNA kontrollierten Gebiete. Die Gefahr solcher Zwischenfälle wird durch die Verbreitung von Waffen unter der Zivilbevölkerung verschärft (SOHR, 24.02.2025b). Sicherheitskräfte sind immer noch dabei, Überbleibsel des Regimes im ganzen Land auszuheben, die häufig Mitglieder der HTS-Sicherheitskräfte (GSS) und Checkpoints ins Visier genommen haben. ETANA verzeichnete Angriffe von Pro-Regime-Gruppen auf Mitglieder der GSS in Rif Dimaschq, Ost-Dara‘a und West-Homs. Auch in Hama und Jableh, in der Nähe der Hmeimim-Basis, kam es zu Zusammenstößen. Sicherheitskräfte haben in ehemaligen Regimegebieten im Gouvernement Deir ez-Zor mehrere Operationen durchgeführt (Etana, 22.02.2025). Während Zehntausende auf die Möglichkeit der Versöhnungsprozesse eingingen, lehnten bewaffnete Gruppierungen von Regimeüberbleibseln sie ab, v.a. an der syrischen Küste, wo hohe Offiziere des Assad-Regimes stationiert waren. Im Laufe der Zeit flohen diese Gruppierungen in die Bergregionen und begannen, Spannungen zu schüren, die Lage zu destabilisieren und sporadische Angriffe auf die Regierungstruppen zu verüben (AJ, 10.03.2025c). Bis Anfang März 2025 beschränkten sich solche Übergriffe auf kleine Ausbrüche von willkürlicher Selbstjustiz und waren nicht Teil von groß angelegter, organisierter Gewalt. Am 06.03.2025 jedoch überfielen Aufständische des Assad-Regimes die Sicherheitskräfte der Übergangsregierung in der westlichen Küstenstadt Jableh im Gouvernement Latakia und töteten 30 von ihnen (viele wurden später verbrannt oder in flachen Massengräbern aufgefunden) (TWI, 10.03.2025). Die Anhänger des gestürzten Assad-Regimes riefen zu einem Aufstand auf. Ungefähr zur Zeit der ersten Angriffe gab eine Gruppierung, die sich selbst als Militärrat für die Befreiung Syriens bezeichnet, eine Erklärung ab, in der sie schwor, die Regierung zu stürzen (FT, 10.03.2025). Unmittelbar nach dem Hinterhalt riefen die syrischen Sicherheitskräfte zu einer allgemeinen Mobilisierung über die bereits in der Küstenregion stationierten Einheiten hinaus und zur Ausrottung ehemaliger Regimegegner auf (TWI, 10.03.2025). Sicherheitskräfte, die durch Verstärkung unterstützt wurden, begannen, gegen die Loyalisten des Assad-Regimes zu kämpfen und sie aus den Dörfern an der Küste Syriens zurückzudrängen. Die Loyalisten zogen sich aufs Land zurück, wobei sie Staatseigentum niederbrannten und mordeten. Als syrische Regierungstruppen und bewaffnete Zivilisten begannen, in alawitische Dörfer im Nordwesten Syriens einzudringen, tauchten Videos von Misshandlungen auf. Zivilisten berichteten von Massenmorden durch Sicherheitskräfte, was von Menschenrechtsgruppen bestätigt wurde (Guardian, 10.03.2025). Laut dem SOHR-Leiter war es ein Fehler, dass die Regierung in Damaskus in den Moscheen zur Mobilisierung aufgerufen hatte. Dies habe zu einem Zustrom von Kämpfern von außerhalb der Region geführt, deren Ziel es war, Alawiten zu massakrieren (Sky News, 09.03.2025a). Laut einem Freiwilligen der NGO Weißhelme kamen Menschen aus allen Städten Syriens, um Rache zu üben (C4, 09.03.2025). Die überwiegende Mehrheit der rechtswidrigen Tötungen von Zivilisten und Gefangenen durch syrische Sicherheitskräfte wurde laut dem SNHR von zwei bestimmten Fraktionen sowie von Personen begangen, die sich Militärkonvois angeschlossen hatten. Konkret waren die beiden Fraktionen, die für die meisten Tötungen von Zivilisten verantwortlich sind, die Suleiman-Shah-Division (auch: Abu-Amsha-Division oder Amsha-Division) und die Hamza-Division. Beide Fraktionen und ihre Anführer stehen wegen mutmaßlicher schwerer Menschenrechtsverletzungen, darunter Vergewaltigung und Folter, unter US-Sanktionen (Guardian, 10.03.2025). Laut dem Washington Institute for Near Eeast Policiy umfasste die Mobilisierung drei von den USA sanktionierte Milizen der von der Türkei unterstützten SNA: Jaysh ash-Sharqiya, Sultan-Suleiman-Shah-Division und Hamza-Division. Ihnen wurden zuvor Menschenrechtsverletzungen an Kurden im Nordwesten Syriens vorgeworfen. An den Kämpfen waren auch ausländische Dschihad-Kämpfer der von den USA gelisteten Gruppierung Ansar at-Tawhid und lokale syrische Zivilisten beteiligt, die die Kriegsverbrechen des Regimes rächen wollten (TWI, 10.03.2025). Die Gruppierungen stehen nominell unter der Schirmherrschaft des neuen Staates, wobei Abu Amscha zum Leiter der Militärbrigade der Provinz Hama ernannt wurde. In Wirklichkeit übt der Staat jedoch nur begrenzte Kontrolle über sie aus. Die Bewaffneten, die die Massaker verübten, seien keine Bewohner der syrischen Küste, sondern stammten aus anderen Gouvernements und seien teilweise ausländischer Herkunft (Usbeken, Tschetschenen und zentralasiatische Kämpfer) (Sky News 09.03.2025a). Am 09.03.2025 gab eine Quelle aus syrischen Sicherheitskreisen an, dass sich die Kämpfe in der Umgebung der Städte Latakia, Jabla und Baniyas etwas beruhigt hätten, während die Streitkräfte die umliegenden Berggebiete durchsuchten, in denen sich schätzungsweise 5.000 pro-Assad-Aufständische versteckt hielten (Sky News, 09.03.2025b). Der Sprecher des Verteidigungsministeriums gab am 10.03.2025 das Ende der Militäroperation gegen die Überreste des Regimes in den Küstengebieten bekannt. Er betonte, dass die öffentlichen Einrichtungen ihre Arbeit wieder aufnehmen können, um die Rückkehr zum normalen Leben vorzubereiten, und dass die Sicherheitskräfte weiter daran arbeiten werden, die Stabilität und die Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten (SANA, 10.03.2025a). Der Gouverneur von Tartus betonte am 09.03.2025, dass die Provinz nach dem Sieg über die Überreste des untergegangenen Regimes eine allmähliche Rückkehr zur Normalität erlebt (SANA, 09.03.2025a). In den meisten Vierteln der Stadt Latakia hat am 10.3.2025 das normale Leben wieder begonnen, nachdem die Angriffe der Überreste des ehemaligen Regimes vereitelt und die Sicherheit in der Stadt wiederhergestellt wurde (SANA, 10.03.2025b). Nach der Ankündigung der Regierung in Damaskus über den Abschluss der Sicherheitskampagne an der syrischen Küste stürmten Gruppen von bewaffneten Männern, die dem Verteidigungsministerium angehören, die Stadt Harison in der Umgebung von Baniyas, wo sie Häuser und Eigentum von Zivilisten plünderten und in Brand setzten (SOHR, 10.03.2025c). Die Lage in den Städten mag stabiler sein, aber in ländlicheren Gegenden finden abseits der Medien eklatante Rechtsverletzungen statt. Die Zwangsumsiedlungen gehen weiter (Sky News, 09.03.2025a).
Die Angaben über die Zahl der Todesopfer der Kämpfe variierte stark (Guardian, 09.03.2025). Laut dem SNHR, das umfassende Dokumentationsstandards anwendet und als unabhängig gilt, haben Anhänger des Assad-Regimes 383 Menschen getötet, darunter 211 Zivilisten und 172 syrische Sicherheitskräfte, während syrische Sicherheitskräfte 396 Menschen getötet haben, darunter Zivilisten und entwaffnete Kämpfer (Guardian, 10.03.2025). Syrische Sicherheitsquellen gaben an, dass mehr als 300 ihrer Mitglieder bei Zusammenstößen mit Angehörigen der ehemaligen SAA, bei koordinierten Angriffen und Hinterhalten getötet wurden (Sky News, 09.03.2025b). Es wurden Massengräber mit Dutzenden von toten Mitgliedern gefunden (AJ, 09.03.2025). Die syrischen Sicherheitskräfte töteten 700 ehemalige Soldaten und bewaffnete Männer, die dem ehemaligen Präsidenten Baschar Al-Assad treu ergeben waren, oder sogenannte Regimeüberreste (Arabiya, 09.03.2025). Dem Leiter von SOHR zufolge wurden 745 alawitische Zivilisten aus konfessionellen Gründen getötet, wobei er betonte, dass sie nicht an den Kämpfen beteiligt waren oder mit dem Regime in Verbindung standen (Sky News, 09.03.2025a). Darüber hinaus wurden 125 Mitglieder der Sicherheitskräfte und 150 alawitische Kämpfer getötet (Sky News, 09.03.2025a). Die meisten der von Regierungstruppen getöteten Zivilisten waren Alawiten, aber auch einige Christen waren darunter. Unter den getöteten Aufständischen des ehemaligen Regimes befanden sich Sunniten, Alawiten und Christen (TWI, 10.03.2025). Laut den VN kam es zu Tötungen ganzer Familien (UN News, 09.03.2025). Die SOHR zog am 11.3.2025 Bilanz und verzeichnete eine Gesamtzahl von 1.093 Todesopfern vom Eintreffen bewaffneter Männer zur Unterstützung der Sicherheitskräfte bis zum 11.3.2025. Insgesamt wurden 44 Massaker verübt (SOHR, 11.03.2025). Eine nicht näher genannte Beobachtungsgruppe verzeichnete der BBC zufolge mehr als 1.500 Todesopfer, darunter 1.068 Zivilisten (BBC, 10.03.2025). Laut Aussage des Leiters von SOHR wurden Zehntausende Häuser geplündert und niedergebrannt (Sky News, 09.03.2025a). Ein Freiwilliger der syrischen NGO Weißhelme berichtete, dass seine Organisation am 05.03.2025 auf mehr als 40 Brände im Küstengebiet reagieren musste, bevor in der darauffolgenden Nacht die Kämpfe begonnen hatten. Es wurde auch einer der Krankenwagen der Weißhelme angegriffen, ebenso ein Krankenhaus und Kontrollpunkte (C4, 09.03.2025).
Diese Eskalation war nicht auf Latakia im Westen Syriens beschränkt, denn auch in anderen Gebieten am Rande der Hauptstadt Damaskus und in Dara‘a kam es zu bewaffneten Zusammenstößen (AlHurra, 08.03.2025). Unbekannte bewaffnete Männer in einem Auto warfen am 10.03.2025 Granaten und eröffneten das Feuer auf das Hauptquartier der allgemeinen Sicherheitskräfte im Stadtteil al-Mezzeh in Damaskus. Es kam zu Zusammenstößen zwischen den Angreifern und den Sicherheitskräften (SOHR, 10.03.2025d).
Übergangspräsident Asch-Scharaa richtete einen dreißigtägigen Untersuchungsausschuss, der die tatsächlichen Geschehnisse untersuchen soll, ein. Im Gegensatz zu den früheren Ernennungen der Übergangsregierung für Ausschüsse, Ministerien und Provinzämter sind die sieben Mitglieder dieses neuen Ausschusses nicht mit HTS oder ihrer Verbündeten in Verbindung gebracht worden (TWI, 10.03.2025). Der Ausschuss soll seinen Bericht dem Chef der syrischen Übergangsregierung, Ahmad Asch-Scharaa, spätestens 30 Tage nach der Entscheidung zur Bildung des Ausschusses vorlegen (BBC, 09.03.2025a). Er hat zur Aufgabe, die Ursachen, Umstände und Bedingungen aufzudecken, die zu diesen Ereignissen geführt haben, die Übergriffe zu untersuchen, denen die Zivilbevölkerung ausgesetzt war, die Verantwortlichen zu identifizieren, die Angriffe auf öffentliche Einrichtungen und Mitarbeiter der Sicherheitskräfte und der Armee zu untersuchen, die Verantwortlichen zu identifizieren und diejenigen, die nachweislich an den Verbrechen beteiligt waren, der Strafverfolgung zuzuführen (SANA, 09.03.2025b). Am 09.03.2025 begannen die Behörden, gegen diejenigen vorzugehen, die Gewalttaten gegen Zivilisten begangen hatten. Die syrische Übergangsregierung verhaftete sogenannte undisziplinierte Gruppen, die in den letzten Tagen während der Säuberungsaktionen Sabotageakte begangen hatten. Sie sollen strafrechtlich verfolgt werden, weil sie die Anweisungen des Kommandos missachteten (Arabiya, 09.03.2025).
Viele Beobachter sind sich einig, dass trotz der Bedeutung interner Faktoren auch der externe regionale Faktor bei den Unruhen in der syrischen Küstenregion eine wichtige Rolle spielte. Syrische Sicherheitsquellen weisen darauf hin, dass Iran in die Ereignisse in der Region verwickelt war und dass er die Überreste des Assad-Regimes finanzierte und bewaffnete, die zwischen der Küste und der Provinz Homs unterwegs waren und aufgrund der instabilen Sicherheitslage in den Osten Syriens vordringen konnten (BBC, 09.03.2025b). Israel drang nach dem Sturz des Assad-Regimes in Grenzdörfer in Syrien ein und bezeichnete dies als vorübergehende Maßnahme zum Schutz seiner eigenen Sicherheit. Während israelische Politiker seit Monaten deutlich machen, dass sie beabsichtigen, ihre Truppen in den Grenzregionen zu belassen, die eigentlich eine von internationalen Friedenstruppen überwachte Pufferzone sein sollte, stellen ihre Erklärungen über ein entmilitarisiertes Südsyrien eine Eskalation dar, die die Spannungen innerhalb Syriens verschärft hat (NYT, 25.02.2025). Israel hatte die Pufferzone auf dem syrischen Golan umgangen und das Rückzugsabkommen von 1974 verletzt, indem es in Quneitra und Dara‘a eindrang und weiteres syrisches Gebiet besetzte, bis es den Berg Hermon erreichte (BBC 09.03.2025b). Israelische Streitkräfte führen weiterhin Angriffe in und jenseits des entmilitarisierten Grenzstreifens von 1974 zwischen den von Israel besetzten Golanhöhen und Quneitra durch. Versuche Israels, die Herzen und Köpfe der Menschen in Quneitra zu gewinnen, wurden wiederholt abgewiesen und fanden gleichzeitig mit Razzien, Schießereien und anderen Verstößen statt (Etana, 22.02.2025). Israel führte seit dem Sturz von Assad Hunderte von Luftangriffen in ganz Syrien durch, bei denen Luftwaffenstützpunkte, Munitionsdepots, militärische Ausrüstung und Stellungen von Kräften, die der neuen Regierung treu ergeben sind, angegriffen wurden (SCR, 30.01.2025). Am 01.03.2025 drohten der israelische Ministerpräsident Netanyahu und der Verteidigungsminister Katz der syrischen Übergangsregierung, in Syrien einzugreifen, um die Drusen zu beschützen (Enab, 01.03.2025; TIS, 01.03.2025). Berichten aus Syrien zufolge kam es zuvor im Rahmen einer Sicherheitskampagne in Jaramana, einem Vorort von Damaskus, zu Zusammenstößen zwischen den Behörden der neuen syrischen Regierung und örtlichen drusischen Kämpfern (TIS, 01.03.2025). Kräfte von außen, die gemeinsam mit Assad die Macht verloren haben – Iran und seine Vasallen wie die libanesische Hisbollah –, haben Interesse daran, dass das neue Syrien scheitert (Standard, 09.03.2025).
Nach dem Sturz des Assad-Regimes hat Russland begonnen, seine Streitkräfte aus der strategisch wichtigen Marinebasis Tartus abzuziehen. Dieser Rückzug könnte das Machtgleichgewicht in der Region beeinflussen und Auswirkungen auf die Sicherheitslage in Syrien haben (VB Amman, 09.02.2025).
Ende Dezember wurde, einer Quelle aus syrischen Sicherheitskreisen von Al Jazeera zufolge, durch das Military Operations Department eine landesweite Sicherheitsoperation gestartet, um Überreste des untergegangenen Regimes zu jagen und militärische Kontrollpunkte an der Straße zum russischen Militärstützpunkt Hmeimim in Tartus einzurichten (AJ, 28.12.2024b).
Die Internationale Koalition hat zwölf Sicherheitsoperationen gegen IS-Zellen in verschiedenen Gebieten Syriens durchgeführt, einige mit Beteiligung der SDF. Diese Operationen führten zur Tötung von 14 IS-Mitgliedern, darunter zwei Anführer, sowie die Verhaftung von neun Personen, die beschuldigt werden, dem IS anzugehören und mit ihm zu kooperieren, darunter ein Ölinvestor (SOHR, 23.02.2025). Die von den USA geführten internationalen Koalitionstruppen haben in Zusammenarbeit mit den SDF ein intensives militärisches Training mit schweren Waffen auf der Basis des Ölfeldes al-‘Omar im Osten der Provinz Deir ez-Zor im Osten Syriens durchgeführt. Die Übungen sind Teil einer Reihe von Militärmanövern, die die Koalitionstruppen auf ihren Militärstützpunkten in den Provinzen Deir ez-Zor und Hasaka im Nordosten des Landes durchführen, um die Kampfbereitschaft und die operative Koordination mit den lokalen Partnern zu verbessern (TNA, 27.02.2025).
Der UNHCR sieht den Schlüssel, um die Voraussetzungen für ausreichende Lebensbedingungen und eine stabile Sicherheitslage zu schaffen, in der Elektrizität. Ohne diese gäbe es nicht nur extreme Unsicherheit. Grundlegende Aktivitäten wie Kochen, Heizen, Transport u.s.w. sind auf Strom angewiesen. Auch der Betrieb von Krankenhäusern und Schulen bedarf einer funktionierenden Energieversorgung. Dauere der Zustand an, in dem nachts ganze Gegenden in völliger Dunkelheit lägen, sei ein „collapse of law and order“ praktisch unvermeidlich. Die radikalen militanten Gruppierungen würden nur darauf warten, das Vakuum zu füllen (ÖB Amman, 06.02.2025).
Kampfmittelreste und Blindgänger
In mehr als 13 Jahren Krieg wurden im ganzen Land schätzungsweise mehr als zehn Millionen Sprengkörper eingesetzt. In der Regel explodieren bis zu 30 % der eingesetzten Munition nicht, was zu einer hohen Kontaminierung mit Blindgängern führt (FR 20.1.2025b). Nicht explodierte Kampfmittelrückstände stellen eine große Gefahr für das Leben in Syrien dar. Sie werden hauptsächlich in zwei Kategorien unterteilt. Die Erste sind Blindgänger wie Streubomben, Mörsergranaten und Granaten. Diese sind in der Regel über der Erde und daher sichtbar. Die größere Herausforderung liegt in der zweiten Kategorie von Munition: Landminen. Ehemalige Regierungstruppen haben Hunderttausende davon in verschiedenen Gebieten in Syrien vergraben – hauptsächlich auf Ackerland (BBC 23.1.2025). Die Bedrohung durch Blindgänger hat sich seit dem Sturz des Assad-Regimes am 8.12.2024 noch verschärft, weil in Homs, aber auch in Damaskus, viele Waffen, darunter auch Sprengwaffen, zurückgelassen wurden (UN News 14.1.2025). Es ist ein starker Anstieg von Vorfällen mit Blindgängern und explosiven Kampfmittelrückständen zu verzeichnen, wobei fast täglich über zivile Opfer berichtet wird (UNOCHA 12.2.2025). Die Beseitigung von Landminen und anderen militärischen Trümmern ist dringender denn je. Während sich Millionen von Flüchtlingen auf ihre Rückkehr vorbereiten, sind viele ihrer Häuser oder das, was von ihnen übrig ist, mit nicht explodierten Mörser- und Artilleriegranaten, Raketen, Minen und Sprengfallen übersät (Leb24 13.2.2025). Für die Vertriebenen und diejenigen, die versuchen, nach Hause zurückzukehren, ist die Gefahr durch Blindgänger ständig und unvermeidlich (UN News 14.1.2025). Syrien ist seit Jahren unter den drei Ländern mit der höchsten Blindgänger-Dichte (FR 20.1.2025b). In allen Gebieten, in denen in den letzten Jahren Militäroperationen stattgefunden haben, sind nicht explodierte Kampfmittel weit verbreitet, sodass es riskant ist, nach Hause zurückzukehren und ein normales Leben wieder aufzunehmen. Trotz der dringenden Notwendigkeit, sie zu beseitigen, sind die Bemühungen nach wie vor unzureichend, weil die lokalen Behörden und humanitären Organisationen es verabsäumen, ernsthafte Schritte zum Schutz der Zivilbevölkerung zu unternehmen. Am stärksten betroffen sind die Gebiete unter der Kontrolle der neuen syrischen Regierung, gefolgt von der Demokratischen Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien (Democratic Autonomous Administration of North and East Syria - DAANES) und den Gebieten der durch die Türkei unterstützten SNA (SOHR 13.2.2025). Die Vorfälle ereignen sich in verschiedenen Gebieten des Landes. Dabei kommt es zu Explosionen auf landwirtschaftlichen Flächen, wo Zivilisten arbeiten, um Ernten zu sammeln oder nach Trüffeln zu suchen, zu Explosionen in Häusern oder während der Fahrt auf den Straßen (SOHR 21.2.2025). Nach Angaben des Halo Trust, einer internationalen Organisation, die auf die Räumung von Landminen und anderen Sprengkörpern spezialisiert ist, wurden allein seit dem Sturz al-Assads durch Landminen und andere explosive Hinterlassenschaften mindestens 400 Zivilisten getötet und verletzt, wobei die tatsächliche Zahl vermutlich viel höher liegt (Halo 3.2.2025). In den letzten neun Jahren wurden mindestens 422.000 Vorfälle mit Blindgängern in 14 Gouvernements in ganz Syrien gemeldet, wobei schätzungsweise die Hälfte davon tragische Opfer unter Kindern forderte. Die Gefahr betrifft etwa fünf Millionen Kinder, die in Gebieten leben, die mit den tödlichen Sprengkörpern verseucht sind. Für Kinder sind die Auswirkungen solcher Vorfälle verheerend. Wenn sie die Explosion überleben, sind lebensverändernde Verletzungen und Behinderungen die Folge, welche oft bedeuten, dass sie nicht mehr zur Schule gehen können oder dass es für sie schwieriger ist, Zugang zu angemessener Gesundheitsversorgung zu erhalten (UN News 14.1.2025). [Weiterführende Informationen zu den Auswirkungen von Blindgängern auf Kinder finden sich im Kapitel Relevante Bevölkerungsgruppen / Kinder - Entwicklungen seit dem Sturz des Assad-Regimes (seit 8.12.2024).] Laut Syrischer Beobachtungsstelle für Menschenrechte sind von Anfang 2025 bis 13.2.2025 169 Menschen durch Kampfmittelüberreste getötet worden, darunter 31 Kinder und sechs Frauen. 205 Personen wurden verletzt. Darunter 88 Kinder und Frauen (SOHR 13.2.2025). UNOCHA zählte bei 198 Vorfällen von Dezember 2024 bis 12.2.2025 141 Getötete, darunter 24 Kinder und eine Frau, sowie 265 Verletzte, darunter 114 Kinder und 16 Frauen. Von den 136 Vorfällen im Jänner und Februar ereigneten sich 90 während Bauern ihr Land bestellten oder Tiere weideten, was zum Tod von 61 Bauern und Hirten und 93 weiteren Verletzten führte. Seit Dezember wurden in Idlib, Aleppo, Hama, Deir ez-Zour und Lattakia insgesamt 138 Minenfelder und Minenpräsenzpunkte identifiziert (UNOCHA 12.2.2025). Viele der Getöteten sind den syrischen "Weißhelmen" zufolge Bauern und Landbesitzer, die versuchten auf ihr Land zurückzukehren (BBC 23.1.2025). Großstädte wie Idlib, ar-Raqqa, Aleppo, Hama, Homs und Ost-Ghouta, ein Vorort von Damaskus, wurden durch Bombardierungen verwüstet und sind deswegen mit Blindgängern übersät. Genau das sind die am meisten bewohnten Gegenden. Dort lebten teils Hunderttausende. Die Minenfelder und nicht explodierte Sprengkörper wie Bombenreste sind übers ganze Land verteilt (FR 20.1.2025b). Al Jazeera zufolge sind Provinzen wie Aleppo, Idlib, Hama, Homs, ar-Raqqa, Deir ez-Zour und al-Hasaka und in geringerem Maße Damaskus, Dara'a und Suweida mit Streumunition und Minen verseucht (AJ 1.1.2025c).
Der Islamische Staat (IS)
Die Instabilität wirkt sich auf Lager, Haftanstalten und andere Einrichtungen im Nordosten des Landes aus. 42.500 Personen, von denen einige mutmaßliche Verbindungen zu IS haben, sind weiterhin in Haft. Darunter sind 17.700 irakische Staatsangehörige und 16.200 syrische Staatsangehörige sowie 8.600 Staatsangehörige aus anderen Ländern (UN News 10.2.2025). [Weitere Informationen zu Flüchtlingslager in Nord- und Ostsyrien finden sich im Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage - Entwicklungen seit dem Sturz des Assad Regimes (seit 8.12.2024) / Allgemeine Menschenrechtslage in den Gebieten unter der Kontrolle der kurdisch dominierten SDF - Demokratische Autonome Region Nord- und Ostsyrien (DAANES) / IDP's und Flüchtlinge.] Der IS ist in Syrien in zwei getrennten Gebieten verbreitet. Zum Ersten in der syrischen Jazira (Nordostsyrien), die von den von der Internationalen Koalition unterstützten SDF kontrolliert wird. Dort bewegt sich der IS in der südlichen Wüste der Provinz al-Hasaka, die auch mit der nordöstlichen Seite der Grenzstadt al-Bu Kamal verbunden ist, genauer gesagt mit der Stadt al-Baghouz, der letzten städtischen Hochburg des IS. Dieses Gebiet ist geografisch mit der Hatra-Wüste in der irakischen Provinz Ninive verbunden, trotz der Betonblöcke, die die beiden Länder trennen, bewegt sich der IS immer noch über die Grenze, wie ein Bewohner der ländlichen Provinz al-Hasaka gegenüber Al Jazeera bestätigt. Das zweite Gebiet, bekannt als al-Badiya ash-Shamiya (zu Deutsch: Syrische Wüste), befindet sich in der Nähe der Stadt Palmyra, östlich der Provinz Homs. Es zeichnet sich durch seine Weite aus und endet am Rande der meisten syrischen Provinzen und ist auch mit der irakischen Wüste al-Anbar verbunden, die eine wichtige Hochburg für den IS ist. Der IS profitierte früher von der Aufteilung des Einflusses entlang des Grenzstreifens zwischen den US-amerikanischen Streitkräften, die in der Militärbasis at-Tanf stationiert waren, und den iranischen Milizen, die al-Bu Kamal kontrollierten. Zusätzlich zu seiner relativ langen Erfahrung im Kampf und in der Anpassung an die Wüste konnte der IS seine Bewegung in diesem Gebiet zwischen den beiden Ländern aufrechterhalten (AJ 2.3.2025). Eine Reportage des Spiegels, bei der ein Journalist in die al-Badiya reiste und mit verschiedenen Personen vor Ort sprach, deutet an, dass der IS dort nicht mehr so stark präsent ist, sondern viele Überfälle und Angriffe von der gestürzten syrischen Regierung dem Islamischen Staat zugeschoben wurden (Spiegel 9.2.2025). Die Vielzahl der gegen den IS kämpfenden Parteien und der Zustand der Feindseligkeit oder Rivalität zwischen ihnen schuf einen Zustand der Verwirrung, der in der jüngsten Zeit (zwischen 2024 und 2023) offensichtlich wurde. Dies trug dazu bei, dass die Informationen über die Zahlen und Bewegungen der Organisation ungenau und sehr variabel sind, da es bis heute keine genaue Zahl für die Anzahl der IS-Kämpfer in Syrien gibt. Einige Quellen vor Ort deuten darauf hin, dass die Zahl der aktiven IS-Kämpfer in Syrien zwischen 900 und 1100 liegt, wobei sich der größte Teil von ihnen in der levantinischen al-Badiya befindet, während der kleinere Teil auf der syrischen Jazira (Nordostsyrien) verteilt ist (AJ 2.3.2025). Der IS hat die Sicherheitslücke ausgenutzt, die durch den Zusammenbruch des Regimes des ehemaligen syrischen Präsidenten Bashar al-Assad im vergangenen Dezember entstanden ist, so der SDF-Anführer 'Abdi. Seither wurde der IS sichtbarer und aktiver. Die Terrorgruppe nutzt Waffenlager, die sie beschlagnahmt hat, nachdem sie von Assad-treuen Kräften aufgegeben wurden. Der IS werde auch immer mutiger und schicke Terroristen aus ihren Verstecken in der Badiya in die umliegenden Städte (VOA 27.2.2025). Am 10.2.2025 stellte ein UN-Beamter fest, dass die unbeständige Lage in Syrien sehr besorgniserregend ist. Es besteht die Gefahr, dass Bestände moderner Waffen in die Hände von Terroristen fallen. Die syrische Badiya-Region wird weiterhin als Zentrum für die externe Operationsplanung des IS genutzt und ist ein wichtiges Gebiet für dessen Aktivitäten (UN News 10.2.2025). Der Abzug der USA würde eine Stärkung des IS bewirken, weil die Gruppierung die Schwäche der neuen syrischen Übergangsregierung ausnutzen wird, die nicht in der Lage ist, das gesamte syrische Staatsgebiet zu kontrollieren. Beamte warnen, dass der Abzug der US-Streitkräfte die SDF alleine lassen und die Sicherheit von mehr als 20 Gefängnissen und Flüchtlingslagern bedrohen wird, in denen mehr als 50.000 Menschen, darunter etwa 9.000 IS-Kämpfer, untergebracht sind. Ohne die US-amerikanischen Streitkräfte könnten die SDF die Gefängnisse und Lager aufgeben und Tausenden von IS-Kämpfern die Flucht ermöglichen. Der türkische Außenminister Fidan sagte Anfang Januar, dass die Türkei bereit sei, die Kontrolle über die Gefängnisse zu übernehmen, in denen IS-Gefangene untergebracht sind (AlHurra 6.2.2025a). In den letzten Jahren, nachdem der IS seine letzten städtischen Hochburgen verloren hatte, führten IS-Gruppierungen Hunderte von militärischen und sicherheitspolitischen Operationen in Syrien durch, meist in Form von Schnellangriffen auf Stellungen iranischer Milizen und Angehörige der ehemaligen syrischen Regime-Armee, zusätzlich zu aufeinanderfolgenden Angriffen auf Öltankwagen, die Öllieferungen von den syrischen Jazira-Feldern zu den Raffinerien in Homs und Baniyas transportierten. Seit der Ankündigung des Sturzes des Assad-Regimes sind die Angriffe des IS zurückgegangen, abgesehen von den üblichen Angriffen in der syrischen Region Jazira und zwei Angriffen in der levantinischen Badiya, von denen einer auf das Gasfeld von Sha'er abzielte und ein Todesopfer forderte. Dieses relative Verschwinden ist nicht unbedingt von Dauer, sondern wahrscheinlich eher vorübergehend und auf mehrere Gründe zurückzuführen, von denen die wichtigsten sind: 1. fehlende militärische Ziele durch den Abzug der Iranischen Milizen und das Auflösen der Syrischen Arabischen Armee (SAA), 2. der Einsatz militärischer Gruppierungen, die der Syrischen Freien Armee (SFA) angehörten und mittlerweile dem syrischen Verteidigungsministerium unterstellt sind, um das Machtvakuum in der Region zu schließen und wichtige strategische Positionen insbesondere an der einzigen Verbindungsstraße zwischen Deir ez-Zour und Damaskus zu übernehmen (AJ 2.3.2025).
Die Sicherheitslage in den verschiedenen Regionen Syriens variiert (VB Amman 9.2.2025). Im Folgenden wir die Sicherheitslage je nach Region dargestellt:
Zentralsyrien
Nach dem Sturz des Assad-Regimes und der Machtübernahme islamistischer Gruppen bleibt die Sicherheitslage auch in den Küsten- und Zentralregionen Syriens fragil und stark fragmentiert. Während einige Gebiete weitgehend unter der Kontrolle der neuen islamistischen Machthaber stehen, gibt es weiterhin Widerstand durch lokale Milizen, ehemalige Assad-treue Gruppen und ausländische Akteure (VB Amman 9.2.2025). Das syrische Innenministerium hat seine Sicherheitsoperationen in verschiedenen Provinzen intensiviert und dabei Elemente des gestürzten Assad-Regimes ins Visier genommen, die ihre Bewegungen in einigen Gebieten verstärkt haben. In mehreren Gebieten, insbesondere in den ländlichen Gebieten von Damaskus, Homs und Tartus, fanden groß angelegte Sicherheitsoperationen statt, bei denen eine Reihe von bewaffneten Kämpfern festgenommen und andere bei direkten Zusammenstößen neutralisiert wurden. Sicherheitsberichte bestätigen, dass diese Gruppierungen die syrische Armee und die Sicherheitskräfte ins Visier genommen hatten, um die Sicherheit zu schwächen und Chaos zu stiften. Dabei nutzen sie die schwierige geografische Lage einiger Gebiete, um sich zu verstecken und ihre Reihen neu zu formieren (AAA 1.3.2025). Damaskus ist unter der Kontrolle islamistischer Gruppierungen. Während in einigen Vierteln eine gewisse Stabilität herrscht, sind Anschläge, Attentate und gezielte Angriffe rivalisierender Gruppen weiterhin an der Tagesordnung. Israelische Luftangriffe auf mutmaßliche Waffenlager oder Stellungen von pro-iranischen Milizen haben zugenommen, während in den Außenbezirken einzelne Widerstandszellen gegen die neuen Machthaber operieren. IS-Zellen und lokale Widerstandsgruppen greifen regelmäßig Kontrollpunkte an, was zu einer angespannten Lage führt (VB Amman 9.2.2025). Bei Zusammenstößen zwischen den Streitkräften der neuen Machthaber Syriens und bewaffneten Männern der Minderheit der Drusen in der Nähe von Damaskus am 1.3.2025 wurde eine Person getötet und neun weitere verletzt, wie ein syrischer Menschenrechtsbeobachter berichtet (FR24 1.3.2025). Interne Sicherheitskräfte haben in Begleitung lokaler bewaffneter Gruppen eine Sicherheitskampagne gegen die Wohnhäuser von Offizieren in der Stadt Qatana im Hinterland von Damaskus durchgeführt, bei der Dutzende von Bewohnern der Gegend verhaftet und eine Ausgangssperre verhängt wurden. Es kam wiederholt zu Hausdurchsuchungen, begleitet von Vandalismus, Plünderungen und Verhaftungen einer Reihe von Bewohnern, darunter Männer und Frauen (SOHR 28.2.2025a). Im Umland von Damaskus kam es am 27.2.2025 zu Zusammenstößen zwischen syrischen Sicherheitskräften und bewaffneten Männern, bei denen es Verletzte gab (Shafaq 27.2.2025). Die Zunahme von Gewalt und Kriminalität in den Minderheitengebieten Syriens bleibt die größte Herausforderung für die neuen Behörden seit dem Sturz des alten Regimes im Dezember 2024. Das Land hat einen Anstieg der Angriffe erlebt, sowohl von Überbleibseln des Regimes, deren Interessen nach dem Sturz al-Assads leiden und die versuchen, das Land zu destabilisieren, als auch von allgemeinen Straftätern (AAA 1.3.2025). Die ehemals von der Assad-Regierung gehaltenen Küstenregionen Latakia und Tartus, die als Hochburgen der alawitischen Gemeinschaft galten, sind mittlerweile unter der Kontrolle islamistischer Gruppen gefallen. Der Übergang verlief jedoch nicht ohne Widerstand, da lokale alawitische Milizen, Überreste regierungstreuer Einheiten und vereinzelt russische Kräfte um ihre Einflusszonen kämpften. Während die Küste früher als sicher galt, könnten neue Konflikte zwischen islamistischen Gruppen, Assad-treuen Einheiten und möglicherweise verbleibenden russischen Kräften in den kommenden Monaten entstehen (VB Amman 9.2.2025). In der Küstenregion ist die Sicherheitslage instabil und durch wiederholte Angriffe an Kontrollpunkten und kriminelle Aktivitäten wie Plünderungen, Raubüberfälle und Entführungen, insbesondere in ländlichen Gebieten, gekennzeichnet (UNOCHA 12.2.2025). Die Region Latakia ist strategisch wichtig und beherbergt wichtige militärische Einrichtungen, die von der Assad-Regierung genutzt wurden. Russland hat hier noch Interessen, insbesondere im Hinblick auf den ehemaligen Militärflughafen Hmeimim. Vereinzelt wurden Kämpfe zwischen islamistischen Gruppen und zurückgebliebenen pro-Assad-Milizen gemeldet (VB Amman 9.2.2025). In den vergangenen zwei Monaten haben ehemalige Regimegruppierungen vier Operationen im Nordwesten des Landes durchgeführt, bei denen Angehörige der Abteilung für Militäreinsätze getötet und verletzt wurden (AAA 1.3.2025). In Tartus wurde die frühere russische Marinebasis Berichten zufolge von russischen Truppen teilweise geräumt, wobei unklar ist, ob sie vollständig aufgegeben wurde. Islamistische Gruppen haben die Kontrolle über die Stadt übernommen, aber die Präsenz von Untergrundzellen ehemaliger Assad-Anhänger könnte zu weiteren Spannungen führen (VB Amman 9.2.2025). Aufrufe zur Gewalt unter ehemaligen Assad-Anhängern haben viele Alawiten dazu veranlasst, in den syrischen Küstengouvernements Tartus und Latakia sowie in Homs zu den Waffen gegen die von HTS geführten Truppen zu greifen (LWJ 29.1.2025). Bewaffnete Männer auf zwei Motorrädern haben eine Polizeistation in der Stadt Savita in der Provinz Tartus angegriffen und Handgranaten geworfen, was zu einem bewaffneten Zusammenstoß zwischen den Angreifern und dem Personal der Station führte, bei dem einer der Mitarbeiter der Station verletzt wurde. Unterdessen wurde ein junger Zivilist aus dem Hinterland von Tartus durch verirrte Kugeln getötet, als er in einem Auto unterwegs war, berichtet die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR 28.2.2025b). In Homs, Hama und Nordwestsyrien herrscht unterdessen relative Stabilität, abgesehen von einigen Unruhen im ländlichen Homs (UNOCHA 12.2.2025). Die zentrale Region Syriens, bestehend aus Homs und Hama, bleibt nach dem Sturz des Regimes eine Zone mit unklaren Machtverhältnissen. Die Stadt Homs, die einst ein zentrales Schlachtfeld im syrischen Bürgerkrieg war, ist nun ein Gebiet mit sporadischen Kämpfen zwischen islamistischen Gruppen und Widerstandsbewegungen, darunter ehemalige regierungstreue Milizen und lokale Stämme. Während die islamistischen Machthaber Kontrolle über die Stadt beanspruchen, gibt es Berichte über vereinzelte Scharmützel und Anschläge (VB Amman 9.2.2025). Kämpfer der Gruppierung Islamischer Staat (IS) haben am 10.12.2024 in der syrischen Region Homs mindestens 54 Menschen getötet, die alle ehemalige Mitglieder der Regierung von Bashar al-Assad gewesen sein sollen und nach deren Zusammenbruch versucht haben sollen zu fliehen (MEE 10.12.2024). Ähnlich wie Homs ist auch Hama von sozialen Spannungen und wirtschaftlicher Unsicherheit geprägt. Einige ländliche Gebiete außerhalb der Stadt stehen noch unter Einfluss lokaler Gruppierungen oder einzelner Widerstandszellen, die sich der neuen Ordnung widersetzen. Die humanitäre Lage in beiden Städten bleibt kritisch, da die Infrastruktur stark beschädigt ist und viele der ehemaligen staatlichen Versorgungsstrukturen nicht mehr funktionieren. Ar-Raqqa, die ehemalige Hauptstadt des IS, bleibt ein Brennpunkt der Unsicherheit. Teile der Region sind nach wie vor von lokalen kurdischen Einheiten der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) kontrolliert, was die Spannungen zusätzlich erhöht. Nach der Übernahme islamistischer Gruppierungen in anderen Teilen des Landes ist die Lage in ar-Raqqa weiterhin angespannt, da sich verschiedene Gruppen um die Kontrolle streiten. IS-Schläferzellen sind weiterhin aktiv und haben in den letzten Monaten gezielte Anschläge auf islamistische Sicherheitskräfte und Verwaltungsstrukturen verübt. Letztlich bleibt auch die Sicherheitslage in Deir ez-Zour hochgradig instabil. Die Region war bereits zuvor ein zentrales Schlachtfeld gegen den IS, und obwohl sich die Machtdynamik geändert hat, sind Guerilla-Taktiken, Anschläge und bewaffnete Konflikte weiterhin an der Tagesordnung. Die Kontrolle über Deir ez-Zour ist stark fragmentiert, da verschiedene islamistische Gruppierungen, die SDF sowie lokale Stammesmilizen um Einfluss kämpfen. Die neuen islamistischen Machthaber Syriens haben keine einheitliche Kontrolle über die Region, da verschiedene Gruppen um Territorium ringen. HTS und andere Fraktionen versuchen, ihre Positionen zu stärken, was zu Zusammenstößen mit lokalen Stämmen und ehemaligen regierungstreuen Milizen führt. Die SDF hält weiterhin einige Gebiete, insbesondere im nördlichen und östlichen Teil der Provinz, was die Spannungen mit islamistischen Gruppen und türkisch unterstützten Milizen weiter verschärft. Der IS ist weiterhin aktiv und nutzt das Machtvakuum, um Schläferzellen zu reaktivieren. In ländlichen Gebieten verübt der IS regelmäßig Anschläge auf Sicherheitskräfte, Checkpoints und lokale Stammesführer, die mit den neuen Machthabern kooperieren. Die sich verschlechternde Sicherheitslage ermöglicht es dem IS, erneut Rekruten anzuwerben, insbesondere unter den wirtschaftlich benachteiligten Stämmen. Deir ez-Zour war schon vor dem Sturz al-Assads ein Zentrum für Schmuggel und illegalen Ölhandel, eine Situation, die sich nun weiter verschärft hat. Kriminelle Netzwerke, bewaffnete Stämme und ehemalige regierungstreue Gruppen kontrollieren Teile der Ölfelder und Routen für Schmuggelware, was zu bewaffneten Auseinandersetzungen um wirtschaftliche Ressourcen führt. Die wirtschaftliche Lage ist katastrophal, da Versorgungslinien unterbrochen wurden und viele Menschen ohne Einkommen oder humanitäre Hilfe auskommen müssen (VB Amman 9.2.2025).
Allgemeine Menschenrechtslage: Entwicklungen seit dem Sturz des Assad Regimes am 08.12.2024
Informationen zur Menschenrechtslage in Syrien sind derzeit schwer zu überblicken und teils sehr widersprüchlich. Im Folgenden wird der aktuelle Stand dargelegt, wie er sich aus öffentlich zugänglichen Quellen ergibt. Teilweise werden Falschinformationen, insbesondere auf Social-Media-Kanälen verbreitet, die in weiterer Folge auch Eingang in andere Berichte finden. Die Menschenrechtslage ist von Falschinformationen besonders betroffen.
HRW konstatiert, dass nichtstaatliche bewaffnete Gruppierungen in Syrien, darunter HTS und Gruppierungen der SNA, die am 27.11.2024 die Offensive starteten, die nach zwölf Tagen die syrische Regierung stürzte, im Jahr 2024 für Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen verantwortlich waren (HRW, 16.01.2025). SOHR befürchtet eine Rückkehr zu einer „dunklen Ära“, weil die Verhaftungen und Hinrichtungen angesichts der sich verschlechternden Sicherheitslage zunehmen (SOHR, 02.02.2025). Das SNHR dokumentierte im Jänner 2025 129 Fälle von willkürlichen Verhaftungen durch die Übergangsregierung (SNHR, 04.02.2025b) und im Februar 2025 21 Fälle (SNHR, 03.03.2025).
Der Übergang von dem Regime unter Baschar Al-Assad zur Interimsregierung unter HTS-Führung soll relativ reibungslos verlaufen sein. Berichte über Vergeltungsmaßnahmen, Rachemorde und religiös motivierte Gewalttaten waren minimal. Plünderungen und Zerstörungen konnten schnell unter Kontrolle gebracht werden, die aufständischen Kämpfer wurden diszipliniert (AP, 15.12.2024b). Es gab keine größeren Massaker oder Rachekampagnen (DW, 12.12.2024).
Seit die Rebellengruppierungen am 05.12.2024 die Kontrolle über das Gouvernement Hama übernommen haben, hat das SNHR eine Reihe von Verstößen dokumentiert, darunter unrechtmäßige Tötungen, Zerstörung von Häusern und Angriffe auf öffentliches und privates Eigentum (SNHR, 19.12.2024). Mitte Jänner 2025 nahm die Welle von Selbstjustiz-Angriffen auf ehemalige Mitarbeiter des Regimes zu. Menschen wurden zu Opfern von Attentaten und Ausschreitungen. Während einige der Betroffenen Personen sind, deren Beteiligung an den Misshandlungen der Zivilbevölkerung durch das Regime nach 2011 gut dokumentiert ist, waren an anderen Vorfällen kürzlich versöhnte ehemalige Angehörige des Regimes, Wehrpflichtige mit niedrigem Rang und scheinbar zufällig ausgewählte junge Männer aus der Gemeinschaft der Alawiten betroffen (Etana, 17.01.2025). Es werden Rachemorde durch bewaffnete Gruppierungen durchgeführt, von denen einige behaupten, dass diese mit dem Military Operations Department verbunden wären. Sie zielen aus politischen bzw. konfessionellen Motiven auf Zivilisten ab (SOHR, 26.01.2025). Die Provinzen Hama und Homs waren von diesen Entwicklungen am stärksten betroffen, da sie zum Schauplatz häufiger Konfrontationen wurden. In den Küstengebieten wie Latakia und Tartus kam es zu einer Verschlechterung der Sicherheitslage und zu einer Zunahme an Morden und Hinrichtungen (diese Provinzen stellten das Kernland des Assad-Regimes dar und wurden in den Bürgerkriegsjahren weitgehend von Kampfhandlungen verschont). Am 11.01.2025 zählte SOHR seit dem 08.12.2024 80 Fälle von Tötungen, darunter Hinrichtungen vor Ort, bei denen 157 Menschen getötet wurden, unter den Getöteten waren Frauen und Kinder (SOHR, 11.01.2025). Insbesondere in den Regionen Hama und Homs, sowie in den Küstengebieten Latakia und Tartus kam es zu willkürlichen Tötungen und Hinrichtungen vor Ort (SOHR, 03.01.2025). Nach Berichten von lokalen Aktivisten und Augenzeugen war die Gruppierung Ansar at-Tawhid an einem großen Teil dieser Verstöße beteiligt, zusätzlich zu anderen Gruppierungen, die nicht genau identifiziert werden konnten (SNHR, 19.12.2024). Mindestens 124 Menschen wurden bei einer Reihe von gewalttätigen Zwischenfällen zwischen dem 08.12.2024 und dem 08.01.2025 getötet, darunter bei Racheakten, Vandalismus, Morden und Hinrichtungen in den Provinzen Homs und Hama sowie in den syrischen Küstenstädten. Berichten zufolge wurde ein erheblicher Teil der Gewalt durch die Verbreitung von Videos mit Falschmeldungen in den sozialen Medien ausgelöst, deren Ziel es war, die sektiererischen Spannungen zu verschärfen (MAITIC, 09.01.2025). Wegen eines unbestätigten Angriffes auf einen alawitischen Schrein wurde im Dezember 2024 eine Welle von Protesten unter der alawitischen Gemeinschaft in Homs, Latakia, Tartus und Teilen von Damaskus ausgelöst. Die Proteste führten zu Militäroperationen des neuen syrischen Sicherheitsapparates, um ehemalige Kämpfer des Regimes zu vertreiben (AlMon, 11.01.2025). Dem Middle East Institute zufolge ist eines der dringendsten Probleme nicht sektiererisch motivierte Angriffe, sondern vielmehr der undurchsichtige Prozess der gezielten Verfolgung von Männern, die in den Streitkräften des Regimes gedient haben. Im Allgemeinen richten sich die Übergriffe der Sicherheitskräfte gegen Männer, von denen angenommen wird, dass sie Verbrechen begangen haben (unabhängig davon, ob dies bewiesen ist oder nicht), und nicht gegen irgendwelche Alawiten, denen die Soldaten zufällig begegnen. Die Fälle, die die größte Angst geschürt haben, sind die Entführungen und Hinrichtungen von ehemaligen Mitgliedern des Regimes (MEI, 21.01.2025). France 24 zufolge zeigen Berichte und Videos in den sozialen Medien in Syrien, dass Vergeltungsmorde begonnen haben (FR24, 13.12.2024). Es kursierten Bilder von Regierungsbeamten des ehemaligen Regimes, die unter Gewaltanwendung durch die Straßen geschleift wurden (PBS, 16.12.2024). Seit der Machtübernahme durch die neue Regierung haben die Sicherheitsbehörden eine Reihe von Sicherheitskampagnen durchgeführt, die darauf abzielen, die „Überbleibsel des früheren Regimes“ zu verfolgen. Hunderte von Menschen, die ihren Status bei den neuen Behörden nicht geregelt haben, wurden verhaftet. Anwohner und Organisationen haben von Misshandlungen berichtet, darunter die Beschlagnahmung von Häusern und Hinrichtungen vor Ort (AAA, 02.02.2025). Bei einer Sicherheitskampagne in Homs gegen Regimeunterstützer im Jänner 2025 kam es zur Festnahme einer Reihe von Männern, darunter auch Zivilisten, denen Verstöße im Zusammenhang mit der inoffiziellen Beschlagnahme von Fahrzeugen nachgewiesen wurden. Die meisten Angehörigen des Military Operations Department waren diszipliniert, mit Ausnahme einiger von offizieller Seite als Einzelfälle bezeichneten Vorfällen, die das Zerbrechen von Musikinstrumenten und Wasserpfeifen sowie von Flaschen mit alkoholischen Getränken und die Beschädigung der Einrichtung einiger Häuser beinhalteten. Einige Häftlinge wurden zu erniedrigenden Handlungen gezwungen, wie dem Imitieren von Tiergeräuschen, und sie wurden beleidigt und mit sektiererischen Phrasen beschimpft (Enab, 06.01.2025). Auch in Damaskus kam es am 08.01.2025 zu Razzien durch die neuen Sicherheitsbehörden. Sie folgten auf eine dreiwöchige Kampagne im alawitischen Kernland an der Küste (National, 08.01.2025). Die Civil Peace Group, eine zivilgesellschaftliche Gruppe, stellte den Tod von zehn Personen, die bei Sicherheitskampagnen und Razzien festgenommen worden waren, in den Gefängnissen des Military Operations Department im Zeitraum vom 28.01.2025 bis zum 01.02.2025 in verschiedenen Teilen von Homs fest (AAA, 02.02.2025). Lokale bewaffnete Gruppen, die unter dem Kommando des Military Operations Department operieren, führten Racheaktionen, schwere Übergriffe und willkürliche Verhaftungen durch, wobei sie Dutzende von Menschen ins Visier nahmen, sie demütigten und erniedrigten sowie religiöse Symbole angriffen (SOHR, 28.01.2025). Die neue Regierung reagierte auf die Vorwürfe von Menschenrechtsaktivisten mit Festnahmen von Dutzenden Mitgliedern örtlicher bewaffneter Gruppen, die unter der Kontrolle der neuen Machthaber stünden, wegen ihrer Beteiligung an den „Sicherheitseinsätzen“ in der Region Homs (Spiegel, 27.01.2025). Zuvor hatten die neuen Machthaber Mitglieder einer „kriminellen Gruppe“ beschuldigt, sich während eines Sicherheitseinsatzes als „Angehörige der Sicherheitsdienste“ ausgegeben zu haben (Zeit Online, 27.01.2025). Ein Überfall auf eine syrische Sicherheitspatrouille durch militante Anhänger des gestürzten Staatschefs Baschar Al-Assad eskalierte am 06.03.2025 zu Zusammenstößen, bei denen innerhalb von vier Tagen mehr als 1.000 Menschen getötet wurden (SOHR, 10.03.2025a). Bewaffnete Männer, die der neuen syrischen Regierung treu ergeben sind, führten Hinrichtungen vor Ort durch und sprachen von einer Säuberung des Landes, wie Augenzeugen und Videos belegen. Sie lieferten ein grausames Bild eines harten Vorgehens gegen die Überreste des ehemaligen Assad-Regimes, das in gemeinschaftliche Morde ausartete (CNN, 09.03.2025). Menschenrechtsberichten zufolge waren von der Türkei unterstützte Gruppierungen an „systematischen ethnischen Säuberungsaktionen“ und groß angelegten „Massakern“ gegen Zivilisten in Baniyas, Tartus und Latakia beteiligt, bei denen Hunderte von Menschen, darunter auch Frauen und Kinder, getötet wurden (LebDeb, 10.03.2025). Mitglieder des Verteidigungsministeriums und die sie unterstützenden Kräfte haben Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen begangen, ohne dass sie rechtliche Konsequenzen fürchten müssen. Insgesamt wurden 1.093 Todesopfer verzeichnet (SOHR, 11.03.2025). Dem Leiter von SOHR zufolge wurden 745 alawitische Zivilisten aus konfessionellen Gründen getötet, wobei er betonte, dass sie nicht an den Kämpfen beteiligt waren oder mit dem Regime in Verbindung standen (Sky News, 09.03.2025a). Des Weiteren gibt er an, dass in einigen Gebieten Zivilisten abgeschlachtet wurden, während andere durch Erschießungskommandos hingerichtet wurden (AlHurra, 09.03.2025), wie in den Stadtvierteln Baniyas und al-Qusour im Gouvernement Tartus, wo 92 Bürger durch ein Erschießungskommando des Ministeriums für Verteidigung und innere Sicherheit hingerichtet wurden (SOHR, 10.03.2025e). Die meisten der von Regierungstruppen getöteten Zivilisten waren Alawiten, aber auch einige Christen wurden als tot bestätigt. Unter den getöteten Aufständischen des ehemaligen Regimes befanden sich Sunniten, Alawiten und Christen (TWI, 10.03.2025). In den Städten im Gebiet zwischen Baniyas und Qadmous kam es zu Massentötungen, darunter auch von Kindern und älteren Menschen (AlHurra, 09.03.2025). Zehntausende Häuser wurden laut Aussage des Leiters von SOHR geplündert und niedergebrannt (Sky News, 09.03.2025a). Der UN-Sondergesandte Geir Pedersen sprach über Berichte von Menschen, die im Kreuzfeuer getötet wurden, und schwere Misshandlungen in der Haft. Pedersen prangerte Entführungen, Plünderungen, Beschlagnahmungen von Eigentum und Zwangsräumungen von Familien aus staatlichen Wohnungen an. Er forderte alle bewaffneten Akteure dazu auf, diese Art von Aktionen zu stoppen, ihre Zusicherungen mit konkreten Maßnahmen zu untermauern, und an einem umfassenden Rahmen für eine Übergangsjustiz zu arbeiten (AJ, 13.02.2025b).
Der Exekutivdirektor der Organisation Christians for Democracy, stimmt der Rechtfertigung der neuen syrischen Regierung zu, dass das, was geschieht, nicht die Politik der Übergangsregierung widerspiegelt. Er hat die Verstöße in zwei Kategorien eingeteilt: Verbrechen und Übergriffe, die von Einzelpersonen mit der Absicht begangen werden, sich an bestimmten Personen oder an denen, die mit dem früheren Regime kollaboriert haben, zu rächen, und Übergriffe, die von einigen extremistischen Gruppierungen begangen werden, die mit der von der neuen Regierung in Damaskus beschlossenen Politik nicht einverstanden sind. Die Übergangsregierung zieht diejenigen zur Rechenschaft, die nachweislich an Übergriffen gegen Zivilisten beteiligt waren (SOHR, 02.02.2025).
Die syrische Übergangsregierung unter Asch-Scharaa hat zugesagt, dass die Verantwortlichen für Gewalttaten durch das gestürzte Assad-Regime zur Rechenschaft gezogen werden. Der Weg dorthin ist jedoch schwierig, da die Zahl der Opfer nicht genau bekannt ist und die Täter noch nicht identifiziert werden konnten (BBC, 13.12.2024). HTS möchte die an staatlicher Folter beteiligten Ex-Offiziere auflisten und sie als Kriegsverbrecher zur Rechenschaft ziehen. Dafür setzte sie sogar eine Belohnung aus, für Informationen über ranghohe Offiziere von Armee und Sicherheitsbehörden, die an Kriegsverbrechen beteiligt waren (FAZ, 10.12.2024).
Die von der Türkei unterstützten Gruppierungen plünderten nach der Eroberung von Manbidsch das Eigentum von kurdischen Bürgern und führten Tötungen durch. Sie führten Racheaktionen durch, brannten Häuser nieder und demütigten Kurden (SOHR, 09.12.2024; ISW, 16.12.2024). Eine Mitarbeiterin von HRW erklärte, dass die SNA und die türkischen Streitkräfte ein klares und beunruhigendes Muster rechtswidriger Angriffe auf Zivilisten und zivile Objekte gezeigt haben und diese sogar zu feiern scheinen. Die türkischen Streitkräfte und die SNA haben eine schlechte Menschenrechtsbilanz in den von der Türkei besetzten Gebieten Nordsyriens. HRW hat festgestellt, dass SNA-Gruppierungen und andere Gruppierungen, darunter Mitglieder der türkischen Streitkräfte und Geheimdienste, Menschen, darunter auch Kinder, entführt, rechtswidrig festgenommen und inhaftiert haben, sexuelle Gewalt und Folter begangen haben und sich an Plünderungen, Beschlagnahme von Land und Wohnraum sowie Erpressung beteiligt haben (HRW, 30.01.2025). In den letzten Jahren sollen SNA-Kämpfer schwere Menschenrechtsverletzungen gegenüber kurdischen Gemeinden in Afrin und im Umland von Aleppo begangen haben. Sie wurden beschuldigt, willkürliche Verhaftungen, Inhaftierungen ohne Kontakt zur Außenwelt, Entführungen und Folter begangen zu haben. Während der Offensive „Abschreckung der Aggression“ hat HTS mehrere Kämpfer von SNA-Gruppen nördlich von Aleppo im Stadtviertel Sheikh Maqsoud festgenommen und sie beschuldigt, kurdische Zivilisten ausgeraubt und verletzt zu haben, so ein Experte (MEE, 07.12.2024). Die CoI on the Syrian Arab Republic berichtete weiterhin von Verhaftungen, Gewalt und finanzieller Erpressung durch die Militärpolizei der SNA und bestimmter Gruppierungen, insbesondere der Sultan-Suleiman-Shah-Division und der Sultan-Murad-Division (UNHRC, 12.08.2024). SNHR dokumentierte im Jänner 2025 41 Fälle von willkürlichen Verhaftungen durch Gruppierungen der SNA (SNHR, 04.02.2025b) und im Februar 2025 34 Fälle, darunter eine Frau (SNHR, 03.03.2025). Menschenrechtsberichten zufolge waren es auch zwei von der Türkei unterstütze Gruppierungen, die Anfang März 2025 an „systematischen ethnischen Säuberungsaktionen“ und groß angelegten „Massakern“ gegen Zivilisten in Banyas, Tartus und Latakia beteiligt waren, bei denen Hunderte von Menschen, darunter auch Frauen und Kinder, getötet wurden (LebDeb, 10.03.2025).
Nach Assads Sturz am 08.12.2024 sind einem französisch-syrischen Schriftsteller sowie syrischen Künstlern zufolge neue Formen der Zensur entstanden. Die Äußerung von nichtislamischen Überzeugungen ist in Syrien zu einer ernsthaften Herausforderung geworden. Die syrischen Behörden haben ein neues Gesetz erlassen, das eine einjährige Gefängnisstrafe für jeden vorsieht, der das „Verbrechen der Gotteslästerung“ begeht. Die Angst vor Meinungsäußerung ist im öffentlichen Raum immer noch spürbar. Wenn Themen wie romantische Beziehungen, Säkularismus, Meinungsfreiheit und v.a. Religion diskutiert werden, vergewissern sich die Sprecher, ob kein HTS-Mitglied in der Nähe ist (MC Dawliya, 29.01.2025). Am 26.12.2024 erließ das Informationsministerium ein Verbot der Veröffentlichung oder Verbreitung „jeglicher Inhalte oder Informationen mit sektiererischem Charakter, die darauf abzielen, Spaltung und Diskriminierung zu fördern“ (FR24, 26.12.2024b).
Kinder - Entwicklungen seit dem Sturz des Assad-Regimes (seit 8.12.2024)
[Derzeit liegen keine ausreichenden Informationen zur Lage von Kindern in Syrien vor. Im Folgenden wird der aktuelle Stand dargelegt, wie er sich aus öffentlich zugänglichen Quellen ergibt. Teilweise werden Falschinformationen, insbesondere auf Social-Media Kanälen verbreitet, die in weiterer Folge auch Eingang in andere Berichte finden. Die Vorgehensweise der Recherche und Ausarbeitung der vorliegenden Länderinformation entspricht den in der Methodologie der Staatendokumentation festgeschriebenen Standards. Weder wird ein Anspruch auf Vollständigkeit noch auf Richtigkeit der vorliegenden Informationen erhoben. Weitere Informationen zur vorliegenden Länderinformation finden sich im Kapitel Länderspezifische Anmerkungen.]
UNICEF zufolge benötigen 7,5 Millionen Kinder humanitäre Hilfe, 6,4 Millionen benötigen dringend Schutz, weil Unsicherheit und wirtschaftliche Not die Verletzung von Kinderrechten, Angst und Not vertiefen. 3,7 Millionen Kinder benötigen Ernährungshilfe. Mehr als 2,4 Millionen Kinder gehen nicht zur Schule und eine Million weitere Kinder laufen Gefahr, die Schule abzubrechen. Dadurch sind sie einem höheren Risiko von Kinderarbeit, Kinderheirat, Menschenhandel sowie Rekrutierung und Einsatz durch Konfliktparteien ausgesetzt. (UNICEF 17.12.2024). Mehr als 650.000 Kinder zeigen Anzeichen von Wachstumsstörungen aufgrund schwerer Unterernährung (OHCHR 3.2.2025).
Nach dem Sturz des Assad-Regimes ist das Schicksal von Hunderten von Kindern, die nach der Verhaftung ihrer Eltern verhaftet oder in Waisenhäuser gebracht wurden, weiterhin unklar. Das Medienbüro des syrischen Ministeriums für Soziales und Arbeit teilte mit, dass es mehrere geheime Bücher gefunden habe, die von den Sicherheitsbehörden während der Herrschaft al-Assads verschickt wurden und die die Überführung einer Reihe von Kindern in Waisenhäuser betreffen. Einige Mitarbeiter von Waisenhäusern haben zugegeben, dass eine Reihe von Kindern zu ihnen gebracht wurde und dass die Kinder manchmal aufgefordert wurden, die Namen ihrer Eltern zu ändern oder sie als verstorben zu registrieren (Arabiya 12.1.2025b).
Kinder sind der Gefahr von Landminen und Blindgängern in besonderem Maße ausgesetzt. Oft werden Blindgänger mit Spielzeug verwechselt oder stellen Gegenstände dar, die Kinder neugierig machen. Seit 2020 sind mehr als 1.260 Kinder durch Kampfmittelreste getötet worden (UNICEF 17.12.2024). In den letzten neun Jahren passierten 422.000 Zwischenfälle mit Blindgängern, bei der Hälfte davon waren Kinder involviert. 2024 wurden 116 Kinder durch nicht explodierte Munition oder Minen getötet oder verletzt. Blindgänger sind die Hauptursache für Opfer unter Kindern. Schätzungen zufolge sind fünf Millionen Kinder im ganzen Land gefährdet (UN News 14.1.2025).
Bildung und Schulen
Über zwei Millionen Kinder gehen nicht zur Schule, und viele Schulen wurden zerstört oder beschädigt (UNESCWA 26.1.2025). Der Bildungssektor steht aufgrund der Zerstörung der Infrastruktur und des wirtschaftlichen Drucks vor erheblichen Hindernissen, was zu hohen Abbrecherquoten führt, insbesondere bei Mädchen. Viele Familien ziehen es vor, anstatt ihre Kinder zur Schule zu schicken, sie arbeiten zu lassen, um mit der wirtschaftlichen Not fertig zu werden. 35 % der Kinder im schulpflichtigen Alter besuchen keine Schule, was durch die Zerstörung der Infrastruktur und den wirtschaftlichen Druck noch verschärft wird. Das bedeutet, dass mehr als 2,4 Millionen Kinder keine Bildungschancen haben, während mehr als eine Million Kinder einem ähnlichen Risiko ausgesetzt sind (IHH 10.1.2025).
Flüchtlingskinder sehen sich großen Hindernissen für den Schulbesuch gegenüber, darunter überfüllte Lager, unzureichende Ressourcen und begrenzter Zugang zu Schulmöglichkeiten (UNESCWA 26.1.2025). Die Mehrheit der Lager in Nordwestsyrien, in den Gouvernements Aleppo und Idlib haben keine Schule. Meistens aufgrund einer niederen Anzahl an Lagerbewohnern in einigen Lagern gibt es möglicherweise alternative Bildungsprogramme oder die Kinder pendeln zur Schule in nahe gelegene Städte. Nur 40 % der Schulen verfügen über ausreichend Trinkwasser. Andererseits verfügen nur 35 % über ausreichend Toilettenwasser. Die Studie ergab eine vielfältige Bildungslandschaft in Lagerschulen, wobei die meisten den ersten und zweiten Zyklus der Grundbildung anbieten und nur sehr wenige bis zur Sekundarstufe reichen, was dazu führt, dass viele Schüler im Sekundarschulalter Schulen außerhalb der Lager besuchen (ACU 30.6.2024).
Das Bildungsministerium unter der Leitung des neu ernannten Ministers al-Qadri kündigte am 1.1.2025 umfassende Reformen des nationalen Lehrplans an, die eine breite Debatte ausgelöst haben. Die vorgeschlagenen Reformen, die alle Bildungsstufen betreffen, beinhalten erhebliche Überarbeitungen, wie die Streichung von Inhalten, die mit dem gestürzten Assad-Regime in Verbindung stehen, die Umformulierung von Passagen über Götter in Geschichte- und Philosophiebüchern, die Umschreibung oder Streichung des Fachs Englisch, das Ersetzen des Fachs "Nationale Bildung" durch das Fach "Islamische oder Christliche Religionslehre" (TNA 2.1.2025b). Die abgeänderten Lehrpläne sollen bestehen bleiben, bis Fachausschüsse gebildet werden, um die Lehrpläne zu überarbeiten (Sky News 2.1.2025). Im Gouvernement Suweida wurde daraufhin zu Protesten aufgerufen (Tayyar 1.1.2025).
Im Nordosten Syriens in den von den Kurden kontrollierten Gebieten haben über 50.000 Kinder, darunter auch Kinder mit Behinderungen, immer noch keinen Zugang zu Bildung, da ihre Schulen als Notunterkünfte genutzt werden (UNOCHA 30.1.2025).
Kinder in den Gebieten unter der Kontrolle der kurdisch dominierten SDF - Demokratische Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien (DAANES)
[Im vorliegenden Dokument wurde auf die allgemeine Lage nach dem Umbruch am 8.12.2024 fokussiert. Die Lage in von den Kurden dominierten Gebieten unter der Kontrolle der kurdisch dominierten SDF – Demokratische Administration von Nord- und Ostsyrien (DAANES) hat sich bisher nicht wesentlich verändert und wurde daher aufgrund zeitlicher, personeller und finanzieller Ressourcen nicht in der gewohnten Tiefe bearbeitet. Für Fragestellungen dazu, bitten wir auf die Vorversion der Länderinformation zurückzugreifen bzw. uns mittels einer Anfrage zu kontaktieren. Die Einarbeitung aktueller Quellen und Informationen zur Lage in der DAANES wird zeitnah mittels Aktualisierung erfolgen. Weitere Informationen zur vorliegenden Länderinformation finden sich im Kapitel Länderspezifische Anmerkungen.]
Im Gesellschaftsvertrag von 2023 der Demokratischen Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien (DAANES) ist im Artikel 55 festgeschrieben, dass die Rechte von Kindern geschützt und die Anwendung von Gewalt gegen sie, ihre Beschäftigung, Ausbeutung und Rekrutierung verboten sind. Des Weiteren legt Artikel 52 fest, dass die Jugendlichen das Recht haben, sich selbstständig zu organisieren und sich organisiert und freiwillig an allen Lebensbereichen zu beteiligen (RIC 14.12.2023).
Im Nordosten Syriens in den von den Kurden kontrollierten Gebieten haben über 50.000 Kinder, darunter auch Kinder mit Behinderungen, immer noch keinen Zugang zu Bildung, da ihre Schulen als Notunterkünfte genutzt werden (UNOCHA 30.1.2025).
Beweiswürdigung:
Die Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die auszugsweise wiedergegebenen aktuellen Länderberichte zu Syrien nach dem Sturz des Assad-Regimes. Angesichts der Aktualität und Plausibilität dieser Berichte sowie des Umstandes, dass diese Berichte auf verschiedenen voneinander unabhängigen dort wiedergegebenen Quellen beruhen und ein übereinstimmendes, in sich schlüssiges und nachvollziehbares Gesamtbild liefern, besteht für das Gericht kein Grund, an der Richtigkeit der ihnen zu entnehmenden Informationen zu zweifeln.
Die Feststellungen hinsichtlich der Lebensumstände der BF, der Familie, des Aufwachsens und der Umstände und des Zeitpunktes der Ausreise der BF1 aus Syrien, der Aufenthaltsorte und der wirtschaftlichen Situation der Familienmitglieder beruhen auf den diesbezüglich unbedenklichen Angaben der BF1 gegenüber der Polizei und dem BFA.
Die Gebietskontrolle von Deir ez-Zor ergab sich aus der aktuellen Version der Syria-Live-Map (https://syria.liveuamap.com).
Die Unbescholtenheit der BF1 in Österreich ergibt sich aus dem eingeholten Strafregisterauszug.
Aus den Länderberichten unter Berücksichtigung der Feststellungen zur Person der BF ergibt sich, dass insbesondere der mj. BF2, aber auch die BF1 im Falle ihrer Rückkehr nach Deir ez-Zor aufgrund der dort vorherrschenden Sicherheitslage mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einem realen Risiko einer Bedrohung ihres Lebens oder ihrer körperlichen Unversehrtheit ausgesetzt wäre:
Dem „Country Focus“-Bericht der EUAA zu Syrien vom Juli 2025 kann entnommen werden (S. 158 ff), dass die Anzahl der Sicherheitsvorfälle (darunter Gefechte, Explosionen/entfernte Gewalt und Gewalt gegen Zivilisten) im Gouvernement Deir ez-Zor seit dem Sturz des Assad-Regimes im Dezember 2024 anhaltend bei einem Niveau von etwa 100 pro Monat liegt. Während in anderen Provinzen ein deutlicher Rückgang in den letzten Monaten zu verzeichnen war (s. etwa zu Aleppo S. 107, mit zuletzt nur mehr rund 50 Vorfällen pro Monat), weist Deir ez-Zor demnach eine anhaltend prekäre Sicherheitslage auf. Der EUAA-Bericht nennt hier als Grund insbesondere die Präsenz von IS-Zellen, die auch zu zivilen Opfern geführt habe (S. 160). Dabei sei Deir ez-Zor auch das einzige Gouvernement, wo sich die Sicherheitslage in der (Provinz-)Hauptstadt ähnlich schlecht wie (und nicht besser als) im ländlichen Umland darstellt. Dies mag darauf zurückzuführen sein, dass die aus der HTS hervorgegangene neue syrische Regierung gerade in dieser Provinz nur eine schwache Kontrolle hat, weil verschiedene islamistische Gruppierungen und lokale Stammesmilizen miteinander um die Vorherrschaft ringen; kriminelle Netzwerke, bewaffnete Stämme und ehemalige regierungstreue Gruppen kontrollieren Teile der Ölfelder und Routen für Schmuggelware (LIB S. 56).
Nach einem vom Danish Immigration Service im Mai 2025 befragten Journalisten hält die Bedrohung durch den IS, der sicherheitsrelevante, aber auch zivile Ziele angreift, an und nimmt sogar zu (S. 161). Ein Großteil der IS-Angriffe im kurdischen Selbstverwaltungsgebiet (AANES) entfällt auf die Provinz Deir ez-Zor.
Bezeichnend ist auch, dass es im Zeitraum von 1. März bis 31. Mai 2025 in Deir ez-Zor zu 307 Sicherheitsvorfällen gekommen ist, was die höchste Zahl in allen syrischen Gouvernements in diesem Zeitraum darstellt. Ein großer Teil davon entfiel auf Gewalt gegen Zivilisten sowie Explosionen (S. 162). Letztere gehen auf Kampfmittelrückstände (Landminen und Blindgänger) zurück, wobei das Gouvernement Deir ez-Zor die höchste Dichte an solchen Vorfällen zu verzeichnen hat (S. 163 f): Deir ez-Zor bleibe nach dem Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (UNOCHA) das am stärksten kontaminierte Gebiet, in welchem rund ein Viertel aller Vorfälle mit Kampfmittelrückständen in Syrien stattfänden. Minen, die vom Assad-Regime und anderen Akteuren in Deir ez-Zor platziert worden seien, stellen weiterhin eine direkte Bedrohung für das Leben von Zivilpersonen dar. Zwar passierten die meisten Vorfälle in diesem Zusammenhang im Rahmen von landwirtschaftlichen Tätigkeiten. Das LIB der Staatendokumentation (LIB S. 50 f) hebt jedoch hervor, dass auch und gerade Kinder besonders gefährdet sind, durch Minenexplosionen verletzt zu werden, zumal sie die Gefährlichkeit von Minen nicht erkennen können (Verwechslung mit Spielzeug, zB „Schmetterlingsmine“, LIB S. 217). Im Übrigen bestätigt auch die auf S. 52 im LIB ersichtliche Karte der BBC die besonders hohe Kontamination mit Kampfmittelrückständen in dieser Provinz.
In einer Gesamtbetrachtung der allgemeinen Sicherheitslage in der Provinz Deir ez-Zor ist daher davon auszugehen, dass beide BF dort als Zivilpersonen bloß aufgrund ihrer Anwesenheit mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer ernsthaften Bedrohung (im Sinn einer realen Gefahr) ihres Lebens oder ihrer körperlichen Unversehrtheit ausgesetzt wären. Beide BF gehören zu vulnerablen Personengruppen (Mutter eines Neugeborenen bzw. Neugeborenes), welchen im islamisch-patriarchal geprägten Syrien generell wenig Schutz zukommt. Der BF2 vermag als Kind die bestehenden Sicherheitsgefahren seitens des IS bzw. durch Kampfmittelrückstände noch nicht ausreichend zu unterscheiden und zu erkennen. Die BF1 ist wiederum als Mutter eines Neugeborenen in einer Sorgeverpflichtung, die es ihr im Rahmen der dabei notwendigen Erledigungen nicht erlaubt, allen Sicherheitsgefahren ohne Risiko auszuweichen.
Rechtlich folgt:
Stellt ein Familienangehöriger von einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist (Z 1), einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8) zuerkannt worden ist (Z 2) oder einem Asylwerber (Z 3) einen Antrag auf internationalen Schutz, gilt gemäß § 34 Abs. 1 AsylG dieser als Antrag auf Gewährung desselben Schutzes.
Gemäß § 34 Abs. 4 AsylG hat die Behörde Anträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind unter einem zu führen; unter den Voraussetzungen der Abs. 2 und 3 erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang. Entweder ist der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wobei die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten vorgeht, es sei denn, alle Anträge wären als unzulässig zurückzuweisen oder abzuweisen. Jeder Asylwerber erhält einen gesonderten Bescheid. Gemäß § 34 Abs. 5 AsylG gelten die Bestimmungen der Abs. 1 bis 4 sinngemäß für das Verfahren beim Bundesverwaltungsgericht.
Gemäß § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG ist Familienangehöriger, wer Elternteil eines minderjährigen Kindes, Ehegatte oder zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylwerbers oder eines Fremden ist, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten zuerkannt wurde, sofern die Ehe bei Ehegatten bereits vor der Einreise des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten bestanden hat.
Die BF1 ist Mutter des mj. BF2, sodass hinsichtlich dieser BF ein Familienverfahren gemäß § 34 AsylG vorliegt.
Da betreffend den Vater des BF2 und Ehemann der BF1 mittlerweile ein Verfahren zur Aberkennung des Asylstatus vorliegt, ist eine Ableitung des Asylstatus von diesem durch die BF schon gemäß § 34 Abs 2 Z 3 AsylG nicht möglich, zumal die Behörde auf Grund eines Antrages eines Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist, dem Familienangehörigen mit Bescheid den Status eines Asylberechtigten u.a. nur zuzuerkennen hat , wenn gegen den Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, kein Verfahren zur Aberkennung dieses Status anhängig ist.
Zu den Spruchpunkten I. der bekämpften Bescheide:
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm in seinem Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht.
Gemäß § 3 Abs. 2 AsylG kann die Verfolgung auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Heimatstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, insbesondere, wenn sie Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe).
Gemäß § 3 Abs. 3 AsylG ist der Antrag abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative offensteht oder er einen Asylausschlussgrund gesetzt hat.
Gemäß § 2 Abs. 1 Z 11 und 12 AsylG ist Verfolgung jede Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Statusrichtlinie, Verfolgungsgrund ein in Art. 10 StatusRL genannter Grund.
Nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist als Flüchtling anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der politischen Gesinnung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.
Nach Art. 9 der StatusRL muss eine Verfolgungshandlung i.S.d. GFK aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sein, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, die so gravierend sind, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist, bestehen.
Unter anderem können in diesem Sinne folgende Handlungen als Verfolgung gelten: Anwendung physischer oder psychischer, einschließlich sexueller, Gewalt; gesetzliche, administrative, polizeiliche und/oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewendet werden; unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung; Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung; Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter den Anwendungsbereich des Art. 12 Abs. 2 StatusRL fallen; Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.
Bei der Beurteilung der Frage, ob die Furcht eines Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob der Antragsteller tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht vor dieser Verfolgung. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht.
Voraussetzung für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, dass dem Asylwerber in seinem Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK, also aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der politischen Gesinnung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe droht.
Für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft kommt es nicht bloß auf die tatsächliche politische Gesinnung an, auch eine seitens des Verfolgers dem Asylwerber unterstellte politische Gesinnung ist asylrechtlich relevant.
Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der GFK zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Gewährung von Asyl zum einen nicht zwingend erforderlich, dass bereits in der Vergangenheit Verfolgung stattgefunden hat, zum anderen ist eine solche Vorverfolgung für sich genommen auch nicht hinreichend. Entscheidend ist, ob die betroffene Person im Zeitpunkt der Entscheidung bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste. Relevant kann also nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Erlassung der Entscheidung vorliegen. Auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen zu befürchten hat (VwGH 23.05.2023, Ra 2023/20/0110, m.w.N.).
Für den gegenständlichen Fall bedeutet dies:
Die BF brachten in ihrer Beschwerde im Hinblick auf asylrelevante Gründe lediglich vor, dass ihr Fluchtgrund der Krieg in Syrien und dessen Nachwirkungen sei. Im Umstand, dass im Heimatland der BF Bürgerkrieg herrschte bzw. dessen Nachwirkungen spürbar sind, liegt aber nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes für sich allein keine Verfolgungsgefahr im Sinne der GFK (VwGH 26.11.1998, 98/20/0309, 0310; VwGH 19.10.2000, 98/20/0233; VwGH 17.11.2017, Ra 2017/20/0404). Um asylrelevante Verfolgung vor dem Hintergrund einer Bürgerkriegssituation erfolgreich geltend zu machen, bedarf es daher einer zusätzlichen, auf asylrelevante Gründe gestützten Gefährdung des Asylwerbers, die über die gleichermaßen die anderen Staatsbürger des Heimatstaates treffenden Unbilligkeiten eines Bürgerkrieges hinausgeht. Eine solche haben die BF aber nicht hinreichend nachvollziehbar glaubhaft machen bzw. dartun können.
Zur Volatilität der Lage in Syrien:
Zwar hat sich die Lage in Syrien in der ersten Dezemberhälfte des Jahres 2024 sehr rasch verändert, eine neuerliche Lageveränderung ist durchaus möglich und es ist noch weitgehend unklar, wie sich die Lage in den kommenden Monaten entwickeln wird. Seit dem Sturz des Assad-Regimes am 8. Dezember 2024 gab es allerdings – von den Kämpfen zwischen der SNA und den SDF im Norden abgesehen – keine größeren Kampfhandlungen mehr, wobei nicht übersehen wird, dass es seit dem Machtwechsel im Dezember 2024 auch lokal begrenzte Gewaltausbrüche – etwa in den Küstenprovinzen oder im Gouvernement Suweida gegeben hat. Zudem sprechen die zuletzt stattgefundenen Besuche hochrangiger Vertreter der Europäischen Union sowie die Lockerung der Sanktionen gegenüber Syrien seitens der USA und der EU für eine gewisse Konsolidierung der Verhältnisse in Syrien. Es wäre untunlich, mit einer Entscheidung zuzuwarten, bis völlige Klarheit über die künftigen Verhältnisse herrscht, weil nicht abschätzbar ist, ob und wann ein solches Szenario eintritt. Die weiterhin volatile Sicherheitslage ist im Rahmen der Frage des subsidiären Schutzes zu behandeln (s. sogleich).
Zu berücksichtigen ist auch, dass nach der ständigen höchstgerichtlichen Rechtsprechung die Darlegung der entfernten Möglichkeit einer Verfolgung nicht für eine nach § 3 Abs. 1 AsylG erforderliche Glaubhaftmachung einer Verfolgung im Sinne der zum Entscheidungszeitpunkt anzustellenden Prognose genügt (VwGH 14.07.2021, Ra 2021/14/0066, m.w.N.; VwGH 22.01.2021, Ra 2021/01/0003). Eine potentiell immer und zumal im generell volatilen Syrien mögliche Änderung der Lage zum Schlechteren für einen konkreten Beschwerdeführer kann daher nicht zu einer Asylgewährung führen. Sollte sich die Lage in Syrien dergestalt ändern, dass den BF in Syrien (konkret absehbare) asylrelevante Verfolgung droht, steht schließlich die Möglichkeit offen, einen Folgeantrag zu stellen.
Den BF ist es daher insgesamt nicht gelungen, eine konkret und gezielt gegen ihre Person gerichtete aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität, die ihre Ursache in einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe hätte, glaubhaft zu machen.
Auch vor dem Hintergrund der Feststellungen zur Lage in Syrien kann nicht erkannt werden, dass den BF aktuell in Syrien eine asylrelevante Verfolgung aus einem der in der GFK genannten Gründen droht. Die Beschwerden gegen die Spruchpunkte I. der bekämpften Bescheide erweisen sich daher als nicht berechtigt.
Zu den Spruchpunkten II. der bekämpften Bescheide:
Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden bei Abweisung seines Antrages auf internationalen Schutz in Bezug auf den Status eines Asylberechtigten der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 bedeuten würde, oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Unter realer Gefahr ist eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr möglicher Konsequenzen für den Betroffenen („sufficiently real risk“) in seinem Herkunftsland zu verstehen (VwGH 19.02.2004, 99/20/0573). Die reale Gefahr muss sich auf das gesamte Staatsgebiet beziehen und die drohende Maßnahme muss von einer bestimmten Intensität sein und ein Mindestmaß an Schwere erreichen (etwa VwGH 26.06.1997, 95/21/0294). Die bloße Möglichkeit einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung in dem Staat, in den ein Fremder abgeschoben wird, genügt nicht, um seine Abschiebung in diesen Staat unter dem Gesichtspunkt des § 8 Abs. 1 AsylG als unzulässig erscheinen zu lassen. Es müssen konkrete Anhaltspunkte vorliegen, dass gerade der Betroffene einer derartigen Gefahr ausgesetzt wäre (VwGH 27.02.2001, 98/21/0427).
Herrscht im Herkunftsstaat eine prekäre allgemeine Sicherheitslage, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, so liegen stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vor, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können nur besondere in der persönlichen Situation des Betroffenen begründete Umstände (Gefährdungsmomente) dazu führen, dass gerade bei ihm ein – im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaates im Allgemeinen – höheres Risiko besteht, einer Art. 2 oder 3 EMRK oder die genannten Protokolle zur EMRK verletzenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit befürchten zu müssen (VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137).
Im Hinblick auf das Vorliegen einer allgemein prekären Sicherheitslage hat der Verwaltungsgerichtshof – unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte und des Gerichtshofes der Europäischen Union – zum Vorliegen eines realen Risikos der Verletzung von Art. 3 EMRK ausgesprochen, dass diese Voraussetzung nur in sehr extremen Fällen („in the most extreme cases“) erfüllt ist. In den übrigen Fällen bedarf es des Nachweises von besonderen Unterscheidungsmerkmalen („special distinguishing features“), aufgrund derer sich die Situation des Betroffenen kritischer darstellt als für die Bevölkerung im Herkunftsstaat im Allgemeinen (VwGH 03.04.2025, Ra 2025/01/0021; VwGH 20.03.2023, Ra 2022/01/0380).
Im Hinblick der Gefahrendichte ist auf die jeweilige Herkunftsregion abzustellen, in die der BF typischerweise zurückkehren wird. Zur Feststellung der Gefahrendichte kann auf eine annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung zurückgegriffen werden. Zu dieser wertenden Betrachtung gehört jedenfalls auch die Würdigung der medizinischen Versorgungslage in dem jeweiligen Gebiet, von deren Qualität und Erreichbarkeit die Schwere eingetretener körperlicher Verletzungen mit Blick auf die den Opfern dauerhaft verbleibenden Verletzungsfolgen abhängen kann (dt BVerwG 17.11.2011, 10 C 13/10).
Der Verfassungsgerichtshof hält in seiner ständigen Rechtsprechung zu Art. 3 EMRK hinsichtlich der vorzunehmenden Gefahrenprognose fest, dass bei einem nicht landesweiten bewaffneten Konflikt auf den tatsächlichen Zielort des BF bei seiner Rückkehr abzustellen ist. Dies ist in der Regel seine Herkunftsregion, in die er typischerweise zurückkehren wird (VfGH 13.09.2013, U 370/2012; VfGH 12.03.2013, U1674/12; VfGH 12.06.2013, U2087/2012). Eine Prognose hinsichtlich der Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK hat nicht pauschal für den Herkunftsstaat zu erfolgen, sondern muss den Anforderungen einer detaillierten Prüfung der Sicherheits- und Versorgungslage in der konkreten Herkunfts- bzw. Rückkehrregion genügen (VfGH 12.06.2023, E 878/2023 u.a.).
Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass der Asylwerber das Bestehen einer aktuellen Bedrohung der relevanten Rechtsgüter, hinsichtlich derer der Staat nicht willens oder in der Lage ist, Schutz zu bieten, glaubhaft zu machen hat, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffender, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerte Angaben darzutun ist (VwGH 26.06.1997, 95/18/1291). Diese Mitwirkungspflicht bezieht sich zumindest auf jene Umstände, die in der Sphäre des Asylwerbers gelegen sind und deren Kenntnis sich die Behörde nicht von Amts wegen verschaffen kann (VwGH 30.09.1993, 93/18/0214).
Der Verwaltungsgerichtshof verweist darauf, dass – ausgehend von der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union zur StatusRL – vom subsidiären Schutz nur Fälle realer Gefahr, einen auf ein Verhalten eines Akteurs i.S.d. Art. 6 StatusRL zurückzuführenden ernsthaften Schaden i.S.d. Art. 15 StatusRL zu erleiden, sowie Bedrohungen in einem bewaffneten Konflikt umfasst sind. Nicht umfasst ist dagegen die reale Gefahr jeglicher, etwa auf allgemeine Unzulänglichkeiten im Heimatland zurückzuführender Verletzung von Art. 3 EMRK. Dem nationalen Gesetzgeber ist es verboten, Bestimmungen zu erlassen oder beizubehalten, die einem Fremden den Status eines subsidiär Schutzberechtigten, unabhängig von einer Verursachung durch Akteure oder einer Bedrohung in einem bewaffneten Herkunftsstaat, zuerkennen. Die Bestimmung des § 8 AsylG ist daher richtlinienkonform auszulegen (VwGH 06.11.2018, Ra 2018/01/0106).
Für den gegenständlichen Fall bedeutet dies:
Die BF konnten, wie in der Beweiswürdigung dargelegt und festgestellt, vor dem Hintergrund ihrer individuellen persönlichen Situation (als Neugeborenes bzw. Mutter eines Neugeborenen) glaubhaft machen, dass ihre Rückkehr nach Deir ez-Zor die reale Gefahr einer Bedrohung ihres Lebens bzw. ihrer körperlichen Unversehrtheit mit sich bringen würde. Konkret ist an die seitens des IS bestehende und nach den Länderberichten sogar anwachsende Gefahr von Angriffen auf Zivilpersonen zu denken. Darüber hinaus ist insbesondere der BF2 als (Klein-)Kind, aber auch die BF1 als dessen Hauptbetreuungsperson, gefährdet, Opfer einer durch Kampfmittelrückstände verursachten Explosion zu werden. Vor diesem Hintergrund kann das Gericht die Einschätzung der belangten Behörde, es liege keine Zugehörigkeit zu einem qualifiziert schutzbedürftigen Personenkreis vor, nicht teilen.
Die BF konnten daher individuelle Umstände glaubhaft machen, die im Falle einer Rückkehr nach Syrien die reale Gefahr einer Verletzung aus Art. 2 und 3 EMRK entspringender Rechte durch einen nichtstaatlichen Akteur (den IS, bzw. – indirekt – diejenigen Milizen, welche die Kampfmittel ausgebracht haben) als wahrscheinlich erscheinen lassen. Die syrische Regierung ist derzeit nicht in der Lage, die BF gegen die Gefahren durch den IS bzw. nicht explodierter Kampfmittel zu schützen.
Im Hinblick auf die Umstände des gegenständlichen Falles liegen daher die Voraussetzungen für die Gewährung von subsidiärem Schutz vor, weshalb den Beschwerden im Umfang der Spruchpunkte II. der bekämpften Bescheide Erfolg zukommt. Die angefochtenen Bescheide waren daher insofern abzuändern und den BF gemäß § 8 Abs 1 AsylG subsidiärer Schutz zu gewähren. Gemäß § 8 Abs 4 AsylG war jeweils eine auf ein Jahr befristete Aufenthaltsberechtigung zu erteilen. Aufgrund der Zuerkennung des Subsidiärschutzes entfallen daher die Spruchteile betreffend die Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidung (Spruchteil III. des bekämpften Bescheides) und der Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung gemäß § 55 Abs 2 AsylG (Spruchteil IV.).
Zum Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung:
Gemäß § 24 Abs 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.
Gemäß Abs 4 kann das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entgegenstehen.
Ein Absehen von der mündlichen Verhandlung durch das Bundesverwaltungsgericht ist nach § 21 Abs 7 BFA-VG und der dazu ergangenen höchstgerichtlichen Rechtsprechung (s. etwa VwGH Ra 2014/20/0142) unter folgenden Voraussetzungen zulässig: Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen.
Im vorliegenden Fall hat die Behörde den für die Frage der Zuerkennung des Asylstatus maßgebenden Sachverhalt vollständig erhoben, während die BF in ihrer Beschwerde keine über ihr Vorbringen in erster Instanz hinausgehenden Asylgründe vorbrachten. Die vorgebrachten Asylgründe waren bereits aus rechtlichen Gründen nicht geeignet, zu einer Asylgewährung zu führen, sodass sich eine mündliche Verhandlung insofern erübrigte. Was die Frage des subsidiären Schutzes angeht, wurde dem Begehren der BF ohnehin durch die Abänderung der bekämpften Bescheide Genüge getan, sodass diesbezüglich die mündliche Erörterung jedenfalls unterbleiben konnte.
Der festgestellte Status des Aberkennungsverfahrens betreffend XXXX ist aufgrund Vorliegens des diesbezüglichen Bescheides evident.
Der Ausspruch über die Unzulässigkeit der Revision folgt dem Umstand, dass im Wesentlichen Umstände des Einzelfalles zu beurteilen waren und im Rahmen der dargestellten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entschieden wurde.
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