L533 2301775-1/12E
L533 2301779-1/11E
L533 2301783-1/13E
L533 2301778-1/6E
L533 2301781-1/7E
L533 2301785-1/7E IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Zejnie GALEŠIĆ, MA, als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX , 2.) XXXX , geb. XXXX , 3.) XXXX alias XXXX , geb. XXXX , 4.) XXXX alias XXXX , geb XXXX 5.) XXXX , geb. XXXX alias XXXX , und 6.) XXXX alias XXXX , geb. XXXX alias XXXX , alle StA. Türkei, alle vertreten durch die BBU GmbH, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.09.2024, Zlen: XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 10.06.2025, zu Recht:
A)
Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführer (in weiterer Folge kurz als „BF“ bzw. entsprechend der Reihenfolge ihrer Nennung im Spruch als „BF1“ - „BF6“ bezeichnet) sind Staatsangehörige der Türkei, die nach gemeinsamer rechtswidriger Einreise in das Hoheitsgebiet der Europäischen Union und in weiterer Folge nach Österreich am 31.07.2023 Anträge auf internationalen Schutz stellten.
Der männliche BF1 und die weibliche BF2 sind verheiratet und die Eltern der BF3 bis BF6.
2. Vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes brachte der BF1 im Rahmen seiner Erstbefragung am selben Tag im Wesentlichen vor, dass er persönlich keine Probleme gehabt habe, jedoch die Sicherheit seiner Kinder in Gefahr gewesen sei. Das Leben seiner Familie sei bedroht gewesen. Die BF2 gab an, dass nach der Scheidung ihres Bruders die Familie ihrer Schwägerin das Auto der Familie verbrannt und sie daran gehindert habe, zu arbeiten. Zudem habe sie ihre Tochter zur Schule begleiten müssen, da Drohungen gegen die Familie ausgesprochen worden seien. Da diese Situation nicht geendet habe, habe man beschlossen auszureisen. Die BF3 erklärte in der Erstbefragung, die Familie der Schwägerin ihrer Mutter habe Druck auf die Familie ausgeübt und Vergeltung an ihnen nehmen wollen. Aufgrund der Bedrohungen hätten sie die Schule nicht mehr besuchen können und um das eigene Leben gefürchtet. Auch ihre Eltern hätten infolge dessen ihre Arbeit verloren.
3. Bei der niederschriftlichen Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl („BFA“) am 27.05.2024 brachten die BF im Wesentlich hinsichtlich ihrer Ausreisegründe vor, dass die Familie der geschiedenen Schwägerin der BF2 diese für die Scheidung verantwortlich gemacht habe. In diesem Zusammenhang sei vor ihrem Haus ein Auto angezündet und das Geschäft der BF2 durch wiederholte Belästigungen zur Schließung gebracht worden. Weiters habe ein Mann namens XXXX die BF3 über einen längeren Zeitraum belästigt, ihr nachgestellt und versucht, sie mitzunehmen, weshalb diese die Schule abgebrochen und einen Selbstmordversuch unternommen habe. Anzeigen bei der Polizei hätten zu keinen Konsequenzen geführt. Die BF hätten deshalb die Türkei verlassen zu haben, insbesondere um die Kinder in Sicherheit zu bringen.
Für die minderjährigen BF4, BF5 und BF6 wurden keine anderslautenden Fluchtgründe bzw. Rückkehrbefürchtungen geltend gemacht.
4. Mit den angefochtenen Bescheiden des BFA vom 12.09.2024 wies das BFA die Anträge der BF jeweils gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkte I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei (Spruchpunkte II.) ab. Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurden den BF nicht erteilt (Spruchpunkte III.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen die BF gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG Rückkehrentscheidungen erlassen (Spruchpunkte IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkte V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).
Das BFA gelangte im Wesentlichen zur Erkenntnis, dass hinsichtlich der Gründe für die Zuerkennung des Status eines asyl- oder subsidiär Schutzberechtigten eine aktuelle und entscheidungsrelevante Bedrohungssituation nicht glaubhaft gemacht worden sei. Ein relevantes, die öffentlichen Interessen übersteigendes, Privat- und Familienleben würde ebenso wenig vorliegen.
5. Gegen die genannten Bescheide wurde innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben.
6. Am 10.06.2025 führte das Bundesverwaltungsgericht in der Sache der BF eine öffentlich mündliche Verhandlung durch. Dabei wurde den BF1, BF2 und BF3 die Gelegenheit gegeben, neuerlich ihre Ausreisemotivation, ihre privaten und persönlichen Angelegenheiten sowie ihre Integrationsbemühungen darzulegen. Das BFA blieb der Verhandlung entschuldigt fern.
Zugleich mit der Ladung wurde den BF das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zur Türkei übermittelt, welche das BVwG in die Entscheidung miteinbezieht. Eine schriftliche Stellungnahmefrist bis zum Verhandlungstermin oder eine Stellungnahmemöglichkeit in der Verhandlung wurden dazu eingeräumt. Eine schriftliche Stellungnahme zu den Länderfeststellungen wurde im Vorfeld der mündlichen Verhandlung nicht abgegeben und auch in der mündlichen Verhandlung wurde den Länderinformationen nicht entgegengetreten.
7. Mit Schreiben vom 25.08.2025 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht eine aktualisierte Version des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation zur Türkei (Version 10) und räumte eine zwei wöchige schriftliche Stellungnahmefrist ein, welche mit Schreiben vom 26.08.2025 erfolgte.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Sachverhalt:
1.1. Zu den Personen der BF:
Die BF sind türkische Staatsangehörige, gehören der kurdischen Volksgruppe sowie der islamischen Glaubensgemeinschaft an. Die BF beherrschen (sofern altersmäßig zumutbar) die türkische Sprache auf muttersprachlichem Niveau bzw. in Wort und Schrift. Die Identitäten der BF stehen nicht fest. Sie führen die im Spruch ersichtlichen Namen und dort angeführten Geburtsdaten als Verfahrensidentitäten.
Der BF1 stammt aus der Stadtgemeinde XXXX in der südostanatolischen Provinz Gaziantep, wo er aufwuchs und bis ca. zum 16. Lebensjahr lebte, ehe er gemeinsam mit seinem Bruder in die Stadt XXXX zog. Die BF2 stammt ebenfalls aus der Stadtgemeinde XXXX in der südostanatolischen Provinz Gaziantep, wo sie aufwuchs und bis zu ihrem 18. Lebensjahr lebte. Im Oktober oder November 2007 heirateten der BF1 und die BF2 in der Türkei standesamtlich sowie traditionell und lebten ab diesem Zeitpunkt bis zu ihrer Ausreise in der Stadt XXXX . Der Ehe entsprangen die vier gemeinsamen Kinder BF3 bis BF6.
Der BF1 besuchte fünf Jahre lang die Schule und ging anschließend verschiedenen Erwerbstätigkeiten nach. So arbeitete er zwei Jahre lang als Schweißer in einer Eisenwarenwerkstatt, 1-2 Jahre als Installateur, drei Jahre lang als Elektrogerätereparateur sowie zwischenzeitig auch als Reinigungskraft in einem Restaurant. Ungefähr 15 Jahre lang arbeitete er dann in der Textilbranche und die letzten beiden Jahre vor seiner Ausreise in einer Teppichproduktionsfirma. Nebenbei half er auch in Garten- und Feldwirtschaft mit. Im Jahr 2005 leistete er seinen Militärdienst ab. Der BF1 ist Miteigentümer einer Wohnung in der Türkei und verfügt dort über ein Auto.
Die BF2 besuchte in der Türkei acht Jahre lang die Schule, wobei sie die letzten drei Jahre via Fernunterricht absolvierte. Von ihrem 10. Lebensjahr bis zu ihrem 18. Lebensjahr arbeitete die BF2 in einer Seidenteppichproduktionsfirma, anschließend betrieb sie über 10 Jahre lang eine Boutique. Von 2021 bis 2022 machte die BF2 eine Kochausbildung. Sie verfügt in der Türkei über mehrere Gärten und Felder im Ausmaß von etwa von ca. 20-30 Hektar Fläche. Zudem verfügt sie über eine Eigentumswohnung in XXXX und über Miteigentum am Elternhaus. Die Pistazienfelder der BF2 werden aktuell von ihrem Bruder bewirtschaftet, die Einnahmen werden aufgeteilt und der Anteil der BF2 von ihrem Bruder für sie aufgespart.
Die BF3 besuchte in der Türkei acht Jahre lang die Schule und konnte in der Türkei noch keine Berufserfahrung sammeln. Die BF4 bis BF6 waren in der Türkei altersgemäß in den entsprechenden Schulstufen eingeschult. Die BF waren in der Türkei im Hinblick auf ihre Grundbedürfnisse abgesichert. Der BF1 und die BF2 waren bis zur Ausreise aus der Türkei in der Lage, im Herkunftsstaat ihre Existenz sowie jene ihrer Familie zu sichern, ihre finanzielle Situation war gut.
Die BF verfügen über familiäre Anknüpfungspunkte in der Türkei. Dort leben insbesondere die Eltern, ein Bruder, zwei Schwestern, ein Onkel und zwei Tanten des BF1 in der Herkunftsregion des BF1. Sowohl die Eltern, als auch die drei Geschwister des BF1 verfügen jeweils über ein eigenes Haus. Die Eltern verfügen über eine Landwirtschaft und bewirtschaften diese. Die beiden Schwestern des BF1 sind verheiratet und werden von ihren Ehegatten versorgt, ein Ehegatte arbeitet in einem Möbelhaus, der andere im Krankenhaus. Der Bruder des BF1 ist Elektriker. Die BF2 ist über ihre Mutter, eine Schwester und einen Bruder in der Türkei familiär angebunden. Darüber hinaus leben auch mehrere Onkel und Tanten in der Herkunftsregion der BF2. Sowohl die Mutter, als auch die beiden Geschwister der BF2 verfügen jeweils über ein eigenes Haus. Die Mutter der BF2 verfügt zudem über eine Landwirtschaft und bezieht Witwenpension. Die Schwester ist verheiratet und wird von ihrem Ehegatten versorgt, der in einer Fabrik als Eisengießer arbeitet. Der Bruder der BF2 arbeitet im Krankenhaus und ist Leiter der Gesundheitsabteilung. Die genannten Personen verfügen über Vermögen und (soweit persönlich erwerbsfähig und -tätig) über Einkommen. Die finanzielle Situation der Familie des BF1 in der Türkei ist normal, jene der Familie der BF2 ist sehr gut. Die BF stehen in regelmäßigen telefonischen Kontakt mit ihren Familienangehörigen in der Türkei, es geht ihnen gut.
Die BF leiden an keinen schweren oder lebensbedrohlichen Erkrankungen und sind im Allgemeinen gesund. Die BF1, BF2 und BF3 sind arbeitsfähig. Bei der BF3 wurde eine leichte depressive Symptomatik festgestellt, bei der BF2 eine Anpassungsstörung mit depressiver Reaktion. Die BF3 besucht deshalb einmal in der Woche eine Gesprächstherapie und hat im Februar 2025 ein Beruhigungs- bzw. Schlafmittel (Atarax) verschrieben bekommen. Die BF2 besucht einmal im Monat eine Gesprächstherapie, zudem leidet sie an Diabetes mellitus und nimmt diesbezüglich entsprechende Medikamente ein.
Die BF verließen ihren Herkunftsstaat am 25.07.2023 und reisten auf dem Landweg illegal über mehrere Länder schlepperunterstützt am 31.07.2023 nach Österreich ein, wo sie am selben Tag gegenständliche Anträge auf internationalen Schutz stellten und sich seither ununterbrochen aufhalten. Einen anderen Aufenthaltstitel haben die BF nicht.
Die BF beziehen seit ihrer Einreise durchgehend (mit einer kleinen Unterbrechung von einem Tag) Leistungen aus der Grundversorgung für hilfsbedürftige Fremde in Österreich und sind die (grundsätzlich erwerbsfähigen) BF1 und BF2 damit – mit Ausnahme eines einzelnen Arbeitstages des BF1 am 17.09.2024 – zu keinem Zeitpunkt während ihres hiesigen Aufenthalts in einem Beschäftigungsverhältnis gestanden. Eine Selbsterhaltungsfähigkeit liegt daher nicht vor. Einstellungszusage wurden im Verfahren nicht in Vorlage gebracht.
Der BF1 und die BF2 besuchten in Österreich einen Basisbildungskurs, legten bisher jedoch keine Deutsch- oder Integrationsprüfung ab. Sie absolvierten im Bundesgebiet auch keine sonstigen Ausbildungen. Die BF3 besuchte in Österreich ebenfalls einen Basisbildungskurs sowie einen Kurs „OÖ Finanzführerschein Basic“ und absolvierte eine Integrationsprüfung auf dem Sprachniveau A1. Zudem besuchte sie ein Jahr lang die Polytechnische Schule. Die BF weisen einfache Deutschkenntnisse auf, sodass eine grundsätzliche Kommunikation auf Deutsch möglich ist. Die BF4 bis BF6 sind in Österreich schulisch inkludiert und nehmen am Unterricht teil. Die BF engagieren sich (sofern altersmäßig zumutbar) im Bundesgebiet weder ehrenamtlich noch gehören sie einem Verein an.
Die BF verfügen in Österreich über familiäre Anknüpfungspunkte in Form eines hier aufhältigen Bruders sowie einer Tante der BF2. Die BF haben zu diesen beiden Verwandten jedoch keinerlei Kontakt und es besteht kein finanzielles oder sonstiges Abhängigkeitsverhältnis. In Deutschland leben weitschichtige Verwandte der BF, zu denen jedoch ebenfalls kein Kontakt besteht. Die BF konnten sich in Österreich bereits einen Freundes- bzw. Bekanntenkreis aufbauen, wobei zu jenen Personen kein finanzielles oder sonstiges Abhängigkeitsverhältnis besteht. Besonders enge Freundschaften wurden im Verfahren nicht vorgebracht, ebenso wenig wie Unterstützungsschreiben von Freunden.
Die BF sind in Österreich strafrechtlich unbescholten.
Der Aufenthalt der BF im Bundesgebiet war nie nach § 46a Abs. 1 Z 1 oder Abs. 1a FPG 2005 geduldet. Ihr Aufenthalt ist nicht zur Gewährlistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Sie wurden auch nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.
1.2. Zu den angegebenen Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates:
Die von den BF vorgebrachten Fluchtgründe werden den Feststellungen nicht zugrunde gelegt.
Die BF sind im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer asylrelevanten Verfolgungsgefahr oder einer realen Gefahr für Leib und/oder Leben ausgesetzt.
Insbesondere ist nicht glaubhaft, dass die BF2 wegen der Scheidung ihres Bruders von Verwandten ihrer Ex-Schwägerin bedroht wurde. Ebenso wenig glaubhaft ist es, dass die BF3 in der Türkei von einem Mann bedroht, verfolgt oder missbraucht wurde. Die BF haben nicht glaubhaft dargelegt und kann auch sonst nicht festgestellt werden, dass sie vor ihrer Ausreise aus ihrer Heimat in dieser einer aktuellen sowie unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung ausgesetzt waren oder sie im Falle einer Rückkehr dorthin mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer solchen ausgesetzt wären.
Die BF hatten vor ihrer Ausreise auch keine asylrelevanten Nachteile aufgrund ihrer kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit. Sie unterliegen auch im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aufgrund ihrer kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit oder sonstiger individueller in ihrer Person liegender Gründe einer relevanten (Individual- bzw. Gruppen-)Verfolgungsgefahr und sind auch keiner realen Gefahr für Leib und/oder Leben ausgesetzt, wenn auch Beschimpfungen, Schikanen, subjektive Diskriminierungserfahrungen oder mangelnde Wertschätzung der BF in Bereichen des real-gesellschaftlichen Zusammenlebens mit (Teilen) der türkischen Zivilbevölkerung als glaubhaft angenommen werden können.
Den BF droht auch im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat nicht die Todesstrafe und keine anderweitige individuelle Gefährdung, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, willkürliche Gewaltausübung, exzessive Bestrafung, Folter oder Strafe.
Die Gefahr einer in der Türkei mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohenden asylrelevanten Verfolgung der BF aufgrund sonstiger Gründe liegt gegenständlich nicht vor.
Es kann schließlich auch nicht festgestellt werden, dass die BF im Falle einer Rückkehr in die Türkei aus in ihrer Person gelegenen Gründen oder aufgrund der allgemeinen Lage vor Ort einer maßgeblichen individuellen Gefährdung oder Bedrohung ausgesetzt wären oder dort keine hinreichende Existenzgrundlage vorfinden würden.
1.3. Zur Lage in der Türkei wird festgestellt:
Länderspezifische Anmerkungen
Letzte Änderung 2025-08-06 10:29
Länderunspezifische Anmerkung:
Zum Inhalt:
Auswirkungen der Erdbeben vom Februar 2023: Die schweren Erdbeben im Südosten des Landes im Februar 2023 hatten multiple Folgen. Betroffen waren u. a. die Versorgungs- und Sicherheitslage, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, die Position der Opposition und die allgemeine politische Situation, insbesondere angesichts der damals anstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen. Relevante Auswirkungen, auch anhand von Beispielen, werden in den jeweiligen Kapiteln bzw. Sub-Kapiteln fallweise in einem eigenen, ausgewiesenen Paragrafen behandelt.
Auf die Justizreformstrategien wird nur dann Bezug genommen, wenn tatsächlich Reformen zumindest in Gesetzestexte gegossen wurden.
Gülen- bzw. Hizmet-Bewegung: In der Türkei wird seitens der staatlichen Vertreter und der breiten Öffentlichkeit die Abkürzung "FETÖ", mitunter die vollständige Bezeichnung "Fetullahçı Terör Örgütü" verwendet, in deutscher Übersetzung: "Fetullahistische Terror Organisation". Da die Gülen- bzw. Hizmet-Bewegung weder in Österreich noch in anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (auch nicht in den USA) als Terrororganisation eingestuft wird, was im gegenteiligen Fall unmittelbare Auswirkungen z. B. auf das Asylverfahren nach sich ziehen würde, wird von der Verwendung der Abkürzung "FETÖ" abgesehen, bzw. ist diese zu vermeiden. Die Abkürzung "FETÖ" tritt im Bericht lediglich dort in Erscheinung, wo aus dem Kontext eindeutig hervorgeht, dass diese von Institutionen oder Vertretern des türkischen Staates verwendet wird.
HDP/ DEM-Partei: In dieser Version der Länderinformationen und folgenden werden für eine Übergangszeit die Abkürzungen HDP und DEM-Partei parallel verwendet. - Hintergrund: 2023 hat sich die als pro-kurdisch geltende "Demokratische Partei der Völker, Halkların Demokratik Partisi" - HDP angesichts des Verbotsverfahrens gegen sie entschlossen, bei den Parlamentswahlen im Frühjahr 2023 nicht als solche teilzunehmen, sondern ihre Kandidaten und Kandidatinnen auf der Liste der "Grünen Linkspartei, Yeşil Sol Parti" - YSP antreten zu lassen. Im Herbst erfolgte dann die Umbenennung der HDP in "Halkların Eşitlik ve Demokrasi Partisi" (Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker "Partei der Völker für Gleichberechtigung [Anm.: auch mit "Emanzipation" oder "Gleichheit" übersetzt] und Demokratie". Da das entsprechende Kürzel HEDEP vom Kassationsgericht abgelehnt wurde, weil es zu sehr an die einst verbotene kurdische Partei HADEP erinnerte, wurde das Kürzel in DEM-Partei abgeändert, ohne dass die Vollbezeichnung geändert werden musste.
Roma: Insbesondere im zugehörigen Unterkapitel wird die Bezeichnung "Roma" als Oberbegriff verwendet, um eine Reihe verschiedener Gruppen zu bezeichnen, ohne die Besonderheiten dieser Gruppen, dazu gehören Dom und Abdal, zu leugnen.
Terroristische Gruppierungen: TAK – Teyrêbazên Azadiya Kurdistan (Freiheitsfalken Kurdistans): Dieses Unterkapitel wurde gestrichen, da zum einen in den letzten Jahren keine Aktivitäten mehr zu verzeichnen waren, und zum anderen im Zuge der Auflösung der PKK auch von der Auflösung der TAK auszugehen ist.
PKK: Die Arbeiterpartei Kurdistans - PKK hat sich am 12.5.2025 offiziell aufgelöst. Mit Abschluss der vorliegenden Gesamtaktualisierung der Länderinformationen zur TÜRKEI Anfang Juli 2025 waren die politischen, sicherheitsrelevanten und rechtlichen Implikationen der Auflösung der PKK nicht abzusehen. Das heißt, hinsichtlich der Übergabe der Waffen - wann, wo, unter wessen Aufsicht dies geschieht; ob die Rückkehr bzw. Integration der PKK-Kämpfer, aber auch von PKK-Unterstützern möglich sein wird; wie die Zukunft der Führungskader und nicht zuletzt jene Öcalans selbst aussieht und rechtlich, ob z. B. Anklagen, laufende Verfahren, Gerichtsprozesse sowie gefällte Urteile im Zusammenhang mit der Mitgliedschaft oder Unterstützung der PKK als Terrororganisation eingestellt oder aufgehoben werden, inklusive der Frage einer (Teil-)Amnestie.
Zur Form:
Wie in allen Länderinformationen wird bei staatlichen nationalen Institutionen in der Quellenangabe das Land in eckiger Klammer genannt. Aus Gründen der Stringenz geschieht dies auch, wenn aus dem Quellennamen das Land bereits eindeutig hervorgeht. - Zum Beispiel: "ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara [Österreich]..."
Bei einer Vielzahl von Autoren bzw. Herausgebern wird in der Quellenangabe die Nennung ersterer in der Regel auf zwei bis drei limitiert und mit der Abkürzung "u. a." indiziert.
Abkürzungen werden zumindest einmal, und zwar idealerweise bei erster Nennung im Fließtext eines jeden (Sub-)Kapitels ausgeschrieben. Die Sprache des ausgeschriebenen Namens orientiert sich an der verwendeten Abkürzung. Beispielsweise wird bei den politischen Parteien (AKP, CHP, HDP etc.) nebst der deutschen Übersetzung die türkische Originalbezeichnung angeführt, während bei kurdischen Organisationen, wie der PKK oder der TAK, der komplette Name in Kurdisch (Version: Kurmandschi) angeführt wird.
Die Schreibweise der türkischen Eigennamen erfolgt fast ausschließlich gemäß der türkischen Rechtschreibung. Ausnahmen sind etwa die Schreibweisen von Istanbul oder Izmir, die korrekterweise auf Türkisch İstanbul und İzmir lauten müssten, da "İ bzw. i" einerseits und "I bzw. ı" andererseits unterschiedliche Laute bzw. auch Phoneme darstellen. (Zur Aussprache der türkischen Buchstaben siehe beispielsweise: https://www.grammatiken.de/tuerkische-grammatik/tuerkisches-alphabet-lernen-aussprache.php).
Die angeführten, umgerechneten Lira-Beträgen in Euro in Klammer stellen den Wechselkurs zum jeweiligen Zeitpunkt dar, so nicht anders angegeben. Das bedeutet, dass der zitierte Betrag in Lira, so er sich zwischenzeitlich nicht geändert hat, infolge der Entwertung der Lira einen mitunter deutlich geringeren Euro-Nennwert bei der Veröffentlichung des vorliegenden Berichtes darstellt.
Redaktionsschluss:
Quelldokumente, welche nach Redaktionsschluss erscheinen, werden nur in Ausnahmefällen noch berücksichtigt. Dies erklärt, weshalb mitunter Quelldokumente nicht zitiert werden, obschon sie noch vor dem Erscheinungsdatum der Länderinformationen publiziert wurden. Zudem variiert der Redaktionsschluss je nach Kapitel. So werden etwa die Kapitel Sicherheitslage und politische Lage als letzte im Gesamtprozess aktualisiert, da hier am ehesten noch kurzfristige Ereignisse oder Veränderungen eintreten können, im Unterschied z. B. zum Stand der "medizinischen Versorgung" oder der "Grundversorgung".
Redaktionsschluss des letzten Kapitels - Politische Lage - war der 9.7.2025.
Politische Lage
Letzte Änderung 2025-08-06 13:32
Die politische Lage in der Türkei war in den letzten Jahren geprägt von den Folgen des Putschversuchs vom 15.7.2016 und den daraufhin ausgerufenen Ausnahmezustand, von einem "Dauerwahlkampf" sowie vom Kampf gegen den Terrorismus. Aktuell steht die Regierung wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage und der hohen Anzahl von Flüchtlingen und Migranten unter Druck. Ein erheblicher Teil der Bevölkerung ist mit Präsident Erdoğan und der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung - Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP) unzufrieden und nach deren erneutem Sieg bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai 2023 desillusioniert, was sich auch im Erfolg der CHP (Republikanische Volkspartei - Cumhuriyet Halk Partisi) bei den Lokalwahlen im März 2024 widerspiegelt. Ursache sind vor allem der durch die hohe Inflation verursachte Kaufkraftverlust, die zunehmende Verarmung von Teilen der Bevölkerung, Rückschritte in Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie die fortschreitende Untergrabung des Laizismus. Insbesondere junge Menschen sind frustriert. Die Gesellschaft ist maßgeblich aufgrund der von Präsident Erdoğan verfolgten spaltenden Identitätspolitik stark polarisiert (ÖB Ankara 4.2025, S. 4f.; vgl. Migrationsverket 9.4.2024, S. 8f.).
Vorgehen gegen die Oppositionspartei CHP
Nach einem harten Wahlkampf und politischen Auseinandersetzungen und unerwarteten Wahlsiegen der CHP bei den Lokalwahlen zeichnete sich im Frühjahr 2024 eine neue Dialogpolitik, verdeutlicht durch gegenseitige Besuche zwischen Repräsentanten der regierenden AKP, inklusive Staatspräsident Erdoğan, und der größten Oppositionspartei CHP ab (FES 11.7.2024). Doch rund ein halbes Jahr später verkehrte sich diese Entwicklung ins Gegenteil. Es begann mit der Verhaftung des CHP-Bürgermeisters des Istanbuler Stadtbezirks Esenyurt, Ahmet Özer, im Oktober 2024 unter dem Vorwurf der Unterstützung der PKK. Anstatt seiner wurde ein Treuhänder der Regierung eingesetzt. Es folgten im Jänner und Februar 2025 weitere Absetzungen von CHP-Bürgermeistern. Die größte Verhaftungswelle erfolgte im März 2025, als neben dem Istanbuler Oberbürgermeister İmamoğlu sowie den Bezirksbürgermeistern von Şişli und Beylikdüzü auch gegen mehr als 100 Personen Haftbefehle ergingen. Hintergrund waren Ermittlungsverfahren wegen Korruption oder wegen Unterstützung der PKK (TM 9.7.2025; vgl. FES 28.3.2025, AlMon 23.3.2025, Bianet 23.3.2025, Spiegel 13.1.2025). Mit Stand 9.7.2025 befanden sich laut Angaben der CHP 16 ihrer Bürgermeister in Haft und einer unter Hausarrest (TM 9.7.2025).
Anfang Juni 2025 enthob das Innenministerium fünf CHP-Bürgermeister wegen Korruptionsermittlungen ihres Amtes. Überdies wurde gegen den Parteivorsitzenden der CHP, Özgür Özel, ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, weil er angeblich bei einer Kundgebung einen Istanbuler Generalstaatsanwalt beleidigt und bedroht hat (L'essentiel 5.6.2025; vgl. AP 5.6.2025). Und Anfang Juli beantragte das Büro des Staatspräsidenten die Aufhebung der parlamentarischen Immunität von 61 CHP-Abgeordneten, darunter jene von Partei-Chef Özgür Özel (TM 7.7.2025a). Weiter Beispiele und Details siehe: Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit / Opposition.
Experten sprechen angesichts der Verhaftung des Bürgermeisters von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, von einem Putsch seitens der Regierung, einem sog. "executive coup", der das Bild eines wachsenden Autoritarismus in der Türkei unterstreicht (Güney/ORF 20.3.2025), bzw. vom Ende des "Competitive Authoritarianism", sodass die Türkei an der Schwelle zum Übergang zu einer konsolidierten Diktatur steht (Schenkkan/FH 26.3.2025). Die Parlamentarische Versammlung des Europarates brachte in ihrer Resolution vom 9.4.2025 "ihre tiefe Besorgnis über diese Entscheidungen zum Ausdruck, die politisch motiviert und ein Versuch zu sein scheinen, die Opposition einzuschüchtern, ihre Aktionen zu behindern, den Pluralismus zu unterdrücken und die Freiheit der politischen Debatte einzuschränken" [Anm.: aus dem dem englischen Originalzitat] (CoE-PACE 9.4.2025, Pt. 3). Und auch das Europäische Parlament "ist der Ansicht, dass die Angriffe gegen İmamoğlu einen politisch motivierten Schritt darstellen, mit dem verhindert werden soll, dass ein legitimer Herausforderer bei der bevorstehenden Wahl kandidiert, und dass die derzeitigen türkischen Staatsorgane das Land mit diesen Maßnahmen weiter in Richtung eines vollständig autoritären Regimes treiben" (EP 7.5.2025; S. 23).
Erschwerend für die Lage der größten Oppositionspartei ist der aufgebrochene interne Konflikt. - In einem Verfahren werfen unzufriedene CHP-Mitglieder Partei-Chef Özel Stimmenkauf beim Parteitag im November 2023 vor. Ersetzt würde Özel im Fall einer Verurteilung vermutlich durch Ex-Parteichef Kemal Kılıçdaroğlu, welcher sich von den aktuellen Vorwürfen aus seinem Umfeld gegen Özel nie distanziert hatte. Die Mehrheit der CHP steht aber weiterhin hinter Özel. Mit einer allfälligen Schwächung der CHP, so Experten, könnte die Gefahr für Erdoğan sinken, die nächste Wahl zu verlieren (SRF 30.6.2025; vgl. DW 27.6.2025). Zudem versucht auch die regierungsnahe Presse, beide CHP-Flügel gegeneinander auszuspielen. Sie behauptet, Kılıçdaroğlu sei samt seinem Flügel Opfer von parteiinternen Intrigen geworden. Das Resultat sind heftige Auseinandersetzungen, die die Anhängerschaft in zwei Lager spalten (DW 27.6.2025).
Auflösung und Entwaffnung der PKK
Seit Herbst 2024 prägten vor allem die Diskussionen um die Beilegung des 40 Jahre andauernden Konflikts zwischen dem türkischen Staat und der Arbeiterpartei Kurdistans - PKK. - Im Oktober 2024 hatte der Versitzende der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), Devlet Bahçeli, den überraschenden Vorschlag gemacht, dass im Gegenzug für die Option einer (möglichen) Freilassung des inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalan dieser selbst zu einem Ende des jahrzehntelangen Kampfes der PKK und deren Auflösung aufrufen solle. Staatspräsident Erdoğan hatte damals den Vorschlag als "Fenster für eine historische Gelegenheit" bezeichnet. Am 28.12.2024 wurde zwei Abgeordneten der prokurdischen Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker (DEM-Partei), irri Süreyya Önder und Pervin Buldan, erlaubt, Öcalan in seiner Haftzelle zu besuchen. Die DEM-Partei ließ verlauten, dass Öcalan bereit sei, einen kurdisch-türkischen Friedensprozess zu unterstützen und er habe auch seine Bereitschaft angedeutet, den bewaffneten Kampf der PKK zu beenden. Seitens der DEM-Delegierten folgten Informationsgespräche mit weiteren politischen Parteien, aber auch mit den seit 2016 inhaftierten ehemaligen Ko-Vorsitzenden der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, die ihre Unterstützung für einen Friedensprozess kundtaten (BAMF 13.1.2025, S. 9f.; vgl. DW 8.1.2025, FR 30.12.2024, HDN 13.1.2025, Zeit Online 29.12.2024).
In einer Erklärung rief Abdullah Öcalan am 27.2.2025 seine Anhänger auf, die Waffen niederzulegen und die PKK aufzulösen (AlMon 27.2.2025; vgl. Standard 27.2.2025, DW 27.2.2025). Öcalan hatte sich zuvor an Akteure in Europa, Rojava (Kurdenregion in Syrien) und Kandil (Standort der militärischen PKK-Führung im Irak) gewandt, in denen er seine Ansichten formulierte. Gleichzeitig signalisierten diese Akteure, dass sie Öcalans Entscheidung anerkennen werden (DW 27.2.2025; vgl. Standard 27.2.2025). Am 1.3.2025 erklärte der Exekutivrat der PKK seine volle Unterstützung für die Umsetzung des Aufrufs Öcalans und verkündete einen Waffenstillstand. Für das endgültige Niederlegen der Waffen und ihre Selbstauflösung stellte die Organisation jedoch Bedingungen und erklärt, "dass für den Erfolg dieses Prozesses geeignete politische und rechtliche Rahmenbedingungen notwendig sind". Implizit wurde in der Erklärung auch die Freilassung von Öcalan gefordert (ANF 1.3.2025; vgl. Zeit Online 1.3.2025, FAZ 1.3.2025). Die türkische Regierung teilte wiederum mit, sie werde nicht mit der PKK verhandeln und forderte, dass alle kurdischen Milizen, auch die im Irak und in Syrien, ihre Waffen niederlegen müssten (Zeit Online 1.3.2025; vgl. FAZ 1.3.2025).
Am 12.5.2025 gab die PKK nach der Abhaltung ihres 12. Parteikongresses vom 5.-7. Mai im Nordirak ihre Auflösung und das Ende des bewaffneten Kampfes bekannt (ICG 16.5.2025; vgl. ANF 12.5.2025, BPB 16.6.2025, AlMon 12.5.2025). Die Regierung verfolgt eine äußerst vorsichtige Herangehensweise, die von Diskretion geprägt ist. Über die Vorteile für die Kurden ist wenig bekannt, abgesehen von besseren Lebensbedingungen für Öcalan, der seit seiner Festnahme 1999 in Einzelhaft auf der Gefängnisinsel İmralı sitzt, und rechtlichen Maßnahmen, die eine Strafmilderung oder Freilassung für Tausende von politischen Gefangenen ermöglichen würden, die wegen "Terrorismus" im Zusammenhang mit der PKK inhaftiert sind. Bislang gab es keine Jubelrufe oder Siegesbekundungen von beiden Seiten (AlMon 12.5.2025). Allerdings kritisierte die Ko-Vorsitzende der DEM-Partei, Tülay Hatimoğulları, nach fünf Wochen am 22. Juni, dass es keine greifbaren Schritte der Regierung in Richtung Demokratisierung oder Friedensprozess gebe. Sie forderte konkrete Maßnahmen, wie etwa die umgehende Freilassung politischer Gefangener, - darunter Figen Yüksekdağ, Selahattin Demirtaş - die Umsetzung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und die Aufhebung repressiver Gesetze, insbesondere im Kontext der sogenannten Kobanê-Prozesse. Hatimoğulları machte deutlich, dass der aktuelle Moment eine Chance für Verhandlungen sei, aber keine Garantie (ANF 22.6.2025). Der zweite Ko-Vorsitzende der DEM-Partei, Tuncer Bakırhan, forderte angesichts der ersten symbolischen, für die 11. Juli angekündigten [Anm.: nach Redaktionsschluss] Entwaffnung von PKK-Kämpfern, dass der türkische Staat mit demokratischen Reformen reagieren soll, darunter die Anerkennung der Rechte der kurdischen Sprache, die Freilassung politischer Gefangener und die Wiederherstellung politischer Freiheiten. Bakirhan drängte außerdem auf die rasche Bildung einer parlamentarischen Kommission, die die Wiedereingliederung ehemaliger Kämpfer überwachen und umfassendere kurdische Fragen durch Gesetzgebung regeln soll (Rudaw 9.7.2025).
Am 7.7.2025 kam es zu einem Treffen zwischen Staatspräsident Erdoğan und Vertretern der DEM-Partei, darunter die beiden Parlamentarier Pervin Buldan und Mithat Sancar. Anwesend waren auch der Chef des Nationalen Geheimdienstes (MİT), İbrahim Kalın, und der stellvertretende Vorsitzende der regierenden AKP, Efkan Ala. Ohne Inhalte bekannt zu geben, bekräftigten beide Seiten den gegenseitigen Willen, den Prozess voranzutreiben (TM 7.7.2025b). Staatspräsident Erdoğan sagte über das Treffen: "Wir haben unseren Willen bekräftigt, unser Ziel einer terrorfreien Türkei zu verwirklichen. Wir treten in eine neue Ära ein, in der wir mehr gute Nachrichten haben werden" (HDN 9.7.2025).
Gesellschaftliche Bruchlinien
Die türkische Gesellschaft ist nach wie vor entlang ethnischer, politischer und religiöser Bruchlinien tief gespalten. Während die Kurdenfrage eine der Spaltungslinien ist (Kurden gegen Türken), sind die Türken auch politisch (konservative Nationalisten gegen Modernisten) und religiös (sunnitische Islamisten gegen Säkularisten) gespalten. In den letzten Jahren hat der spaltende Diskurs der politischen Elite zu einer weiteren Trennung und tiefen Polarisierung zwischen dem Lager der Erdoğan-Befürworter und seinen Gegnern beigetragen (BS 19.3.2024, S. 18). Das hat auch mit der Politik zu tun, die sich auf sogenannte Identitäten festlegt. Nationalistische Politiker, beispielsweise, propagieren ein "stolzes Türkentum". Islamischen Wertvorstellungen wird zusehends mehr Gewicht verliehen. Kurden, deren Kultur und Sprache Jahrzehnte lang unterdrückt wurden, kämpfen um ihr Dasein (WZ 7.5.2023). Angesichts des Ausganges der Wahlen im Frühjahr 2023 stellte das Europäische Parlament (EP) überdies hinsichtlich der gesellschaftspolitischen Verfasstheit des Landes fest, dass nicht nur "rechtsextreme islamistische Parteien als Teil der Regierungskoalition ins Parlament eingezogen sind", sondern das EP war "besorgt über das zunehmende Gewicht der islamistischen Agenda bei der Gesetzgebung und in vielen Bereichen der öffentlichen Verwaltung, unter anderem durch den wachsenden Einfluss des Präsidiums für Religionsangelegenheiten (Diyanet) im Bildungssystem" und "über den zunehmenden Druck der Regierungsstellen sowie islamistischer und ultranationalistischer Gruppen auf den türkischen Kultursektor" (EP 13.9.2023, Pt. 17).
Autoritäre Entwicklungen
Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die die Türkei seit 2002 regieren, sind in den letzten Jahren zunehmend autoritär geworden und haben ihre Macht durch Verfassungsänderungen und die Inhaftierung von Gegnern und Kritikern gefestigt. Die AKP hat auf die jüngsten wirtschaftlichen Herausforderungen und die Niederlagen bei den Kommunalwahlen reagiert, indem sie ihre Bemühungen zur Unterdrückung abweichender Meinungen und zur Einschränkung des öffentlichen Diskurses intensiviert hat. Freedom House fügt die Türkei mittlerweile in die Kategorie "nicht frei" ein (FH 29.2.2024). Das Funktionieren der demokratischen Institutionen ist weiterhin stark beeinträchtigt. Der Demokratieabbau hat sich fortgesetzt, und die strukturellen Defizite des Präsidialsystems wurden nicht behoben (EC 30.10.2024; vgl. EP 13.9.2023, Pt. 9, WZ 7.5.2023).
Die Türkei wird heute als "kompetitives autoritäres" Regime eingestuft (MEI 1.10.2022, S. 6; vgl. DE/Aydas 31.12.2022, Güney/ORF 20.3.2025, Esen/Gumuscu 19.2.2016), in dem zwar regelmäßig Wahlen abgehalten werden, der Wettbewerb zwischen den politischen Parteien aber nicht frei und fair ist. Solche Regime, zu denen die Türkei gezählt wird, weisen vordergründig demokratische Elemente auf: Oppositionsparteien gewinnen gelegentlich Wahlen oder stehen kurz davor; es herrscht ein harter politischer Wettbewerb; die Presse kann verschiedene Meinungen und Erklärungen von Oppositionsparteien veröffentlichen; und die Bürger können Proteste organisieren. Bei genauerem Hinsehen zeigen sich jedoch ehedem Risse in der demokratischen Fassade: Regierungsgegner werden mit legalen oder illegalen Mitteln unterdrückt, unabhängige Justizorgane werden von regierungsnahen Beamten kontrolliert und die Presse- und Meinungsfreiheit gerät unter Druck. Wenn diese Maßnahmen nicht zu einem für die Regierungspartei zufriedenstellenden Ergebnis führen, müssen Oppositionsmitglieder mit gezielter Gewalt oder Inhaftierung rechnen - eine Realität, die für die türkische Opposition immer häufiger anzutreffen ist (MEI 1.10.2022, S. 6; vgl. Esen/Gumuscu 19.2.2016, Güney/ORF 20.3.2025).
Das Europäische Parlament kam im Mai 2025 ähnlich sowie zuvor im September 2023 zur Schlussfolgerung, "dass es der türkischen Regierung wie bereits in den vergangenen Jahren nach wie vor an einem klaren politischen Willen mangelt, die notwendigen Reformen durchzuführen, um den Beitrittsprozess wiederzubeleben, und dass sie sich weiterhin nach einem tief verfestigten autoritären Verständnis von einem Präsidialsystem richtet" (EP 7.5.2025, S. 3; vgl. EP 13.9.2023, Pt. 21).
Worldwide Governance Indicators
WB 2024
Erklärung: Der WGI der Weltbank misst sechs umfassende Dimensionen der Regierungsführung - je länger die Balken bzw. höher der Wert, desto positiver:
Mitspracherecht und Rechenschaftspflicht (Voice and Accountability - VA) - erfasst die Wahrnehmung des Ausmaßes, in dem die Bürger eines Landes in der Lage sind, sich an der Wahl ihrer Regierung zu beteiligen, sowie die Meinungs- und Vereinigungsfreiheit und freie Medien.
Politische Stabilität und Abwesenheit von Gewalt/Terrorismus (PV) - Erfassung der Wahrnehmung der Wahrscheinlichkeit von politischer Instabilität und/oder politisch motivierter Gewalt, einschließlich Terrorismus.
Effektivität der Regierung (GE) - Erfassung der Wahrnehmung der Qualität der öffentlichen Dienstleistungen, der Qualität des öffentlichen Dienstes und des Grades seiner Unabhängigkeit von politischem Druck, der Qualität der Politikformulierung und -umsetzung sowie der Glaubwürdigkeit des Engagements der Regierung für diese Politik.
Qualität der Regulierungen (RQ) - Erfassung der Wahrnehmung der Fähigkeit der Regierung, solide Politiken und Vorschriften zu formulieren und umzusetzen, die die Entwicklung des Privatsektors ermöglichen und fördern.
Rechtsstaatlichkeit (Rule of Law - RL) - erfasst die Wahrnehmung des Ausmaßes, in dem die Akteure Vertrauen in die gesellschaftlichen Regeln haben und diese einhalten, insbesondere die Qualität der Vertragsdurchsetzung, der Eigentumsrechte, der Polizei und der Gerichte sowie die Wahrscheinlichkeit von Verbrechen und Gewalt.
Korruptionskontrolle (CC) - Erfassung der Wahrnehmung des Ausmaßes, in dem öffentliche Macht zum privaten Vorteil ausgeübt wird, einschließlich kleiner und großer Formen der Korruption sowie der "Vereinnahmung" des Staates durch Eliten und private Interessen.
Interpretation: In den ersten Jahren nach der Machtübernahme der AKP haben sich die Indikatoren deutlich verbessert. In den letzten zehn Jahren haben sie sich, bis auf die Dimension: "Politische Stabilität und Abwesenheit von Gewalt/Terrorismus", allesamt wieder verschlechtert und liegen zum Teil unter dem Niveau von 2002.
Das Präsidialsystem
Die Türkei ist eine konstitutionelle Präsidialrepublik und laut Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat. Staats- und zugleich Regierungschef ist seit Einführung des präsidentiellen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident. Das seit 1950 bestehende Mehrparteiensystem ist in der Verfassung festgeschrieben (AA 20.5.2024, S. 5).
Am 16.4.2017 stimmten 51,4 % der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE/OSCE) und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef, setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terror-Sympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).
Entgegen den Behauptungen der Regierungspartei AKP zugunsten des neuen präsidentiellen Regierungssystems ist nach dessen Einführung das Parlament geschwächt, die Gewaltenteilung ausgehöhlt, die Justiz politisiert und die Institutionen verkrüppelt. Zudem herrschen autoritäre Praktiken (SWP 1.4.2021, S. 2). Der Abschied der Türkei von der parlamentarischen Demokratie und der Übergang zu einem Präsidialsystem im Jahr 2018 haben den Autokratisierungsprozess des Landes beschleunigt. - Die Exekutive ist der größte antidemokratische Akteur. Die wenigen verbliebenen liberal-demokratischen Akteure und Reformer in der Türkei haben nicht genügend Macht, um die derzeitige Autokratisierung der Landes umzukehren (BS 19.3.2024, S. 38). Das Europäische Parlament zeigte sich in seiner Entschließung vom 19.5.2021 "beunruhigt darüber, dass sich die autoritäre Auslegung des Präsidialsystems konsolidiert", und "dass sich die Macht nach der Änderung der Verfassung nach wie vor in hohem Maße im Präsidentenamt konzentriert, nicht nur zum Nachteil des Parlaments, sondern auch des Ministerrats selbst, weshalb keine solide und effektive Gewaltenteilung zwischen der Exekutive, der Legislative und der Judikative gewährleistet ist" (EP 19.5.2021, S. 20/Pt. 55). In einer weiteren Entschließung vom September 2023 erklärte sich das Europäische Parlament "tief besorgt über die fortwährende übermäßige Machtkonzentration beim türkischen Präsidenten ohne wirksames System von Kontrollen und Gegenkontrollen, durch die die demokratischen Institutionen des Landes erheblich geschwächt wurden; [und] betont, dass die fehlende Eigenständigkeit auf mehreren Verwaltungsebenen aufgrund der extremen Abhängigkeit vom Präsidenten bei allen Arten von Entscheidungen und der Alleinherrschaft eines einzigen Mannes ein dysfunktionales System zur Folge haben kann" (EP 13.9.2023, Pt. 20; vgl. EP 19.5.2021, Pt. 55).
Machtfülle des Staatspräsidenten
Die exekutive Gewalt ist beim Präsidenten konzentriert. Dieser verfügt überdies über umfangreiche legislative Kompetenzen und weitgehenden Zugriff auf die Justizbehörden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 7; vgl. EC 30.10.2024, S. 19f.). Die gesetzgebende Funktion des Parlaments wird durch die häufige Anwendung von Präsidialdekreten und Präsidialentscheidungen eingeschränkt. So hat auch die politische Opposition nur sehr begrenzte Möglichkeiten die Tagesordnung der Parlamentsdebatten zu beeinflussen. Das Fehlen einer wirksamen gegenseitigen Kontrolle und die Unfähigkeit des Parlaments, das Amt des Präsidenten wirksam zu überwachen, führen dazu, dass dessen politische Rechenschaft auf die Zeit der Wahlen beschränkt ist. Die öffentliche Verwaltung, die Gerichte und die Sicherheitskräfte stehen unter dem starken Einfluss der Exekutive. Die Präsidentschaft übt direkte Autorität über alle wichtigen Institutionen und Regulierungsbehörden aus (EC 30.10.2024, S. 19f.; vgl. EP 19.5.2021, S. 20/ Pt. 55).
Präsidentendekrete unterliegen grundsätzlich keiner parlamentarischen Überprüfung und können nur noch vom Verfassungsgericht aufgehoben werden (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 7) und zwar nur durch eine Klage von einer Gruppe von Abgeordneten, die ein Fünftel der Parlamentssitze repräsentieren, aktuell etwa von einer der beiden größten Parlamentsfraktionen (SWP 1.4.2021, S. 9). Die Mitglieder des Parlaments können nur schriftliche Anfragen an den Vizepräsidenten und die Minister richten und sind gesetzlich nicht befugt, den Präsidenten offiziell zu befragen. Ordentliche Präsidialdekrete unterliegen nicht der parlamentarischen Kontrolle (EC 30.10.2024, S. 19). Die im Rahmen des Ausnahmezustands erlassenen Dekrete des Präsidenten jedoch müssen dem Parlament zur Genehmigung vorgelegt werden (EC 8.11.2023, S. 19).
Die Konzentration der Exekutivgewalt in einer Person bedeutet, dass der Präsident gleichzeitig die Befugnisse des Premierministers und des Ministerrats übernimmt, die beide durch das neue System abgeschafft wurden (Art. 8). Die Minister werden nun nicht mehr aus den Reihen der Parlamentarier, sondern von außen gewählt; sie werden vom Präsidenten ohne Beteiligung des Parlaments ernannt und entlassen und damit auf den Status eines politischen Staatsbeamten reduziert (SWP 1.4.2021, S. 9). Unter dem Präsidialsystem sind viele Regulierungsbehörden und die Zentralbank direkt mit dem Präsidentenamt verbunden, wodurch deren Unabhängigkeit untergraben wird (EC 12.10.2022, S. 14). Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab der Armee, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der "Souveräne Wohlfahrtsfonds", sind dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019, S. 14). Auch die Zentralbank steht weiterhin unter merkbaren politischen Druck und es mangelt ihr an Unabhängigkeit (EC 8.11.2023, S. 10f., 65).
Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidentendekrete zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidentendekreten beantragen kann (EC 29.5.2019, S. 14).
Die Zentralisierung der Politikgestaltung im Rahmen des Präsidialsystems setzt sich fort, was ein inklusives, partizipatives und evidenzbasiertes System der Politikgestaltung weiter verhindert. Insgesamt mangelt es an einer funktionalen Aufteilung der Aufgaben und Zuständigkeiten zwischen den verschiedenen Regierungsinstitutionen, was zu einer "Überzentralisierung" und Ineffizienz der öffentlichen Verwaltung führt (EC 30.10.2024, S. 80). Das System des öffentlichen Dienstes ist weiterhin von Parteinahme und Politisierung geprägt. In Verbindung mit der übermäßigen präsidialen Kontrolle auf jeder Ebene des Staatsapparats hat dies zu einem allgemeinen Rückgang von Effizienz, Kapazität und Qualität der öffentlichen Verwaltung geführt (EP 19.5.2021, S. 20, Pt. 57).
Monitoring des Europarates
Der Europarat leitete im April 2017 im Zuge der Verfassungsänderung, welche zur Errichtung des Präsidialsystems führte, ein parlamentarisches Monitoring über die Türkei als dessen Mitglied ein, um mögliche Fehlentwicklungen aufzuzeigen. PACE stellte in ihrer Resolution vom April 2021 fest, dass zu den schwerwiegendsten Problemen die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, das Fehlen ausreichender Garantien für die Gewaltenteilung und die gegenseitige Kontrolle, die Einschränkung der Meinungs- und Medienfreiheit, die missbräuchliche Auslegung der Anti-Terror-Gesetzgebung, die Nichtumsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), die Einschränkung des Schutzes der Menschen- und Frauenrechte und die Verletzung der Grundrechte von Politikern und (ehemaligen) Parlamentsmitgliedern der Opposition, Rechtsanwälten, Journalisten, Akademikern und Aktivisten der Zivilgesellschaft gehören (CoE-PACE 22.4.2021, S. 1; vgl. EP 19.5.2021, S. 7-14).
Präsidentschaftswahlen
Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit (seit der Verfassungsänderung 2017) einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 7). - Am 10.3.2023 rief der Präsident im Einklang mit der Verfassung und im Einvernehmen mit allen politischen Parteien vorgezogene Parlamentswahlen für den 14.5.2023 aus (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 4; vgl. PRT 10.3.2023).
Da keiner der vier Präsidentschaftskandidaten am 14.5.2023 die gesetzlich vorgeschriebene absolute Mehrheit für die Wahl erreichte, wurde für den 28.5.2023 eine zweite Runde zwischen den beiden Spitzenkandidaten, Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan und dem von der Opposition unterstützten Kemal Kılıçdaroğlu, angesetzt (OSCE/ODIHR 29.5.2023, S. 1). Wie schon in der ersten Runde verschafften eine einseitige Medienberichterstattung und das Fehlen gleicher Ausgangsbedingungen dem Amtsinhaber auch in der am 28.5.2023 abgehaltenen Stichwahl einen ungerechtfertigten Vorteil. Der Wahlkampf war dominiert von einer harten Rhetorik, hetzerischen und diskriminierenden Äußerungen beider Kandidaten sowie einer anhaltenden Einschüchterung und Schikanierung von Anhängern einiger Oppositionsparteien (OSCE/ODIHR 29.5.2023, S. 1). Diesbezüglicher "Höhepunkt" waren Fake News von Amtsinhaber Erdoğan. - Dieser zeigte während einer Wahl-Kundgebung eine Videomontage, in der es so aussah, als würden PKK-Führungskräfte das Wahlkampflied der größten Oppositionspartei CHP singen (Duvar 7.5.2023; vgl. DW 23.5.2023) und Kılıçdaroğlu an den PKK-Kommandanten, Murat Karayilan, appellieren: "Lasst uns gemeinsam zur Wahlurne gehen" (ARD 28.5.2023; vgl. DW 23.5.2023). In Folge wurde die Manipulation von Erdoğan zugegeben (ARD 28.5.2023; vgl. DS 24.5.2023). Dies hielt Erdoğan nicht davon ab, unmittelbar vor der Präsidenten-Stichwahl abermals "offenkundige Absprachen" zwischen Kılıçdaroğlu und PKK-Terroristen in den Kandil-Bergen zu behaupten (DS 24.5.2023).
In einem Umfeld, in dem das Recht auf freie Meinungsäußerung eingeschränkt ist, haben sowohl die privaten als auch die öffentlich-rechtlichen Medien bei ihrer Berichterstattung über den Wahlkampf keine redaktionelle Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gewährleistet, was die Fähigkeit der Wähler, eine fundierte Wahl zu treffen, beeinträchtigt hat (OSCE/ODIHR 29.5.2023, S. 1). Amtsinhaber Erdoğan gewann die Stichwahl mit rund 52 %, während sein Herausforderer, Kılıçdaroğlu, knapp 48 % gewann (AnA 29.5.2023; vgl. Politico 29.5.2023, taz 10.4.2023).
Das Parlament
Der Rechtsrahmen bietet nicht in vollem Umfang eine solide Rechtsgrundlage für die Durchführung demokratischer Wahlen. Die noch unter dem Kriegsrecht verabschiedete Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht in ausreichendem Maße, da sie sich auf Verbote zum Schutz des Staates konzentriert und Rechtsvorschriften zulässt, die weitere unzulässige Einschränkungen mit sich bringen. Die Mitglieder des 600 Sitze zählenden Parlaments werden für eine fünfjährige Amtszeit [zuvor vier Jahre] nach einem Verhältniswahlsystem in 87 Mehrpersonenwahlkreisen gewählt. Vor der Wahl sind Koalitionen erlaubt, aber die Parteien, die in einer Koalition kandidieren, müssen individuelle Listen einreichen. Im Einklang mit einer langjährigen Empfehlung der OSZE und der Venedig-Kommission des Europarats wurde mit den Gesetzesänderungen von 2022 die Hürde für Parteien und Koalitionen, um in das Parlament einzuziehen, von 10 % auf 7 % gesenkt (OSCE/ODIHR 15.5.2023 S. 6f.).
Bei den gleichzeitig mit der ersten Runde der Präsidentschaftswahl stattgefundenen Parlamentswahlen erhielt die "Volksallianz" unter Führung der AKP mit 49 % der Stimmen eine absolute Mehrheit der 600 Parlamentssitze. - Die AKP gewann hierbei 268 (35,6 %), die ultranationalistische MHP 50 (10,1 %) und die islamistische Neue Wohlfahrtspartei - Yeniden Refah Partisi (YRP) fünf Sitze (2,8 %). Das Oppositionsbündnis "Allianz der Nation" unter der Führung der säkularen, sozialdemokratisch ausgerichteten CHP erlangte 35 %, wobei die CHP 169 (25,3 %) und die nationalistische İYİ-Partei 43 Sitze (9,7 %) errang. Aus dem Bündnis mehrerer Linksparteien unter dem Namen "Arbeit und Freiheitsallianz" schafften die Links-Grüne Partei - Yeşil Sol Parti (YSP) mit künftig 61 (8,8 %) und die "Arbeiterpartei der Türkei" -Türkiye İşçi Partisi (TİP) mit vier Abgeordneten den Sprung ins Parlament (TRT 2023; vgl. BBC 22.5.2023).
Duvar 18.5.2023
In der neu gewählten Nationalversammlung sitzen zusätzlich Vertreter und Vertreterinnen mehrer Kleinparteien, welche auf den Listen der AKP, der CHP und er YSP standen. So entfallen [Stand: Mai 2023] von den 268 Sitzen der AKP vier auf die kurdisch-islamistische Partei der Freien Sache, Hür Dava Partisi - HÜDA-PAR und ein Sitz auf die Demokratische Linkspartei, Demokratik Sol Parti - DSP. Von den 149 Mandaten der CHP gehören 14 der Partei für Demokratie und Fortschritt, Demokrasi ve Atılım Partisi - DEVA [des ehemaligen Wirtschaftsministers Ali Babacan], zehn der Zukunftspartei, Gelecek Partisi - GP [des ehemaligen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu] und weitere zehn der islamisch-konservativen Partei der Glückseligkeit, Saadet Partisi -SP und drei der Demokratischen Partei, Demokrat Parti - DP. Über die CHP-Liste bekam die ansonsten eigenständig kandidierende İYİ-Partei zu ihren 43 Sitzen noch einen Sitz dazu. Über die Listen der Links-Grünen Partei erhielten die Partei der Arbeit, Emek Partisi - EMEP zwei sowie die Partei der Sozialen Freiheit, Toplumsal Özgürlük Partisi - TÖP eines der YSP-Mandate [Anm.: Die Zahl der YSP von 63 in der Grafik entspricht nicht jener des amtlichen Wahlresultats von 61 Mandataren] (Duvar 18.5.2023, vgl. BIRN 19.5.2023), was mit den übrigen 58 YSP die offiziellen 61 Parlamentarier ergibt (BIRN 19.5.2023).
Einen Monat vor der Wahl zog die HDP ihre Kandidatur als Partei aufgrund des seit 2021 laufenden Verbotsverfahrens gegen sie zurück und stellte ihre Kandidaten auf die Liste der mit ihr verbündeten Kleinpartei YSP zu den Wahlen (taz 10.4.2023; vgl. AJ 11.5.2023).
Die Parlamentswahlen fanden inmitten einer erheblichen Polarisierung und eines intensiven Wettbewerbs zwischen den Regierungs- und den Oppositionsparteien statt, die unterschiedliche politische Programme zur Gestaltung der Zukunft des Landes vertraten. Während des Wahlkampfs wurden die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit im Allgemeinen respektiert, mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen. Vertreter der YSP sahen sich durchgängig Druck und Einschüchterungen ausgesetzt, die sich gegen ihre Wahlkampfveranstaltungen und Unterstützer richteten und zu systematischen Festnahmen führten. So leitete der Generalstaatsanwalt von Diyarbakır am 10.4.2023 eine Untersuchung aller Reden ein, die auf einer YSP-Wahlveranstaltung gehalten wurden, um festzustellen, ob irgendwelche Reden "terroristische Propaganda" enthielten. Darüber hinaus wurden einige weitere Fälle von Eingriffen in das Recht auf freie Meinungsäußerung beobachtet, die sich gegen Oppositionsparteien, Kandidaten und Unterstützer richteten (OSCE/ODIHR 15.5.2023, S. 1, 13).
Die Demokratische Partei der Völker - HDP, die aufgrund des laufenden Verbotsverfahrens vor dem Verfassungsgericht von der Schließung bedroht war, nahm an den Parlamentswahlen vom 14.5.2023 unter den Listen der Links-Grünen Partei - YSP teil. Am 27.8.2023 stellte die HDP auf ihrem vierten außerordentlichen Kongress ihre Aktivitäten ein und beschloss, den politischen Kampf unter dem Dach der YSP fortzusetzen. Die YSP wiederum hielt ihren vierten großen Kongress am 15.10.2023 ab und änderte ihren Namen in Partei für Gleichheit und Demokratie der Völker - Halkların Eşitlik ve Demokrasi Partisi - HEDEP (Bianet 16.10.2023; vgl. FES 7.12.2023, S. 6). Der Kassationsgerichtshof entschied, die Abkürzung HEDEP nicht zuzulassen, weil sie eine zu große Ähnlichkeit mit der verbotenen Vorgängerpartei HADEP aufwies (FES 7.12.2023; vgl. Bianet 24.11.2023). Am 11.12.2023 änderte HEDEP ihre Abkürzung in DEM-Partei, nachdem der Kassationsgerichtshof eine Änderung aufgrund der Ähnlichkeit mit der geschlossenen Partei für Volksdemokratie (HADEP) gefordert hatte. Der vollständige neue Name der Partei wurde nicht geändert. Das Wort "Demokratie" im Parteinamen wurde verwendet, um die Abkürzung zu bilden (Duvar 11.12.2023; vgl. TM 11.12.2023).
Kommunalwahlen
Am 31.3.2024 haben in der Türkei Kommunalwahlen stattgefunden. Diese waren insofern von Bedeutung, da 20 % aller Beschäftigten der Türkei allein in Istanbul leben und dort mehr als die Hälfte der landesweiten Exporte und Importe abgefertigt werden. Außerdem stehen Istanbul und die Hauptstadt Ankara gemeinsam mit den Städten Izmir, Adana, Muğla und Antalya für fast die Hälfte der Wirtschaftsleistung des Landes (DW 1.4.2024). - Erstmals seit ihrer Gründung 2001 wurde die islamisch-konservative Partei AKP von Präsident Erdoğan mit 35,5 % nur zweitstärkste Kraft. Die oppositionelle CHP kam landesweit auf 37,7 %. Sie gewann in 21 Städten und 14 Großstädten unter anderem in Istanbul, Ankara, Izmir, Bursa, Adana und Antalya. Sie übernahm auch einige ehemalige AKP-Hochburgen in Anatolien. Im Südosten der Türkei gewann die pro-kurdisch DEM-Partei, Nachfolgerin der HDP, zehn Provinzen (BPB 22.5.2024; vgl. DW 1.4.2024, Jacobin 23.4.2024). Die CHP wurde zum ersten Mal seit 1977 wieder die führende Partei im Land. Sie baute ihre Regierungskontrolle von 22 auf 35 Provinzen aus. In den kurdischen Gebieten war die Niederlage der AKP noch deutlicher. Sie verlor beispielsweise Muş und Ağri an die DEM-Partei (Jacobin 23.4.2024). Die Wahl hat außerdem gezeigt, dass mit der Neuen Wohlfahrtspartei (Yeniden Refah Partisi - YRP) von Fatih Erbakan eine islamisch-konservative Partei entstanden ist, die für die AKP-Basis eine Alternative darstellt (FES 11.7.2024, S. 4). Die YRP wurde in der Provinz Şanliurfa stärkste Partei (Jacobin 23.4.2024). Laut Experten war die angespannte wirtschaftliche Lage entscheidend für das schlechte Abschneiden der AKP. Bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2023 konnten Erdoğan die AKP noch viele Wahlgeschenke an die Pensionisten und die Wirtschaft machen. Dieses Mal war dies angesichts der leeren Staatskassen nicht mehr möglich (DW 1.4.2024).
Eingriffe in die lokale Demokratie
Im September 2016 verabschiedete die Regierung ein Dekret, das es ihr erlaubt, "Treuhänder" anstelle von gewählten Bürgermeistern, stellvertretenden Bürgermeistern oder Mitgliedern von Gemeinderäten zu ernennen, die wegen Terrorismusvorwürfen suspendiert wurden. Dieses Dekret wurde erneut nach den Wahlen 2024 und bis ins Jahr 2025 angewendet (DFAT 16.5.2025, S. 23).
Was die kommunale Selbstverwaltung betrifft, so hielt die Regierung den Druck auf oppositionelle Bürgermeister aufrecht, auch mit administrativen und gerichtlichen Mitteln. Die Praxis der Absetzung von Bürgermeistern und deren Ersetzung durch Treuhänder gibt nach wie vor Anlass zu ernster Besorgnis, da sie laut Europäischer Kommission die lokale Demokratie untergräbt und den Wählern ihre bevorzugte Vertretung vorenthält (EC 30.10.2024, S. 19).
Ausführliches zur Verfolgung von Oppositionsparteien und Parlamentsabgeordneten durch die Justiz und die Absetzung von Bürgermeistern und die Installierung von Treuhändern der Regierung siehe das Unterkapitel: Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit / Opposition.
Sicherheitslage
Letzte Änderung 2025-08-06 13:33
Aktuelle Situation angesichts der formalen Auflösung der PKK
Die offizielle Auflösung der PKK am 12.5.2025 ist ein wichtiger Schritt zur Beendigung des bewaffneten Konflikts. Die Waffenruhe, die im Zuge der Auflösung ausgerufen wurde, hat das Potenzial, die Sicherheitslage in der Türkei zu entspannen. Es bleibt jedoch ungewiss, ob alle PKK-nahen Gruppierungen die Entscheidung zur Auflösung mittragen, oder es dennoch zu gewaltsamen Zwischenfällen kommt. Die Erklärung vom 12.5.2025 betrifft zunächst nur die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) sowie ihre militärischen Verbände. Die Schwesterparteien im Irak, Syrien und Iran sind hingegen nicht aufgelöst worden [Stand: Anfang Juli 2025] (FES 16.6.2025; vgl. DlF 13.5.2025).
Die Auflösung wird laut Quellen weitreichende politische und sicherheitspolitische Folgen für die Region haben, darunter auch für den benachbarten Irak und Syrien. Laut Quellen, die mit den Verhandlungen zwischen der PKK und der türkischen Regierung vertraut sind, gibt es noch einige ungelöste Fragen (Majalla 11.5.2025). - Die kurdische Region in Syrien (Rojava) bleibt beispielsweise ein zentraler Streitpunkt zwischen der türkischen Regierung einerseits und der PKK sowie der syrisch-kurdischen PYD (Partei der Demokratischen Union - Partiya Yekîtiya Demokrat) andererseits, denn die türkische Regierung hat die PYD, YPG (Volksverteidigungseinheiten - Yekîneyên Parastina Gel) und die SDF (Demokratischen Kräfte Syriens) stets als Ableger der PKK betrachtet. Die PKK wiederum sieht in Rojava ihr ideologisches und strategisches Projekt (BPB 16.6.2025). Offen bleiben [Stand: Anfang Juli 2025] das Wann und Wo sowie die Aufsicht der Übergabe der Waffen, die mögliche Rückkehr der PKK-Kämpfer und die Zukunft der Führungskader. So soll der türkische Geheimdienst MİT laut Berichten diese Waffenübergabe an Orten in der Türkei, aber auch in Syrien und dem Irak überwachen. PKK-Kämpfer, die sich keines Verbrechens schuldig gemacht haben, soll die Rückkehr ohne Strafverfolgung ermöglicht werden, während Führungspersönlichkeiten in Drittländern Exil eröffnet werden soll (TM 15.5.2025). Die PKK ist hauptsächlich im Nordirak ansässig, weshalb die Beteiligung sowohl der Zentralregierung in Bagdad als auch der Regionalregierung Kurdistans (KRG) in Erbil für den Erfolg der Bemühungen um Entwaffnung, Demobilisierung und Wiedereingliederung unerlässlich ist. Sowohl die KRG-Behörden als auch Bagdad haben angeboten, die nächsten Schritte zu unterstützen. Sie könnten bestimmte Aufgaben bei der Einsammlung und Vernichtung von Waffen, der Überprüfung der Einhaltung der Vereinbarungen sowie der Umsiedlung und Wiedereingliederung der Mitglieder in das zivile Leben übernehmen (ICG 16.5.2025).
Akteure der Sicherheitsbedrohung
Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Gülen-Bewegung, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete [Anm.: nun aufgelöste] PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG (Yekîneyên Parastina Gel - Volksverteidigungseinheiten) in Syrien, durch den Islamischen Staat (IS) (AA 20.5.2024, S. 4; vgl. USDOS 12.12.2024, Crisis 24 25.8.2023, EC 30.10.2024, S. 38) und durch weitere terroristische Gruppierungen, wie die linksextremistische Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front - DHKP-C und die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) (AA 3.6.2021, S. 16; vgl. USDOS 12.12.2024, Crisis 24 25.8.2023, EC 30.10.2024, S. 38).
Siehe zu den Genannten die Unterkapitel: Sicherheitslage / Gülen- oder Hizmet-BewegungSicherheitslage / Terroristische Gruppierungen: MLKP – Marksist Leninist Komünist Parti (Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei)Sicherheitslage / Terroristische Gruppierungen: DHKP-C – Devrimci Halk Kurtuluş Partisi-Cephesi (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front)Sicherheitslage / Terroristische Gruppierungen: sog. IS – Islamischer Staat (alias Daesh)Sicherheitslage / Terroristische Gruppierungen: sog. IS – Islamischer Staat (alias Daesh) / Islamischer Staat – Provinz Khorasan (ISKP).
Höhepunkt der Terroranschläge und bewaffneter Aufstände 2015-2017
Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihren mutmaßlichen Ableger, den TAK (Freiheitsfalken Kurdistans - Teyrêbazên Azadîya Kurdistan), den IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front - Devrimci Halk Kurtuluş Partisi- Cephesi – DHKP-C) (SZ 29.6.2016; vgl. AJ 12.12.2016). Seit dem Zusammenbruch des Waffenstillstands zwischen der türkischen Regierung und der PKK im Juli 2015 haben die türkischen Streitkräfte in mehreren Provinzen im Südosten des Landes Sicherheitsoperationen durchgeführt. An diesen Operationen waren Infanterie-, Artillerie- und Panzereinheiten sowie die türkische Luftwaffe beteiligt (DFAT 16.5.2025, S. 10; vgl. BICC 2.2025, S. 32f.).
Hierdurch wiederum verschlechterte sich die Bürgerrechtslage, insbesondere infolge eines sehr weit gefassten Anti-Terror-Gesetzes, vor allem für die kurdische Bevölkerung in den südöstlichen Gebieten der Türkei. Die neue Rechtslage diente als primäre Basis für Inhaftierungen und Einschränkungen von politischen Rechten. Es wurde zudem wiederholt von Folter und Vertreibungen von Kurden und Kurdinnen berichtet. Im Dezember 2016 warf Amnesty International der Türkei gar die Vertreibung der kurdischen Bevölkerung aus dem Südosten des Landes sowie eine Unverhältnismäßigkeit im Kampf gegen die PKK vor (BICC 2.2025, S. 323). Kritik gab es auch von den Institutionen der Europäischen Union am damaligen Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte. - Die Europäische Kommission zeigte sich besorgt ob der unverhältnismäßigen Zerstörung von privatem und kommunalem Eigentum und Infrastruktur durch schwere Artillerie, wie beispielsweise in Cizre (EC 9.11.2016, S. 28). Im Frühjahr 2016 zeigte sich das Europäische Parlament "in höchstem Maße alarmiert angesichts der Lage in Cizre und Sur/Diyarbakır und verurteilt[e] die Tatsache, dass Zivilisten getötet und verwundet werden und ohne Wasser- und Lebensmittelversorgung sowie ohne medizinische Versorgung auskommen müssen [...] sowie angesichts der Tatsache, dass rund 400.000 Menschen zu Binnenvertriebenen geworden sind" (EP 14.4.2016, S. 11, Pt. 27). Das türkische Verfassungsgericht hat allerdings eine Klage im Zusammenhang mit dem Tod mehrerer Menschen zurückgewiesen, die während der 2015 und 2016 verhängten Ausgangssperren im Bezirk Cizre in der mehrheitlich kurdisch bewohnten südöstlichen Provinz Şırnak getötet wurden. Das oberste Gericht erklärte, dass Artikel 17 der Verfassung über das "Recht auf Leben" nicht verletzt worden sei (Duvar 8.7.2022b). Vielmehr sei laut Verfassungsgericht die von der Polizei angewandte tödliche Gewalt notwendig gewesen, um die Sicherheit in der Stadt zu gewährleisten (TM 4.11.2022). Zum Menschenrecht "Recht auf Leben" siehe auch das Kapitel: Allgemeine Menschenrechtslage und zum Thema Binnenflüchtlinge das Unterkapitel: Flüchtlinge / Binnenflüchtlinge (IDPs).
Entwicklungen bis zur Auflösung der PKK
Zwischen 2016 und 2023 stieg die Gewaltrate allmählich im gesamten Nordirak sowie in Nordsyrien an, wo sich die Eskalation zwischen den türkischen Sicherheitskräften, den Volksverteidigungseinheiten - YPG (die syrische Schwesterorganisation der PKK) verschärfte. Die Eskalation innerhalb der Türkei hingegen ging in diesem Zeitraum deutlich zurück (ICG 8.1.2024). Die Zusammenstöße in der Türkei dauerten auch in den Jahren 2023 und 2024 an, wenn auch mit geringerem Tempo als in den Vorjahren (DFAT 16.5.2025, S. 10f.). Die anhaltenden Bemühungen im Kampf gegen den Terrorismus haben die terroristischen Aktivitäten verringert und die Sicherheitslage verbessert (EC 30.10.2024, S. 58).
Die Maßnahmen der Sicherheitskräfte gegen die PKK betrafen in unverhältnismäßiger Weise kurdische Gemeinden. Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern, die den Zugang für Besucher und in einigen Fällen auch für Einwohner einschränkten (USDOS 22.4.2024, S. 24, 42, 68).
Opferbilanz
Angaben der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) zufolge kamen 2023 242 Personen bei bewaffneten Auseinandersetzungen ums Leben, davon 173 bewaffnete Kämpfer, 69 Angehörige der Sicherheitskräfte, jedoch keine Zivilisten (İHD/HRA 23.8.2024, S. 2). Das waren deutlich weniger als in der İHD-Zählung von 2022 als 122 Angehörige der Sicherheitskräfte, 276 bewaffnete Militante und neun Zivilisten den Tod fanden (İHD/HRA 27.9.2023a).
Die International Crisis Group (ICG) zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe am 20.7.2015 bis zum 4.6.2025 7.227 (4.851 PKK-Kämpfer, 1.501 Sicherheitskräfte - in der Mehrzahl Soldaten [1.065], aber auch 304 Polizisten und 132 sogenannte Dorfschützer - 649 Zivilisten und 226 nicht-zuordenbare Personen). Die Zahl der Todesopfer im PKK-Konflikt in der Türkei erreichte im Winter 2015-2016 ihren Höhepunkt. Zu dieser Zeit konzentrierte sich der Konflikt auf eine Reihe mehrheitlich kurdischer Stadtteile im Südosten der Türkei. In diesen Bezirken hatten PKK-nahe Jugendmilizen Barrikaden und Schützengräben errichtet, um die Kontrolle über das Gebiet zu erlangen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben die Kontrolle über diese städtischen Zentren im Juni 2016 wiedererlangt. Seitdem ist die Zahl der Todesopfer allmählich zurückgegangen. - Seit der formalen Auflösung der PKK haben sich die Zusammenstöße deutlich reduziert. - Während im Jänner noch 16 und im Februar noch zwölf Tote verzeichnet wurden, sanken die monatlichen Opferzahlen seit März 2025 in den einstelligen Bereich [siehe Grafik] (ICG 5.6.2025).
Die Türkei setzte ihr Vorgehen gegen die PKK trotz der von der Gruppe erklärten Waffenruhe fort. So wurden im Irak und in Syrien laut offizieller Verlautbarung des Verteidigungsministeriums im März 2025 insgesamt 26 "Terroristen" neutralisiert (AP 6.3.2025; vgl. ORF 13.3.2025). Ende Mai wurden im Nord-Irak zwei PKK getötet (ICG 6.2025).
ICG 5.6.2025
Das türkische Parlament stimmte im Oktober 2023 einem Memorandum des Präsidenten zu, das den Einsatz der türkischen Armee im Irak und in Syrien um weitere zwei Jahre verlängert. Das Memorandum, das die "zunehmenden Risiken und Bedrohungen für die nationale Sicherheit aufgrund der anhaltenden Konflikte und separatistischen Bewegungen in der Region" hervorhebt, wurde mit 357 Ja-Stimmen und 164 Nein-Stimmen angenommen. Die wichtigste Oppositionspartei, die Republikanische Volkspartei (CHP), und die pro-kurdische Partei für Gleichberechtigung und Demokratie (HEDEP), inzwischen in Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie (DEM-Partei) umbenannt, waren unter den Gegnern des Memorandums und wiederholten damit ihre ablehnende Haltung von vor zwei Jahren (HDN 18.10.2023; vgl. AlMon 17.10.2023). Im Rahmen des Mandats, das erstmals 2014 in Kraft trat und mehrfach verlängert wurde, führte die Türkei mehrere Bodenangriffe in Syrien und im Irak durch (AlMon 17.10.2023).
Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen
Letzte Änderung 2025-08-06 13:33
Allgemeine Situation der Rechtsstaatlichkeit und des Justizwesens
Der systembedingte Mangel an Unabhängigkeit der Justiz ist eines der größten Probleme in der Türkei. Die Exekutive bzw. die Regierung übt eine erhebliche Kontrolle über die Justiz aus und mischt sich häufig in gerichtliche Entscheidungen ein, wodurch die Rechtsstaatlichkeit und die Unabhängigkeit der Justiz immer weiter zurückgedrängt werden. Die Justiz ist nach wie vor ein zentrales Instrument der Regierung, um die Opposition zum Schweigen zu bringen und Andersdenkende zu inhaftieren (BS 19.3.2024, S. 12f.; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 11f., CAT 14.8.2024, S. 11, AI 29.4.2025, EP 7.5.2025, Pt. 8). Zudem ist die Justiz auch bei der Untersuchung und Verfolgung größerer Korruptionsfälle der Einmischung der Regierung ausgesetzt (USDOS 22.4.2024, S. 58). Insbesondere infolge der Verabschiedung des Gesetzes Nr. 6524 im Jahr 2014 und der Verfassungsänderungen von 2017 hat die Kontrolle der Exekutive über die Justiz drastisch zugenommen, dies trotz der Bestimmungen von Art. 138 der Verfassung und Art. 4 des Gesetzes Nr. 2802, die beide die Unabhängigkeit der Judikative betreffen (UNHRCOM 28.11.2024, S. 9). - Das Europäische Parlament sah zuletzt im Mai 2025 u. a. den kritischen Zustand des Justizwesens – einschließlich der mangelnden Achtung der Urteile des Verfassungsgerichts – als einen der Hauptgründe für die katastrophale Lage der Rechtsstaatlichkeit und sprach hierbei von der "Untergrabung der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei durch die türkische Regierung" (EP 7.5.2025, G, R).
Die ernsten Bedenken der EU über die anhaltende Verschlechterung der demokratischen Standards, der Rechtsstaatlichkeit, der Unabhängigkeit der Justiz und der Achtung der Grundrechte wurden laut Europäischer Kommission nicht berücksichtigt (EC 30.10.2024, S. 3; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 1, 11f.). Ende November 2024 kam auch Kritik seitens des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen, und zwar in Hinblick auf die Umsetzung des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (International Covenant on Civil and Political Rights - ICCPR). - Der Ausschuss war der Auffassung, "dass die im April 2017 während des Ausnahmezustands vorgenommenen Verfassungsänderungen die Befugnisse der Exekutive auf Kosten des Parlaments und der Justiz unverhältnismäßig gestärkt haben, was berechtigte Bedenken hinsichtlich einer mangelnden Rechenschaftspflicht und Gewaltenteilung im Vertragsstaat aufkommen lässt, insbesondere im Hinblick auf die Verabschiedung von Gesetzen ohne Beteiligung des Parlaments und die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten ohne wirksame Kontrollverfahren (Art. 4). [...] Der Vertragsstaat sollte in Erwägung ziehen, seine Gesetzgebung zu überarbeiten, um die Rechenschaftspflicht zu gewährleisten und den Grundsatz der Gewaltenteilung strikt einzuhalten, insbesondere in Bezug auf die Judikative. Ferner sollte er in Gesetz und Praxis die volle Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz gewährleisten" [Originalzitat auf Englisch] (UNHRCOM 28.11.2024, S. 2).
Justizreformen
Strategische Reformdokumente sind zwar vorhanden, reichen aber nicht aus, um die erheblichen Mängel zu beheben. Die Strategie für die Justizreform 2019-2023 geht nicht in vollem Umfang auf Mängel des Justizwesens ein. Das achte Justizreformpaket wurde im März 2024 angenommen, geht aber ebenfalls nicht angemessen auf die strukturellen Mängel des Justizsystems ein (EC 30.10.2024, S. 25, S. 19). Die im Jänner 2025 veröffentlichte Justizreformstrategie (2025-2029) fokussiert auf die Beschleunigung von Gerichtsverfahren. Maßnahmen zur Stärkung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz, welche die zentralen Mängel des türkischen Justizsystems angehen, werden ausschließlich im Rahmen einer möglichen Verfassungsreform behandelt. Die Strategie enthält keine konkreten Vorschläge zur Lösung der von der Venedig-Kommission identifizierten Probleme (ÖB Ankara 4.2025, S. 18). So bedauerte das Europäische Parlament im Mai 2025 "zutiefst, dass sich die Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei trotz einer Reformstrategie, die neun Pakete von Justizreformen umfasst, nach wie vor in einem desolaten Zustand befindet, nachdem die Regierung systematisch in das Justizsystem eingegriffen und es politisch instrumentalisiert hat" (EP 7.5.2025, Pt. 8).
Die Korrektur der Anti-Terror-Gesetzgebung stand im Zentrum des achten Reformpaketes. - Die umstrittenste Bestimmung des Pakets betraf nämlich den Straftatbestand der "Begehung von Straftaten im Namen einer terroristischen Vereinigung, ohne deren Mitglied zu sein", der in Artikel 220/6 des türkischen Strafgesetzbuchs (TCK) geregelt war, aber im September 2023 vom Verfassungsgericht als verfassungswidrig aufgehoben worden war. In der Begründung für seine einstimmige Entscheidung erklärte das Verfassungsgericht, dass die Bestimmung "nicht klar und vorhersehbar genug ist, um willkürliche Praktiken von Behörden zu verhindern, und nicht den Kriterien der Rechtmäßigkeit entspricht" (EI 4.4.2024; vgl. AI 29.4.2025, MLSA 23.2.2024). Die Änderung von Artikel 220/6 trägt allerdings den bereits bestehenden Bedenken in Bezug auf Klarheit und Vorhersehbarkeit zum besseren Schutz der Menschenrechte von Personen, die einer Straftat beschuldigt werden, nicht in vollem Umfang Rechnung, da der vorgeschlagene Artikel nach wie vor keine klaren Kriterien dafür enthält, wann die Begehung einer Straftat im Namen einer bewaffneten Organisation unter Strafe gestellt werden kann, womit das Gesetz keine auf internationalen Standards basierenden Garantien gegen willkürliche Eingriffe durch staatliche Behörden bietet (AI 29.2.2024, S. 2f.; vgl. UNHRCOM 28.11.2024, S. 4). Das heißt, mit dem Justizreformpaket 2024 wurde die Vorschrift über die "Begehung von Straftaten im Namen einer Organisation, ohne Mitglied zu sein", trotz vorhergehender Aufhebung und des Auftrages durch das Verfassungsgericht an den Gesetzesgeber innert vier Monaten die Mängel im Gesetzestext zu beheben, unverändert übernommen. Die gleiche Bestimmung gilt auch für "bewaffnete kriminelle Organisationen" gemäß Artikel 314 des Strafgesetzbuches (MLSA 23.2.2024).
Auswirkungen der Anti-Terror-Gesetzgebung
Mit Auslaufen des Ausnahmezustandes im Juli 2018 beschloss das Parlament das Gesetz Nr. 7145, durch das Bestimmungen im Bereich der Grundrechte abgeändert wurden. Zu den zahlreichen, nunmehr gesetzlich verankerten Maßnahmen aus der Periode des Ausnahmezustandes zählt insbesondere die Übertragung außerordentlicher Befugnisse an staatliche Behörden sowie Einschränkungen der Grundfreiheiten. Problematisch ist vor allem der weit ausgelegte Terrorismus-Begriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung (ÖB Ankara 4.2025, S. 8f.). Das Europäische Parlament (EP) "betont, dass die Anti-Terror-Bestimmungen in der Türkei immer noch zu weit gefasst sind und nach freiem Ermessen zur Unterdrückung der Menschenrechte und aller kritischen Stimmen im Land, darunter Journalisten, Aktivisten und politische Gegner, eingesetzt werden" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 29) "unter der komplizenhaften Mitwirkung einer Justiz, die unfähig oder nicht willens ist, jeglichen Missbrauch der verfassungsmäßigen Ordnung einzudämmen", und "fordert die Türkei daher nachdrücklich auf, ihre Anti-Terror-Gesetzgebung an internationale Standards anzugleichen" (EP 19.5.2021, S. 9, Pt. 14).
In ähnlicher Weise äußerte sich Ende November 2024 der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen, indem er seiner Besorgnis über die mangelnde Vereinbarkeit des rechtlichen Rahmens zur Terrorismusbekämpfung mit dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) äußerte, wobei explizit das Antiterrorgesetzes (Nr. 3713), wo die Begriffe "Terrorismus" und "terroristischer Straftäter" weit gefasst werden. Der Ausschuss war auch besorgt über das Gesetz Nr. 7262 über die Verhinderung der Finanzierung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. Während das Ziel des Gesetzes die Bekämpfung der Geldwäsche und der Finanzierung des Terrorismus war, wurde es Berichten zufolge dazu benutzt, zivilgesellschaftliche Organisationen ins Visier zu nehmen und sie einer strengen Überwachung und Kontrolle, dem Einfrieren von Vermögenswerten und der Einschränkung ihrer Rechte zu unterwerfen, so der Ausschuss (UNHRCOM 28.11.2024, S. 4). Sie hierzu auch das Kapitel: Nichtregierungsorganisationen (NGOs).
Auf Basis der Anti-Terror-Gesetzgebung wurden türkische Staatsbürger aus dem Ausland entführt oder unter Zustimmung der Drittstaaten in die Türkei verbracht (EP 19.5.2021, S. 16, Pt. 40). Das EP verurteilte so wie 2021 in seiner Entschließung vom Juni 2022 neuerlich "aufs Schärfste die Entführung türkischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz außerhalb der Türkei und deren Auslieferung in die Türkei, was eine Verletzung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit und der grundlegenden Menschenrechte darstellt" (EP 7.6.2022, S. 19, Pt. 31). Die Europäische Kommission kritisierte die Türkei für die hohe Zahl von Auslieferungsersuchen im Zusammenhang mit terroristischen Straftaten, die (insbesondere von EU-Ländern) aufgrund des Flüchtlingsstatus oder der Staatsangehörigkeit der betreffenden Person abgelehnt wurden. Überdies zeigte sich die Europäische Kommission besorgt ob der hohen Zahl der sog. "Red Notices" bezüglich wegen Terrorismus gesuchter Personen. Diese Red Notices wurden von INTERPOL entweder abgelehnt oder gelöscht (EC 19.10.2021, S. 44). Siehe auch die Kapitel: Verfolgung fremder Staatsbürger wegen Straftaten im AuslandSicherheitslage / Gülen- oder Hizmet-Bewegung.
Die Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für die Unabhängigkeit von Richtern und Anwälten, Margaret Satterthwaite, äußerte im Juni 2024 ihre tiefe Besorgnis über die Verschlechterung der Unabhängigkeit der Justiz und der Menschenrechte in der Türkei. Vorliegende Informationen würden ferner darauf hindeuten, dass der Rechtsrahmen zur Terrorismusbekämpfung der Regierung Befugnisse über die Justiz einräumt und damit deren Unabhängigkeit untergräbt. - Das Gesetz Nr. 7145 gebe der Regierung die Befugnis, jeden Beamten, Richter oder Staatsanwalt zu entlassen, und zwar ausschließlich auf der Grundlage einer Bewertung ihrer Kontakte zu terroristischen Organisationen oder Strukturen, Einrichtungen oder Gruppen und nicht auf der Grundlage von Beweisen. Der Nationale Sicherheitsrat (MGK) sei als Sicherheitsorgan in der Lage, solche Entscheidungen ohne richterliche Aufsicht und Überprüfung zu treffen. Um die Entlassung eines Richters zu rechtfertigen, verlange das Gesetz lediglich eine "Verbindung", "Vereinigung" oder "Zugehörigkeit" zu einer "Struktur, Formation oder Gruppe", die der Nationale Sicherheitsrat der Türkei als "gegen die nationale Sicherheit des Staates gerichtet" eingestuft hat. Diese vage und zu weit gefasste Formulierung schaffe ein großes Potenzial für die willkürliche Entlassung von Richtern unter Verletzung der Garantien der richterlichen Unabhängigkeit (OHCHR 21.6.2024, S. 1f.).
Verfolgung von Strafverteidigern bei Terrorismusverfahren
Die Verfassung sieht zwar das Recht auf ein faires öffentliches Verfahren vor, doch Anwaltskammern und Rechtsvertreter behaupten, dass die zunehmende Einmischung der Exekutive in die Justiz und die Maßnahmen der Regierung durch die Notstandsbestimmungen dieses Recht gefährden. Einige Anwälte gaben an, dass sie zögerten, Fälle anzunehmen, insbesondere solche von Verdächtigen, die wegen Verbindungen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung angeklagt waren, aus Angst vor staatlicher Vergeltung, einschließlich Strafverfolgung (USDOS 20.3.2023 S. 11, 19). Strafverteidiger, die Angeklagte in Terrorismusverfahren vertreten, sind mit Verhaftung und Verfolgung aufgrund der gleichen Anklagepunkte wie ihre Mandanten konfrontiert (USDOS 20.3.2023, S. 11; vgl. TT/Perilli 2.2021, S. 41, HRW 13.1.2021). Beispielsweise gab ein von Pro Asyl befragter Rechtsanwalt an, dass gegen ihn fünf Ermittlungsverfahren wegen Terrorismusdelikten liefen, die alle im Zusammenhang mit seiner beruflichen Tätigkeit stünden (Pro Asyl 9.2024, S. 75).
Das EP zeigte sich entsetzt "wonach Anwälte, die des Terrorismus beschuldigte Personen vertreten, wegen desselben Verbrechens, das ihren Mandanten zur Last gelegt wird, oder eines damit zusammenhängenden Verbrechens strafrechtlich verfolgt wurden, das heißt, es wird ein Kontext geschaffen, in dem ein eindeutiges Hindernis für die Wahrnehmung des Rechts auf ein faires Verfahren und den Zugang zur Justiz errichtet wird" (EP 7.6.2022, S. 12, Pt. 15). Auch der UN-Menschenrechtsausschuss war besorgt aufgrund der sehr hohen Zahl von Rechtsanwälten, gegen die insbesondere während des Ausnahmezustands wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Vereinigung gemäß Art. 314/2 des Strafgesetzbuchs ermittelt wurde, die verhaftet oder in Untersuchungshaft genommen wurden, nur weil sie ihren Beruf als Rechtsanwalt ausübten (UNHRCOM 28.11.2024, S. 9).
Im Februar 2024 erhob die Generalstaatsanwaltschaft Anklage gegen zehn Rechtsanwälte in Diyarbakır unter dem Vorwurf der "Mitgliedschaft in einer bewaffneten/terroristischen Organisation" gemäß Artikel 314 des Strafgesetzbuches, weil sie "als Verteidiger für inhaftierte Personen tätig waren, die an illegalen organisatorischen Handlungen und Aktivitäten teilgenommen haben". Die Anklagen stützten sich auf die Aussagen eines Zeugen und die Anwesenheit der angeklagten Anwälte bei der Vernehmung von Gefangenen, gegen die "ein Gerichtsverfahren wegen Straftaten im Zusammenhang mit einer illegalen Organisation" läuft. Die Staatsanwaltschaft wertete die Anwesenheit der Anwälte bei den Verhören als Beweis dafür, dass die Anwälte als Verteidiger "auf Anweisung einer illegalen Organisation" an diesen Verhören teilnahmen. Die Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für die Unabhängigkeit von Richtern und Anwälten zeigte sich dementsprechend äußerst besorgt über Berichte, wonach die Staatsanwaltschaft die Tätigkeit als Verteidiger von Personen, gegen die ein Gerichtsverfahren wegen Straftaten im Zusammenhang mit einer illegalen Organisation läuft, mit der Tätigkeit als Anwalt im Auftrag einer illegalen Organisation gleichsetzt. Internationale und regionale Standards verbieten, so die Sonderberichterstatterin, ausdrücklich die Identifizierung von Anwälten mit ihren Mandanten oder deren Anliegen bei der Ausübung ihrer beruflichen Pflichten (OHCHR 21.6.2024, S. 8, 11).
Am 16.1.2025 äußerte die UN-Sonderberichterstatterin für die Situation von Menschenrechtsverteidigern, Mary Lawlor, ihre tiefe Besorgnis über die anhaltende Langzeitinhaftierung von neun prominenten Menschenrechtsverteidigern und Anwälten, die alle im Zusammenhang mit ihrer friedlichen Arbeit willkürlich verhaftet und in unfairen Prozessen unter fadenscheinigen Anschuldigungen im Zusammenhang mit Terrorismus verurteilt wurden. Acht sind Mitglieder der Progressiven Anwaltsvereinigung (Çağdaş Hukukçular Derneği - ÇHD), die Opfer von Polizeigewalt und Folter sowie Bürgerinnen und Bürger vertritt, die wegen ihrer Meinung verfolgt werden. Sie wurden zwischen 2018 und 2019 verhaftet und wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" angeklagt; zwei von ihnen wurden auch wegen "Propaganda für eine terroristische Vereinigung" angeklagt. Sie wurden in einem als ÇHD II-Prozess bekannten Verfahren, das nicht den internationalen Standards für faire und ordnungsgemäße Gerichtsverfahren entsprach, zu bis zu 13 Jahren Haft verurteilt. Alle neun Menschenrechtsverteidiger befinden sich in geschlossenen Hochsicherheitsgefängnissen (OHCHR 16.1.2025).
Im Mai (2023) erklärte der damalige Innenminister Soylu: "Wenn die Anwälte der PKK eingesperrt werden, dann wird es in der Türkei keine PKK mehr geben. Sie sind das Ziel ... Die PKK vergiftet die Türkei über die Anwälte" (USDOS 22.4.2024, S. 9).
Statistiken der Anti-Terror-Gesetzgebung
Laut Statistiken des türkischen Justizministeriums wurden zwischen 2016 und 2020 mehr als 265.000 Personen wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt. Im Juni 2022 lag die Gesamtzahl der von der Justiz eingeleiteten Gerichtsverfahren wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung bei über zwei Millionen. In Anbetracht der großen Zahl der strafrechtlich verfolgten Personen gehen Schätzungen davon aus, dass mehr als vier Millionen Menschen in der türkischen Gesellschaft direkt betroffen sind bzw. waren (OHCHR 21.6.2024, S. 4).
Der offiziellen Statistik des türkischen Justizministeriums für das Jahr 2021 [Anm.: Danach gab es keine detaillierteren Aufschlüsselungen in den Statistiken] zufolge wurden 7.059 Strafurteile gem. Art. 220 und 44.042 gem. Art. 314 des Strafgesetzbuches (Gesetz Nr. 5237) gefällt. 3.057 wurden nach Art. 220 und 18.816 nach Art. 314 zu Haftstrafen verurteilt. 1.912 (Art. 220) bzw. 12.093 (Art. 314) fielen in die Kategorie "sonstige Verurteilungen". 7.098 Angeklagte nach Artikel 220 und 17.970 nach Artikel 314 wurden freigesprochen [Anm.: der Rest fällt in diverse andere Kategorien, welche hier nicht speziell angeführt werden]. 2021 gab es nach dem Anti-Terror-Gesetz (Gesetz Nr. 3713) 2.892 Verurteilungen, davon 1.149 Haftstrafen und 210 bedingte Haftstrafen. Die Zahl der sonstigen Verurteilungen von Angeklagten vor Strafgerichten nach dem Anti-Terror-Gesetz betrug 751 (MoJ - GDJR S 2022, S. 95, 98, 102, 112, 154, 157, 163, 166, 181, 184; S. 63, 113, 122, 140, 158, 167).
Verfolgt werden Personen auch nach dem Gesetz Nr. 6415 (2003), dem Gesetz zur Verhinderung der Finanzierung des Terrorismus'. 2024 wurden laut offizieller Statistik gegen fast 11.000 Verdächtige ermittelt. Gerichtlich verfolgt wurden 2024 810 Personen (MoJ - GDJR S 3.2025, S. 76f.). Im Oktober 2024 wurde beispielsweise Hatice Onaran, Mitglied des Gefängnisausschusses des türkischen Menschenrechtsvereins İHD, gemäß dem Gesetz Nr. 6415 zu vier Jahren und zwei Monaten Haft verurteilt. Grund dafür war, dass sie acht Personen, die sich wegen terrorismusbezogener Straftaten in Haft befanden, kleinere Geldsummen zur Deckung persönlicher Bedürfnisse überwiesen hatte (AI 29.4.2025; vgl. ANF 15.4.2025).
Faires Verfahren
Die Auswirkungen dieser Situation auf das Strafrechtssystem zeigen sich dadurch, dass sich zahlreiche seit Langem bestehende Probleme, wie der Missbrauch der Untersuchungshaft, verschärft haben, und neue Probleme hinzugekommen sind. Vor allem bei Fällen von Terrorismus und Organisierter Kriminalität hat die Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und die sehr lockere Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür geführt, der das Wesen des Rechtsstaates gefährdet (CoE-CommDH 19.2.2020). 2024 betrafen von den 73 Urteilen, wobei 67 hiervon zumindest eine Verletzung umfassten, des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) im Sinne der Verletzung der Menschenrechte in der Türkei allein 19 das "Recht auf Freiheit und Sicherheit" und 13 das "Recht auf ein faires Verfahren" (ECHR 22.1.2025). Die fehlende Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte ist die wichtigste Ursache für die vom EGMR in seinen Urteilen gegen die Türkei häufig monierten Verletzungen von Regelungen zu fairen Gerichtsverfahren, obgleich dieses Grundrecht in der Verfassung verankert ist (ÖB Ankara 4.2025, S. 10f.).
Bereits im Juni 2020 wies der damalige Präsident des türkischen Verfassungsgerichts, Zühtü Arslan [Anm.: am 21.3.2024 aus dem Amt geschieden], darauf hin, dass die Mehrzahl der Rechtsverletzungen (52 %) auf das Fehlen eines Rechts auf ein faires Verfahren zurückzuführen ist, was laut Arslan auf ein ernstes Problem hinweise, das gelöst werden müsse (Duvar 9.6.2020). 2022 zitiert das Europäische Parlament den Präsidenten des türkischen Verfassungsgerichtes, wonach mehr als 73 % der über 66.000 im Jahr 2021 eingereichten Gesuche sich auf das Recht auf ein faires Verfahren beziehen, was den Präsidenten veranlasste, die Situation als katastrophal zu bezeichnen (EP 7.6.2022, S. 12, Pt. 16).
Einschränkungen für den Rechtsbeistand
Mängel gibt es weiters beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen gegen Beschuldigte sowie bei den Verteidigungsmöglichkeiten der Rechtsanwälte bei sog. Terror-Prozessen. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung oder der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte bis zur Anklageerhebung keine Akteneinsicht nehmen können (AA 20.5.2024, S. 12; vgl. AI 26.10.2020). Gerichtliche Geheimhaltungsbeschlüsse werden regelmäßig ohne konkrete Begründung erteilt, vor allem fehlt ihnen die notwendige Abwägung zwischen den Grundrechten des Beschuldigten und der Gefährdung des Untersuchungszwecks. Teilweise wird nicht einmal Akteneinsicht in jene Teile der Ermittlungsakte gewährt, die nach der gesetzlichen Regelung nicht von der Akteneinsicht ausgeschlossen werden dürfen (Pro Asyl 9.2024, S. 7). Gerichtsprotokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Beweisanträge der Verteidigung und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidiger werden im Rahmen der Verhandlungsführung des Gerichts eingeschränkt. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt (AA 20.5.2024, S. 12; vgl. AI 26.10.2020). Einerseits werden oftmals das Recht auf Zugang zur Justiz und das Recht auf Verteidigung aufgrund der vorgeblichen Vertraulichkeit der Unterlagen eingeschränkt, andererseits tauchen gleichzeitig in den Medien immer wieder Auszüge aus den Akten der Staatsanwaltschaft auf, was zu Hetzkampagnen gegen die Verdächtigten/Angeklagten führt und nicht selten die Unschuldsvermutung verletzt (ÖB Ankara 4.2025, S. 12).
Einschränkungen für den Rechtsbeistand ergeben sich auch bei der Festnahme und in der Untersuchungshaft. - So sind die Staatsanwälte beispielsweise befugt, die Polizei mit nachträglicher gerichtlicher Genehmigung zu ermächtigen, Anwälte daran zu hindern, sich in den ersten 24 Stunden des Polizeigewahrsams mit ihren Mandanten zu treffen, wovon sie laut Human Rights Watch auch routinemäßig Gebrauch machen. Die privilegierte Kommunikation von Anwälten mit ihren Mandanten in der Untersuchungshaft wurde faktisch abgeschafft, da es den Behörden gestattet ist, die gesamte Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant aufzuzeichnen und zu überwachen (HRW 10.4.2019; vgl. Pro Asyl 9.2024, S. 111). Laut von Pro Asyl befragten Rechtsanwälten besteht der Hauptzweck der Einschränkung des Zugangs zu einem Rechtsbeistand in den ersten 24 Stunden darin, zu erreichen, dass Beschuldigte in informellen Vernehmungen gegen sich selbst und gegen andere aussagen, oder auch die Person durch Beeinflussung zu "tätiger Reue" zu bewegen und sie zu einem "geheimen Zeugen" zu machen (Pro Asyl 9.2024, S. 109).
Ein prominentes Beispiel hierfür: In seinem Urteil vom 6.6.2023 in der Rechtssache Demirtaş und Yüksekdağ Şenoğlu [seit November 2016 in Haft] gegen die Türkei entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mehrheitlich (mit 6 gegen 1 Stimme), dass ein Verstoß gegen Artikel 5 Absatz 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Recht auf eine rasche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Inhaftierung) vorliegt. Die beiden ehemaligen Ko-Vorsitzenden der HDP beschwerten sich darüber, dass sie keinen wirksamen Rechtsbeistand erhalten hatten, um gegen ihre Untersuchungshaft zu klagen, da die Gefängnisbehörden ihre Treffen mit ihren Anwälten überwacht und die mit ihnen ausgetauschten Dokumente beschlagnahmt hatten. Der EGMR war der Ansicht, dass die nationalen Gerichte keine außergewöhnlichen Umstände dargelegt hatten, die eine Abweichung vom Grundprinzip der Vertraulichkeit der Gespräche der Beschwerdeführer mit ihren Rechtsanwälten rechtfertigen könnten, und dass die Verletzung des Anwaltsgeheimnisses den Beschwerdeführern einen wirksamen Beistand durch ihre Rechtsanwälte im Sinne von Artikel 5 § 4 der Konvention vorenthalten hatte. In Anbetracht der in seinen früheren Urteilen getroffenen Feststellungen war der Gerichtshof außerdem der Ansicht, dass es nicht möglich war, das Vorliegen solcher Umstände nachzuweisen, da der Gerichtshof das Argument der türkischen Regierung vormals zurückgewiesen hatte, dass sich die Beschwerdeführer wegen terrorismusbezogener Straftaten in Untersuchungshaft befunden hätten. Schließlich stellte das Gericht fest, dass die nationalen Behörden keine detaillierten Beweise vorgelegt hatten, die die Verhängung der angefochtenen Maßnahmen gegen die Kläger im Rahmen des Notstandsdekrets Nr. 676 rechtfertigen könnten. Das Gericht entschied, dass die Türkei den Klägern jeweils 5.500 Euro an immateriellem Schaden und zusammen 2.500 Euro an Kosten und Auslagen zu zahlen hat (ECHR 6.6.2023).
Geheime bzw. anonyme Zeugen
Das Thema der geheimen Zeugenaussagen kam mit dem 2008 verabschiedeten Zeugenschutzgesetz auf die Tagesordnung. Trotz dutzender Skandale fällen die Gerichte nach wie vor Urteile auf der Grundlage der Aussagen anonymer bzw. geheimer Zeugen, bzw. sehen diese kritisch als ein politisches Instrument (Mezopotamya 2.8.2022; vgl. TM 26.11.2020). Die Entscheidung, die Identität eines Zeugen geheim zu halten, wird regelmäßig entgegen der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts und des EGMR nicht mit konkreten und objektiven Tatsachen begründet. In Terrorismusverfahren können die abstrakten und allgemeinen Aussagen solcher geheimer Zeugen jedoch zur wesentlichen und entscheidenden Grundlage für Verhaftungs- und Verurteilungsentscheidungen werden (Pro Asyl 9.2024, S. 84).
Ein Zeuge mit dem Codenamen "Garson" (Kellner) ist wahrscheinlich der bekannteste, da er Zeuge in einem Fall war, an dem rund 4.000 Polizisten, vermeintliche Unterstützer der Gülen-Bewegung, beteiligt waren. Problematisch sind insbesondere Fälle, bei denen sich herausstellt, dass die anonymen Zeugen gar nicht existieren. Etwa wurden die Aussagen des anonymen Zeugen "Mercek" zur Begründung für die Verurteilung vieler Politiker herangezogen, u. a. auch gegen den seit 2016 inhaftierten, ehemaligen Ko-Vorsitzenden der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtaş. Später stellte sich jedoch heraus, dass es diese Person gar nicht gab (Mezopotamya 2.8.2022; vgl. TM 26.11.2020). Mitunter geben die Behörden zu, dass es keine anonymen Zeugen gibt. So musste die Polizeibehörde von Diyarbakır 2019 eingestehen, dass eine anonyme Zeugin mit dem Codenamen "Venus", deren Aussage zur Festnahme und Inhaftierung zahlreicher Personen führte, in Wirklichkeit nicht existierte (NaT 19.2.2019). Im seit 2022 laufenden Verbotsverfahren gegen die HDP wurde zumindest ein anonymer Zeuge gehört, der laut der HDP-Parlamentarierin, Meral Danış-Beştaş, der Generalstaatsanwaltschaft Auskunft über die Parteifinanzen erteilte, was vermeintlich zur Sperrung der Parteienförderung für die HDP führte (Bianet 30.1.2023).
Im Februar 2022 stellte das Verfassungsgericht fest, dass die Aussagen geheimer Zeugen, die konkrete Tatsachen enthalten, als "starke Indizien für eine Straftat" akzeptiert werden können, ohne dass sie durch andere Beweise gestützt werden, und dass die auf diese Weise vorgenommenen Verhaftungen im Einklang mit dem Gesetz stehen würden (DW 17.2.2022; vgl. Duvar 18.2.2022). Allerdings liegt die Betonung auf "konkrete Tatsachen", denn das Urteil war die Folge einer laut Verfassungsgericht rechtswidrigen Verhaftung eines Gemeinderates in Diyarbakır-Eğil im Jahr 2020 und basierte auf einer geheimen Zeugenaussage, mit welcher der Gemeinderat der "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" beschuldigt wurde. Diese Aussage war rechtswidrig weil "abstrakt" und eben nicht "konkret". Kritiker der Hinzuziehung geheimer bzw. anonymer Zeugen betrachten diese Praxis als Instrument, Zeugenaussagen zu fälschen und abweichende Meinungen und Widerstand zum Schweigen zu bringen (Duvar 18.2.2022).
Im Gegensatz zum Verfassungsgericht hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bereits Mitte Oktober 2020 entschieden, dass geheime Zeugenaussagen, welche die türkischen Gerichte insbesondere in Prozessen gegen politische Dissidenten als Beweismittel akzeptiert haben, nicht als ausreichendes Beweismaterial für eine Verurteilung angesehen werden können. Wenn die Verteidigung die Identität des Zeugen nicht kennt, wird ihr nach Ansicht des EGMR in jedem Stadium des Verfahrens die Möglichkeit genommen, die Glaubwürdigkeit des Zeugen infrage zu stellen oder in Zweifel zu ziehen. Infolgedessen können geheime Zeugenaussagen allein keine rechtmäßige Verurteilung begründen, es sei denn, eine Verurteilung stützt sich noch auf andere solide Beweise (SCF 26.11.2022; vgl. TM 26.11.2020).
Beleidigung des Präsidenten sowie die Herabwürdigung des türkischen Staates und der türkischen Nation als Strafbestand
"[E]ntsetzt über den grob missbräuchlichen Rückgriff auf Artikel 299 des Strafgesetzbuchs der Türkei über Beleidigungen des Präsidenten, die eine Haftstrafe zwischen einem und vier Jahren nach sich ziehen können", forderte das Europäische Parlament in seiner Entschließung vom 7.6.2022, "das Gesetz über die Beleidigung des Staatspräsidenten gemäß den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu ändern" (EP 7.6.2022, S. 10, Pt. 13). Das türkische Verfassungsgericht hat für die Strafgerichte einen Kriterienkatalog für Verfahren gemäß Artikel 299 erstellt und weist im Sinne der Angeklagten mitunter Urteile wegen Mängeln zurück an die unteren Gerichtsinstanzen. Dennoch sieht das Verfassungsgericht die Ehre des Präsidenten als Verkörperung der Einheit der Nation als besonders schützenswert. Dieses Privileg steht im Widerspruch zur Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der in seiner Stellungnahme vom 19.10.2021 (Fall Vedat Şorli vs. Turkey) feststellte, dass ein Straftatbestand, der schwerere Strafen für verleumderische Äußerungen vorsieht, wenn sie an den Präsidenten gerichtet sind, grundsätzlich nicht dem Geist der Europäischen Menschenrechtskonvention entspricht (LoC 7.11.2021).
Die Zahl der Personen, gegen die nach den Artikeln 299 und 301 (Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen) des Strafgesetzbuches ermittelt wurde, stieg im Jahr 2022 laut den Statistiken des Ministeriums auf 16.753 von zuvor 12.304 im Jahr 2021 (TM 14.3.2024). Im Einzelnen wurden im Jahr 2021 gemäß Artikel 299 1.239 Personen zu Haftstrafen verurteilt, darunter nur zwei Minderjährige im Alter zwischen 15 und 17. 38 Personen wurden gemäß Artikel 300, der Herabwürdigung staatlicher Symbole, und 111 Personen (darunter auch ein Minderjähriger in der Altersklasse 12-14) laut Artikel 301 zu Gefängnisstrafen verurteilt. Sonstige Strafen gem. Artikel 299 wurden gegen 1.130, gem. Artikel 300 gegen 24 und dem Artikel 301 folgend gegen 87 Individuen verfügt [Anm.: Neuere Statistiken differenzieren nicht mehr nach einzelnen Artikeln des Strafgesetzbuches] (MoJ - GDJR S 2022, S. 120, 156).
Im Jahr 2024 wurden laut offizieller Statistik gemäß den Artikeln 299-301 des türkischen Strafgesetzbuches in Summe 6.124 Personen angeklagt, davon wurden 1.658 verurteilt (Anmerkung: Details zur Anzahl der Haftstrafen fehlen) und 1.807 freigelassen. Der Rest entfiel auf verschobene bzw. andersartige Urteile. 44 der Verurteilten waren Minderjährige, bei 299 minderjährigen Angeklagten (MoJ - GDJR S 3.2025, S. 100, 109).
Siehe, insbesondere für konkrete Beispiele, auch die (Unter-)Kapitel: Meinungs- und Pressefreiheit / InternetVersammlungs- und Vereinigungsfreiheit / Opposition.
Politisierung der Justiz - Vorgehen gegen Anwälte, Richter und Staatsanwälte
Teile der Notstandsvollmachten wurden auf die vom Staatspräsidenten ernannten Provinzgouverneure übertragen (AA 14.6.2019). Diesen vom Präsidenten zu ernennenden Gouverneuren der 81 Provinzen werden weitreichende Kompetenzen eingeräumt. Gesetz Nr. 7145 stärkt die Stellung der Gouverneure in ihrer jeweiligen Provinz. Sie können zum Beispiel Personen, die verdächtigt werden, die öffentliche Ordnung behindern oder stören zu wollen, den Zutritt oder das Verlassen bestimmter Orte in ihren Provinzen für eine Dauer von bis zu 15 Tagen verbieten und auch Versammlungen untersagen. Sie haben zudem großen Spielraum bei der Entlassung von Beamten, inklusive Richter (ÖB Ankara 4.2025, S. 9; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 38, 42).
Berichten zufolge wurde mit dem Anwaltsgesetz von 2020 (Nr. 7249) ein weiterer Versuch unternommen, Anwälte zum Schweigen zu bringen. Damit wurde die Möglichkeit geschaffen, in großen Städten konkurrierende Anwaltskammern zu gründen, was zu einer Politisierung der Anwaltskammern und zur Schwächung der einheitlichen Stimme der Anwälte führte, die die Menschenrechte verteidigen und die Exekutive kritisieren (OHCHR 21.6.2024, S. 2; vgl. HRW 13.1.2021, UNHRCOM 28.11.2024, S. 9). Auch das Europäische Parlament sah darin die Gefahr einer weiteren Politisierung des Rechtsanwaltsberufs, was zu einer Unvereinbarkeit mit dem Unparteilichkeitsgebot des Rechtsanwaltsberufs führt und die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte gefährdet. Außerdem erkannte das EP darin "einen Versuch, die bestehenden Anwaltskammern zu entmachten und die verbliebenen kritischen Stimmen auszumerzen" (EP 19.5.2021, S. 10, Pt. 19).
Das EGMR in Straßburg urteilte am 22.10.2024, dass die Türkei das Recht von zehn Richtern und Staatsanwälten auf ein faires Verfahren verletzt habe. Das Gericht stellte fest, der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte (HSYK) [inzwischen umbenannt in: Rates der Richter und Staatsanwälte - HSK] habe es versäumt, ausreichende Verfahrensgarantien wie formelle Anhörungen, Regeln für die Beweisführung und eine ausführliche Begründung seiner Entscheidungen in Bezug auf die zehn Antragsteller einzuhalten. In dem Fall "Şişman und andere gegen die Türkei" ging es um die unfreiwillige Versetzung (2014-2015) durch den HSYK in andere Städte oder in einem Fall um die Degradierung in derselben Stadt. Die türkische Regierung bestritt die Zuständigkeit des EGMR mit dem Argument, dass die Kläger während des innerstaatlichen Verfahrens keinen ausdrücklichen Antrag auf Zugang zu einem Gericht gestellt hätten. Außerdem seien die Kläger nach dem Putschversuch vom 15.07.2016 wegen angeblicher Anhängerschaft zur Gülen-Bewegung entlassen worden, was den Ausschluss einer gerichtlichen Überprüfung aus Gründen der nationalen Sicherheit rechtfertige. Der EGMR wies diese Argumente zurück und betonte, dass der HSYK aufgrund der Verfahrensmängel in seinem Prozess nicht als Gericht angesehen werden könne (BAMF 28.10.2024, S. 11; ECHR 22.10.2024).
Die Säuberungen im Justizwesen hatten am 14.1.2025 erneut Konsequenzen für die Türkei. Der EGMR gab der Klage von 42 ehemaligen Richtern und Staatsanwältin recht und verurteilte Ankara zu einem Schadensersatz zu je 7.800 Euro pro Kläger. Auch muss die Türkei zusätzlich insgesamt rund 80.000 Euro an Verfahrenskosten zahlen. Die Betroffenen waren beim damaligen Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte – HSYK (türkisch: Hakimler ve Savcılar Yüksek Kurulu) beschäftigt und wurden 2014 entlassen, ohne dass ihnen der Rechtsweg offen stand. Dies geschah vermeintlich als Reaktion auf den Korruptionsskandal vom Dezember 2013. Ermittler hatten damals Dutzende Geschäftsleute aus dem Umfeld von Präsident Recep Tayyip Erdogan, damals noch Ministerpräsident, festgenommen. Erdogan nannte das Vorgehen der Ermittler damals einen Putsch (FR 15.1.2025; vgl. TM 14.1.2025). - Im Mittelpunkt des Verfahrens stand das im Februar 2014 erlassene Gesetz Nr. 6524, mit dem der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte (HSYK), der Vorgänger des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK), der die Ernennungen und die Disziplin der Richter überwacht, überarbeitet wurde. Das Gesetz von 2014 sah unter anderem vor, dass wichtige Mitarbeiter des HSYK, darunter Generalsekretäre, stellvertretende Sekretäre und Mitglieder des Inspektionsausschusses, ihre Posten aufgeben mussten. Obwohl das türkische Verfassungsgericht die Bestimmung später mit der Begründung aufhob, die Rechte der Richter seien verletzt worden, wurde das Urteil nicht rückwirkend angewandt, sodass die entlassenen Beamten weder wieder eingestellt noch entschädigt wurden (TM 14.1.2025).
Im vom "World Justice Project" jährlich erstellten "Rule of Law Index" rangierte die Türkei im Jahr 2024 so wie im Vorjahr auf Rang 117 von 142 Ländern. Der statistische Indikator stagniert bei 0,42 (1 ist der statistische Bestwert, 0 der absolute Negativwert). Besonders schlecht schnitt das Land in den Unterkategorien "Grundrechte" mit 0,31 (Rang 133 von 142), "zivile Gerichtsbarkeit" mit 0,40 (Rang 122 von 142), "Einschränkungen der Macht der Regierung" mit 0,29 (Platz 135 von 142) sowie bei der "Strafjustiz" mit 0,34 ab. Gut war der Wert für "Ordnung und Sicherheit" mit 0,72, der dem globalen Durchschnitt entsprach (WJP 10.2024).
Konflikte der Höchstgerichte und deren Politisierung
Am 25.10.2023 entschied das Verfassungsgericht, dass der inhaftierte TİP-Politiker Can Atalay, der bei den Parlamentswahlen im Mai zum Abgeordneten gewählt worden ist, in seinem Recht zu wählen und gewählt zu werden sowie in seinem Recht auf persönliche Sicherheit und Freiheit verletzt wurde. Das Verfassungsgericht ordnete die Freilassung Atalays an. Das zuständige Strafgericht setzte dieses Urteil nicht um, sondern verwies den Fall an das Kassationsgericht. Dieses wiederum entschied am 9.11.2023 in Überschreitung seiner Zuständigkeit, dass das Urteil des Verfassungsgerichts nicht rechtserheblich und daher nicht umzusetzen sei, mit der Begründung, dass das Verfassungsrecht seine Kompetenzen überschritten habe. Überdies verlangte das Kassationsgericht, ein Strafverfahren gegen jene neun Richter des Verfassungsgerichts einzuleiten, welche für die Freilassung Atalays gestimmt hatten. Die Begründung des Kassationsgerichts hierfür lautete, dass diese Richter gegen die Verfassung verstoßen und ihre Befugnisse überschritten hätten. Staatspräsident Erdoğan unterstützte die Entscheidung des Kassationsgerichts, das Urteil des Verfassungsgerichts nicht umzusetzen. Er und andere AKP-Politiker junktimieren diese Frage mit dem prioritären Ziel der Regierung, eine neue Verfassung zu verabschieden, mit der Begründung, dass zur Lösung dieses Kompetenzkonfliktes eine Verfassungsreform nötig sei. Durch die Kritik Erdoğans am Verfassungsgericht wird die Umsetzung von Verfassungsgerichtsurteilen, insbesondere wenn diese der Umsetzung von EGMR-Urteilen dienen, und das Vertrauen in Unabhängigkeit der Justiz weiter geschwächt (ÖB Ankara 4.2025, S. 13; vgl. FH 26.2.2025, LTO 29.11.2023, Standard 9.11.2023). Erdoğans Regierungspartner Devlet Bahçeli, Chef der ultranationalistischen MHP, bezeichnete den Präsidenten des Verfassungsgerichts als Terrorist und verlangte, dass das Verfassungsgericht entweder geschlossen oder umstrukturiert werden muss. Passend dazu hatte kurz vorher die regierungstreue Zeitung Yeni Şafak mit Fotos der neun umstrittenen Verfassungsrichter getitelt und ihnen vorgeworfen, die "Pforte für Terroristen geöffnet" zu haben. - Anwälte verwiesen auf die türkische Verfassung, wonach Entscheidungen des Verfassungsgerichts endgültig sind und die gesetzgebenden, exekutiven und judikativen Organe sowie die Verwaltungsbehörden und natürliche, wie juristische Personen binden (Absatz 6). Für die Einleitung einer Untersuchung der Richter bräuchte es die Genehmigung der fünfzehnköpfigen Generalversammlung des Verfassungsgerichts, die für eine abschließende Entscheidung eine Zweidrittelmehrheit benötigt (LTO 29.11.2023). Richter des Verfassungsgerichts bekräftigten gegenüber dem Ko-Berichterstatter des Europarates im Juni 2024, dass das Urteil des Verfassungsgerichts bindend und die Nichteinhaltung auf die Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts zurückzuführen sei, das sich geweigert habe, den Fall wieder aufzunehmen (CoE-PACE/MonComm 11.9.2024, Pt. 14). Das Parlament stimmte dafür, Atalay seinen Parlamentsstatus abzuerkennen, doch das Verfassungsgericht erklärte diesen Schritt im August 2024 für ungültig. - Insgesamt hatte das Verfassungsgericht in drei aufeinanderfolgenden Entscheidungen seine Freilassung angeordnet. - Atalay blieb (mit Stand Juli 2025) im Gefängnis, da die Pattsituation weiter anhielt und Berichten zufolge gegen mehrere Richter des Verfassungsgerichts strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet wurden (FH 26.2.2025, F1; vgl. AI 29.4.2025, BirGün 13.5.2025).
Infragestellung der Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte
Die Unzulänglichkeiten in Bezug auf die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz wurden nicht behoben. Der Grundsatz der Gewaltenteilung und der richterlichen Unabhängigkeit ist in der Verfassung und anderen Rechtsvorschriften verankert, die Politisierung der Justiz hat jedoch zugenommen. Erklärungen hochrangiger Regierungsvertreter zu laufenden Verfahren, öffentliche Angriffe auf Angeklagte und unzulässiger Druck auf Richter und Staatsanwälte hindern die Mitglieder der Justiz daran, ihre Aufgaben im Einklang mit den EU-Standards wahrzunehmen (EC 30.10.2024, S. 25).
Gemäß Art. 138 der Verfassung sind Richter in der Ausübung ihrer Ämter unabhängig. Tatsächlich wird diese Verfassungsbestimmung jedoch durch einfach-gesetzliche Regelungen und politische Einflussnahme, wie Druck auf Richter und Staatsanwälte, unterlaufen (ÖB Ankara 4.2025, S. 10; vgl. EC 30.10.2024, S. 5). Die richterliche Unabhängigkeit ist überdies durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (Hakimler ve Savcilar Kurumu - HSK) infrage gestellt (AA 14.6.2019; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 11, CoE-PACE/MonComm 11.9.2024, Pt. 13). Mit der Verfassungsreform 2017 (Gesetz Nr. 6771) wurde der HSK auf 13 Mitglieder reduziert (von zuvor 22 Mitgliedern). Der HSK ist für die allgemeinen Aufgaben im Zusammenhang mit der Organisation und Funktionsweise des Justizwesens zuständig, einschließlich Ernennungen, Versetzungen, Beförderungen, Sanktionen und Entlassungen (OHCHR 21.6.2024, S. 2; vgl. SCF 3.2021, S. 5). Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen (AA 14.6.2019). Infolgedessen sind Staatsanwälte und Richter häufig auf der Linie der Regierung. Richter, die gegen den Willen der Regierung entscheiden, wurden abgesetzt und ersetzt, während diejenigen, die Erdoğans Kritiker verurteilen, befördert wurden (FH 26.2.2025, F1).
Sami Selçuk, vormaliger und Ehrenpräsident des Kassationsgerichts, kritisierte Ende Mai 2024 die in der Türkei weitverbreitete Praxis der Ersetzung von Richtern, insbesondere in politisch motivierten, kritischen Prozessen, wie z. B. in den Verfahren gegen Osman Kavala, den oppositionellen Bürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, und pro-kurdische Parlamentarier, darunter der inhaftierte Selahattin Demirtaş. Dementsprechen erklärte Selçuk, dass 99 Prozent der Gerichtsurteile in der Türkei "null und nichtig" seien. Die Kritik steht in einer Linie mit einer früheren Empfehlung des Ministerkomitees des Europarats an die Mitgliedstaaten, wonach die Unabhängigkeit der Justiz davon abhängt, dass die Richter eine sichere Amtszeit haben, unabsetzbar sind, und eine Entlassung nur bei schwerwiegenden Verstößen gegen das Gesetz oder bei Unfähigkeit zulässig ist. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte in einem früheren Urteil festgestellt, dass Richter im türkischen Rechtsrahmen weder über eine solche Garantie noch über einen wirksamen Rechtsbehelf verfügen, um Entscheidungen über ihre Versetzung anzufechten, die sie nicht beantragt haben (TM 30.5.2024; vgl. SCF 30.5.2024).
Der Staatsrat (Verwaltungsgerichtshof) entschied im Oktober 2022 zugunsten der Wiedereinsetzung von 178 Richtern und Staatsanwälten, die im Rahmen der Notstandsdekrete von 2016 wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung entlassen worden waren, und begründete dies damit, dass die ihnen zur Last gelegten Handlungen nicht ausreichten, um ihre Verbindungen zur Bewegung zu beweisen. Der Staatsrat ordnete außerdem an, dass der Staat den Richtern und Staatsanwälten Entschädigung und Schadenersatz zahlen muss. Bis März 2023 waren 3.683 der Entlassungsverfahren abgeschlossen und die Verfahren liefen noch. 845 entlassene/suspendierte Richter und Staatsanwälte wurden wieder in ihr Amt eingesetzt (EC 8.11.2023, S. 26). Allerdings kritisierte Präsident Erdoğan Anfang 2024 die Entscheidung des Staatsrats, 387 Richter und Staatsanwälte - Erdoğan bezeichnete diese als "Fliegen" aus dem "FETÖ-Sumpf" - wiedereinzustellen. Daraufhin kündigte Justizminister Yılmaz Tunç an, dass die Entscheidung des Staatsrats vom HSK überprüft werde (HRW 16.6.2025; vgl. HDN 19.2.2024).
Das Fehlen objektiver, leistungsbezogener, einheitlicher und vorab festgelegter Kriterien für die Einstellung und Beförderung von Richtern und Staatsanwälten gibt weiterhin Anlass zur Sorge (EC 8.11.2023, S. 5, 24). Das System zur Auswahl, Einstellung und Beförderung von Richtern und Staatsanwälten ist nicht transparent. (EC 30.10.2024, S. 26). Nach europäischen Standards sind Versetzungen nur ausnahmsweise aufgrund einer Reorganisation der Gerichte gerechtfertigt. In der justiziellen Reformstrategie 2025-2029 ist zwar für Richter ab einer gewissen Anciennität und auf Basis ihrer Leistungen eine Garantie gegen derartige Versetzungen vorgesehen, doch wird die Praxis der Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten ohne deren Zustimmung und ohne Angabe von Gründen fortgesetzt. Es wurden (Stand: Dez. 2023) keine Maßnahmen gesetzt, um den Empfehlungen der Venedig-Kommission vom Dezember 2016 nachzukommen. Diese hatte festgestellt, dass die Entscheidungsprozesse betreffend die Versetzung von Richtern und Staatsanwälten unzulänglich seien und jede Entlassung eines Richters individuell begründet und auf verifizierbare Beweise abgestützt sein müsse (ÖB Ankara 4.2025, S. 11). Häufige Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten beeinträchtigte weiterhin die Qualität der Justiz, ebenso wie die Ernennung von neu eingestellten und weniger erfahrenen Richtern und Staatsanwälten an den Strafgerichten (EC 8.11.2023, S. 26; vgl. EC 30.10.2024, S. 27). Umgekehrt jedoch hat der HSK keine Maßnahmen gegen Richter ergriffen, welche Urteile des Verfassungsgerichts ignorierten (ÖB Ankara 4.2025, S. 13; vgl. EC 19.10.2021, S. 23). So wurden nach der Entlassung eines Drittels der Richterschaft nach Angaben des Hohen Justizrats der Türkei seit Juli 2016 9.914 Richter und Staatsanwälte von der Regierung eingestellt. Die Informationen deuten laut Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen darauf hin, dass sich die Situation abschreckend auf die Justiz ausgewirkt hat und dass das Ausmaß der Massenentlassungen und Neueinstellungen Bedenken hinsichtlich der Unabhängigkeit der neuen Richter und Staatsanwälte aufkommen lässt, die offenbar in aller Eile rekrutiert wurden. Die verbleibenden Richter und Staatsanwälte üben sich möglicherweise in einem allgemeinen Klima der Angst in Selbstzensur (OHCHR 21.6.2024, S. 2).
Während kein Mitglied des HSK tatsächlich von Richtern oder Staatsanwälten ernannt wird, nominiert der Präsident der Republik vier Mitglieder aus den Reihen ordentlicher Richter und Staatsanwälte und das Parlament wählt sieben Mitglieder aus dem Kreise des Kassationsgerichtshofs (3), des Staatsrats [Anm.: entspricht dem Verwaltungsgerichtshof] (1) sowie Rechtswissenschaftler oder Juristen (3). Der vom Präsidenten der Republik ernannte Justizminister und sein Unterstaatssekretär bilden die beiden verbleibenden Mitglieder, wobei der Minister den Vorsitz im HSK führt. Da fast die Hälfte des Rates vom Präsidenten der Republik ernannt wird und das Justizministerium den Vorsitz im Rat führt, stehen die Karrieren von Richtern und Staatsanwälten im ganzen Land de facto unter der Kontrolle der Exekutive, wodurch die unabhängige Rechtsprechung der Justiz gefährdet wird (OHCHR 21.6.2024, S. 2f.; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 11, SCF 3.2021, S. 46). Im Mai 2021 tauschten Präsident und Parlament insgesamt elf HSK-Mitglieder und damit fast das gesamte HSK-Kollegium aus (ÖB Ankara 4.2025, S. 11). Das European Network of Councils for the Judiciary (ENCJ) setzte den Beobachterstatus des (Hohen) Rates für Richter und Staatsanwälte im Dezember 2016 aus, da er die ENCJ-Satzung nicht mehr erfüllte, die vorschreibt, dass er als eine von der Exekutive und Legislative unabhängige Institution fungiert (OHCHR 21.6.2024, S. 3; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 11, UNHRCOM 28.11.2024, S. 9).
Selbst über die personelle Zusammensetzung des Obersten Gerichtshofes und des Kassationsgerichtes entscheidet primär der Staatspräsident, der auch zwölf der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts ernennt (ÖB Ankara 30.11.2021, S. 7f). - Die Amtszeit der 15 Mitglieder des Gerichts ist auf zwölf Jahre begrenzt. Zwölf Mitglieder werden vom Präsidenten aus einer Liste von Kandidaten ernannt, die von obersten Gerichten oder aus dem Kreis hochrangiger Bürokraten vorgeschlagen werden, während drei Mitglieder vom Parlament ernannt werden, das derzeit von Erdoğans regierender AKP dominiert wird. - Mit der Nominierung von Metin Kıratlı, eines Spitzenbürokraten aus dem Präsidentenpalast, zum Verfassungsrichter im Juli 2024, hat Staatspräsident Erdoğan mittlerweile zehn der 15 Verfassungsrichter ernannt (TM 18.7.2024). Das Verfassungsgericht hat seit 2019 zwar eine gewisse Unabhängigkeit gezeigt, doch ist es nicht frei von politischer Einflussnahme und fällt oft Urteile im Sinne der Interessen der regierenden AKP (FH 26.2.2025, F1). Siehe hierzu Beispiele in diversen Kapiteln!
Die Massenentlassungen und häufige Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten haben negative Auswirkungen auf die Unabhängigkeit und insbesondere die Qualität und Effizienz der Justiz. Für die aufgrund der Entlassungen notwendig gewordenen Nachbesetzungen steht keine ausreichende Zahl entsprechend ausgebildeter Richter und Staatsanwälte zur Verfügung. In vielen Fällen spiegelt sich der Qualitätsverlust in einer schablonenhaften Entscheidungsfindung ohne Bezugnahme auf den konkreten Fall wider. In massenhaft abgewickelten Verfahren, wie etwa betreffend Terrorismus-Vorwürfen, leidet die Qualität der Urteile und Beschlüsse häufig unter mangelhaften rechtlichen Begründungen sowie lückenhafter und wenig glaubwürdiger Beweisführung. Zudem wurden in einigen Fällen Beweise der Verteidigung bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt (ÖB Ankara 4.2025, S. 11f.).
Aufbau des Justizsystems
Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte) und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum vom April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Höchstgerichte sind gemäß der Verfassung das Verfassungsgericht (auch Verfassungsgerichtshof bzw. Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Danıştay) als oberste Instanz in Verwaltungsangelegenheiten, der Kassationsgerichtshof (Yargitay) als oberste Instanz in zivil- und strafrechtlichen Angelegenheiten [auch als Oberstes Berufungs- bzw. Appellationsgericht bezeichnet] und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyuşmazlık Mahkemesi) (ÖB Ankara 4.2025, S. 9).
2014 wurden alle Sondergerichte sowie die Friedensgerichte (Sulh Ceza Mahkemleri) abgeschafft. Ihre Jurisdiktion für die Entscheidung wurde im Wesentlichen auf Strafgerichte übertragen. Stattdessen wurde die Institution des Friedensrichters in Strafsachen (Sulh Ceza Hakimliği) eingeführt, der das strafrechtliche Ermittlungsverfahren begleitet und überwacht. Da die Friedensrichter als von der Regierung selektiert und ihr loyal ergeben gelten, werden sie als das wahrscheinlich wichtigste Instrument der Regierung gesehen, die ihr wichtigen Strafsachen bereits in diesem Stadium in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die Venedig-Kommission des Europarates forderte 2017 die Übertragung der Kompetenzen der Friedensrichter an ordentliche Richter bzw. eine Reform. Im Gegensatz zu den abgeschafften Friedensgerichten entscheiden Friedensrichter nicht in der Sache, doch kommen ihnen während des Verfahrens weitreichende Befugnisse zu, wie z. B. die Ausstellung von Durchsuchungsbefehlen, Anhalteanordnungen, Blockierung von Websites sowie die Beschlagnahmung von Vermögen. Der Kritik am Umstand, dass Einsprüche gegen Anordnungen eines Friedensrichters nicht von einem Gericht, sondern wiederum von einem Friedensrichter geprüft wurden, wurde allerdings Rechnung getragen. Das Parlament beschloss im Rahmen des am 8.7.2021 verabschiedeten vierten Justizreformpakets, wonach Einsprüche gegen Entscheidungen der Friedensrichter nunmehr durch Strafgerichte erster Instanz behandelt werden (ÖB Ankara 4.2025, S. 9f.). Die Urteile der Friedensrichter für Strafsachen weichen zunehmend von der Rechtsprechung des EGMR ab und bieten selten eine ausreichend individualisierte Begründung. Der Zugang von Verteidigern zu den Gerichtsakten ihrer Mandanten ist für einen bestimmten Katalog von Straftaten bis zur Anklageerhebung eingeschränkt. Manchmal dauert das mehr als ein Jahr (EC 29.5.2019, S. 24; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 10).
Rolle des Verfassungsgerichts
Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde (bireysel başvuru) beim Verfassungsgericht. Die Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden kann durch Ausschüsse einer Vorprüfung unterzogen werden. Sie ist nur gegen Gerichtsentscheidungen letzter Instanz, nicht gegen Gesetze statthaft (RRLex 7.2023, S. 4; vgl. AA 20.5.2024, S. 5), eingeführt u. a. mit dem Ziel, die Fallzahlen am Europäischen Gericht für Menschenrechte zu verringern (HDN 18.1.2021). Die Individualbeschwerde hat große Akzeptanz gefunden, ist jedoch stark formalisiert und leidet unter langer Verfahrensdauer (RRLex 7.2023, S. 4).
Infolge der teilweise sehr lang andauernden Verfahren setzt die Justiz vermehrt auf alternative Streitbeilegungsmechanismen, die den Gerichtsverfahren vorgelagert sind. Ferner waren bereits 2016 neun regionale Berufungsgerichte (Bölge Mahkemeleri) eingerichtet worden, die insbesondere das Kassationsgericht entlasten. Denn große Teile der Richterschaft arbeiten unter erheblichen Druck, um die Rückstände bei den Verfahren aufzuarbeiten bzw. laufende Verfahren abzuschließen (ÖB Ankara 4.2025 S. 10).
Der Widerstand der türkischen Gerichte oder auch des Parlaments, sich an die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts zu halten, ist ein Problem, was durch wiederholte verbale Angriffe von Amtsträgern auf das Verfassungsgericht noch verstärkt wird (CoE-PACE/MonComm 11.9.2024, Pt. 14). Das heißt, untergeordnete Gerichte ignorieren mitunter die Umsetzung von Entscheidungen des Verfassungsgerichts oder verzögern sie erheblich. Das Ministerkomitee des Europarats berichtete, dass die meisten EGMR-Entscheidungen zur Gedanken-, Meinungs- und Pressefreiheit nicht umgesetzt wurden (USDOS 22.4.2024, S. 13; vgl. EC 30.10.2024, S. 20, 25f.). Das Verfassungsgericht hat aber auch uneinheitliche Urteile zu Fällen der Meinungsfreiheit gefällt. Wo sich das Höchstgericht im Einklang mit den Standards des EGMR sah, welches etwa eine Untersuchungshaft in Fällen der freien Meinungsäußerung nur bei Hassreden oder dem Aufruf zur Gewalt als gerechtfertigt betrachtet, stießen die Urteile in den unteren Instanzen auf Widerstand und Behinderung (IPI 18.11.2019).
Abgesehen vom Ignorieren von Urteilen des Verfassungsgerichtes und des EGMR durch untergeordnete Gerichte ignorierten auch die Behörden weiterhin bindende Gerichtsentscheidungen zu Verletzungen der Standards für ein faires Gerichtsverfahren (AI 29.4.2025).
Zur neuesten Rechtssprechung des Verfassungsgerichts hinsichtlich der Meinungs- und Pressefreiheit siehe auch das Kapitel: Meinungs- und Pressefreiheit / Internet.
Präsidentendekrete
Die 2017 durch ein Referendum angenommenen Änderungen der türkischen Verfassung verleihen dem Präsidenten der Republik die Befugnis, Präsidentendekrete zu erlassen. Das Präsidentendekret ist ein Novum in der türkischen Verfassungsgeschichte, da es sich um eine Art von Gesetzgebung handelt, die von der Exekutive erlassen wird, ohne dass eine vorherige Befugnisübertragung durch die Legislative oder eine anschließende Genehmigung durch die Legislative erforderlich ist, und es muss nicht auf die Anwendung eines Gesetzgebungsakts beschränkt sein, wie dies bei gewöhnlichen Verordnungen der Exekutivorgane der Fall ist. Die Befugnis zum Erlass von Präsidentenverordnungen ist somit eine direkte Regelungsbefugnis der Exekutive, die zuvor nur der Legislative vorbehalten war [Siehe auch Kapitel: Politische Lage]. Allerdings wurden im Juni 2021 im Amtsblatt drei Entscheidungen des türkischen Verfassungsgerichts veröffentlicht, in denen gewisse Bestimmungen von Präsidentendekreten aus verfassungsrechtlichen Gründen aufgehoben wurden (LoC 6.2021).
Polizeigewahrsam und Untersuchungshaft
Laut aktuellem Anti-Terrorgesetz soll eine in Polizeigewahrsam befindliche Person spätestens nach vier Tagen einem Richter zur Entscheidung über die Verhängung einer Untersuchungshaft oder Verlängerung des Polizeigewahrsams vorgeführt werden. Eine Verlängerung des Polizeigewahrsams ist nur auf begründeten Antrag der Staatsanwaltschaft, etwa bei Fortführung weiterer Ermittlungsarbeiten oder Auswertung von Mobiltelefondaten, zulässig. Eine Verlängerung ist zweimal (für je vier Tage) möglich. Der Polizeigewahrsam kann daher maximal zwölf Tage dauern (ÖB Ankara 4.2025, S. 13f.). Die Regelung verstößt gegen die Spruchpraxis des EGMR, welches ein Maximum von vier Tagen Polizeihaft vorsieht (EC 12.10.2022, S. 43). Auf Basis des Anti-Terrorgesetzes Nr. 3713 kann der Zugang einer in Polizeigewahrsam befindlichen Person zu einem Rechtsvertreter während der ersten 24 Stunden eingeschränkt werden (ÖB Ankara 4.2025, S. 14).
Die Untersuchungshaft kann gemäß Art. 102 (1) StPO bei Straftaten, die nicht in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern (Ağır Ceza Mahkemeleri) fallen, für höchstens ein Jahr verhängt werden. Aufgrund besonderer Umstände kann sie um weitere sechs Monate verlängert werden. Nach Art. 102 (2) StPO beträgt die Dauer der Untersuchungshaft bis zu zwei Jahre, wenn es sich um Straftaten handelt, die in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern fallen. Das sind Straftaten, die mindestens eine zehnjährige Freiheitsstrafe vorsehen. Aufgrund von besonderen Umständen kann diese Dauer um ein weiteres Jahr verlängert werden, insgesamt höchstens drei Jahre. Bei Straftaten, die das Anti-Terrorgesetz Nr. 3713 betreffen, beträgt die maximale Dauer der Untersuchungshaft sieben Jahre (zwei Jahre und mögliche Verlängerung um weitere fünf Jahre). Die Gründe für eine Untersuchungshaft sind in der türkischen Strafprozessordnung (StPO) festgelegt: Fluchtgefahr; Verhalten des Verdächtigen/Beschuldigten (Verdunkelungsgefahr und Beeinflussung von Zeugen, Opfer etc.) sowie Vorliegen dringender Verdachtsgründe, dass eine der in Art. 100 (3) StPO taxativ aufgezählten Straftaten begangen wurde, wie zum Beispiel Genozid, Schlepperei und Menschenhandel, Mord, sexueller Missbrauch von Kindern. Zu den im vierten Justizreformpaket von Juli 2021 angenommenen Änderungen betreffend die Verhaftung aufgrund von Verbrechen, die unter sog. "Katalogverbrechen" fallen und bei denen jedenfalls die Notwendigkeit einer Untersuchungshaft angenommen wird, zählen z. B. Terrorismus und organisiertes Verbrechen (ÖB Ankara 4.2025, S. 14).
Beschwerdekommission zu den Notstandsmaßnahmen (OHAL)
Während des seit dem Putschversuch bestehenden Ausnahmezustands bis zum 19.7.2018 wurden insgesamt 36 Dekrete erlassen, die insbesondere eine weitreichende Säuberung staatlicher Einrichtungen von angeblich Gülen-nahen Personen sowie die Schließung privater Einrichtungen mit Gülen-Verbindungen zum Ziel hatten. Der Regierung und Exekutive wurden weitreichende Befugnisse für Festnahmen und Hausdurchsuchungen eingeräumt. Die unter dem Ausnahmezustand erlassenen Dekrete konnten nicht beim Verfassungsgerichtshof angefochten werden. Zudem kam es laut offiziellen Angaben zur unehrenhaften Entlassung oder Suspendierung per Dekret von 125.678 öffentlich Bediensteten, darunter ein Drittel aller Richter 15.000 und Staatsanwälte. Deren Namen wurden im Amtsblatt veröffentlicht (ÖB Ankara 4.2025, S. 20).
Bis Jänner 2023 waren laut Beschwerdekommission die Klassifizierung, Registrierung und Archivierung von insgesamt fast einer halben Million Akten, darunter Personalakten, die von ihren Institutionen übernommen wurden, Gerichtsakten und frühere Bewerbungen, abgeschlossen. Bis zum 12.1.2023 waren 127.292 Anträge gestellt worden. Davon hat die Kommission seit ihrer Errichtung im Dezember 2017 alle Anträge bearbeitet, wobei lediglich 17.960 positiv gelöst wurden. 72 positive Entscheidungen betrafen einst geschlossene Vereine, Stiftungen, Schulen, Zeitungen und Fernsehstationen (ICSEM 1.2023; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 20). Es bestehen nach wie vor große Bedenken hinsichtlich der Qualität der Arbeit der Untersuchungskommission, auch wenn sie die Prüfung aller Fälle abgeschlossen hat. Bezweifelt wird, ob die Fälle einzeln geprüft und die Verteidigungsrechte gewahrt wurden und ob das Bewertungsverfahren internationalen Standards entsprach (EC 8.11.2023, S. 23; vgl. UNHRCOM 28.11.2024, S. 10f.).
Die Beschwerdekommission stand in der internationalen Kritik, da es ihr an genuiner institutioneller Unabhängigkeit mangelt. Sämtliche Mitglieder wurden von der Regierung ernannt (ÖB Ankara 4.2025, S. 20). Betroffene hatten keine Möglichkeit, Vorwürfe ihrer angeblich illegalen Aktivität zu widerlegen, da sie nicht mündlich aussagen, keine Zeugen benennen dürfen und vor Stellung ihres Antrags an die Kommission keine Einsicht in die gegen sie erhobenen Anschuldigungen bzw. diesbezüglich namhaft gemachten Beweise erhalten. In Fällen, in denen die erfolgte Entlassung aufrechterhalten wurde, stützte sich die Beschwerdekommission oftmals auf schwache Beweise und zog an sich rechtmäßige Handlungen zum Beweis für angeblich rechtswidrige Aktivitäten heran (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 20; vgl. EC 12.10.2022, S. 23). Die Beweislast für eine Widerlegung von Verbindungen zu verbotenen Gruppen liegt beim Antragsteller (Beweislastumkehr). Zudem bleibt in der Entscheidungsfindung unberücksichtigt, dass die getätigten Handlungen im Zeitpunkt ihrer Vornahme rechtmäßig waren. Schließlich wird (bzw. wurde) auch das langwierige Berufungsverfahren mit Wartezeiten von zehn Monaten bei den bereits entschiedenen Fällen kritisiert (ÖB Ankara 4.2025, S. 20).
Missachtung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR)
Die Entscheidungen der Strafverfolgungsbehörden und Gerichte zur Umgehung von Urteilen des EGMR zeigen zwei Haupttendenzen: Staatsanwälte und Richter in den türkischen Gerichten der ersten Instanz, dem Obersten Gerichtshof und dem Verfassungsgericht setzen viele Urteile des EGMR einfach nicht um, ignorieren diese vollständig und verfolgen und verurteilen Personen weiterhin genau aus den Gründen, in Anbetracht derer der EGMR systemische Probleme festgestellt und allgemeine Maßnahmen angeordnet hat. Eine weitere Umgehungstaktik besteht darin, dass Staatsanwälte und Richter mehrmals sich überschneidende Strafanzeigen und Verfahren auf der Grundlage derselben oder ähnlicher faktischer und rechtlicher Gründe einleiten. Diese Taktik wurde in den Rechtssachen Kavala gegen Türkei und Selahattin Demirtaş gegen Türkei ausführlich dokumentiert, in denen die Justizbehörden im Wesentlichen dieselben Tatsachen als neue "Straftaten" einstuften, um die fortdauernde Inhaftierung zu rechtfertigen (HRW 16.6.2025).
Wiederholt befasste sich das Ministerkomitee des Europarats aufgrund nicht umgesetzter Urteile mit der Türkei (AA 20.5.2024, S. 16). EGMR stellte in neuen Urteilen Verstöße gegen die EMRK fest. Diese betrafen hauptsächlich das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, übermäßige Gewaltanwendung durch Sicherheitskräfte, ungerechtfertigte Inhaftierung, das Recht auf ein faires Verfahren, das Recht auf Freiheit und Sicherheit sowie die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Derzeit (Stand November 2024) stehen 185 Fälle gegen die Türkei unter verstärkter Überwachung durch das Ministerkomitee des Europarates. Im Juni 2024 forderte das Ministerkomitee des Europarats die türkische Regierung erneut auf, den Urteilen des EGMR nachzukommen und den ehemaligen HDP-Ko-Vorsitzenden Demirtaş und den Menschenrechtsverteidiger Kavala freizulassen. Im April 2024 gewährte der EGMR einem zweiten von Osman Kavala eingereichten Fall den Status der Priorität (EC 30.10.2024, S. 29).
Zuletzt forderten die Ko-Berichterstatter der Parlamentarischen Versammlung des Europarates - PACE (Lord David Blencathra und Stefan Schennach) anlässlich einer Fact-Finding-Mission in der Türkei im Juni 2025 die Behörden erneut auf, die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in den Fällen Osman Kavala, Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ Şenoğlu unverzüglich umzusetzen. Diese Personen sind seit fast oder mehr als acht Jahren inhaftiert, was einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention darstellt. Die Umsetzung der Urteile des Straßburger Gerichtshofs ist keine Option, sondern eine in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerte rechtliche Verpflichtung, so die Ko-Berichterstatter (CoE-PACE 23.6.2025).
Das vom Ministerkomitee des Europarates im Dezember 2021 eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren läuft ebenso weiter (AA 20.5.2024, S. 16) wie das Monitoring durch die Parlamentarische Versammlung des Europrates (EC 30.10.2024, S. 29).
Zur längeren Rechtshistorie des Falles Kavala siehe die Version 9 der Länderinformationen TÜRKEI vom 18.10.2024 im selbigen Kapitel.
Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung 2025-08-06 12:54
Die Regierung (Exekutive) verfügt zwar weiterhin über weitreichende Befugnisse gegenüber den Sicherheitskräften, aber die zivile Aufsicht über die Sicherheitsorgane bleibt unvollständig. Zudem fehlt es an wirksamen Kontrollmechanismen etwa hinsichtlich Verantwortung und Rechenschaft. Die parlamentarische Aufsicht über die Sicherheitsinstitutionen muss laut Europäischer Kommission gestärkt werden. In den Sicherheits- und Nachrichtendiensten herrscht nach wie vor eine Kultur der Straflosigkeit, da das Personal in Fällen mutmaßlicher Menschenrechtsverletzungen und unverhältnismäßiger Gewaltanwendung de facto gerichtlichen und administrativen Schutz genießt (EC 30.10.2024, S. 21). Bei der strafrechtlichen Verfolgung von Militärangehörigen und der obersten Kommandoebene werden weiterhin rechtliche Privilegien gewährt. Die Untersuchung mutmaßlicher militärischer Straftaten, die von Militärangehörigen begangen wurden, erfordert die vorherige Genehmigung entweder durch militärische oder zivile Vorgesetzte (EC 8.11.2023, S. 17). Es gibt zwar offizielle Stellen, bei denen Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen und missbräuchliche Behandlung durch die Polizei und andere Sicherheitsbehörden eingereicht werden können, doch aufgrund der vorherrschenden Kultur der Straflosigkeit ist es unwahrscheinlich, dass eine Beschwerde einer gefährdeten Gruppe, wie einer ethnischen Minderheit oder politischen Aktivisten, zur Strafverfolgung eines Angehörigen der Sicherheitskräfte führt (DFAT 16.5.2025, S. 38).
Das Militär ist zuständig für die territoriale Verteidigung und trägt die Gesamtverantwortung für die Grenzsicherheit (DFAT 16.5.2025, S. 38; vgl. USDOS 20.3.2023, S. 1). Seit 2003 jedoch wurden die Befugnisse des Militärs schrittweise beschränkt und hohe Positionen innerhalb der Streitkräfte im Laufe der Zeit durch regierungsnahe Persönlichkeiten ersetzt. Diese Politik hat sich seit dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016, nach dem 29.444 Angehörige aus den türkischen Streitkräften (hier allein: 15.000), der Gendarmerie und der Küstenwache entlassen wurden, noch einmal verstärkt. Die Einschränkung der Macht des Militärs wurde in der Bevölkerung und der Politik zum Teil sehr begrüßt. Allerdings zeigt sich gegenwärtig, dass mit diesem Prozess nicht die Stärkung der demokratischen Institutionen einhergeht. Die Umstrukturierung der Streitkräfte soll den Einfluss des Militärs nochmals einschränken, u. a. durch den Ausbau politischer Kontrollmechanismen. Der geplante Einflussverlust etwa des Generalstabs macht sich daran fest, dass einerseits einige seiner Kompetenzen an das Verteidigungsministerium übergehen und dass der Generalstab, wie auch andere militärische Institutionen, andererseits vermehrt mit ideologisch und persönlich loyalen Personen besetzt werden soll. Während die drei Teilstreitkräfte nun dem Verteidigungsministerium direkt unterstellt sind, sind die paramilitärischen Einheiten dem Innenministerium angegliedert. Auch der Hohe Militärrat, die Kontrolle der Militärgerichtsbarkeit, das Sanitätswesen der Streitkräfte und das militärische Ausbildungswesen werden zunehmend zivil besetzt (BICC 2.2025, S. 2, 18., 25).
Die Polizei und die Gendarmerie (türk.: Jandarma), die dem Innenministerium unterstellt sind, sind für die Sicherheit in städtischen Gebieten (Polizei) respektive in ländlichen und Grenzgebieten (Gendarmerie) zuständig (ÖB Ankara 4.2025, S. 21; vgl. USDOS 20.3.2023, S. 1). Die Gendarmerie ist für die öffentliche Ordnung in ländlichen Gebieten, die nicht in den Zuständigkeitsbereich der Polizeikräfte fallen, sowie für die Gewährleistung der inneren Sicherheit und die allgemeine Grenzkontrolle zuständig. Die Verantwortung für die Gendarmerie wird jedoch in Kriegszeiten dem Verteidigungsministerium übergeben (BICC 2.2025, S. 18; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 21, DFAT 16.5.2025, S. 39).
Die Polizei ist für die Strafverfolgung in der Türkei zuständig. Die Polizei untersteht zwar letztlich dem Innenministerium, führt ihre Aufgaben jedoch unter der Leitung und Kontrolle der Zivilbehörden, darunter Gouverneure und Leiter der Bezirksverwaltungen, aus. Gemäß dem Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Polizei (2004) besteht die Hauptaufgabe der Polizei darin, Straftaten zu verhindern, die öffentliche Ordnung und Sicherheit zu gewährleisten, Personen und Eigentum zu schützen sowie Straftäter zu ermitteln, festzunehmen und zu überstellen und Beweismittel an die zuständigen Justizbehörden zu übergeben (DFAT 16.5.2025, S. 38). Die Polizei weist eine stark zentralisierte Struktur auf. Durch die polizeiliche Rechenschaftspflicht gegenüber dem Innenministerium untersteht sie der Kontrolle der jeweiligen Regierungspartei. Wechselnde Regierungen versuchten, mittels Stärkung der Polizei die eigene Macht gegenüber dem Militär auszubauen. Nach Ermittlungen der Polizei wegen Korruption und Geldwäsche gegen ranghohe AKP-Funktionäre 2013, insbesondere aber seit dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 wurden massenhaft Polizisten entlassen (BICC 2.2025, S. 2). Die Polizei hatte 2023 einen Personalstand von fast 339.400 (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 21).
Der Polizei wurden im Zuge der Abänderung des Sicherheitsgesetzes im März 2015 weitreichende Kompetenzen übertragen. Das Gesetz sieht seitdem den Gebrauch von Schusswaffen gegen Personen vor, welche Molotow-Cocktails, Explosiv- und Feuerwerkskörper oder Ähnliches, etwa im Rahmen von Demonstrationen, einsetzen, oder versuchen einzusetzen (NZZ 27.3.2015; vgl. FAZ 27.3.2015, HDN 27.3.2015). Die Polizei kann auf Grundlage einer mündlichen oder schriftlichen Einwilligung des Leiters der Verwaltungsbehörde eine Person, ihren Besitz und ihr privates Verkehrsmittel durchsuchen. Der Gouverneur kann die Exekutive anweisen, Gesetzesbrecher ausfindig zu machen (AnA 27.3.2015).
Die Gendarmerie mit einer Stärke von - je nach Quelle - zwischen 152.100 und 275.000 Bediensteten wurde nach dem Putschversuch 2016 dem Innenministerium unterstellt, zuvor war diese dem Verteidigungsministerium unterstellt (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 21; vgl. BICC 2.2025, S. 17, DFAT 16.5.2025, S. 39). Selbiges gilt für die 4.700 Mann starke Küstenwache (BICC 2.2025, S. 17).
Das Generalkommando der Gendarmerie beaufsichtigt auch die sogenannten Dorfschützer (Köy Korucusu), 2017 in Sicherheitswächter (Güvenlik Korucusu) umbenannt. Diese sind paramilitärische Einheiten [oft kurdischer Herkunft], welche vornehmlich in ländlichen Regionen im Südosten der Türkei hauptsächlich zur Bekämpfung der PKK eingesetzt werden (DFAT 16.5.2025, S. 39; vgl. BAMF 2.2023, S. 1). Das System der Dorfschützer behindert allerdings weiterhin die Rückkehr vertriebener Dorfbewohner und stellt ein Hindernis für eine politische Lösung der kurdischen Frage dar. Einige Dorfschützer wurden mit Menschenrechtsverletzungen und übermäßiger Gewaltanwendung gegen die kurdische Bevölkerung in Verbindung gebracht (EC 30.10.2024, S. 22).
Gemäß einer Studie sollen Dorfbewohner dem Dorfschützersystem in der Vergangenheit zwangsweise als Teil ihres Clans, aus finanzieller Notwendigkeit oder aufgrund von Zwangsrekrutierungen durch staatliche Sicherheitskräfte beigetreten sein (BAMF 2.2023; vgl. JSPP/Acar Y.G. 18.12.2019). Sowohl die Dorfschützer als auch die Opfer von Dorfschützern erzählten Ähnliches über den Druck, Dorfschützer zu werden, und die Räumung der Dörfer: Die Sicherheitskräfte betraten das Dorf und sagten den Dorfbewohnern, dass sie Dorfschützer werden oder ihr Dorf verlassen müssen. Wenn die Dorfbewohner nicht in der Lage waren, sich zwischen der Ablehnung oder der Annahme, Dorfwächter zu werden, zu entscheiden, räumten die Soldaten ihr Dorf (JSPP/Acar Y.G. 18.12.2019). In den letzten Jahren wurden keine Berichte über Zwangsrekrutierungen bekannt. Inzwischen können sich Personen, die sich für eine Einstellung als Dorfschützer interessieren, bei der Dorfverwaltung bewerben (BAMF 2.2023).
Einige der traditionellen Militäraufgaben sollen durch die Polizei, die zunehmend mit schweren Waffen ausgestattet wird, übernommen werden. Diese Reformen setzen einen Trend fort, der sich schon in den kurdisch dominierten Gebieten im Südosten der Türkei abgezeichnet hat. Sichtbar wurde dies auch im Rahmen von Militärintervention "Olivenzweig" in der nordsyrischen Provinz Afrin im Jänner 2018 (BICC 2.2025, S. 18).
Polizei, Gendarmerie und auch der Nationale Nachrichtendienst (Millî İstihbarat Teşkilâtı - MİT) haben unter der Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) an Einfluss gewonnen (AA 20.5.2024, S. 6).
Die 2008 abgeschaffte "Nachbarschaftswache" alias "Nachtwache" (türk.: Bekçi) wurde 2016 nach dem gescheiterten Putschversuch wiedereingeführt. Von 29.000 mit Stand Herbst 2020 (TM 28.11.2020) ist die ihre Zahl (mit Beginn 2023) auf rund 40.000 angewachsen. Das türkische Innenministerium will 1.200 neue "Bekçis" einstellen. Dabei handelt es sich um Wachleute, die, bewaffnet mit Waffe und Schlagstock, vor allem nachts für Ordnung sorgen sollen. Die neuen Sicherheitskräfte sollen in 26 Provinzen zum Einsatz kommen (FR 20.1.2023). Sie werden nach nur kurzer Ausbildung als Nachtwache eingestellt (BIRN 10.6.2020). Mit einer Gesetzesänderung im Juni 2020 wurden ihre Befugnisse erweitert (BIRN 10.6.2020; vgl. Spiegel 9.6.2020). Das neue Gesetz gibt ihnen die Befugnis, Schusswaffen zu tragen und zu benutzen, Identitätskontrollen durchzuführen, Personen und Autos zu durchsuchen sowie Verdächtige festzunehmen und der Polizei zu übergeben (MBZ 2.3.2022; S. 19; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 20). Sie sollen für öffentliche Sicherheit in ihren eigenen Stadtteilen sorgen, werden von Regierungskritikern aber als "AKP-Miliz" kritisiert, und sollen für ihre Aufgaben kaum ausgebildet sein (AA 20.5.2024, S. 6; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 20, BIRN 10.6.2020, Spiegel 9.6.2020). Vor allem kritisiert die Opposition, dass Erdoğan ein ihm loyal verbundenes Gegengewicht zur Gendarmerie und Polizei aufbaut (FR 20.1.2023). Den Einsatz im eigenen Wohnviertel sehen Kritiker als Beleg dafür, dass die Hilfspolizei der Bekçi die eigene Nachbarschaft nicht schützen, sondern viel mehr bespitzeln soll (Spiegel 9.6.2020). Mit der Gesetzesänderung tauchten u. a. Bilder auf, wie die neuen Sicherheitskräfte willkürlich Personen kontrollieren und Gewalt ausüben (FR 20.1.2023). Laut Informationen des niederländischen Außenministeriums handeln die Bekçi in der Regel nach ihren eigenen nationalistischen und konservativen Normen und Werten. So griffen sie beispielsweise ein, wenn jemand auf Kurdisch öffentlich sang, einen kurzen Rock trug oder einen "extravaganten" Haarschnitt hatte. Wenn die angehaltene Person nicht kooperierte, wurden ihr Handschellen angelegt und sie wurde der Polizei übergeben (MBZ 2.3.2022, S. 19). Human Rights Watch kritisierte, dass angesichts der weitverbreiteten Kultur der polizeilichen Straffreiheit die Aufsicht über die Beamten der Nachtwache noch unklarer und vager als bei der regulären Polizei sei (Guardian 8.6.2020). Beispiele für Übergriffe der Nachtwache: Im August 2021 wurden drei Journalisten von Mitgliedern der Nachtwache attackiert, weil sie über das nächtliche Verschwinden eines, später tot aufgefundenen, Kleinkindes im Istanbuler Ortsteil Beylikdüzü berichteten (SCF 19.8.2021). Im Mai 2022 wurde angeblich eine 16-Jährige durch Angehörige der Nachtwache in Istanbul verhaftet und sexuell belästigt (SCF 11.5.2022). Und Mitte Juli 2022 wurden drei Transfrauen in der westtürkischen Provinz Izmir von Mitgliedern der Nachtwache im Rahmen einer Ausweiskontrolle mit Tränengas besprüht, geschlagen und in Handschellen auf die Polizeistation gebracht (Duvar 18.7.2022).
Das Verfassungsgericht entschied mit seinem am 1.6.2023 veröffentlichten Urteil, dass Nachbarschaftswachen nicht mehr befugt sind, Maßnahmen zu ergreifen, um Demonstrationen zu verhindern, die die öffentliche Ordnung stören könnten. Derartige Befugnisse würden einen Verstoß gegen das Versammlungs- und Demonstrationsrecht darstellen. Das Verfassungsgericht bestätigte allerdings, dass die Nachbarschaftswachen weiterhin befugt sind, Schusswaffen zu tragen und zu benutzen sowie Identitätskontrollen durchzuführen (MBZ 31.8.2023, S. 20).
Nachrichtendienstliche Belange werden bei der Türkischen Nationalpolizei (TNP) durch den polizeilichen Nachrichtendienst (İstihbarat Dairesi Başkanlığı - IDB) abgedeckt. Dessen Schwerpunkt liegt auf Terrorbekämpfung, Kampf gegen Organisierte Kriminalität und Zusammenarbeit mit anderen türkischen Nachrichten- und Geheimdienststellen. Ebenso unterhält die Gendarmerie einen auf militärische Belange ausgerichteten Nachrichtendienst. Ferner existiert der Nationale Nachrichtendienst MİT, der seit September 2017 direkt dem Staatspräsidenten unterstellt ist (zuvor dem Amt des Premierministers) und dessen Aufgabengebiete der Schutz des Territoriums, des Volkes, der Aufrechterhaltung der staatlichen Integrität, der Wahrung des Fortbestehens, der Unabhängigkeit und der Sicherheit der Türkei sowie deren Verfassung und der verfassungskonformen Staatsordnung sind. Die Gesetzesnovelle vom April 2014 brachte dem MİT erweiterte Befugnisse zum Abhören von privaten Telefongesprächen und zur Sammlung von Informationen über terroristische und internationale Straftaten. MİT-Agenten besitzen eine erweiterte gesetzliche Immunität. Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren sind für Personen, die Geheiminformation veröffentlichen, vorgesehen. Auch Personen, die dem MİT Dokumente bzw. Informationen vorenthalten, drohen bis zu fünf Jahre Haft (ÖB Ankara 4.2025, S. 22f.).
Seit dem 6.1.2021 können die Nationalpolizei [Anm.: Generaldirektion für Sicherheit - Emniyet Genel Müdürlüğü/ EGM] und der Nationale Nachrichtendienst (MİT) im Falle von Terroranschlägen und zivilen Unruhen Waffen und Ausrüstung der türkischen Streitkräfte (TSK) nutzen. Gemäß der Verordnung dürfen die Türkischen Streitkräfte (TSK), EGM, MİT, das Gendarmeriekommando und das Kommando der Küstenwache in Fällen von Terrorismus und zivilen Unruhen alle Arten von Waffen und Ausrüstungen untereinander übertragen (SCF 8.1.2021; vgl. Ahval 7.1.2021). Das Europäische Parlament zeigte sich über die neuen Rechtsvorschriften besorgt (EP 19.5.2021, S. 15, Pt. 38).
Das türkische Verfassungsgericht hat mehrere Artikel zweier Gesetze über den Ausnahmezustand im Jänner 2023 für nichtig erklärt. Unter anderem erklärte es eine Bestimmung für nichtig, wonach Angehörige der türkischen Streitkräfte (TSK), des Generalkommandos der Gendarmerie, des Kommandos der Küstenwache und der Generaldirektion für Sicherheit wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer terroristischen Organisation aus dem Dienst entfernt werden können, ohne dass eine Untersuchung gegen sie durchgeführt wird. Überdies wurde eine Verordnung, die vorsah, dass der türkische Geheimdienst (MİT) ohne Ausnahmen vom Geltungsbereich des Gesetzes Nr. 4982 über das Recht auf Information ausgenommen wird, für ungültig erklärt, da sie "die Möglichkeit, das Recht auf Information auszuüben, vollständig abschafft" (TM 16.1.2023).
Zu Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei siehe insbesondere die Kapitel: Folter und unmenschliche BehandlungHaftbedingungenVersammlungs- und VereinigungsfreiheitVersammlungs- und Vereinigungsfreiheit / Opposition.
Folter und unmenschliche Behandlung
Letzte Änderung 2025-08-06 13:33
Rechtsrahmen
Die Verfassung und das Gesetz verbieten Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung (USDOS 22.4.2024, S. 4). Die Türkei ist Vertragspartei des Europäischen Übereinkommens zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe von 1987 (AA 20.5.2024, S. 16). Sie hat das Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter (Optional Protocol to the Convention Against Torture/ OPCAT) im September 2005 unterzeichnet und 2011 ratifiziert (ÖB Ankara 4.2025, S. 44). Das Anti-Folter-Komitee der Vereinten Nationen (Committee against Torture - CAT) zeigte sich jedoch im August 2024 besorgt, dass Artikel 94 des Strafgesetzbuches die in der Konvention enthaltene Definition von Folter nicht vollständig umfasst (CAT 14.8.2024, S. 2).
Entwicklungen und aktuelle Situation
Insbesondere nach dem Wiederaufflammen des Konflikts [Anm.: zwischen dem türkischen Staat und der PKK] im Juli 2015 und nach dem Putschversuch verhängten Ausnahmezustand (2016) sind Folter und andere Formen der Misshandlung an offiziellen Haft- und Internierungsorten, einschließlich Gefängnissen, sowie bei Eingriffen von Strafverfolgungsorganen bei friedlichen Versammlungen und Demonstrationen, aber auch an inoffiziellen Haftorten und in Umgebungen außerhalb von Haftanstalten, auf der Straße und auf offenem Gelände oder in Bereichen wie Wohnungen und Arbeitsplätzen auf ein außerordentliches Niveau gestiegen (TİHV/HRFT 11.2024, S. 17; vgl. EC 30.10.2024, S. 30, ÖB Ankara 4.2025, S. 44, İHD/HRA/TİHV/HRFT/TMA/TTB 26.6.2024, S. 2, MBZ 2.2025a, S. 43).
Mehr als 40 NGOs hatten während der 80. Sitzung des UN-Komitees gegen Folter (CAT) vom 8. bis 26.7.2024 Berichte vorgelegt, in denen sie sowohl systematische Folterungen und Misshandlungen, das Verschwindenlassen von Personen, extralegale Hinrichtungen als auch die weitestgehend vorhandene Straffreiheit für Sicherheitskräfte, die mit Folter und Misshandlungen in Verbindung stehen sollen, kritisierten. Die türkischen Behörden wurden beschuldigt, Folter als Mittel einzusetzen, um Geständnisse zu erzwingen oder politische Aktivistinnen und Aktivisten, Medienschaffende und Angehörige der kurdischen Minderheit einzuschüchtern (SCF 12.7.2024; vgl. BAMF 9.9.2024, S. 11).
Einschätzungen zum Ausmaß von Folter und Misshandlungen
Während die NGO Menschenrechtsstiftung der Türkei (TİHV) wie bereits in ihren früheren Berichten davon spricht, dass systematische Folter und andere Formen der Misshandlung angewendet werden (TİHV/HRFT 11.2024, S. 17), sieht sowohl die ÖB Ankara als auch das deutsche Außenamt hingegen keine Anhaltspunkte zu systematischer Folter (ÖB Ankara 4.2025, S. 44; vgl. AA 20.5.2024).
Das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) weist in seinem Bericht über den Besuch in der Türkei im Mai 2019 auf Vorfälle von übermäßiger Gewaltanwendung durch Beamte gegenüber Festgenommenen mit dem Ziel von Geständnissen oder als Strafe hin (die Berichte über den Besuch im Jänner 2021 und über den Ad-hoc-Besuch im September 2022 und Februar 2024 wurden auf Betreiben der Türkei bislang nicht veröffentlicht). Die Häufigkeit der Vorfälle liegt auf einem besorgniserregenden Niveau. Allerdings hat die Schwere der Misshandlungen durch Polizeibeamte abgenommen (ÖB Ankara 4.2025, S. 44). Hierzu äußerten sich im September 2022 die Experten des UN-Unterausschusses zur Verhütung von Folter (SPT) nach ihrem zweiten Besuch im Land. Demnach muss die Türkei weitere Maßnahmen ergreifen, um Häftlinge vor Folter und Misshandlung zu schützen, insbesondere in den ersten Stunden der Haft, und um Migranten in Abschiebezentren zu schützen (OHCHR 21.9.2022).
In Bezug auf die Türkei zeigte sich 2024 auch die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) "alarmiert über glaubwürdige Berichte, die darauf hindeuten, dass Folter und andere Formen der Misshandlung in [...] der Türkei tendenziell systematisch und/oder weit verbreitet sind [und] besorgt über Berichte, die darauf hinweisen, dass trotz der "Null-Toleranz"-Botschaft der Behörden die Anwendung von Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnis in den letzten Jahren zugenommen hat und die früheren Fortschritte der Türkei in diesem Bereich überschattet. Die Versammlung begrüßt die jüngsten Entscheidungen des Verfassungsgerichts, in denen Verstöße gegen das Verbot von Misshandlungen festgestellt und neue Untersuchungen von Beschwerden angeordnet wurden, und ermutigt andere nationale Gerichte, dieser Rechtsprechung zu folgen" [Anm.: Originalzitat englisch] (CoE-PACE 24.1.2024, S. 2).
Ebenso äußerte sich das Anti-Folter-Komitee der Vereinten Nationen - CAT im Sommer 2024 "[...] besorgt über die Vorwürfe, dass Folter und Misshandlung im Vertragsstaat weiterhin in allgemeiner Form vorkommen, insbesondere in Haftanstalten, einschließlich der Vorwürfe von Schlägen und sexuellen Übergriffen und Belästigungen durch Strafverfolgungs- und Geheimdienstbeamte sowie des Einsatzes von Elektroschocks und Waterboarding in einigen Fällen" [Anm.: Originalzitat englisch] (CAT 14.8.2024, S. 6).
Trotz der Zusicherungen der Türkei bezüglich ihrer Null-Toleranz-Politik gegenüber Folter bekräftigte der UN-Menschenrechtsausschuss Ende November 2024 (im Rahmen des zweiten periodischen Berichtes zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte - ICCPR) seine Besorgnis über die allgemeine Art und Weise, in der Folter und Misshandlung angeblich in Polizeigewahrsam und Gefängnissen stattfinden, sowie über die Zunahme von Folter- und Misshandlungsvorwürfen in den letzten Jahren (UNHRCOM 28.11.2024, S. 6).
Straflosigkeit bzw. Strafmilderung bei staatlicher Gewalt
Anstatt den Strafbestand der "vorsätzliche Tötung und Folter" anzuwenden, werden Sicherheitsorgane gerichtlich wegen "vorsätzlicher Körperverletzung mit Todesfolge" oder "rücksichtsloser Tötung" verurteilt, was mildere Strafen etwa in Form einer schnelleren Entlassung aus der Haft nach sich zieht. Zudem bestimmt das am 14.7.2016 erlassenen Gesetz Nr. 6722, dass Untersuchung gegen Militärpersonal, welches an Einsätzen, welche Foltervorwürfe und andere Misshandlungen nach sich zogen, einem besonderen Genehmigungsverfahren unterworfen sind. Und rückwirkend wurde eine Straflosigkeit eingeführt (İHD/HRA/TİHV/HRFT/TMA/TTB 26.6.2024, S. 11).
Die letzten Jahre verzeichneten nicht nur einen Anstieg der Fälle von Folter und Misshandlungen. Hinzukam das Fehlen einer Verurteilung durch höhere Amtsträger und die Bereitschaft, Anschuldigungen zu vertuschen, anstatt sie zu untersuchen. Dies führte zu einer weitverbreiteten Straffreiheit für die Sicherheitskräfte (SCF 6.1.2022). Dies ist überdies auf die Verletzung von Verfahrensgarantien, langen Haftzeiten und vorsätzlicher Fahrlässigkeit zurückzuführen, die auf verschiedenen Ebenen des Staates zur gängigen Praxis geworden sind (İHD/HRA/OMCT/CİSST/TİHV/HRFT 9.12.2021). Betroffen sind sowohl Personen, welche wegen politischer als auch gewöhnlicher Straftaten angeklagt sind (HRW 13.1.2021). Allerdings sind Personen, denen eine Verbindung zur PKK oder zur Gülen-Bewegung nachgesagt wird, mit größerer Wahrscheinlichkeit Misshandlungen ausgesetzt. Ebenso sind laut Berichten Übergriffe in Polizeieinrichtungen in Teilen des Südostens häufiger als anderenorts (USDOS 22.4.2024, S. 4).
Der UN-Menschenrechtsausschuss äußerte 2024 seine Besorgnis über das Fehlen einer angemessenen Überwachung von Polizeigewahrsam und Gefängnissen, eines sicheren und wirksamen Beschwerdemechanismus und unparteiischer, unabhängiger und gründlicher Ermittlungen, Strafverfolgungen und Sanktionen, die der Schwere der Straftat für die Täter angemessen sind, was zu einer Situation der faktischen Straflosigkeit führt (UNHRCOM 28.11.2024, S. 6; vgl. HRW 11.1.2024).
In einer Entschließung vom 7.6.2022 wiederholte das Europäische Parlament (EP) "seine Besorgnis darüber, dass sich die Türkei weigert, die Empfehlungen des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe umzusetzen" und "fordert die Türkei auf, bei Folter eine Null-Toleranz-Politik walten zu lassen und anhaltenden und glaubwürdigen Berichten über Folter, Misshandlung und unmenschliche oder entwürdigende Behandlung in Gewahrsam, bei Verhören oder in Haft umfassend nachzugehen, um der Straflosigkeit ein Ende zu setzen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen" (EP 7.6.2022, S. 19, Pt. 32). Es gab wenige Anhaltspunkte dafür, dass die Staatsanwaltschaft bei der Untersuchung der in den letzten Jahren vermehrt erhobenen Vorwürfe von Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen Fortschritte gemacht hätte (HRW 12.1.2023). Nur wenige derartige Vorwürfe führen zu einer strafrechtlichen Verfolgung der Sicherheitskräfte, und es herrscht nach wie vor eine weitverbreitete Kultur der Straflosigkeit (HRW 11.1.2024).
Laut der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TİHV) sollen zwischen 2018 und 2021 in der Türkei mindestens 13.965 Menschen unter Folter und Misshandlung festgenommen worden sein. Von diesen gewaltsamen Verhaftungen erfolgten 3.997 im Jahr 2018, 4.253 im Jahr 2019, 2.014 im Jahr 2020 und 3.701 im Jahr 2021 (Duvar 22.3.2022). 2022 berichtete der damalige Innenminister Süleyman Soylu infolge einer parlamentarischen Anfrage, dass lediglich zwölf von 2.594 Polizeioffizieren, welche in den vergangenen fünf Jahren verdächtigt wurden, exzessive Gewalt angewendet zu haben, in irgendeiner Weise bestraft wurden (TM 21.1.2022). Nach Angaben der Menschenrechtsvereinigung (İHD/HRA) wurden im Jahr 2023 insgesamt 5.312 Menschen durch Sicherheitskräfte gefoltert oder misshandelt. 348 Fälle von Folter fanden in Polizeihaft und weitere 733 außerhalb von Hafteinrichtungen statt. 594 Fälle wurden aus den Gefängnissen gemeldet. 3.487 Personen wurden anlässlich von Protesten durch Sicherheitskräfte geschlagen und verwundet (BAMF 9.9.2024, S. 11; vgl. İHD/HRA 23.8.2024).
Urteile der Höchstgerichte
Das Verfassungsgericht urteilte 2021 mindestens in fünf Fällen zugunsten von Klägern, die von Folter und Misshandlungen betroffen waren (SCF 17.11.2021). In zwei Urteilen vom Mai 2021 stellte das Verfassungsgericht Verstöße gegen das Misshandlungsverbot fest und ordnete neue Ermittlungen hinsichtlich der Beschwerden an, die von der Staatsanwaltschaft zum Zeitpunkt ihrer Einreichung im Jahr 2016 abgewiesen worden waren (HRW 13.1.2022). Betroffen waren ein ehemaliger Lehrer, der im Gefängnis in der Provinz Antalya gefoltert wurde, sowie ein Mann, der in Polizeigewahrsam in der Provinz Afyon geschlagen und sexuell missbraucht wurde. Beide wurden 2016 wegen vermeintlicher Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung verhaftet. Das Höchstgericht ordnete in beiden Fällen Schadenersatzzahlungen an (SCF 15.9.2021; vgl. SCF 22.9.2021). Ebenfalls im Sinne dreier Kläger (der Brüder Çelik und ihres Cousins), die 2016 von den bulgarischen an die türkischen Behörden ausgeliefert wurden, und welche Misshandlungen sowie die Verweigerung medizinischer Hilfe beklagten, entschied das Verfassungsgericht, dass die Staatsanwaltschaft die Anhörung von Gefängnisinsassen als Zeugen im Verfahren verabsäumt hätte. Das Höchstgericht wies die Behörden an, eine Schadenersatzzahlung zu leisten und eine Untersuchung gegen die Täter einzuleiten (SCF 17.11.2021). Überdies wurde im Fall eines privaten Sicherheitsbediensteten, der am 5.6.2021 in Istanbul in Polizeigewahrsam starb, ein stellvertretender Polizeichef inhaftiert, der zusammen mit elf weiteren Polizeibeamten vor Gericht steht, nachdem die Medien Wochen zuvor Aufnahmen veröffentlicht hatten, auf denen zu sehen war, wie die Polizei den Wachmann schlug (HRW 13.1.2022). In einem Urteil vom 25.3.2025 stellte das Verfassungsgericht fest, dass die Behörden im Fall von Zabit Kişi, einem vermeintlichen Mitglied der Gülen-Bewegung, welcher 2017 aus Kasachstan entführt und in der Türkei geheim inhaftiert worden war, gegen die Verfahrensgarantien des Verbots der Misshandlung verstoßen hatten. Das Gericht entschied einstimmig, dass Kişi eine wirksame Untersuchung seiner Vorwürfe der rechtswidrigen Entführung, der verlängerten Isolationshaft und der schweren Folter verweigert wurde (NM 30.5.2025; vgl. TALI 4.6.2025). Die Entscheidung räumte zwar einen Verfahrensfehler ein, umging jedoch bewusst die Frage der tatsächlichen Folter. Trotz überwältigender Beweise, darunter übereinstimmende Zeugenaussagen und medizinische Unterlagen, entschied sich das Verfassungsgericht, die tatsächliche Folter nicht anzuerkennen, sondern lediglich das Versäumnis, sie zu untersuchen (TALI 4.6.2025).
Im Oktober 2024 bestätigte das Kassationsgericht den Freispruch von 16 Männern, die in einem Verfahren gegen JİTEM, eine Spezialeinheit der Gendarmerie für Nachrichtenbeschaffung, in Ankara wegen "vorsätzlicher Tötung im Rahmen von Handlungen einer bewaffneten Organisation, die zur Begehung einer Straftat gegründet wurde" angeklagt worden waren. Unter den Freigesprochenen befanden sich auch ehemalige Staatsbedienstete. Der Fall bezog sich auf Fälle des Verschwindenlassens und außergerichtliche Hinrichtungen zwischen 1993 und 1996 (AI 29.4.2025).
Institutionen
Die Opfer von Misshandlungen oder Folter können sich zwar an formelle Beschwerdeverfahren wenden, doch sind diese Mechanismen nicht besonders wirksam. Dies gab Anlass zu Bedenken hinsichtlich der Autonomie staatlicher Stellen wie der Türkiye İnsan Hakları ve Eşitlik Kurumu (Menschenrechts- und Gleichstellungsbehörde der Türkei, TİHEK, engl. Abk.: HREI) und der Ombudsperson. So ist die TİHEK mehreren Quellen zufolge bei der Bearbeitung von Berichten über Misshandlungen und Folter weder effizient noch autonom (MBZ 31.8.2023, S. 40; vgl. CAT 14.8.2024, S. 3). Die TİHEK führt zwar offizielle Besuche in den Gefängnissen durch, doch geht es dabei in erster Linie um hygienische Fragen und nicht um Fälle von Misshandlung und Folter. Die Beamten auf den Polizeidienststellen zeigen häufig kein Interesse an der Bearbeitung von Beschwerden im Zusammenhang mit staatlich geförderter Gewalt. Die Opfer haben bessere Erfolgsaussichten, wenn sie ihre Beschwerden direkt bei der Staatsanwaltschaft einreichten, vor allem, wenn sie durch stichhaltige Beweise wie medizinische Berichte oder Videomaterial untermauert waren. Derselben Quelle des niederländischen Außenministeriums zufolge riskieren Bürger, die Vorfälle staatlich geförderter Gewalt meldeten, wegen Verleumdung angeklagt zu werden (MBZ 31.8.2023, S. 40). Auch die Europäische Kommission stellte im Oktober 2024 fest, dass, obwohl mit der Rolle des Nationalen Präventionsmechanismus (NPM) betraut, die TİHEK/ HREI nicht die wichtigsten Anforderungen des Fakultativprotokolls zum UN-Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (OPCAT) erfüllt und Fälle, die an sie verwiesen wurden, nicht wirksam bearbeitet (EC 30.10.2024, S. 30; vgl. EC 8.11.2023, S. 31).
Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen haben viele Opfer von Misshandlungen und Folter nicht nur wenig oder kein Vertrauen in die beiden genannten Institutionen, sondern es überwiegt die Angst, dass sie erneut Misshandlungen und Folter ausgesetzt werden, wenn die Gendarmen, Polizisten und/oder Gefängniswärter herausfinden, dass sie eine Beschwerde eingereicht haben. In Anbetracht dessen erstatten die meisten Opfer von Misshandlungen und Folter keine Anzeige (MBZ 18.3.2021, S. 34; vgl. MBZ 2.3.2022, S. 32f.). Kommt es dennoch zu Beschwerden von Gefangenen über Folter und Misshandlung stellen die Behörden keine Rechtsverletzungen fest, die Untersuchungen bleiben ergebnislos. Hierdurch hat die Motivation der Gefangenen, Rechtsmittel einzulegen, abgenommen, was wiederum zu einem Rückgang der Beschwerden geführt hat (CİSST 26.3.2021, S. 30).
Korruption
Letzte Änderung 2025-08-06 12:55
Rechtsrahmen
Die Türkei ist ein Vertragsstaat der UN-Konvention gegen Korruption (2006), der OECD-Konvention gegen Bestechung, des Strafrechtsübereinkommens und des Zivilrechtsübereinkommens des Europarates über Korruption. Der Rechtsrahmen zur Korruptionsbekämpfung ist in mehreren nationalen Gesetzen enthalten (DFAT 16.5.2025, S. 9; vgl. USDOS 17.7.2024). Zudem beteiligt sich die Türkei an regionalen Initiativen zur Korruptionsbekämpfung wie der G20-Arbeitsgruppe zur Korruptionsbekämpfung (USDOS 17.7.2024). Das türkische Strafgesetzbuch (Artikel 247 und 252) stellt verschiedene Formen der Korruption unter Strafe, darunter aktive und passive Bestechung, versuchte Korruption, Erpressung, Bestechung eines ausländischen Beamten, Geldwäsche und Amtsmissbrauch. Die Strafe für Bestechung kann eine Freiheitsstrafe von bis zu zwölf Jahren umfassen (DFAT 16.5.2025, S. 9; vgl. GAN 5.11.2020). Unternehmen müssen mit der Beschlagnahme von Vermögenswerten und dem Entzug staatlicher Betriebsgenehmigungen rechnen. Schmiergeldzahlungen und Geschenke sind zwar illegal, kommen aber dennoch häufig vor (GAN 5.11.2020).
Strukturelle Defizite und behördliches Vorgehen gegen Korruptionsberichterstattung
Das Land hat keine Schritte unternommen, um einen Rahmen für die Prävention und Kontrolle zu schaffen oder Korruptionsbekämpfungsstellen gemäß den zivil- und strafrechtlichen Übereinkommen des Europarats über Korruption, den Empfehlungen der Gruppe der Staaten gegen Korruption (GRECO) und dem UN-Übereinkommen gegen Korruption einzurichten (EC 30.10.2024, S. 5). Der Rechtsrahmen und die institutionelle Struktur müssen laut Europäischer Kommission verbessert werden, um unzulässige politische Einflussnahme bei der Verfolgung und Entscheidung von Korruptionsfällen zu begrenzen. Die öffentlichen Einrichtungen müssen ihre Rechenschaftspflicht und Transparenz verbessern (EC 30.10.2024, S. 5). Wie in der OECD-Konvention zur Bekämpfung der Bestechung dargelegt, hatte die Türkei mehrere Strategien zur Korruptionsbekämpfung entwickelt, diese jedoch nicht beibehalten oder aktualisiert. Viele davon sind nicht mehr in Kraft und wurden nicht ersetzt, was zu einem Mangel an nationalen strategischen Maßnahmen sowohl zur Bekämpfung der Korruption im Inland als auch der Bestechung im Ausland führt. Darüber hinaus hat das Land auch keine Fortschritte bei der Einführung von Gesetzen zum Schutz von Whistleblowern erzielt (OECD 10.4.2025, S. 122; vgl. EC 30.10.2024, S. 28).
Die Türkei erfüllt 27 % der Kriterien hinsichtlich der Qualität des strategischen Rahmens gemäß den OECD-Standards und 13 % hinsichtlich der Umsetzung der Strategie, verglichen mit dem OECD-Durchschnitt von 45 % bzw. 36 %. Gemessen an den OECD-Standards für das Risikomanagement, das interne Kontrollen und interne Revisionen umfasst, erfüllt die Türkei 56 % der Kriterien für Vorschriften und 26 % für die Praxis, verglichen mit dem OECD-Durchschnitt von 67 % bzw. 33 %. Die Türkei erfüllt keine Kriterien hinsichtlich der Vorschriften und Praktiken zur Minderung von Korruptionsrisiken im Zusammenhang mit Lobbyismus, da es in diesem Bereich keine Rechtsvorschriften gibt. Gemessen an den OECD-Standards zu Interessenkonflikten erfüllt die Türkei 56 % der Kriterien in Bezug auf Vorschriften, erfasst jedoch die erforderlichen Daten in der Praxis nicht. Im Durchschnitt erfüllen die OECD-Länder 76 % der Kriterien für Vorschriften und 40 % für die Praxis. Gemessen an den OECD-Standards zur politischen Finanzierung erfüllt die Türkei 40 % der Kriterien in Bezug auf Vorschriften und 43 % in Bezug auf die Praxis, verglichen mit dem OECD-Durchschnitt von 73 % bzw. 58 %. Gemessen an den OECD-Standards zur Information der Öffentlichkeit, die den Zugang zu Informationen und offenen Daten umfassen, erfüllt die Türkei 44 % der Kriterien für Vorschriften und 54 % für die Praxis, verglichen mit dem OECD-Durchschnitt von 67 % bzw. 62 % (OECD 16.3.2024, S. 4-9):
OECD 16.3.2024, S. 3
Die Financial Action Task Force on Money Laundering (FATF) bescheinigte Ende Juni 2024 der Türkei, dass sie die Wirksamkeit ihres Systems zur Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung gestärkt habe, um die in ihrem Aktionsplan eingegangenen Verpflichtungen in Bezug auf die von der FATF im Oktober 2021 festgestellten strategischen Schwachstellen zu erfüllen. Infolgedessen hob die FATF die verstärkte Überwachung (increased monitoring) auf (FATF 28.6.2024; vgl. REU 28.6.2024). Allerdings bleibt die Kritik von Wirtschaftswissenschaftlern aufrecht, wonach die Türkei aufgrund der tief verwurzelten Korruption, der wiederholten Amnestieprogramme und der unzureichenden Durchsetzung der Finanzvorschriften zu einer wichtigen Drehscheibe für Geldwäsche geworden ist, wodurch Milliarden von Dollar an illegalen Geldern ins Land gelangen. Ein Schlüsselfaktor für die Verwandlung der Türkei in ein Zentrum der Geldwäsche sei die Aufhebung eines Gesetzes aus dem Jahr 2003, das von Einzelpersonen verlangte, die rechtmäßige Herkunft großer finanzieller Gewinne nachzuweisen. Der ehemalige Vorsitzende der Ermittlungsbehörde für Finanzkriminalität (MASAK), Ramazan Başak, erklärte, dass die Abschaffung des Gesetzes es ermöglicht habe, dass riesige Mengen an nicht-zurückverfolgbarem Vermögen unkontrolliert in das Finanzsystem gelangen konnten. Seit 2008 wurden überdies wiederholt Gesetze zur Vermögensamnestie eingeführt, jüngste Version, im Juli 2022 verabschiedet, blieb bis März 2023 in Kraft. Diese Gesetze, die ursprünglich der wirtschaftlichen Erholung dienen sollten, wurden weithin dafür kritisiert, dass sie den Fluss illegaler Gelder ins Land ermöglichen (TM 17.1.2025).
Die Antikorruptionsgesetze werden nicht konsequent durchgesetzt, und die Antikorruptionsbehörden sind ineffektiv oder politisiert (FH 26.2.2025, C2; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 58f., USDOS 17.7.2024), was eine Kultur der Straflosigkeit hervorruft (FH 26.2.2025, C2; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 58). In der Türkei gibt es nach wie vor kein ständiges, funktional unabhängiges Gremium zur Korruptionsbekämpfung. Die Koordinierung zwischen den verschiedenen Präventionsstellen ist nach wie vor unzureichend. Der staatliche Aufsichtsrat (State Supervisory Council), der für die Korruptionsbekämpfung zuständig ist, arbeitet nicht als unabhängige Korruptionsbekämpfungsbehörde, da es ihm an funktionaler Unabhängigkeit mangelt (EC 30.10.2024, S. 28; vgl. OECD 10.4.2025, S. 122, BS 23.2.2022, S. 35). Kritiker behaupten, dass Regierungsbeamte weiterhin große Aufträge an Firmen vergeben, die mit der regierenden Partei AKP befreundet sind, insbesondere für große öffentliche Bauprojekte (USDOS 17.7.2024).
Das Parlament betraute den Rechnungshof mit der Rechenschaftspflicht in Bezug auf die Einnahmen und Ausgaben der staatlichen Stellen. Außerhalb dieses Rechnungsprüfungssystems gibt es aber keine spezielle Behörde, die ausschließlich für die Untersuchung und Verfolgung von Korruptionsfällen zuständig ist (USDOS 22.4.2024, S. 58). Offizielle Aufsichtsorgane wie der Rechnungshof und die Ombudsperson veröffentlichen Berichte oft verspätet und decken nur selten Korruptionsvorwürfe ab (DFAT 10.9.2020).
Sorge besteht auch hinsichtlich der Unparteilichkeit der Justiz in der Handhabe von Korruptionsfällen, die Justiz ist auch bei den Ermittlungen und der Strafverfolgung in großen Korruptionsfällen der Einmischung der Regierung ausgesetzt (USDOS 22.4.2024, S. 58.)
Die Regierung bestraft Strafverfolgungsbeamte, Richter und Staatsanwälte, die korruptionsbezogene Ermittlungen oder Fälle gegen Regierungsbeamte eingeleitet haben, und behauptet, dass Erstere dies auf Veranlassung der Gülen-Bewegung taten (USDOS 12.4.2022, S. 63f.). Die Bilanz der Ermittlungen, Strafverfolgungen und Verurteilungen in Korruptionsfällen ist, insbesondere bei Korruptionsfällen auf höchster Ebene, an denen Politiker und Beamte beteiligt sind, nach wie vor schlecht. Die Urteile sind milde und haben keine abschreckende Wirkung (EC 8.11.2023, S. 27; vgl. UNHRCOM 28.11.2024, S. 5). Es gibt nur vereinzelte offizielle Untersuchungen der Korruption in der Regierung (USDOS 22.4.2024, S. 58f.). Gesetzliche Privilegien für Beamte, wie z. B. das Erfordernis einer vorherigen Genehmigung durch ihre Vorgesetzten, bevor eine Untersuchung gegen sie wegen eines mutmaßlichen Fehlverhaltens eingeleitet wird, bieten nach wie vor Schutz bei Ermittlungen zur Korruptionsbekämpfung und behindern somit effektiv die Ermittlungen (EC 30.10.2024, S. 28).
Kritische Berichte über Korruptionsfälle in der Regierung ziehen im negativen Sinne die Aufmerksamkeit der türkischen Behörden auf sich (MBZ 2.3.2022, S. 25). Journalisten und zivilgesellschaftliche Organisationen berichten, dass sie Vergeltungsmaßnahmen für ihre Berichterstattung über Korruption befürchten (USDOS 22.4.2024, S. 59). So wurde am 1.11.2023 der Journalist Tolga Şardan wegen des Verdachts der Verbreitung von Desinformationen festgenommen. Der Journalist hatte in einem Artikel über mögliche Korruption in der Justiz berichtet. Dabei bezog er sich u. a. auf einen Bericht des Geheimdienstes MİT (Duvar 6.11.2023). Gerichte und der Oberste Radio- und Fernsehrat (RTÜK) blockierten regelmäßig den Zugang zu Presseberichten über Korruptionsvorwürfe (USDOS 22.4.2024, S. 59).
Verbreitung und Ausmaß von Korruption
Trotz eines strengen Rechtsrahmens berichten internationale und inländische Beobachter, dass Korruption im öffentlichen und privaten Sektor der Türkei weit verbreitet ist und sich in den letzten Jahren verschlimmert hat (DFAT 16.5.2025, S. 9; vgl. FH 26.2.2025, C2), auch auf den höchsten Ebenen der Regierung (FH 26.2.2025, C2). Sichtbar wurde die weitverbreitete Korruption angesichts des Erdbebens im Februar 2023 (EP 13.9.2023, Pt. 3). Darüber hinaus sind die Finanzierung der politischen Parteien, die Justiz und die öffentliche Verwaltung, die Gemeinden, die Landverwaltung, die Raumordnung und das Bauwesen weiterhin anfällig für Korruption (EC 30.10.2024, S. 28).
Obwohl der Umfang der informellen Wirtschaft in den letzten Jahren zurückgegangen ist, macht sie immer noch einen erheblichen Teil der Wirtschaftstätigkeit aus. Die Regierung hat die Umsetzung ihres Aktionsplans zur Bekämpfung der Schattenwirtschaft (2023-2025) fortgesetzt, aber das Fehlen von Leistungsindikatoren erschwert die Überwachung der Fortschritte bei der Umsetzung (EC 30.10.2024, S. 46). Anderen Quellen zufolge soll die Schattenwirtschaft in den letzten Jahren enorm expandiert sein. Der Anstieg der illegalen Einnahmen stammt nicht nur aus dem Untergrundsektor wie Prostitution, Drogenhandel und Kraftstoffschmuggel, sondern auch aus der Einflussnahme durch Bestechung bei öffentlichen Ausschreibungen und Schmiergeldzahlungen ausländischer Unternehmen, die in der Türkei Geschäfte machen wollen. Nach dem Putschversuch im Jahr 2016 ist der Fluss illegaler Gelder um einen weiteren Aspekt erweitert worden. Im Rahmen der politischen Säuberungsaktionen wurden Unternehmen, die sich im Besitz von Gülenisten befanden, beschlagnahmt und dann verkauft, meist an Freunde der regierenden AKP. Wie sich später herausstellte, zahlten viele Geschäftsleute, denen Verbindungen zu den Gülenisten nachgesagt wurden, hohe Bestechungsgelder, um einer Untersuchung oder einem Prozess zu entgehen (AlMon 21.5.2021).
Transparency International reihte die Türkei im Korruptionswahrnehmungsindex 2024 wie 2023 mit einem Punktewert von 34 von 100 (bester Wert) auf Platz 107 (2023: 115) von 180 untersuchten Ländern und Territorien ein. Den besten Wert in der vergangenen Dekade erreichte das Land 2013 mit 50 von 100 Punkten (TI 11.2.2025; vgl. TI 30.1.2024). World Justice Project verlieh der Türkei für das Jahr 2024 einen Skalenwert von 0,45 (1 = statistischer Bestwert), welcher unter dem globalen Durchschnittswert von 0,51 lag, wodurch das Land auf Rang 78 von 142 Ländern rangierte (WJP 10.2024).
Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung 2025-08-06 12:55
Der innerstaatliche rechtliche Rahmen sieht Garantien zum Schutz der Menschenrechte vor (ÖB Ankara 4.2025, S. 43; vgl. EC 8.11.2023, S. 6, 38). Gemäß der türkischen Verfassung besitzt jede Person mit ihrer Persönlichkeit verbundene unantastbare, unübertragbare, unverzichtbare Grundrechte und Grundfreiheiten. Diese können nur aus den in den betreffenden Bestimmungen aufgeführten Gründen und nur durch Gesetze beschränkt werden. Zentrale Rechtfertigung für die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte bleibt der Kampf gegen den Terrorismus (ÖB Ankara 4.2025, S. 43). Im Rahmen der 2018 verabschiedeten umfassenden Anti-Terrorgesetze schränkt die Regierung unter Beeinträchtigung der Rechtsstaatlichkeit die Menschenrechte und Grundfreiheiten weiter ein. In der Praxis sind die meisten Einschränkungen der Grundrechte auf den weit ausgelegten Terrorismusbegriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des Strafgesetzbuches, wie z. B. die Beleidigung des Staatsoberhauptes, zurückzuführen. Diese Bestimmungen werden extensiv herangezogen (USDOS 20.3.2023, S. 1, 21; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 43). Auch das Europäische Parlament sah im Juni 2025, "dass in der türkischen Verfassung zwar ein ausreichender Schutz der Grundrechte vorgesehen ist, dass jedoch die Vorgehensweise der Institutionen in der Praxis und der kritische Zustand des Justizwesens – einschließlich der mangelnden Achtung der Urteile des Verfassungsgerichts – die Hauptgründe für die katastrophale Lage der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte im Land sind" (EP 7.5.2025, Pt. G).
Der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen äußerte Ende November 2024 in Hinblick auf die Umsetzung des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte seine Besorgnis, dass der Rechtsrahmen der Türkei keinen vollständigen Schutz vor Diskriminierung aus allen vom Pakt erfassten Gründen bietet, einschließlich der Diskriminierung von LGBTQ-Personen, Menschen mit Behinderungen und Angehörigen ethnischer Minderheiten, wie etwa Mitgliedern der kurdischen Gemeinschaft. Dieser Kritik folgte die Aufforderung, umfassende Rechtsvorschriften zu erlassen, die jedwede Diskriminierung, auch im öffentlichen und privaten Sektor, und aus allen nach dem Pakt verbotenen Gründen zu verbieten; die wirksame Umsetzung und Anwendung der Rechtsvorschriften und den Zugang zu wirksamen und angemessenen Rechtsbehelfen für die Opfer sicherzustellen (UNHRCOM 28.11.2024, S. 3).
Laut Europäischer Kommission (EK) hat sich die allgemeine Menschenrechtslage im Land nicht verbessert. Die Rechtsvorschriften und ihre Umsetzung müssen mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Rechtsprechung des EGMR in Einklang gebracht werden. Die Türkei sollte laut EK vor allem seine Anti-Terror-Gesetzgebung und deren Umsetzung sowie die Praktiken zur Terrorismusbekämpfung an die europäischen Standards, die EMRK, die Rechtsprechung des EGMR und die Empfehlungen der Venedig-Kommission sowie an den EU-Besitzstand und die EU-Praktiken anpassen und weiters den Rechtsrahmen und dessen Umsetzung verbessern, um alle Formen von Gewalt gegen Frauen; alle Formen von Rassismus und Diskriminierung, auch gegenüber LGBTIQ-Personen, wirksam zu bekämpfen und den Schutz von Minderheiten zu gewährleisten. Hierzu gehört die vorrangige Umsetzung der Urteile des EGMR, das heißt insbesondere die sofortige Freilassung des ehemaligen HDP-Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und des Menschenrechtsverteidigers Osman Kavala (EC 30.10.2024, S. 5f., 29). Obgleich die EMRK aufgrund Art. 90 der Verfassung gegenüber nationalem Recht vorrangig und direkt anwendbar ist, werden Konvention und Rechtsprechung des EGMR bislang von der innerstaatlichen Justiz nicht vollumfänglich berücksichtigt (AA 20.5.2024, S. 16), denn mehrere gesetzliche Bestimmungen verhindern nach wie vor den umfassenden Zugang zu den Menschenrechten und Grundfreiheiten, die in der Verfassung und in den internationalen Verpflichtungen des Landes verankert sind (EC 6.10.2020, S. 10).
Das Europäische Parlament urteilte in einer Entschließung vom Juni 2025, dass seit dem [zuvor genannten] Fortschrittsbericht der Kommission vom 30.10.2024 sich die Lage in Bezug auf Demokratie und Grundrechte weiter verschlechtert hat, welche "von einer anhaltenden Anwendung von Gesetzen und Maßnahmen zur Einschränkung der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte, der Grundfreiheiten und der bürgerlichen Freiheitsrechte geprägt ist" (EP 7.5.2025, Pt. C).
Die Parlamentarische Versammlung des Europarats (PACE) überwacht weiterhin (mittels ihres speziellen Monitoringverfahrens) die Achtung der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei (EC 8.11.2023, S. 6, 28; vgl. EC 30.10.2024, S. 29). Beispielsweise sahen die Ko-Berichterstatter der PACE zur Türkei nach ihrer Fact-Finding-Mission im Juni 2025 hierzu das Land an einem Scheidepunkt, indem sie sich nicht nur ernsthaft besorgt über Menschenrechtsverletzungen zeigten, sondern auch darüber, dass die gesamte Rechtsstaatlichkeit bedroht ist (CoE-PACE 23.6.2025).
Am Vorabend der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2023 verzeichnete die Menschenrechtskommissarin des Europarates, Dunja Mijatović, in einer Stellungnahme, eine Verschärfung des Drucks auf die wichtigen Akteure der demokratischen Gesellschaft sowie eine Verschlechterung der Menschenrechtslage, insbesondere der Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. Die türkischen Behörden wurden aufgefordert, das feindselige Umfeld für Menschenrechtsverteidiger, Journalisten, NGOs und Anwälte zu beenden und sie nicht länger durch administrative und gerichtliche Maßnahmen zum Schweigen zu bringen. Die öffentliche Verwendung hasserfüllter Rhetorik gegen Minderheiten, LGBTI-Personen und Migranten, auch durch hochrangige Beamte, hat laut Mijatović ein alarmierendes Ausmaß erreicht und die bestehende Polarisierung in der Gesellschaft verstärkt, in einem Umfeld, das bereits von zunehmender Gewalt und hasserfüllten Verbrechen gegen Angehörige dieser Gruppen geprägt ist (CoE-CommDH 5.5.2023).
Zu den maßgeblichen Menschenrechtsproblemen gehören glaubwürdige Berichte über: Verschwindenlassen; Folter oder grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung durch die Regierung oder im Auftrag der Regierung; willkürliche Verhaftung oder Inhaftierung; schwerwiegende Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz; politische Gefangene oder Inhaftierte; grenzüberschreitende Repressionen gegen Personen in einem anderen Land; schwerwiegende Einschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung und der Medienfreiheit, einschließlich Gewalt und Androhung von Gewalt gegen Journalisten, ungerechtfertigte Verhaftungen oder strafrechtliche Verfolgung von Journalisten, Zensur oder Durchsetzung oder Androhung der Durchsetzung von Gesetzen zur strafrechtlichen Verfolgung wegen Verleumdung, um die Meinungsäußerung einzuschränken; schwerwiegende Einschränkungen der Internetfreiheit; erhebliche Eingriffe in die Versammlungs- und die Vereinigungsfreiheit, einschließlich übermäßig restriktiver Gesetze hinsichtlich der Organisation, Finanzierung oder Tätigkeit von Nichtregierungsorganisationen und Organisationen der Zivilgesellschaft; Beschränkungen der Bewegungs- und Aufenthaltsfreiheit im Hoheitsgebiet eines Staates und des Rechts, das Land zu verlassen; Zurückweisung von Flüchtlingen in ein Land, in dem ihnen Folter oder Verfolgung drohen, einschließlich schwerwiegender Schäden wie Bedrohung des Lebens oder der Freiheit oder anderer Misshandlungen, die eine gesonderte Menschenrechtsverletzung darstellen würden; schwerwiegende staatliche Beschränkungen oder Schikanen gegenüber inländischen und internationalen Menschenrechtsorganisationen; umfassende geschlechtsspezifische Gewalt, einschließlich häuslicher oder intimer Partnergewalt, sexueller Gewalt, Gewalt am Arbeitsplatz, Kinder-, Früh- und Zwangsverheiratung, weiblicher Genitalverstümmelung/-beschneidung, Femizid und anderer Formen solcher Gewalt; Gewaltverbrechen oder Gewaltandrohungen gegen Angehörige nationaler und ethnischer Gruppen, wie der kurdischen Minderheit, sowie Flüchtlinge; und Gewaltverbrechen oder Gewaltandrohungen gegen Mitglieder sexueller Minderheiten (LGBTQI+). Hinzukommen glaubwürdige Berichte über willkürliche oder unrechtmäßige Tötungen durch die Vertreter der Staatsmacht, so etwa durch Sicherheitskräfte, Polizei und Gefängniswärter. (USDOS 22.4.2024, S. 1-3; vgl. AI 29.4.2025, EEAS 29.5.2024, S. 23). In diesem Kontext unternimmt die Regierung nur begrenzte Schritte zur Ermittlung, Verfolgung und Bestrafung von Beamten und Mitgliedern der Sicherheitskräfte, die der Menschenrechtsverletzungen beschuldigt werden. Die diesbezügliche Straflosigkeit bleibt ein Problem (USDOS 22.4.2024, S. 2; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 43).
Laut Europäischer Kommission gab es keine Fortschritte bei den Rechtsvorschriften zur Nichtdiskriminierung und deren Umsetzung, um die Angleichung an europäische Standards oder die Ratifizierung des Protokolls Nr. 12 zur EMRK, das ein allgemeines Diskriminierungsverbot vorsieht, zu gewährleisten. Die Rechtsvorschriften über Hassverbrechen, einschließlich Hassreden, stehen noch immer nicht im Einklang mit internationalen Standards und umfassen keine Hassverbrechen aufgrund der sexuellen Ausrichtung, der Geschlechtsidentität und des Geschlechtsausdrucks, der ethnischen Herkunft oder des Alters. Es wurden weiterhin Fälle von Diskriminierung und Hassverbrechen aufgrund von ethnischer Zugehörigkeit, Religion und sexueller Orientierung gemeldet (EC 30.10.2024, S. 33).
Mit Stand Mai 2025 waren 21.200 Verfahren (31.8.2024: 24.200) aus der Türkei beim EGMR anhängig, das waren 35,2 % aller am EGMR anhängigen Fälle (ECHR 6.2025; vgl. ECHR 9.2024), was eine Abnahme bedeutet. Anfang 2025 stellte der EGMR für das Jahr 2024 bei 73 Urteilen in 19 Fällen das Recht auf Freiheit und Sicherheit und in 13 Fällen das Recht auf ein faires Verfahren verletzt (ECHR 22.1.2025).
Das Recht auf Leben
Was das Recht auf Leben betrifft, so gibt es immer noch schwerwiegende Mängel bei den Maßnahmen zur Gewährleistung glaubwürdiger und wirksamer Ermittlungen in Fällen von Tötungen durch die Sicherheitsdienste. Es wurden beispielsweise keine angemessenen Untersuchungen zu den angeblichen Fällen von Entführungen und gewaltsamem Verschwindenlassen durch Sicherheits- oder Geheimdienste in mehreren Provinzen durchgeführt, die seit dem Putschversuch vermeldet wurden. Mutmaßliche Tötungen durch die Sicherheitskräfte im Südosten, insbesondere während der Ereignisse im Jahr 2015, wurden nicht wirksam untersucht und strafrechtlich verfolgt (EC 8.11.2023, S. 30f.). Unabhängigen Daten zufolge wurde im Jahr 2021 das Recht auf Leben von mindestens 2.964 (3.291 im Jahr 2020) Menschen verletzt, insbesondere im Südosten des Landes (EC 12.10.2022, S. 33). Auch 2024 stellte die Europäische Kommission fest, dass keine Schritte unternommen wurden, um die Situation in Bezug auf das Recht auf Leben zu verbessern und die Straflosigkeit der Sicherheitsorgane zu beenden (EC 30.10.2024, S. 30).
Anfang Juli 2022 hat das türkische Verfassungsgericht den Antrag im Zusammenhang mit dem Tod mehrerer Menschen abgelehnt, die während der 2015 und 2016 verhängten Ausgangssperren im Bezirk Cizre in der mehrheitlich kurdisch bewohnten südöstlichen Provinz Şırnak ums Leben kamen. Das Verfassungsgericht erklärte, dass Artikel 17 der Verfassung über das "Recht auf Leben" nicht verletzt worden sei. Die Betroffenen werden vor den EGMR ziehen (Duvar 8.7.2022a).
Siehe hierzu insbesondere die Kapitel bzw. Subkapitel: Sicherheitslage, Folter und unmenschliche Behandlung, Folter und unmenschliche Behandlung / Entführungen und Verschwindenlassen im In- und Ausland
Todesstrafe
Letzte Änderung 2025-08-06 12:59
Die Türkei schaffte die Todesstrafe mit dem Gesetz Nr. 5170 am 7.5.2004 und der Entfernung aller Hinweise darauf in der Verfassung ab. Darüber hinaus ratifizierte die Türkei das Protokoll Nr. 6 zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) über die Abschaffung der Todesstrafe am 12.11.2003, welches am 1.12.2003 in Kraft trat, sowie das Protokoll Nr. 13 zur EMRK über die völlige Abschaffung der Todesstrafe (d.h. unter allen Umständen, auch für Verbrechen, die in Kriegszeiten begangen wurden, und für unmittelbare Kriegsgefahr, was keine Ausnahmen oder Vorbehalte zulässt), welches am 20.2.2006 ratifiziert bzw. am 1.6.2006 in Kraft trat. Am 3.2.2004 unterzeichnete die Türkei zudem das Zweite Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, das auf die Abschaffung der Todesstrafe abzielt. Das Protokoll trat in der Türkei am 24.10.2006 in Kraft (ÖB Ankara 4.2025, S. 17; vgl. FIDH 13.10.2020).
Die Diskussion um die Todesstrafe flammt immer wieder anlassbezogen auf. - Ende Juni 2022 meinte der Justizminister, dass die Türkei die Entscheidung aus dem Jahr 2004 zur Abschaffung der Todesstrafe überdenken würde, nachdem Präsident Erdoğan die Todesstrafe im Zusammenhang mit absichtlich gelegten Waldbränden ins Spiel brachte (REU 25.6.2022; vgl. Duvar 24.6.2022). Und im September 2024 forderten Fatih Erbakan, der Anführer der Neuen Wohlfahrtspartei (YRP), Mustafa Destici, Chef der Großen Vereinigungspartei (BBP) sowie andere Politiker angesichts der Ermordung eines achtjährigen Mädchens, die zu einem Aufschrei der Öffentlichkeit führte, die Wiedereinführung der Todesstrafe (TR-Today 10.9.2024; vgl. fakti.bg 10.9.2024).
Für eine Wiedereinführung der Todesstrafe wäre eine Verfassungsänderung erforderlich, welche eine Zustimmung von mindestens 400 Abgeordneten oder von mindestens 360 Abgeordneten plus einer Volksabstimmung benötigt. Momentan (Juni 2025) verfügt das Regierungsbündnis nicht über die angegebenen Mehrheiten. Die Verfassungsänderung müsste also auch von Abgeordneten der Oppositionsparteien gestützt werden. Zudem müsste die Türkei ihre Unterschrift zu den Protokollen Nr. 6 und 13 zur EMRK zurückziehen. Mit der Wiedereinführung der Todesstrafe würde die Türkei nicht nur einen Ausschluss aus dem Europarat riskieren, sondern den endgültigen Bruch der Beziehungen zur EU (ÖB Ankara 4.2025, S. 17f.).
Religionsfreiheit und religiöse Minderheiten
Letzte Änderung 2025-08-06 13:34
Selbstverständnis des Staates in Bezug auf Religion
Die Türkei besitzt keine verfassungsrechtlich verankerte Staatsreligion. In der Verfassung wird Laizität als Grundprinzip postuliert. In seiner konkreten Ausgestaltung ist die Laizität darauf ausgerichtet, den Staat gegen direkte Übergriffe religiöser Autoritäten zu schützen. Gleichzeitig beansprucht der Staat jedoch das Monopol auf die Gestaltung und Kontrolle des religiösen Lebens. Nach klassischem kemalistischen Verständnis ist die türkische Identität unmittelbar mit dem sunnitischen Islam verknüpft. Die Verfassung garantiert die Freiheit des Gewissens der religiösen Anschauungen und Überzeugungen und untersagt Diskriminierung sowie Missbrauch religiöser Gefühle oder Gegenstände, die der jeweiligen Religion als heilig gelten. Sie sieht grundsätzlich Religionsfreiheit vor, allerdings mit Einschränkung durch die "unteilbare Einheit" der türkischen Nation (BMZ/AA 22.11.2023, S. 151f.; vgl. DFAT 16.5.2025, S. 14). Das heißt, das Land ist von einem Jahrhundert kemalistischer Tradition mit der Vision einer homogenen türkischen Gesellschaft sunnitischen Glaubens geprägt, wo der Existenz religiöser Minderheiten praktisch kein Platz eingeräumt wurde. Um die von Minderheiten möglicherweise ausgehende Bedrohung gering zu halten, sollten nach dieser Denkweise Nichtmuslime und Muslime nicht-sunnitischen Glaubens nicht über solide rechtliche Strukturen verfügen (ÖB Ankara 4.2025, S. 30). Das türkische Ideal der Staatsbürgerschaft konzentriert sich somit darauf, Türke und Sunnit zu sein. Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten, die von dieser Norm abweichen, können mit Problemen in Form von Ausgrenzung, Diskriminierung und Aggression konfrontiert werden (MBZ 2.2025a, S. 67). Das internationale katholische Hilfswerk "Kirche in Not" beschreibt die Situation der religiösen Minderheiten im Land unter Zitierung des [Anm.: verstorbenen] Papstes als "gewaltfreie Verfolgung". In diesem Sinne werden den nicht-muslimischen Gemeinschaften etwa durch Gesetzesänderungen bürokratische Hürden in den Weg gestellt, die sie unter anderem auch an ihren sozialen Aktivitäten hindern und die Handlungsfreiheit ihrer Gläubigen erheblich einschränken (ACN 2023). Laut dem Pew-Institute lag die Türkei 2021 hinsichtlich der Einschränkungen religiöser Rechte durch die Regierung (Government Restrictions Index -GRI) in der Kategorie "hoch" von vier Kategorien ("very high", "high", "moderate", "low"), während die gesellschaftliche Diskriminierung (Social Hostilities Index) merklich abnahm, sodass die Türkei in der Ländergruppe der Kategorie "moderat" eingestuft wurde (Pew 5.3.2024, S. 36, 58, 61).
Trotz der Existenz von zwei nationalen Menschenrechtsmechanismen in der Türkei, der Menschenrechts- und Gleichstellungsinstitution der Türkei [türk. Abk.: TİHEK bzw. engl.: HREI] und der Ombudsmann-Institution (KDK), die Diskriminierungen angehen und Verwaltungsentscheidungen anfechten können, und trotz des rechtlichen Hintergrunds zur Verhinderung von Diskriminierung, ist allein deren Existenz keine Garantie dafür, dass Diskriminierung von Minderheiten verhindert wird und dass Minderheiten diesen Institutionen vertrauen. Eine Statistik aus einem aktuellen Bericht der Freedom of Belief Initiative veranschaulicht diese Situation. - Obgleich zahlreiche Artikel in der Gesetzgebung bestehen, die auf die Bekämpfung von Diskriminierung abzielen, verzichten neun von zehn Personen darauf, Fälle von Diskriminierung oder Hassverbrechen aufgrund ihrer religiösen Identität zu melden. Viele glauben, dass es nutzlos bzw. zu schwierig ist, Anzeige zu erstatten, oder die Betroffenen haben kein Vertrauen in die Polizei (MRG 29.4.2024, S. 11).
Religionsdemografie
In der Türkei sind laut Regierungsangaben 99 % der Bevölkerung muslimischen Glaubens, inklusive Aleviten. Aus den im Jahr 2021 veröffentlichten Meinungsumfragen des Forschungs- und Meinungsforschungsunternehmens KONDA Research and Consultancy geht hervor, dass sich etwa 88 % als sunnitische Muslime bezeichnen, 6 % als Nichtgläubige, 4 % als Aleviten und die restlichen 2 % sich der Kategorie "Sonstige" zuordnen. Die Aleviten-Stiftung geht jedoch davon aus, dass 25 bis 31 % der Bevölkerung Aleviten sind. 4 % der Muslime sind laut eigener Schätzung schiitische Jafari [Dschafari]. Die nicht-muslimischen Gruppen konzentrieren sich überwiegend in Istanbul und anderen großen Städten sowie im Südosten des Landes. Präzise Zahlen gibt es hierzu nicht. Laut Eigenangaben sind ungefähr 90.000 Mitglieder der armenisch-apostolischen Kirche, 25.000 römisch-katholische Christen und 12.000-16.000 Juden. Darüber hinaus gibt es 25.000 syrisch-orthodoxe Christen und ca. 10.000 Baha'i. Die Zahl der ostorthodoxen Christen ist im Laufe des Jahres 2023 deutlich auf über 200.000 gestiegen, was vor allem auf den Krieg in der Ukraine zurückzuführen ist, der zu einem Zustrom von schätzungsweise 154.000 Russen und 47.000 Ukrainern führte. Zur ostorthodoxen Bevölkerung gehören auch weniger als 2.500 ethnisch griechisch-orthodoxe Christen und eine kleine, unbestimmte Anzahl bulgarisch-orthodoxer und georgisch-orthodoxer Christen. Zu den anderen Gruppen gehören schätzungsweise 7.000 bis 10.000 Mitglieder protestantischer und evangelikaler christlicher Konfessionen; 5.000 Mitglieder der Zeugen Jehovas; schätzungsweise 2.000 bis 3.500 armenische Katholiken; weniger als 3.000 chaldäische Christen; und weniger als 1.000 Jesiden (USDOS 30.6.2024; vgl. DFAT 16.5.2025, S. 15). Bis zu einer halben Million Alawiten leben Berichten zufolge in den südlichen Regionen an der Grenze zu Syrien, insbesondere in der Provinz Hatay (diese Zahl umfasst nicht die syrischen Alawiten, die seit 2011 in die Türkei geflohen waren) (DFAT 16.5.2025, S. 15).
Das deutsche Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung gibt unter Berufung auf offizielle türkische Stellen in seinem Bericht vom November 2023 etwas abweichende Zahlen bekannt. Demgemäß gelten über 98 % der türkischen Bevölkerung als Muslime. Die überwiegende Mehrheit sind Sunniten hanafitischer Rechtsschule (rund drei Viertel). Etwa 4 % der Muslime sind schiitisch. Aleviten machen Schätzungen zufolge 15 % aus. Ferner leben rund 60.000 armenisch-apostolische Christen in der Türkei, die meisten von ihnen in Istanbul. Die Zahl der Juden wird auf ca. 18.000 geschätzt (BMZ/AA 22.11.2023, S. 151).
BMI/BMLVS 2017, S. 23f. Anmerkung: Auf dieser Karte sind nur die Hauptsiedlungsgebiete der religiösen und konfessionellen Gruppen dargestellt. Es kann Minderheitengruppen geben, die nicht abgebildet sind. Insbesondere in städtischen Zentren ist die Bevölkerung sehr heterogen und kann in dieser Art von der Karte nicht dargestellt werden. Christen sind als eine Gruppe dargestellt, unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft.
Situation der Religionsgemeinschaften der Minderheiten
Nicht-muslimische Gemeinschaften und Aleviten sind weiterhin mit negativen Wahrnehmungen, bürokratischen Hürden und Sicherheitsbedenken belastet (MRG 29.4.2024, S. 3), trotz des Umstandes, dass die Freiheit der Religionsausübung allgemein geachtet wird. Denn die fehlende Rechtspersönlichkeit der nicht-muslimischen und alevitischen Gemeinschaften gibt weiterhin Anlass zu ernster Besorgnis, auch seitens der Europäischen Kommission, insbesondere im Hinblick auf den fehlenden Rechtsstatus der Patriarchate, des Oberrabbinats, der Synagogen, der Kirchen und der Cem-Häuser (alevitische Gebetsstätten). Die Empfehlungen der Venedig-Kommission des Europarates zum Rechtsstatus der nicht-muslimischen Religionsgemeinschaften und zum Recht des griechisch-orthodoxen ökumenischen Patriarchats in Istanbul, den Titel "ökumenisch" zu führen, sind noch nicht umgesetzt worden und werden weiterhin angefochten (EC 30.10.2024; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 35, EP 7.5.2025, Pt. 27). Ebenso äußerte sich das Europäische Parlament im Mai 2025, indem es feststellte, "dass beim Schutz der Rechte von ethnischen und religiösen Minderheiten, insbesondere im Hinblick auf ihre Rechtspersönlichkeit, einschließlich der Rechte der griechisch-orthodoxen Bevölkerung auf den Inseln Gökçeada (Imbros) und Bozcaada (Tenedos), keine nennenswerten Fortschritte zu verzeichnen sind" (EP 7.5.2025, Pt. 27).
Die Behörden mischen sich weiterhin laufend in die internen Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften ein. In der Türkei können keine Ausbildungsstätten für Priester eröffnet werden. Das griechisch-orthodoxe Halki-Seminar ist seit 1971 geschlossen. Das armenisch-apostolische Seminar Surp Haç wurde 1967 per Dekret aufgelöst. Die Priester müssen im Ausland ausgebildet werden. Auch bei der Wahl des armenisch-apostolischen Patriarchen Maşalyan im Jahr 2019 gab es Einmischungen. Obgleich Patriarch Mutafyan seit 2008 aufgrund seiner Krankheit nicht mehr imstande war, sein Amt zu führen, blockierte die Regierung alle Versuche der armenischen Gemeinde Neuwahlen abzuhalten, mit der Begründung, dass die Wahl nach Kirchenrecht erst nach dem Ableben des bisherigen Patriarchen möglich sei. Als nach Mutafyans Tod im März 2019 Wahlen vorbereitet wurden, erließ das Innenministerium im Vorfeld der Wahl im September 2019 eine Regelung, wonach nur Bischöfe des armenischen Patriarchats Istanbul als Kandidaten für das Amt zugelassen sind. Dadurch wurden der zur Auswahl stehende Personenkreis eingeschränkt und Personen ausgeschlossen, die im Ausland tätig waren (ÖB Ankara 4.2025, S. 35; vgl. USCIRF 5.2024, S. 70).
Die Türkei schränkt den Anwendungsbereich des Lausanner Vertrages, der lediglich zwischen Muslimen und Nichtmuslimen unterscheidet, auf drei ethnisch-religiöse Minderheitengruppen ein. Explizit anerkannt sind demnach lediglich Armenier, Griechen und Juden sowie Bulgaren aufgrund des separaten Türkisch-Bulgarischen Freundschaftsvertrages. Nur diese kommen in den Genuss der in den Artikeln 37 bis 43 des Lausanner Vertrages verankerten Garantien, wobei selbst diese Bestimmungen nie vollständig umgesetzt worden sind. In einem Gerichtsurteil bezüglich der Zulässigkeit von Unterricht in Syrisch [Anm.: eine Form des Aramäischen, nicht zu verwechseln mit dem syrischen Dialekt des Arabischen] wurde 2013 festgestellt, dass Assyrer den Status von nicht-muslimischen türkischen Staatsangehörigen besitzen und damit zu den Begünstigten des Lausanner Vertrags gehören. Die Umsetzung ist laut Information der Syrisch-Orthodoxen Kirche unbefriedigend. Andere religiöse Minderheiten, wie zum Beispiel Aleviten, Baha'i, Protestanten oder Römisch-Katholische sind ohne Status (ÖB Ankara 4.2025, S. 30f.). Dessen ungeachtet bedauerte der Menschrechtsausschuss der Vereinten Nationen Ende November 2024, dass die Türkei als Vertragsstaat des Internationaler Paktes über bürgerliche und politische Rechte (International Covenant on Civil and Political Rights - ICCPR) ihren Vorbehalt zu Artikel 27 aufrechterhält und empfiehlt der Türkei gleichzeitig, diesen Vorbehalt zurückzuziehen. Der Artikel 27 des Paktes garantiert die Rechte der ethnischen, religiösen und sprachlichen Minderheiten (UNHRCOM 28.11.2024, S. 2).
Religionsgemeinschaften können nur indirekt im Wege von Stiftungen (vakıflar), die von Privatpersonen gegründet werden, rechtlich tätig werden. Das System der "vakıflar" geht auf das Osmanische Reich zurück und wurde durch den Vertrag von Lausanne und diverse Stiftungsgesetze über die Zeit verfestigt. Derzeit gibt es 167 solcher Stiftungen, darunter 77 griechisch-orthodoxe, 54 armenisch-orthodoxe, 19 jüdische, zehn assyrische, drei chaldäisch-katholische, zwei bulgarisch-orthodoxe und jeweils eine georgisch und eine maronitische türkisch-orthodoxe (Stand: August 2022). Die Errichtung neuer Gemeinschaftsstiftungen (cemaat vakıfları) ist rechtlich unmöglich. Die Registrierung als Verein oder Stiftung ist möglich, sofern das erklärte Ziel primär gemeinnütziger, erzieherischer oder kultureller Natur und nicht religiös ist. In Ermangelung einer Rechtsgrundlage vermochten cemaat vakıfları von 2013 bis 2022 ihre Stiftungsvorstandsmitglieder nicht zu erneuern, was zu Problemen in der Stiftungsleitung und zum Verlust von Eigentumsrechten führte. In der Praxis wurde dadurch das Tätigwerden der nicht-muslimischen Religionsgemeinschaften massiv erschwert (ÖB Ankara 4.2025, S. 31; vgl. USCIRF 5.2023, S. 67, Bianet 12.4.2022). Nicht-muslimische Gemeinschaften stehen bei der Rückgabe ihres Eigentums weiterhin vor Herausforderungen. Alle Aspekte der langwierigen Rückgabeverfahren fallen auf die Stiftungen zurück, von der Räumung durch die derzeitigen Bewohner bis hin zu den damit verbundenen hohen finanziellen Belastungen. Es gibt immer noch Probleme bei der Zuweisung von Eigentum, das den Stiftungen gehört (MRG 29.4.2024, S. 13).
Nach türkischer Lesart können sich nur die vom Lausanner Vertrag erfassten drei [oben erwähnten] ethno-religiösen Gemeinschaften auf ihre religiösen Stiftungen (vakıflar) stützen. Die restlichen Religionsgruppen können sich ebenfalls, wenn sie die verwaltungsrechtlichen Vorgaben erfüllen, als Stiftung oder als Verein organisieren (AA 20.5.2024 S. 10).
Andere islamische Strömungen neben dem sunnitischen Islam genießen zwar individuelle und – seit den 1990er-Jahren zunehmend auch – de facto kollektive Freiheiten. Sie werden allerdings aufgrund des kemalistischen Verständnisses einer "unteilbaren Einheit" der (sunnitisch-muslimischen) türkischen Nation weiterhin nicht als Religionsgemeinschaften anerkannt. Ihre Gebetshäuser sind nicht als solche anerkannt (BMZ/AA 22.11.2023, S. 153).
Das Gesetz verbietet Sufi- und andere religiös-soziale Orden (tarikat) sowie Logen (tekke oder zaviye), obgleich die Regierung diese Einschränkungen im Allgemeinen nicht vollstreckt (USDOS 30.6.2024; vgl. BMZ/AA 22.11.2023, S. 153). Die islamischen Bruderschaften werden in ihren wirtschaftlichen und politischen Aktivitäten nicht pauschal behindert (BMZ/AA 22.11.2023, S. 153).
Individuelle Religionsfreiheit und Diskriminierung
Konversion: In der Türkei ist das individuelle Recht, zu glauben, nicht zu glauben und seinen Glauben zu wechseln, gesetzlich geschützt (NORHC 11.9.2020, S. 10). Das türkische Rechtssystem sieht kein Verbot der Konversion vor (NORHC 25.8.2022, S. 16). Rechtliche Hindernisse hinsichtlich der Konversion, etwa ein Übertritt zum Christentum, bestehen nicht. Allerdings werden Konvertiten in der Folge oft von ihren Familien bzw. ihrem sozialen Umfeld ausgegrenzt (AA 20.5.2024, S. 10; vgl. BMZ/AA 22.11.2023) oder am Arbeitsplatz gemieden (USDOS 12.5.2021). D.h., dass trotz dieser rechtlichen Garantien gefährdet das Bekenntnis zu einer anderen Religion oder Weltanschauung als derjenigen, die in der Familie, im sozialen Netzwerk und in der Gesellschaft akzeptiert wird, in der Praxis die Rechte des Einzelnen. Der Einzelne kann diskriminiert und strafrechtlich verfolgt werden, wenn er sich zu seinen religiösen oder philosophischen Ansichten äußert. Weit verbreitet ist auch die Besorgnis über die Gefahr der Diskriminierung aufgrund der eigenen Religion oder des eigenen Glaubens am Arbeitsplatz. Betroffene berichten häufig, dass sie sich gezwungen sehen, sich an "akzeptable Normen" zu halten. Praktizierende Muslime fürchten Diskriminierung an säkularen Arbeitsplätzen; nicht-sunnitische Muslime fürchten Diskriminierung an konservativen und einigen säkularen Arbeitsplätzen. Atheisten berichten, dass sie sich nicht wohl dabei fühlen, am Arbeitsplatz offen über ihre Identität als Atheisten zu sprechen, weil sie Angst vor Entlassung haben. Der daraus resultierende Druck zwingt die Menschen, ein Doppelleben zu führen. Eine Umfrage der Kadir Has Universität zur religiösen Toleranz im Jahr 2021 in 26 Städten hat ergeben, dass 57,3 % der Befragten keine Atheisten, 43,9 % keine Christen, 37,1 % keine Juden, 21,3 % keine Aleviten und 16,2 % keinen streng religiösen Menschen als Nachbarn haben möchten (NORHC 25.8.2022, S. 16).
Missionierung: Religiöse Missionstätigkeit ist seit 1991 nicht mehr verboten (BMZ/AA 22.11.2023, S. 152; vgl. NHC-FBI 19.4.2022, S. 37). Nach wie vor begegnet die große muslimische Mehrheit sowohl der Hinwendung zu einem anderen als dem muslimischen Glauben als auch jeglicher Missionierungstätigkeit mit großem Misstrauen (AA 20.5.2024, S. 10; vgl. NHC-FBI 19.4.2022, S. 37). Der Staat sieht eine Gefahr in Missionaren, nicht aus religiösen Gründen, sondern vielmehr aus nationalistischen Motiven. Der Staat fürchtet, Missionare würden vom Westen benutzt, um die Türkei zu unterwandern. Dies erklärt die Ausweisung zahlreicher protestantischer Priester in der jüngsten Vergangenheit (DlF 12.7.2020).
Aleviten und Nicht-Muslime werden in Schulen und im öffentlichen Sektor systematisch diskriminiert (FH 26.2.2025, F4; vgl. AA 20.5.2024, S. 11). Mit Ausnahme wissenschaftlicher Einrichtungen sind Angehörige nicht-muslimischer Religionsgemeinschaften nur in Einzelfällen im öffentlichen Dienst und als Berufssoldaten zu finden. Ende Oktober 2021 wurde erstmals in der Geschichte der Republik ein der armenischen Gemeinde zugehöriger Kandidat zum Verfahren für die Ausbildung zum Distriktgouverneur zugelassen. Und Mitte August 2022 erfolgte seine Ernennung zum Distriktgouverneur von Babadağ/Denizli. Früher bestehende Bestimmungen, welche die Aufnahme von Minderheitenangehörigen in den Staatsdienst auch rechtlich eingeschränkt hatten, wurden in der Zwischenzeit zwar aufgehoben, doch werden sie als gelebte Praxis weiterhin beachtet. Im Wissen, dass eine Bewerbung aussichtslos wäre, bemühen sich Angehörige, etwa der christlichen Minderheiten, inzwischen meist gar nicht mehr um eine Aufnahme. - Im türkischen Parlament zählt vom Mai 2023 nur die Grüne Linkspartei - YSP, (als Nachfolgerin der HDP) einen christlichen Abgeordneten in ihren Reihen (ÖB Ankara 4.2025, S. 35).
Staatliches Vorgehen gegen Blasphemie und Verletzung religiöser Werte
Artikel 216 (3) des türkischen Strafgesetzbuchs (TCK) und seine Anwendung stellen eine wichtige Infragestellung des Rechts auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit, einschließlich des Rechts auf Nicht-Glauben, dar. Wer sich kritisch zu Religion oder Weltanschauung oder zu bestimmten Auslegungen, insbesondere des Islams, äußert, muss mit einer Anzeige rechnen und riskiert, nach dem Strafgesetzbuch verfolgt zu werden. Dies geschieht insbesondere unter Artikel 216 (3): öffentliche Herabwürdigung religiöser Werte eines Teils der Bevölkerung (NORHC 25.8.2022, S. 17; vgl. DFAT 16.5.2025, S. 15, USCIRF 3.2025, S. 66). Die Venedig-Kommission des Europarates bewertete in ihrer Stellungnahme aus dem Jahr 2016 die Vereinbarkeit von Artikel 216 (3) mit internationalen Menschenrechtsnormen. In der Stellungnahme wurde auf die Empfehlung 1805 (2007) der Parlamentarischen Versammlung des Europarats zu Blasphemie, religiösen Beleidigungen und Hassreden gegen Personen aufgrund ihrer Religion verwiesen, in der es heißt, dass "das nationale Recht nur Äußerungen über religiöse Angelegenheiten bestrafen sollte, die die öffentliche Ordnung absichtlich und schwerwiegend stören und zu öffentlicher Gewalt aufrufen". Artikel 216 (3) "sollte nicht zur Bestrafung von Blasphemie angewandt werden, sondern auf Fälle religiöser Beleidigungen beschränkt werden, die die öffentliche Ordnung absichtlich und schwerwiegend stören und zu öffentlicher Gewalt aufrufen" (NORHC 25.8.2022, S. 17; vgl. DFAT 16.5.2025, S. 15).
In der Türkei gibt es eine starke Tendenz, Artikel 216 (3) nur im Zusammenhang mit dem Islam anzuwenden und nicht im Zusammenhang mit Beleidigung oder Hass gegen andere Religionen oder Glaubensrichtungen (NORHC 25.8.2022, S. 17; vgl. USCIRF 3.2025, S. 66). Allerdings wurde im Februar 2023 ein Volkssänger zu sechs Monaten Haft verurteilt, weil er in einem Liedtext eine heilige Figur der Aleviten verspottete und damit "religiöse Werte" beleidigt hatte. Die Strafe wurde später in eine Geldstrafe umgewandelt (DFAT 16.5.2025, S. 15).
Das Strafgesetzbuch verbietet nicht nur die "Erregung von Hass und Feindseligkeit", sondern stellt auch die öffentliche Respektlosigkeit gegenüber religiösen Überzeugungen unter Strafe. Das Gesetz bestraft beleidigende Äußerungen gegenüber Wertvorstellungen, die von einer Religion als heilig betrachtet werden (USDOS 30.6.2024; vgl. BMZ/AA 22.11.2023, S. 152). Die Beleidigung einer Religion wird mit sechs Monaten bis zu einem Jahr Gefängnis sanktioniert. Die Störung des Gottesdienstes einer religiösen Gruppe wird mit ein bis drei Jahren, die Beschädigung religiösen Eigentums mit drei Monaten bis zu einem Jahr und die Zerstörung religiösen Eigentums mit ein bis vier Jahren Gefängnis bestraft. Da es illegal ist, Gottesdienste an Orten abzuhalten, die nicht als Gebetsstätten registriert sind, gelten diese gesetzlichen Verbote in der Praxis nur für anerkannte religiöse Gruppen (USDOS 30.6.2024). Das Strafgesetzbuch verbietet es überdies, religiösen Führern während der Ausübung ihres Amtes die Regierung oder die Gesetze des Staates "zu tadeln oder zu verunglimpfen". Darauf stehen Gefängnisstrafen von bis zu einem Jahr, im Falle einer Aufstachelung zur Missachtung des Gesetzes sogar von bis zu drei Jahren (USDOS 15.5.2023).
Es wurden zahlreiche Einzelpersonen und Einrichtungen wegen "Beleidigung religiöser Werte" oder Blasphemie strafrechtlich verfolgt (USCIRF 5.2023, S. 66; vgl. USCIRF 3.2025, S. 66). Laut letztmaliger Statistik des Justizministeriums, welche noch den Artikel 216 getrennt auswies, wurden im Jahr 2020 insgesamt 317 Personen (296 Männer und 21 Frauen) gemäß Artikel 216 zu unterschiedlichen Strafen verurteilt. Zu einer Haftstrafe wurden 94, zu einer bedingten Haftstrafe 19 und zu einer Verwaltungsstrafe 45 verurteilt. (Der Rest viel auf andere Strafkategorien.) (MoJ - GDJR S 2021, S. 109, 118, 127, 136; vgl. NORHC 25.8.2022, S. 17).
Die Türkei macht nicht nur vom entsprechenden Artikel des Strafgesetzbuchs Gebrauch, sondern gehört auch zu den Top-10-Ländern der Welt, in denen Fälle von angeblicher Blasphemie durch die Nutzung sozialer Medien verfolgt werden. Beispiele: Im Jänner 2022 machte die türkische Popsängerin Sezen Aksu Schlagzeilen, nachdem sie einen Clip eines fünf Jahre alten Liedes von sich auf YouTube geteilt hatte. Das Lied erregte in den sozialen Medien große Aufmerksamkeit und löste bei mehreren Regierungsvertretern Kritik aus, weil der Text die religiösen Figuren Adam und Eva als "ignorant" bezeichnete. Nach dem Freitagsgebet in jenem Monat warnte Präsident Erdoğan, ohne Aksu namentlich zu nennen, dass "niemand gegen seine Heiligkeit Adam sprechen darf. Wenn es sein muss, ist es unsere Pflicht, diese Zungen herauszureißen. Niemand kann gegen unsere Mutter Eva sprechen. Es ist unsere Pflicht, diejenigen, die gegen sie sprechen, auf ihren Platz zu verweisen." Regierungsnahe Juristen erstatteten gegen die Sängerin Anzeige, die staatliche Religionsbehörde Diyanet und die Rundfunkbehörde RTÜK griffen ebenfalls ein (USCIRF 12.2022, S. 3; vgl. NZZ 1.2.2022). Im Jänner 2024 reichte das Diyanet Strafanzeige gegen den armenischen Autor Sevan Nişanyan ein, weil er 2021 auf YouTube den islamischen Gebetsruf verunglimpft hatte, indem er sich über dessen Lautstärke beschwerte (Duvar 25.1.2024; vgl. USCIRF 3.2025, S. 66). Im Februar 2024 ließ die Staatsanwaltschaft Istanbul die Rechtsanwältin Beykoz Feyza Altun wegen eines Social-Media-Beitrags festnehmen, in welchem sie die Scharia verunglimpfte bzw. verurteilte. Die Istanbuler Generalstaatsanwaltschaft warf ihr die "Anstiftung zu Hass und Feindseligkeit" gemäß Art. 216 des Strafgesetzbuches vor. Das Gericht entließ sie zwar einen Tag später, verhängte jedoch ein Ausreiseverbot (Duvar 19.2.2024; vgl. Cumhuriyet 20.2.2024, USCIRF 3.2025, S. 66), und im Mai 2024 wurde sie zu neun Monaten bedingt verurteilt (TM 17.5.2024).
Heftige Diskussion und Straßenproteste löste einer Karikatur im regierungskritischen Satiremagazin LeMan aus, das immer wieder ins Visier der Justiz sowie von regierungsnahen islamistischen Bruderschaften gerät. Die veröffentlichte Karikatur zeigt zwei schwebende Männer mit Engelsflügeln, die sich einander als Mohammed und Moses vorstellen. Im Hintergrund sind Kugelhagel und brennende Häuser zu sehen, die Gaza symbolisieren. Die Istanbuler Staatsanwaltschaft ermittelte wegen Volksverhetzung und Herabwürdigung religiöser Werte nach Art. 216 des Strafgesetzbuches. Gegen sechs Mitarbeiter des Magazins wurden Haftbefehle erlassen, vier von ihnen wurden abgeführt. Innenminister Yerlikaya bezeichnete die Karikatur als "abscheulich" und als "Provokation". Konservativ-islamistische Gruppen versammelten sich nachts vor der LeMan-Redaktion, bewarfen Fenster mit Steinen und griffen insbesondere das Café an, das als Treffpunkt der LeMan-Mitarbeiter und ihrer Fans bekannt ist (DW 1.7.2025; vgl. Standard 1.7.2025b, TM 1.7.2025). Die Polizei war präsent, griff aber nicht ein. Stattdessen stürmten andere Polizisten die Redaktion. Es entwickelte sich ein Tumult, an dem rund 300-400 Leute beteiligt waren: Gäste des Lokals, die sich gegen die Islamisten verteidigten, und Polizisten, die Gäste festnahmen. (Standard 1.7.2025b; vgl. TM 1.7.2025). LeMan stellte klar, dass der in der Karikatur dargestellte Mann nicht der Prophet Mohammed sei, sondern ein unschuldig getöteter Moslem in Gaza, der eben Mohammed heiße (DW 1.7.2025; vgl. TM 1.7.2025). Tuncay Akgün, Chefredakteur von Leman, sagte, das Bild sei absichtlich falsch interpretiert worden (Standard 1.7.2025b). Staatspräsident Erdoğan verurteilte die Karikatur als Hassverbrechen und fügte hinzu, "dass diejenigen, die sich gegenüber unserem Propheten und anderen Propheten respektlos verhalten, vor dem Gesetz zur Rechenschaft gezogen werden" (TM 1.7.2025).
Dass es auch zu Haftstrafen kommen kann, zeigt das Beispiel vom Oktober 2023, als ein Mann wegen "Beleidigung der religiösen Werte eines Teils der Öffentlichkeit" zu 7 1/2 Monaten Gefängnis verurteilt, als er in den sozialen Medien ein Foto veröffentlichte, welches Alkohol in einer Moschee zeigte. Im selben Monat nahmen die Behörden drei 16-Jährige wegen Beleidigung religiöser Werte in den sozialen Medien fest. In einem Fall von behördlicher Zensur verbot ein Gericht im Februar die Koranübersetzung des Theologen İhsan Eliaçık, weil sie vermeintlich Elemente enthält, die im Hinblick auf die grundlegenden Eigenschaften des Islams zu beanstanden seien (USCIRF 5.2024, S. 70).
Die staatliche Religionsverwaltung und Religionspolitik
Das Amt für Religionsangelegenheiten (Diyanet), eine durch die Verfassung eingerichtete staatliche Institution, regelt und koordiniert religiöse Angelegenheiten im Zusammenhang mit dem Islam. Laut Gesetz hat das Diyanet den Auftrag, den Glauben, die Praktiken und die moralischen Grundsätze des Islams zu ermöglichen und zu fördern - wobei der Schwerpunkt auf dem sunnitischen Islam liegt - die Öffentlichkeit über religiöse Fragen aufzuklären und Moscheen zu verwalten (USDOS 30.6.2024; SE 2.1.2024). Im Juni 2025 erhielt der Diyanet-Rat per Gesetz die Kompetenz, die religiösen Inhalte von Publikationen zu überwachen und Koranübersetzungen zu zensieren, welche er als "unangemessen" erachtet. Nach dem neuen Gesetz kann der Rat, wenn er solche Texte als "im Sinne der Grundprinzipien des Islam anstößig" einstuft, deren Verbreitung untersagen, bereits vorhandene Exemplare einziehen und die Materialien vernichten lassen. Im Falle von Oneline-Publikationen kann das Diyanet per Gerichtsanweisung Inhalte entfernen oder blockieren lassen (TM 4.6.2025).
Das Diyanet ist verwaltungstechnisch unter dem Büro des Staatspräsidenten angesiedelt. Der Leiter des Diyanet wird vom Staatspräsidenten ernannt und von einem 16-köpfigen Rat verwaltet, der von Klerikern und den theologischen Fakultäten der Universitäten gewählt wird. Obwohl das Gesetz nicht vorschreibt, dass alle Mitglieder des Rates sunnitische Muslime sein müssen, ist dies in der Praxis der Fall (USDOS 30.6.2024; SE 2.1.2024). Diyanet ist eine der größten religiösen Institutionen der Welt, die jenseits der Türkei weltweit tätig ist. Sie wird aus dem Staatshaushalt finanziert. Im Jahr 2023 wurde das Budget von Diyanet bereits auf 3,18 Milliarden US-Dollar aufgestockt (SE 2.1.2024) und für das Jahr 2025 waren bereits 130,1 Milliarden Lira, rund 3,8 Milliarden US-Dollar, veranschlagt, was mehr ist als die Budget-Mittel für das Innen- oder Außenministerium (Duvar 20.10.2024). Während das Diyanet alle Angelegenheiten bezüglich der Ausübung des Islams verwaltet, ist die Generaldirektion für Stiftungen (Vakiflar) für alle anderen Religionen zuständig (DFAT 16.5.2025, S. 14).
Kritiker werfen der AKP vor, sunnitische Muslime zu bevorzugen (FH 26.2.2025, B4) und verweisen auf die Umgestaltung des Bildungssystems, welches den islamischen Unterricht in säkularen Schulen begünstigt und den Aufstieg religiöser Schulen gefördert hat. Die AKP baute auch das Diyanet aus und nutzte diese Institution als Kanal für politische Klientelpolitik. Neben anderen Funktionen nutzt die Partei das Diyanet, um regierungsfreundliche Predigten in Moscheen in der Türkei sowie in Ländern, in denen die türkische Diaspora präsent ist, zu verbreiten (FH 10.3.2023, B4). Seit ihrer Machtübernahme hat die AKP-Regierung eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, die ihre Sicht des Islams und der Gesellschaft widerspiegeln. Dazu gehört die Anpassung der Lehrpläne, um Themen wie Darwins Evolutionstheorie zu eliminieren. Darüber hinaus versucht die Regierung, den Alkoholkonsum zu reduzieren, indem sie hohe Steuern einführt und Werbung für Alkohol verbietet. Die Regierung fördert auch sog. "nationale und spirituelle Werte" durch die von ihr kontrollierten Medien und unterstützt die islamische Zivilgesellschaft mit Ressourcen. Bereits 2010 hob die AKP-Regierung das von einigen türkischen Frauen als diskriminierend empfundene Verbot des Tragens eines Kopftuches auf, wenn sie in staatlichen Einrichtungen arbeiten oder studieren wollen (MBZ 31.10.2019). Das Kopftuch ist das einzige religiöse Symbol, das für Beamte oder Schüler in Grund-, Mittel- oder Oberschulen erlaubt ist. Andere religiöse Symbole wie die Kippa, das Kreuz oder der Zulfikar [Symbol von Schiiten, Aleviten und Alawiten] sind hingegen nicht erlaubt (NHC-FBI 19.4.2022, S. 39).
Das türkische Bildungssystem garantiert keine Neutralität und Unparteilichkeit gegenüber verschiedenen Religionen, Konfessionen und Glaubensrichtungen, (EC 30.10.2024, S. 31). Die Zahl der Religionsschulen, die den sunnitischen Islam fördern, ist unter AKP-Regierungszeit gestiegen (MBZ 31.10.2019). Der staatliche Unterricht umfasst einen verpflichtenden Religionsunterricht, wobei sich die Regierung auch weiterhin nicht an ein Urteil des EGMR aus dem Jahr 2013 gehalten hat, wonach der von der Regierung verordnete verpflichtende Religionsunterricht an öffentlichen Schulen gegen die Bildungsfreiheit verstößt (USDOS 30.6.2024; vgl. EC 30.10.2024, S. 31). Im Gegenteil. - Im August 2023 erließ die Regierung eine Verordnung, wonach Schüler der Mittelstufe (fünfte bis zehnte Klasse) wöchentlich zwei zusätzliche Stunden Religionsunterricht im sunnitischen Islam besuchen müssen. Die Lehrergewerkschaft Eğitim Sen bezeichnete diese Änderung als Verstoß gegen die Religions- und Gewissensfreiheit (USDOS 30.6.2024). Der grundsätzlich verpflichtende Religionsunterricht ist stark sunnitisch-hanafitisch geprägt und entspricht nicht pluralistischen Standards (BMZ/AA 22.11.2023, S. 152; vgl. USCIRF 3.2025, S. 67). Säkularisten, Aleviten, protestantische Christen und andere Gemeinschaften äußerten zusätzliche Beschwerden über angeblich "frei wählbare" Kurse (z. B. Musik, Sport), in denen der Unterricht häufig ausdrücklich auf den sunnitischen Islam Bezug nimmt (USCIRF 3.2025, S. 67).
Das Verfassungsgericht entschied im April 2022, dass der obligatorische Religionsunterricht gegen die Religionsfreiheit verstößt, und bestätigte damit die beiden früheren Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), welcher die Türkei wegen des Prinzips und des Inhalts des obligatorischen Religionsunterrichts kritisiert hatte (AlMon 12.4.2022; vgl. BMZ/AA 22.11.2023, S. 152). Eine Umsetzung des Urteils ist bislang nicht erfolgt (BMZ/AA 22.11.2023, S. 152). Das Bildungsministerium hat die Freistellungsmöglichkeit für alle nicht-muslimischen Schüler (nicht nur für jene im Lausanner Vertrag genannten) 2009 offiziell eingeräumt, vorausgesetzt, die entsprechende Religionszugehörigkeit ist im Personenstandsregister eingetragen (BMZ 10.2020). Für Nichtgläubige besteht keine Möglichkeit zur Freistellung. Seit 2016 erscheint die Religionszugehörigkeit nicht mehr im Personalausweis (BMZ/AA 22.11.2023, S. 152) wird aber weiterhin im Personenstandsregister verpflichtend erfasst und ist für die Verwaltung inklusive der Polizei einsehbar (BMZ/AA 22.11.2023, S. 152; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 30). Atheisten, Agnostiker, Baha'i, Jesiden, Hindus, Buddhisten, Aleviten, andere nicht-sunnitische Muslime oder diejenigen, die den Abschnitt "Religion" auf ihrem nationalen Personalausweis [vor 2016] leer gelassen haben, werden selten vom Religionsunterricht befreit (USDOS 30.6.2024).
Religiöse Einstellungen der Bevölkerung
Während ein Großteil der Bevölkerung an den von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) geförderten Werten des sozialen Konservativismus und der religiösen Frömmigkeit festhält, gibt es auch einen großen Teil der Bevölkerung, der Religion in erster Linie als Privatsache betrachtet. Zu dieser Gruppe gehören Menschen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen und Lebensstilen, wobei der Säkularismus der wichtigste gemeinsame Nenner ist. Sie fühlen sich durch staatliche Maßnahmen im Sinne einer Islamisierung zunehmend marginalisiert (MBZ 31.10.2019). In einer vom Ankara-Institut durchgeführten Studie wurde festgestellt, dass 92,3 % der türkischen Bevölkerung sich als Muslime bezeichnen, während 6 % Atheisten (2,7 %) oder Deisten (3,2 %) sind. Die Mehrheit der Teilnehmer, 86 %, glaubt an die Existenz Gottes, und 62 % glauben an die Erfüllung religiöser Anforderungen. Diejenigen, die sich als religiös bezeichnen, machten 70 % aus (BNN 7.11.2023). Den Ergebnissen einer Umfrage des KONDA-Instituts zufolge sank der Anteil der Befragten, die sich als streng gläubig oder fromm bezeichneten, von 55 % im Jahr 2008 auf 46 % im Jahr 2025. Im Gegensatz dazu stieg der Anteil der Menschen, die sich als Atheisten oder Nichtgläubige bezeichneten, im gleichen Zeitraum von 2 % auf 8 %. Der Anteil der Befragten, die sich als "gläubig" bezeichneten, sich aber nicht als "streng gläubig" betrachteten, stieg leicht von 31 % auf 34 %. Die einzige Gruppe, die unverändert blieb, waren die "sehr streng Gläubigen", deren Anteil in beiden Umfragen bei 12 % lag (TM 30.5.2025).
Religiöse Minderheiten als Ziele staatlicher und gesellschaftlicher Anfeindungen
Regierungsvertreter bedienen sich zunehmend einer Rhetorik, die auf religiöse Minderheiten abzielt oder diese ausgrenzt (USCIRF 5.2024, S. 70). Neben der Rhetorik gegen Minderheitengruppen geben die aggressive Kampagne seitens der Regierung und der Medien gegen Israel im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt Anlass zur Sorge. Die Wortwahl hat sich seit dem Terrorangriff der Hamas vom 7.10.2023 und dem darauffolgenden Militäreinsatz Israels in Gaza massiv verschärft. - Staatspräsident Erdoğan hat den Terrorangriff der Hamas als Freiheitskämpfer eingestuft. Ein anti-westliches, insbesondere gegen Europa gerichtetes Islamophobie-Narrativ dominiert den Diskurs. Das Zusammenspiel dieser Tendenzen begünstigt eine gegenüber religiösen Minderheiten feindliche Stimmung, die auch in Hassreden in sozialen Medien Ausdruck findet. Letztere werden von den Justizbehörden oft als Ausdruck freier Meinungsäußerung toleriert, was implizit zu Gewalt und Aggression ermutigt (ÖB Ankara 4.2025, S. 33; vgl. EC 30.10.2024, S. 31). Die Anfeindungen richten sich gegen Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften und deren Gotteshäuser, zugehörige Einrichtungen, religiöse/spirituelle Führer und Mitglieder, und diese Straftaten bleiben zumal ungestraft. Die derzeitige Gesetzgebung ist unzureichend, um gegen Hassverbrechen vorzugehen. Die Straftaten werden weder ausreichend gemeldet noch von den Behörden ausreichend erfasst (NHC-FBI 19.4.2022, S. 37). Es kommt zu Vandalismus und der Zerstörung von Gebetsstätten und Friedhöfen von Minderheiten (EC 30.10.2024, S. 31). Im Mai 2025 forderte das Europäische Parlament "die staatlichen Stellen der Türkei auf, Fälle von Hassdelikten, einschließlich Hetze, gegen Minderheiten wirksam zu untersuchen und die Verantwortlichen strafrechtlich zu verfolgen" (EP 7.5.2025, Pt. 27).
Antisemitische und antichristliche Ressentiments gehören nicht nur in der (regierungsnahen) Boulevardpresse und in sozialen Medien zum Standardrepertoire. Auch hochrangige Politiker bis in die Staatsspitze und Führung der Opposition greifen in ihren öffentlichen Äußerungen gelegentlich auf antisemitische bzw. antiarmenische Verschwörungstheorien zurück (BMZ/AA 22.11.2023, S. 154; vgl. USDOS 30.3.2021, S. 90).
Siehe auch: Religionsfreiheit und religiöse Minderheiten / Christen und Juden
Christen und Juden
Letzte Änderung 2025-08-06 13:34
Die Türkei schränkt den Anwendungsbereich des Lausanner Vertrages von 1923 auf drei ethnisch-religiöse Minderheitengruppen ein (ÖB Ankara 4.2025, S. 30). Zudem greift der Staat stark in die Angelegenheiten der drei nicht-islamischen, sogenannten "Lausanner" Religionsgemeinschaften ein. Das Innenministerium genehmigt die Wahl des jeweiligen Gemeinschaftsoberhaupts und beansprucht dabei ein Veto-Recht. Oberhäupter und Klerus (sowie Wahlgremien) der drei "Lausanner" Gemeinschaften müssen türkische Staatsangehörige sein. 2011 wurde die Einbürgerungspraxis für die Betroffenen allerdings vereinfacht (BMZ/AA 22.11.2023, S. 153). Andere christliche Minderheiten, wie Protestanten, Römisch-Katholische oder Syrisch-Orthodoxe, sind ohne Status (ÖB Ankara 4.2025, S. 31).
Neue Vorschriften schränken die Stiftungen religiöser Minderheiten ein. - So müssen Personen, die für das Leitungsgremium einer Minderheitenstiftung kandidieren, schon mindestens sechs Monate in einem bestimmten Gebiet gewohnt haben, unabhängig davon, ob dort überhaupt andere Angehörige ihrer Glaubensgemeinschaft leben. Z. B. haben die griechisch-orthodoxen Gemeinden zum Teil nur wenige Wähler und erreichen nicht die Vorgaben der neuen Wahlordnung. Damit können sie kein eigenes Leitungsgremium einsetzen und müssen ihre Stiftung notgedrungen aufgeben. Assyrische und jüdische Gemeinden stehen vor demselben Problem, weil ihre Stiftungen nicht am gleichen Ort wie die Gemeinden angesiedelt sind. Die fehlenden Ausbildungsstätten für Priester sind ein weiteres großes Problem aller christlichen Glaubensgemeinschaften in der Türkei (ACN 2023).
Diese Entwicklungen verursachen bei Angehörigen der christlichen Minderheiten ein Gefühl permanenter Unsicherheit und der Bedrohung. Sie verstärken zudem die Befürchtung, dass der Raum für christliche Religionsgemeinschaften in der Türkei weiter schrumpft (Christen machen weniger als 1 % der Bevölkerung aus) (ÖB Ankara 4.2025, S. 36).
Nicht-sunnitische Personen haben in der Praxis erschwerten Zugang zu einer Laufbahn im öffentlichen Dienst (BMZ/AA 22.11.2023, S. 153). Der Zugang zu Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst, dem Sicherheitsapparat des Staates und den Ordnungskräften wird Christen verwehrt, ebenso wie Beförderungen in der Armee. Generell haben Christen nur begrenzten Zugang zu einer Anstellung im öffentlichen Dienst; und in der privaten Wirtschaft erfahren sie Diskriminierung, insbesondere wenn Arbeitgeber Verbindungen zur Regierung unterhalten. Die Religionszugehörigkeit wird auf den neuen Ausweisen zwar nicht mehr sichtbar angezeigt, sie wird aber weiterhin auf dem Chip in der Karte registriert. Somit ist es ein Leichtes, christliche Bewerber zu diskriminieren (OpD 1.2024, S. 7, 39).
Nach einem Beschluss des türkischen Hochschulrates von 1990 sind nur Kinder aus christlichen und jüdischen Familien vom islamischen Religionsunterricht befreit. Das Recht auf Befreiung kann nur dann in Anspruch genommen werden, wenn die Religionszugehörigkeit im Bevölkerungsregister offengelegt wird. Die Angabe hierzu ist somit obligatorisch. Die wesentlichen Grundsätze und Praktiken des Christentums und des Judentums sind zwar im Lehrbuch der 11. Klasse weitgehend enthalten, doch beruhen diese, nicht zuletzt infolge einer Interpretation aus islamischer Sicht, nach Ansicht von christlichen und jüdischen Theologen auf Ungenauigkeiten und sind mit den grundlegenden Lehren des Christentums und des Judentums nicht vereinbar (NHC-FBI 19.4.2022, S. 56f).
Es kommt immer noch zu Vandalenakten gegen religiöse Stätten. Obwohl viele Angriffe auf Friedhöfe in der Türkei offenbar das Werk nicht-staatlicher Akteure sind, ist auch die türkische Regierung in die Zerstörung von Grabstätten religiöser Minderheiten verwickelt. Darüber hinaus gelingt es den Behörden oft nicht, nicht-staatliche Akteure, die für diese Taten verantwortlich sind, zu fassen oder strafrechtlich zu verfolgen, wodurch ein Klima der Straflosigkeit entsteht. Ebenso versäumt es die türkische Regierung häufig, Bauprojekte zu stoppen, die Friedhöfe bedrohen (USCIRF 12.2021, S. 2f.).
[Anm.: zum Punkt Konversion, siehe Kapitel Religionsfreiheit und religiöse Minderheiten.]
Christen
Es gibt etwa 165.000 Christen verschiedener Konfessionen, darunter vor allem armenisch-apostolische Orthodoxe, syrisch-orthodoxe Christen, römisch-katholische Christen und Protestanten (diese Zahlen schließen russische und ukrainische Orthodoxe aus, die seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im Jahr 2022 Berichten zufolge in großer Zahl in die Türkei gezogen sind). Kleinere christliche Gemeinschaften sind griechisch-orthodoxe Christen, Zeugen Jehovas, armenisch-katholische Christen und chaldäische Christen (DFAT 16.5.2025, S. 15).
Die zunehmende Islamisierung des Landes unter Präsident Erdoğan hat für christliche Gläubige eine Reihe von Einschränkungen und Formen struktureller Diskriminierung bewirkt, die verschiedene Gruppen auf unterschiedliche Weise betreffen. Der überwiegende Teil der christlichen Gemeinden befinden sich in den Städten an der Westküste, wo eine moderate, säkularere Atmosphäre herrscht, während die Mehrheitsgesellschaft im eher konservativ, islamisch geprägten Landesinneren Christen sowie christlichen Konvertiten feindseliger gegenübersteht. Dem höchsten Druck sind christliche Gruppen im Südosten der Türkei ausgesetzt, wo sie seit Jahrzehnten Opfer des Konflikts zwischen der Armee und kurdisch-nationalistischen Gruppen sind (BAMF 4.11.2024c, S. 3).
Der in der Gesellschaft sehr stark ausgeprägte religiöse Nationalismus übt einen großen Druck auf die Christen aus. Nationalismus und Islam sind in der Türkei untrennbar miteinander verbunden. Wer kein Muslim oder sogar Konvertit ist, beziehungsweise wer einen von der Mehrheitsreligion abweichenden Glauben offen zum Ausdruck bringt, wird nicht als loyaler Türke angesehen. Das gilt sowohl für Konvertiten mit muslimischem Hintergrund als auch für Christen, die meist einer nationalen Minderheit, beispielsweise Griechen, Syriakische Christen [Anm.: Aramäer und Assyrer] oder Armenier (OpD 1.2024, S. 6, 33; vgl. EC 30.10.2024, S. 35) Aleviten oder Juden angehören (EC 30.10.2024, S. 35).
Bedrohungen und auch Gewalt gegen Angehörige christlicher Minderheiten finden, wenn auch nicht in verbreitetem Ausmaß, so doch regelmäßig statt. Nach wie vor werden auch Priester, Ordensleute, Kirchen und Klöster der in der Türkei verbliebenen christlichen Minderheiten drangsaliert oder bedroht (ÖB Ankara 4.2025, S. 33f.). Nebst dem Terroranschlag auf die Marienkirche in Istanbul durch den IS-Khorasan Provinz im Jänner 2024 mit einem Todesopfer - siehe: Sicherheitslage / Terroristische Gruppierungen: sog. IS – Islamischer Staat (alias Daesh) / Islamischer Staat – Provinz Khorasan (ISKP) - eröffnete ein Bewaffneter in der Silvesternacht 2024 das Feuer auf das Gebäude eines Vereins, der mit der Kurtuluş-Kirche im Istanbuler Stadtteil Çekmeköy verbunden ist, und rief dabei offenbar Slogans, die auf religiöse Intoleranz hindeuten. Laut Medienberichten schrie er: "Wir werden nicht zulassen, dass ihr unsere muslimische Jugend einer Gehirnwäsche unterzieht! Ihr Ungläubigen werdet besiegt und in die Hölle getrieben werden!" Dem Verein widerfuhren schon zuvor ähnliche Übergriffe (SCF 2.1.2025; vgl. Haberler 1.1.2025). Nebst Übergriffen nicht-staatlicher Akteure werden auch Übergriffe und Verhaftungen von Religionsvertretern und Übergriffe gegen Einrichtungen vermeldet. Mitunter werden Verletzungen von Besitzrechten im Zuge von Bauprojekten offiziell geduldet (ÖB Ankara 30.11.2021, S. 25; vgl. USCIRF 4.2020). So wurde der Bau eines Geschäftskomplexes auf dem Areal eines armenisch-katholischen Friedhofs in Ankara ungeachtet von Protesten auch der dortigen Architektenkammer gestattet (ÖB Ankara 30.11.2021, S. 25). Positive Entwicklungen waren die Einweihung der syrisch-orthodoxen Kirche Mor Ephrem am 8.10.2023 in Istanbul, des ersten Kirchenneubaus seit Gründung der Republik Türkei 1923, die Renovierung und Weihe der armenisch-orthodoxen Kirche Üç Horan am 29.8.2021 in Malatya (ÖB Ankara 4.2025, S. 36; vgl. USCIRF 5.2024, S. 71) und die Ankündigung der Reparatur der vom Erdbeben beschädigten griechisch-orthodoxen St. Georg-Kirche in Antakya (USCIRF 5.2024, S. 71) sowie die beginnende Renovierung der armenischen Kirche Surp Sarkis in Diyarbakır im Frühjahr 2024 (USCIRF 3.2025, S. 66; vgl. AnA 30.5.2024).
Es kommt weiterhin zu Hassverbrechen und Hassreden gegen Christen und Juden (EC 8.11.2023, S. 33; vgl. EC 30.10.2024, S. 35). Antisemitische und antichristliche Ressentiments gehören nicht nur in der (regierungsnahen) Boulevardpresse und in sozialen Medien zum Standardrepertoire. Auch hochrangige Politiker und Politikerinnen bis in die Staatsspitze und die Führung der Opposition greifen in ihren öffentlichen Äußerungen gelegentlich auf antisemitische bzw. antiarmenische Verschwörungstheorien zurück (BMZ/AA 22.11.2023, S. 154). Im Mai 2021 beispielsweise verwendete der türkische Präsident Erdğan in einer Fernsehansprache ebenfalls antisemitische Formulierungen (USCIRF 4.2022, S. 62). Die COVID-19-Pandemie hatte zusätzlich zu einer Zunahme von Antisemitismus und antisemitischer Rhetorik in der Türkei geführt. Im März 2021 wurde das Tor der historischen Kasturya-Synagoge in Istanbul in Brand gesetzt (USCIRF 12.2021, S. 4) und Mitte Juli 2022 verwüsteten unbekannte Täter jüdische Gräber auf dem Hasköy-Friedhof in Beyoğlu, Istanbul. Nach Angaben der Stiftung des Oberrabbinats der Türkei wurden bei dem Anschlag sechsunddreißig Grabsteine beschädigt (Bianet 15.7.2022).
Die Behörden gehen in letzter Zeit verstärkt gegen evangelikale Prediger und deren Familien vor. Seit 2019 mussten über 200 Prediger und ihre Angehörigen die Türkei verlassen (Stand: August 2022). Während immer wieder ausländische Protestanten des Landes verwiesen werden, werden in den meisten Fällen die Aufenthaltstitel der Betroffenen selbst nach jahrzehntelangem Aufenthalt im Land nicht mehr verlängert. Anderen wird die Wiedereinreise nach einem Auslandsaufenthalt verwehrt. Der Vorwurf lautet, dass sie als Missionare die öffentliche Sicherheit gefährden würden. Die Begründung, missionarische Tätigkeiten würden eine Gefahr der öffentlichen Sicherheit darstellen, wird auch vom Verfassungsgericht bestätigt. Grundlage sind in vielen Fällen Berichte des türkischen Geheimdienstes MİT. Diese können jedoch auch bei Gericht nicht eingesehen werden, sodass unklar ist, worauf sich die Vorwürfe stützen (ÖB Ankara 4.2025, S. 34; vgl. AlMon 23.3.2022). Die Protestanten hatten weiterhin Probleme mit der offiziellen Anerkennung ihrer Gotteshäuser (EC 8.11.2023, S. 33).
Juden
In der Türkei leben schätzungsweise 16.000 bis 17.000 Juden. Die Besorgnis über Antisemitismus in der Türkei hat zugenommen, insbesondere nach den Terroranschlägen der Hamas vom 7.10.2023 und dem darauf folgenden Krieg zwischen Israel und der Hamas. Zu den Vorfällen im Jahr 2023 gehörten beispielsweise ein Taxifahrer, der sich weigerte, jüdische Fahrgäste zu befördern, ein Buchhändler, der ein Schild mit der Aufschrift "Keine Juden erlaubt" in seinem Schaufenster aufhängte, und die Verwüstung der Etz Hayim-Synagoge in Izmir (DFAT 16.5.2025, S. 17; vgl. Algemeiner 27.10.2023). Am 17.10.2023 griff die regierungsnahe islamistische Tageszeitung Yeni Akit die jüdischen Türken mit der Schlagzeile "Deportiert die zionistischen Diener aus der Staatsbürgerschaft" auf ihrer Titelseite an. Yeni Akit behauptete, jüdische Türken seien "von Natur aus Bürger Israels" und warf ihnen vor, in den jüdischen Staat zu reisen, um sich an dessen Kriegsbemühungen zu beteiligen. Am folgenden Tag titelte die regierungsnahe Tageszeitung Yeni Şafak auf ihrer Titelseite: "Dieser Terrorstaat muss zerstört werden" (Algemeiner 27.10.2023). Die türkisch-jüdische Gemeinde hat ihre Besorgnis über antisemitische Äußerungen in den Medien und von hochrangigen Regierungsvertretern zum Ausdruck gebracht (DFAT 16.5.2025, S. 17).
Während jüdische Gemeinden in Istanbul und Ankara ihre Dankbarkeit für den Polizeischutz bei ihren Gottesdiensten zum Ausdruck brachten, haben die hetzerischen Äußerungen politischer Führer über Israel, darunter auch Verfälschungen des Holocaust, an historische antisemitische Narrative angeknüpft und zu einer Stimmung in der Bevölkerung gegen Juden beigetragen (USCIRF 3.2025, S. 67).
Prangerte Staatspräsident Erdoğan den Antisemitismus als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" vor US-amerikanischen Juden am selben Tag seines Treffens mit dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu an (Haaretz 21.9.2023), so änderte sich das ab dem 7.10.2023 radikal. - Erdoğan hat seit dem Terrorangriff der islamistischen Hamas auf Israel am 7. Oktober und dem darauffolgenden Gaza-Krieg mehrfach für Irritationen und Empörung gesorgt. Erdogan rügte den israelischen "Faschismus" und zweifelte Existenzrecht des Staates Israel offen an, den er wörtlich auch als Terrorstaat titulierte, der in Gaza einen Genozid verübe (MM 17.11.2023; vgl. AnA 22.11.2023). Mit der Eskalation des Konflikts zwischen Israel und der Hamas erlebt die Türkei einen beunruhigenden Anstieg antisemitischer Äußerungen, die vor allem durch die Medienberichterstattung und den politischen Diskurs verschärft werden, die u. a. Adolf Hitler und die Nazi-Ideologie verherrlichen (DW 26.10.2023; vgl. FAZ 26.10.2023, USCIRF 5.2024, S. 70).
Die jüdische Gemeinde in der Türkei hat angesichts des anhaltenden Konflikts zwischen Israel und der Hamas ihre Besorgnis über den zunehmenden Antisemitismus zum Ausdruck gebracht. Karel Valansi, Kolumnist u. a. für die türkisch-jüdische Zeitung Şalom, erklärte gegenüber der Deutschen Welle, dass Juden in der Türkei zunehmend mit der israelischen Politik in Verbindung gebracht werden. In der Wahrnehmung, so Valansi, werden Juden völlig aus der Position von Bürgern der Türkei entfernt und zu Botschaftern und zum verlängerten Arm Israels gemacht, und die Wut gegen diesen Staat richtet sich dann gegen türkische Juden (DW 26.10.2023). Um kein Aufsehen zu erregen, hat die türkisch-jüdische Gemeinschaft beispielsweise das jüdische Chanukka-Fest seit dem 7.10.2023 nicht mehr öffentlich gefeiert (MBZ 2.2025a, S. 73).
Ethnische Minderheiten
Letzte Änderung 2025-08-06 13:34
Rechtslage und Rechtswirklichkeit
Die kemalistische Ideologie sah die Türkei als ein Land mit einer einzigen ethnischen Identität. Die Assimilationspolitik, die die Sprache, Kultur und Identität ethnischer Minderheiten unterdrückt, hat seit langem Ressentiments hervorgerufen, insbesondere unter den türkischen Kurden (DFAT 16.5.2025, S. 5). Die türkische Verfassung sieht nur eine einzige Nationalität für alle Bürger und Bürgerinnen vor. Sie erkennt keine nationalen oder ethnischen Minderheiten an, mit Ausnahme der drei, primär über die Religion definierten, nicht-muslimischen Gruppen, nämlich der Armenisch-Apostolischen und Griechisch-Orthodoxen Christen sowie der Juden (USDOS 22.4.2024, S. 67; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 30, 39) sowie der Bulgaren aufgrund des Türkisch-Bulgarischen Freundschaftsvertrages und der Assyrer aufgrund eines Gerichtsurteils (ÖB Ankara 4.2025, S. 39). Andere nationale oder ethnische Minderheiten wie Jafari [zumeist schiitische Aseris], Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen dürfen ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben (USDOS 22.4.2024, S. 67; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 39). Allerdings wurden in den letzten Jahren Minderheiten in beschränktem Ausmaß kulturelle Rechte eingeräumt (ÖB Ankara 4.2025, S. 39). Dessen ungeachtet bedauerte der Menschrechtsausschuss der Vereinten Nationen Ende November 2024, dass die Türkei als Vertragsstaat des Internationaler Paktes über bürgerliche und politische Rechte (International Covenant on Civil and Political Rights - ICCPR) ihren Vorbehalt zu Artikel 27 aufrechterhält und empfiehlt gleichzeitig, diesen Vorbehalt zurückzuziehen. Der Artikel 27 des Paktes garantiert die Rechte der ethnischen, religiösen und sprachlichen Minderheiten (UNHRCOM 28.11.2024, S. 2). - Staatsangehörige nicht-türkischer Volksgruppenzugehörigkeit sind keinen staatlichen Repressionen aufgrund ihrer Abstammung unterworfen. Ausweispapiere enthalten keine Aussage zur ethnischen Zugehörigkeit (ÖB Ankara 4.2025, S. 39).
Obwohl die Türkei über einige gesetzliche Bestimmungen zum Schutz der Rechte von Minderheiten verfügt, bieten diese oft keinen umfassenden Schutz und gewährleisten keine Gleichstellung. Es besteht eine erhebliche Diskrepanz zwischen dem Rechtsrahmen zur Verhinderung von Diskriminierung und zum Schutz von Minderheitenrechten und deren praktischer Umsetzung. Die institutionellen Mechanismen sind ineffektiv. - Trotz der Einrichtung von Institutionen wie der Menschenrechts- und Gleichstellungsinstitution der Türkei (TİHEK) und der Ombudsmann-Institution (KDK) ist ihre Wirksamkeit bei der Bekämpfung der Diskriminierung von Minderheiten nach wie vor begrenzt, da sie Probleme nur ungern direkt ansprechen. Beide Institutionen sind befugt, im Rahmen ihres Mandats Diskriminierungsbeschwerden von Minderheiten zu bearbeiten. Obwohl es keinen spezifischen Verweis auf "Minderheit" als identifizierenden Begriff gibt, können sie sich indirekt mit der Diskriminierung jeder Gruppe aufgrund von Geschlecht, Rasse, Sprache, Religion und ethnischer Zugehörigkeit befassen, wie im Gesetz zur TİHEK festgelegt. Die TİHEK könnte im Rahmen ihres Mandats auch Rechtsverletzungen gegen diese Gruppen überwachen und darüber Bericht erstatten. Bisher hat sie jedoch noch keine proaktiven Maßnahmen in dieser Hinsicht ergriffen. Trotz der Zuständigkeit beider Institutionen ist die Zahl der Anträge im Zusammenhang mit Minderheiten nach wie vor gering, was hauptsächlich auf die offensichtliche Zurückhaltung dieser Institutionen bei der Behandlung des Themas zurückzuführen ist. Zwischen 2018 und 2022 erließ die TİHEK von insgesamt 43 Entscheidungen eine einzige, die sich mit ethnischer Diskriminierung befasste. Diese Entscheidung betraf jedoch nicht in der Türkei lebende Minderheiten, sondern einen Flüchtling (MRG 29.4.2024, S. 3, 11).
Demografie
Schätzungsweise 70 bis 75 % der Bevölkerung sind ethnische Türken. Etwa 19 % sind Kurden, der Rest setzt sich aus verschiedenen kleinen ethnischen Minderheiten zusammen (DFAT 16.5.2025, S. 5). Neben den offiziell anerkannten religiösen Minderheiten gibt es folgende ethnische Gruppen: Kurden (ca. 13-15 Mio.), Roma (zwischen 2 und 5 Mio.), Tscherkessen (rund 2 Mio.), Bosniaken (bis zu 2 Mio.), Krim-Tataren (1 Mio.), Araber [ohne Flüchtlinge] (vor dem Syrienkrieg 800.000 bis 1 Mio.), Lasen (zwischen 50.000 und 500.000), Georgier (100.000) sowie Uiguren (rund 50.000) und andere Gruppen in kleiner und schwer zu bestimmender Anzahl (AA 20.5.2024, S. 10). Dazu kommen noch, so sie nicht als religiöse Minderheit gezählt werden, Jesiden, Griechen, Armenier (60.000), Juden (weniger als 20.000) und Assyrer (25.000) vorwiegend in Istanbul und ein kleinerer Teil hiervon (3.000) im Südosten (MRG 6.2018b).
BMI/BMLVS 2017, S. 33f. Anmerkung: Auf dieser Karte sind nur die Hauptsiedlungsgebiete der ethnischen und sprachlichen Gruppen dargestellt. Es kann Minderheiten geben, die nicht abgebildet sind. Insbesondere in städtischen Zentren ist die Bevölkerung sehr heterogen und kann auf diese Art von Karte nicht dargestellt werden. Die Gruppe "kaukasische Völker" bezieht sich auf Georgier, Lasen und Tscherkessen in der Türkei, Jordanien und Syrien. In der Türkei gehören zu den Kurden auch die Zaza. Bei den unter der Kennziffer 3 subsumierten Ethnien handelt es sich im Südosten der Türkei um Assyrer und nicht um Armenier. Letztere finden sich nur in den Großstädten und einem Dorf in der Provinz Hatay (hier nicht abgebildet).
Intoleranz, Diskriminierung, Hassreden
Trotz der Tatsache, dass alle Bürgerinnen und Bürger die gleichen Bürgerrechte haben und obwohl jegliche Diskriminierung aufgrund kultureller, religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit geächtet ist, herrschen weitverbreitete negative Einstellungen gegenüber Minderheitengruppen. Das Maß an Vertrauen und Toleranz gegenüber ethnischen Minderheiten und Nicht-Muslimen hat abgenommen (BS 19.3.2024, S. 7, 17). Bis heute gibt es im Nationenverständnis der Türkei keinen Platz für eigenständige Minderheiten. Der Begriff "Minderheit" (im Türkischen "azınlık") ist negativ konnotiert. Diese Minderheiten wie Kurden, Aleviten und Armenier werden auch heute noch als "Spalter", "Vaterlandsverräter" und als Gefahr für die türkische Nation betrachtet. Mittlerweile ist sogar die Geschäftsordnung des türkischen Parlaments dahin gehend angepasst worden, dass die Verwendung der Begriffe "Kurdistan", "kurdische Gebiete" und "Völkermord an den Armeniern" im Parlament verboten ist, mit einer hohen Geldstrafe geahndet wird und Abgeordnete dafür aus Sitzungen ausgeschlossen werden können (BPB 17.2.2018). Im Juni 2022 verurteilte das Europäische Parlament "die Unterdrückung ethnischer und religiöser Minderheiten, wozu auch das Verbot der gemäß der Verfassung der Türkei nicht als "Muttersprache" eingestuften Sprachen von Gruppen wie der kurdischen Gemeinschaft in der Bildung und in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zählt" (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 30).
Die Gesetzgebung zu Hassverbrechen, einschließlich Hassreden, entspricht immer noch nicht den internationalen Standards, was ein ernstes Problem darstellt. Hassreden und Hassverbrechen halten an, wobei die Hauptzielgruppen Kurden, Syrer (häufig Flüchtlinge), Griechen, Armenier, Juden und Aleviten waren (EC 30.10.2024, S. 21, 35). Dazu gehören auch Hass-Kommentare in den Medien, die sich gegen nationale, ethnische und religiöse Gruppen richten (EC 6.10.2020, S. 40).
Vertreter der armenischen Minderheit berichten über eine Zunahme von Hassreden und verbalen Anspielungen, die sich gegen die armenische Gemeinschaft richteten, auch von hochrangigen Regierungsvertretern. Das armenische Patriarchat hat anonyme Drohungen rund um den Tag des armenischen Gedenkens erhalten. Staatspräsident Erdoğan bezeichnete den armenischen Parlamentsabgeordneten, Garo Paylan, als "Verräter", weil dieser im Parlament einen Gesetzentwurf eingebracht hatte, der die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern gefordert hatte (USDOS 20.3.2023, S. 87). Die Massaker an den Armeniern in den Jahren 1915-1917 sind weiterhin ein heikles Thema. Als z. B. der Menschenrechtsverteidiger Öztürk Türkdoğan dazu aufforderte, die genannten Ereignisse als "Völkermord" anzuerkennen, wurde er nach Artikel 301 des Strafgesetzbuchs wegen Beleidigung der türkischen Nation angeklagt, im Juli 2023 allerdings freigesprochen, da sein Aufruf unter das Recht auf freie Meinungsäußerung fiel. Am 24.4.2024 bezeichnete ein Gastredner bei Açık Radyo die Ereignisse von 1915-1917 als Völkermord. Daraufhin verhängte der Oberste Rundfunk- und Fernsehrat (RTÜK) eine Geldstrafe gegen den Radiosender. Açık Radyo zahlte die Geldstrafe nicht, woraufhin der RTÜK die Sendelizenz widerrief (MBZ 2.2025a, S. 71).
Bildung und Kultur
Während des EU-Harmonisierungsprozesses wurde das Recht auf den Gebrauch von Minderheitensprachen in gewissem Umfang erweitert, obwohl der Begriff "Muttersprache" nicht verwendet wurde. Stattdessen wurde eine Definition wie "verschiedene Sprachen und Dialekte, die traditionell von türkischen Bürgern in ihrem täglichen Leben verwendet werden" angenommen, die mit Artikel 28 der Verfassung übereinstimmt, der festlegt, dass nur Türkisch als Muttersprache unterrichtet werden darf (MRG 29.4.2024, S. 16f.; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 67f.). Dies erfolgt unter der Bedingung, dass die Schulen den Bestimmungen des Gesetzes über die privaten Bildungsinstitutionen unterliegen und vom Bildungsministerium inspiziert werden (USDOS 22.4.2024, S. 67f.). Diese Erweiterung erfolgte in drei wichtigen Bereichen. Erstens wurde das Erlernen dieser Sprachen trotz bürokratischer Hindernisse durch Online-Kurse und Initiativen von Organisationen der Zivilgesellschaft erleichtert, insbesondere während und nach der Pandemie. Zweitens wurde der Unterricht dieser Sprachen an Privatschulen genehmigt. Schließlich wurde 2012 "Lebende Sprachen und Dialekte" als Wahlfach in alle Lehrpläne der Sekundarstufe aufgenommen, darunter Adyghisch (i.e.Tscherkessisch), Abchasisch, Albanisch, Bosnisch, Georgisch, Kurmancî [Anm.: Hauptvariante des Kurdischen in der Türkei], Laz und Zazakî. Betrachtet man das Angebot an privaten Sprachkursen, so wird deutlich, dass Kurdisch weiterhin starker staatlicher Repression ausgesetzt ist (MRG 29.4.2024, S. 17). Allerdings wirken die Mindestanzahl von zehn Schülern für einen Kurs sowie der Mangel oder gar das Fehlen von Fachlehrern einschränkend auf die Möglichkeiten eines Unterrichts von Minderheitensprachen (EC 30.10.2024, S. 35). Trotz der Einrichtung von Fachbereichen an den Universitäten und der Anzahl der Absolventen, die diese Fachbereiche hervorbringen, wurden die erforderlichen Stellen für Lehrer für diese Kurse für fast jede Minderheitensprache weitgehend übersehen. Überdies behindern jedoch viele Schulleiter das Erlernen dieser Sprachen. Sie lassen sie von der Liste weg, warnen vor einer möglichen Stigmatisierung, indem sie bestehende Ängste der Eltern schüren, behaupten, dass die Sprachen für die Zukunft der Kinder unnötig seien, und lehnen manchmal Anträge ab oder bearbeiten sie nicht. Die Angst, aufgrund der historischen und bestehenden Diskriminierung von Minderheiten in der Türkei als solche abgestempelt zu werden, hält Eltern und Schüler ebenfalls davon ab, diese Kurse zu wählen (MRG 29.4.2024, S. 17f.). Universitätsprogramme sind in Kurdisch, Zazakî, Arabisch, Assyrisch und Tscherkessisch vorhanden (EC 8.11.2023, S. 44; vgl. EC 30.10.2024, S. 35).
Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure und die willkürliche Zensur haben sich weiterhin negativ auf Kunst und Kultur der Minderheiten, insbesondere der Kurden, ausgewirkt (EC 8.11.2023, S. 44; vgl. EC 30.10.2024, S. 35).
Das Gesetz erlaubt die Wiederherstellung einstiger nicht-türkischer Ortsnamen von Dörfern und Siedlungen und gestattet es politischen Parteien sowie deren Mitgliedern, in jedweder Sprache ihren Wahlkampf zu führen sowie Informationsmaterial zu verbreiten. In der Praxis wird dieses Recht jedoch nicht geschützt. Das Gesetz beschränkt den Gebrauch von anderen Sprachen als Türkisch in der Regierung und in öffentlichen Diensten (USDOS 22.4.2024, S. 67f.). Mit dem 4. Justizreformpaket wurde 2013 per Gesetz allerdings die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch (vor allem Kurdisch) vor Gericht und in öffentlichen Ämtern (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB Ankara 4.2025, S. 39).
Siehe hierzu insbesondere das Unterkapitel: Ethnische Minderheiten / Kurden
Kurden
Letzte Änderung 2025-08-06 13:33
Demografie und Selbstdefinition
Die kurdische Volksgruppe hat laut Schätzungen zwischen 15 und 20 % Anteil an der Gesamtbevölkerung und lebt zum Großteil im Südosten des Landes sowie in den südlich und westlich gelegenen Großstädten Adana, Antalya, Gaziantep, Mersin, Istanbul und Izmir (ÖB Ankara 4.2025, S. 39; vgl. MRG 2.2024, MBZ 31.8.2023, S. 47, UKHO 10.2023b, S. 6, DFAT 16.5.2025, S. 12). Traditionell konzentriert sich die kurdische Bevölkerung auf den Südosten Anatoliens, wo sie die größte ethnische Gruppe bilden, und auf den Nordosten Anatoliens, wo sie eine bedeutende Minderheit darstellen. Der Osten und Südosten der Türkei sind historisch weniger entwickelt als andere Teile des Landes, mit niedrigeren Einkommen, höheren Armutsraten, weniger Industrie und geringeren staatlichen Investitionen. In den letzten Jahrzehnten sind viele Kurden in den Westen der Türkei migriert, um Konflikten zu entkommen und wirtschaftliche Chancen zu suchen. Einige Kurden führen einen traditionellen Lebensstil, insbesondere in ländlichen Gebieten, während andere stark assimiliert sind und sich kaum von anderen Türken unterscheiden (DFAT 16.5.2025, S. 12).
Die Kurden sind die größte ethnische Minderheit in der Türkei, jedoch liegen keine Angaben über deren genaue Größe vor. Dies ist auf eine Reihe von Faktoren zurückzuführen. - Erstens wird bei den türkischen Volkszählungen die ethnische Zugehörigkeit der Menschen nicht erfasst. Zweitens verheimlichen einige Kurden ihre ethnische Zugehörigkeit, da sie eine Diskriminierung aufgrund ihrer kurdischen Herkunft befürchten. Und drittens ist es nicht immer einfach zu bestimmen, wer zum kurdischen Teil der Bevölkerung gehört. So identifizieren sich Sprecher des Zazaki - einer Sprachvariante, die mit Kurmancî ("Kurdisch") verwandt ist - teils als Kurden und teils eben als eine völlig separate Bevölkerungsgruppe (MBZ 31.8.2023, S. 47).
Allgemeine Situation, politische Orientierung und Vertretung
Obwohl Kurden in allen Bereichen des öffentlichen Lebens vertreten sind und einige von ihnen hohe Positionen bekleiden, sind sie in Führungspositionen tendenziell unterrepräsentiert und zögern mitunter ihre kurdische Identität offenzulegen, falls sich dies als Hindernis erweisen sollte. Es gibt Hinweise auf anhaltende gesellschaftliche Diskriminierung von Kurden und zahlreiche Berichte über rassistische Übergriffe gegen Kurden. In einigen Fällen wurden diese Angriffe möglicherweise nicht ordnungsgemäß untersucht oder nicht als rassistisch anerkannt. Kurden, die in Städten im Westen der Türkei leben, haben fallweise Angst, ihre kurdische Identität preiszugeben oder in der Öffentlichkeit Kurdisch zu sprechen, und die Beschäftigungsmöglichkeiten für Kurden können begrenzt sein, insbesondere wenn sie in der kurdischen Politik aktiv sind oder sich offen für die kurdische Sache einsetzen. Die meisten politisch nicht aktiven Kurden und diejenigen, welche die AKP unterstützen, können in den Städten der Westtürkei ohne Diskriminierung leben. Es gibt Hinweise darauf, dass Kurden aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit der Zugang zu bestimmten Mietwohnungen verweigert wurde. Kurden, die kein Türkisch sprechen, können Schwierigkeiten beim Zugang zu Dienstleistungen, z. B. im Gesundheitsbereich, haben (UKHO 10.2023b, S. 8f.; vgl. DFAT 16.5.2025, S. 12f.).
Die kurdische Gemeinschaft ist vielfältig und umfasst ein breites Spektrum politischer Ansichten und sozioökonomischer Hintergründe (DFAT 16.5.2025, S. 12; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 39). Unter den nicht im Südosten der Türkei lebenden Kurden, insbesondere den religiösen sunnitischen Kurden, gibt es viele islamisch-konservative Wähler, welche die AKP oder die YRP (Yeniden Refah Partisi - Neue Wohlfahrtspartei) wählen. Umgekehrt wählen vor allem in den Großstädten Ankara, Istanbul und Izmir auch viele liberal bis links orientierte ethnische Türken die pro-kurdische DEM-Partei [Anm.: früher HDP] (ÖB Ankara 4.2025, S. 39; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 48). Im kurdisch geprägten Südosten besteht nach wie vor eine erhebliche Spaltung der Gesellschaft zwischen den religiösen konservativen und den säkularen linken Elementen der Bevölkerung. Als, wenn auch beschränkte, inner-kurdische Konkurrenz zur linken HDP besteht die islamistisch-konservative Partei der Freien Sache (Hür Dava Partisi - kurz: Hüda-Par), die für die Einführung der Scharia eintritt. Zwar tritt sie wie die HDP für die kurdische Autonomie und die Stärkung des Kurdischen im Bildungssystem ein, unterstützt jedoch politisch Staatspräsident Erdoğan, wie beispielsweise bei den Präsidentschaftswahlen 2018 (MBZ 31.10.2019). Die Unterstützung wiederholte sich auch angesichts der Präsidenten- und Parlamentswahlen im Frühjahr 2023. - Bei den Parlamentswahlen 2023 zogen vier Abgeordnete der Hüda-Par über die Liste der AKP ins türkische Parlament ein. Möglich war das durch einen umfangreichen Deal mit Präsident Erdoğan. Für die vier sicheren Listenplätze erhielt dieser die Unterstützung der Hüda-Par bei den gleichzeitig stattfindenden Präsidentschaftswahlen (FR 19.5.2023; vgl. Duvar 9.6.2023). Die Hüda-Par gilt beispielsweise nicht nur als Gegnerin der Istanbuler Konvention, sondern generell der Frauenemanzipation. Die Frau ist für Hüda-Par in erster Linie Mutter. Die Partei möchte zudem außereheliche Beziehungen verbieten (FR 19.5.2023). Mit dem Ausbruch des Gaza-Krieges im Oktober 2023 stellte sich die Hüda-Par als Unterstützerin der HAMAS heraus, die in der EU, den USA und anderen Ländern, nicht jedoch in der Türkei, als Terrororganisation gilt. So empfing die Parlamentsfraktion der Hüda-Par bereits am 11.10.2023 eine Delegation der HAMAS im türkischen Parlament. Şehzade Demir, Abgeordneter der Hüda-Par, warf bei einer gemeinsamen Pressekonferenz, Israel nicht nur Kriegsverbrechen vor, sondern erklärte, dass "das zionistische Regime der gesamten islamischen Gemeinschaft und unseren heiligen Werten den Krieg erklärt" hätte (Duvar 12.10.2023). Zudem begrüßte Demir den HAMAS-Angriff vom 7.10.2023 und nannte Israel eine Terrororganisation, zu der alle diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen beendet werden sollten (FR 12.10.2023).
Das Verhältnis zwischen der HDP bzw. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der Hüda-Par ist feindselig. Im Oktober 2014 kam es während der Kobanê-Proteste letztmalig zu Gewalttätigkeiten zwischen PKK-Sympathisanten und Anhängern der Hüda-Par, wobei Dutzende von Menschen getötet wurden (MBZ 31.10.2019; vgl. AI 7.7.2015, S. 5).
Religiöse und weltanschauliche Orientierung
In religiöser Hinsicht sind die Kurden in der Türkei nicht einheitlich. Nach einer Schätzung sind siebzig Prozent der Kurden Sunniten, die restlichen dreißig Prozent sind Aleviten und Jesiden [eine verschwindend geringe Zahl] (MBZ 31.8.2023, S. 48; vgl. MRG 2.2024). Die sunnitische Mehrheit unter den Kurden gehört allerdings in der Regel der Shafi'i-Schule an und nicht der Hanafi-Schule wie die meisten ethnischen Türken. Die türkischen Religionsbehörden betrachten beide Schulen als gleichwertig, und Anhänger der Shafi'i-Schule werden aus religiösen Gründen nicht unterschiedlich behandelt (DFAT 16.5.2025, S. 12). Laut einer Studie des Kurdish Studies Center vom Dezember 2023 definieren sich Kurden als fromme Muslime und Libertäre (özgürlükçülük). Je niedriger das Alter, desto libertärer, und je höher das Alter, desto stärker ist die muslimisch-religiöse Identität. Der Frieden zwischen der Religion und liberalen (liberären) Werten zeichnet die kurdische Identität aus. 53,5 % der Kurden (Mehrfachantworten waren möglich) sahen sich als Muslime und weitere 24,8 % als religiös, während 28,1 % sich als libertär bzw. werteliberal sahen. 11,9 % definierten sich als konservativ, 11,5 % als sozialistisch, 9,9 % als kurdisch-nationalistisch, 9,2 % als Demokraten, 8,4 % als Verteidiger der kurdischen Rechte und 8,0 % als Sozialdemokraten, nebst weiteren Kategorien (KSC 12.2023, S. 7).
Allgemeine Einschätzungen zur Lage der Kurden
Die "Kurdish Language Rights Monitoring and Reporting Platform" verzeichnete in ihrem Jahresbericht für 2024 zu "systematischen Verstößen gegen die kurdische Sprache und Kultur" 109 Vorfälle - im Bereich von Kunst und Kultur: 27, im öffentlichen Raum: 53, im Bereich der Medien: 11 und in den Gefängnissen: 18. - Zu den Verstößen im Bereich von Kunst und Kultur zählten die Absage oder das Verbot von Theaterstücken, Konzerten und kulturellen Veranstaltungen in Kurdisch durch Gouvernements oder Gemeinden; die Schließung von Social-Media-Konten von Schauspielern, Sängern und Schriftstellern; die Festnahme oder Inhaftierung von Mitgliedern von Musikgruppen bzw. Musikern; Ermittlungen und rechtliche Schritte gegen Kulturschaffende. Zu den Rechtsverletzungen im öffentlichen Raum zählten Restriktionen hinsichtlich der Verwendung des Kurdischen im Parlament und die Entfernung von öffentlichen Schildern und Aufschriften in Kurdisch. 375 Personen wurden verhaftet, davon 47 Personen aufgrund des Vortragens kurdischer Lieder oder Tänze bei Hochzeiten. Es kam zu Entlassungen von Arbeitnehmern, weil sie Kurdisch gesprochen hatten, z. B. am Flughafen Bodrum und Istanbul. Zu den Diskriminierungen in den Bereichen Bildung und Gesundheit zählten laut Bericht die Reduzierung der Stellen für kurdischsprachige Lehrer auf zehn, die Verweigerung medizinischer Untersuchungen für Patienten, die kein Türkisch sprachen, sowie der anhaltende Druck auf Einrichtungen, die kurdischsprachigen Unterricht anbieten, sowie Verhaftung oder Kündigung von Lehrern. Angeführt wird als Hassverbrechen auch die Ermordung eines irakischen Bürgers aus der Kurdistan Region Irak in Istanbul, weil dieser in der Öffentlichkeit Kurdisch sprach. Zu den Verstößen im Feld der Medien zählten Internet- und Rundfunkzensur, z. B. Zugangsbeschränkungen zu den kurdischen Konten der Zeitung Xwebûn, der Agentur Mezopotamya und Jinnews; die Schließung von Social-Media-Konten und das Verbot von 120 kurdischen Büchern und Presseartikeln. In den Gefängnissen kam es zu Einschränkungen der Kommunikation: das Verbot für Gefangene, mit ihren Familien Kurdisch zu sprechen, und die Beschlagnahmung ihrer Briefe; die Unterbrechung von Telefongesprächen. Es gab Fälle von Strafen und Disziplinarmaßnahmen. Dazu gehörten die Verhängung von Einzelhaft für Gefangene, die auf Kurdisch sangen; Disziplinarverfahren wegen auf Kurdisch verfasster Gedichte sowie das Aushändigen von kurdischen Büchern gegen ein Übersetzungshonorar oder die schlichte Beschlagnahme von Büchern, die ins Kurdische übersetzt wurden (KurdLRMRP 2.2025, S. 4-6).
Das Europäische Parlament (EP) zeigte sich auch 2023 "besonders besorgt über das anhaltende harte Vorgehen gegen kurdische Politiker, Journalisten, Rechtsanwälte und Künstler, einschließlich Massenverhaftungen vor den Wahlen [2023] sowie über das laufende Verbotsverfahren gegen die Demokratische Partei der Völker" (EP 13.9.2023, Pt. 13, 16). In einer Entschließung vom Mai 2025 bedauerte das Europäische Parlament erneut "die anhaltende politische Unterdrückung, Schikanierung durch die Justiz und Beschneidung der kulturellen und sprachlichen Rechte der kurdischen Bürger" (EP 7.5.2025, Pt. 28). Laut EP ist insbesondere die anhaltende Benachteiligung kurdischer Frauen besorgniserregend, die zusätzlich durch Vorurteile aufgrund ihrer ethnischen und sprachlichen Identität verstärkt wird, wodurch sie in der Wahrnehmung ihrer bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Rechte noch stärker eingeschränkt werden (EP 19.5.2021, S. 17, Pt. 44). Laut Europäischer Kommission dauern Hassverbrechen und Hassreden gegen Kurden an (EC 30.10.2024, S. 21).
Kurdische Zivilgesellschaft
Es gab mehrere Angriffe gegen ethnische Kurden, die nach Ansicht von Menschenrechtsorganisationen rassistisch motiviert waren. Kurdische und pro-kurdische NGOs sowie politische Parteien sind weiterhin bei der Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eingeschränkt (USDOS 22.4.2024, S. 69). Hunderte von kurdischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und kurdischsprachigen Medien wurden 2016 und 2017 nach dem Putschversuch per Regierungsverordnung geschlossen (USDOS 20.3.2023, S. 85). Kurdischsprachige Medien und Einrichtungen für kulturelle Rechte bleiben seit 2016 geschlossen (EC 30.10.2024, S. 21). Im April 2021 hob das Verfassungsgericht jedoch eine Bestimmung des Notstandsdekrets auf, das die Grundlage für die Schließung von Medien mit der Begründung bildete, dass Letztere eine "Bedrohung für die nationale Sicherheit" darstellten (2016). Das Verfassungsgericht hob auch eine Bestimmung auf, die den Weg für die Beschlagnahmung des Eigentums der geschlossenen Medien ebnete. Allerdings wurde das Urteil des Verfassungsgerichts (mit Stand November 2023) nicht umgesetzt (EC 8.11.2023, S. 18f.; vgl. CCRT 8.4.2021).
Auswirkungen des bewaffneten Konfliktes mit der Kurdischen Arbeiterpartei - PKK
Der Konflikt mit der PKK wird seitens der Regierung zur Rechtfertigung diskriminierender Maßnahmen gegen kurdische Bürgerinnen und Bürger herangezogen, darunter das Verbot kurdischer Feste. Gegen kurdische Schulen und kulturelle Organisationen, von denen viele während der Friedensgespräche eröffnet wurden, wird seit 2015 ermittelt oder sie wurden geschlossen. Die Behörden nehmen regelmäßig Massenverhaftungen in kurdisch dominierten Provinzen vor und beschuldigen die Verhafteten, die PKK zu unterstützen. Im September 2024 führten die Behörden eine Razzia bei einer Reihe kurdischer Organisationen und Kultureinrichtungen durch (FH 26.2.2025, F4). 2024 setzte sich auch die Verhaftung von Personen fort. Am 16.1.2024 nahm die Polizei beispielsweise bei mehreren Razzien in 28 Provinzen insgesamt 165 Personen fest, darunter Mitglieder der pro-kurdischen Partei für Demokratie und Gleichheit (DEM-Partei), wegen mutmaßlicher Verbindungen zu terroristischen Organisationen. Das Innenministerium erklärte, die Festgenommenen seien wegen mutmaßlicher Unterstützung der PKK oder wegen der Verbreitung von PKK-Propaganda in den sozialen Medien festgenommen worden. Unter den Festgenommenen waren mehrere Mitglieder der sog. Peace Mothers, eine Gruppe von Aktivistinnen, die sich für eine friedliche Lösung des Konflikts zwischen dem Staat und der PKK einsetzt, sowie Mitglieder der Jugend- und Frauennetzwerke der DEM-Partei (BAMF 30.6.2024, S. 1).
Für weiterführende Informationen siehe Kapitel bzw. Unterkapitel: Sicherheitslage, Sicherheitslage / Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit / Opposition.
Die sehr weit gefasste Auslegung des Kampfes gegen den Terrorismus und die zunehmenden Einschränkungen der Rechte von Journalisten, politischen Gegnern, Anwaltskammern und Menschenrechtsverteidigern, die sich mit der kurdischen Frage befassen, geben laut Europäischer Kommission wiederholt Anlass zur Sorge (EC 30.10.2024, S. 21). Bekundungen zur Unterstützung der Bevölkerung von Kobanê sowie Begriffe wie: Kurden, Kurdistan, Guerilla, Widerstand, Märtyrer sind Gegenstand umfangreicher Verfahren (Pro Asyl 9.2024, S. 99f.).
Kurdische Journalisten sind in unverhältnismäßiger Weise betroffen. Im Juli 2024 wurden bei einem Prozess in Ankara gegen elf kurdische Journalisten acht von ihnen wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" zu jeweils sechs Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt. In Diyarbakır wurde der Prozess gegen 20 kurdische Journalisten und Medienmitarbeiter wegen der gleichen Vorwürfe fortgesetzt (HRW 16.1.2025; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). Laut eigenen Angaben werden kurdische Journalisten schlicht wegen ihrer Berichte über die sich verschlimmernde Menschenrechtslage in den Kurdengebieten angeklagt (BIRN 8.12.2023). Die meisten der Journalisten, die sich in Untersuchungshaft befinden, sind kurdischer Herkunft. In den Strafverfahren würden, laut Quellen von Pro Asyl, angeklagte kurdische Journalisten von vornherein als Mitglieder einer Organisation wahrgenommen und so behandelt. Dementsprechend sei die Haltung der Richter in diesen Verfahren von Anfang an viel härter, was sich auch in einer besonders aggressiven Sprachwahl der Staatsanwälte in ihren Plädoyers zeige (Pro Asyl 9.2024, S. 40).
Vom Vorwurf der Terrorismusunterstützung sind nebst pro-kurdischen politischen Parteien [siehe hierzu das Unterkapitel Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit / Opposition] auch Vertreter kurdischer NGOs und Vereine betroffen. - So hat ein Gericht in Diyarbakır Narin Gezgör, ein Gründungsmitglied der "Rosa Frauenvereinigung", einer kurdischen Frauenrechtsgruppe, im September 2023 wegen Terrorismus zu sieben Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. Zu den gegen Gezgör vorgebrachten Beweisen gehörten ihre Mitgliedschaft in der Vereinigung sowie ihre Medieninterviews und anonyme Zeugenaussagen, die sie belasteten (SCF 11.9.2023; vgl. ANF 11.9.2023).
Zur Verfolgung kurdischer Journalisten siehe auch das Kapitel: Meinungs- und Pressefreiheit / Internet
Veranstaltungen oder Demonstrationen mit Bezug zur Kurden-Problematik und Proteste gegen die Ernennung von Treuhändern (anstelle gewählter kurdischer Bürgermeister) werden unter dem Vorwand der Sicherheitslage verboten (EC 19.10.2021, S. 36f). Bereits öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südost-Türkei oder das Teilen von Beiträgen mit PKK-Bezug in den sozialen Medien kann bei entsprechender Auslegung den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 20.5.2024, S. 8f.). Festnahmen von kurdischen Aktivisten und Aktivistinnen geschehen regelmäßig anlässlich der Demonstrationen bzw. Feierlichkeiten zum Internationalen Frauentag (WKI 22.3.2022), am 1. Mai (WKI 3.5.2022) oder routinemäßig zum kurdischen Neujahrsfest Newroz (Duvar 20.3.2023). Am 19.3.2023 feierten Tausende Menschen in Istanbul das kurdische Neujahrsfest. Teilnehmer forderten in Sprechchören die Freilassung des ehemaligen HDP-Kovorsitzenden Demirtaş. Die Behörden nahmen mehr als zweihundert Personen fest. Sie hätten "illegale Transparente" getragen und "illegale Parolen" gerufen. Bei dem Feiern in Istanbul am 18.3.2024 wurden 70 Personen festgenommen, von denen laut Behörden drei ein Plakat des inhaftierten PKK Anführers Öcalan hochgehalten haben sollen (ÖB Ankara 4.2025, S. 40).
Gewaltsame Übergriffe und behördliches Vorgehen
Es kommt immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen, denen manche eine anti-kurdische Dimension zuschreiben (MBZ 2.2025a, S. 57; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 2). Auch in den Jahren 2023 und 2024 berichteten Medien immer wieder von Maßnahmen und Gewaltakten gegen Menschen, die im öffentlichen Raum Kurdisch sprachen oder als Kurden wahrgenommen wurden (ÖB Ankara 4.2025, S. 39).
Beispiele 2024: Ein kurdischer Betreiber eines Cafés in Diyarbakır wurde Ende Mai 2024 verhaftet, nachdem er anlässlich des Tages der kurdischen Sprache (15. Mai) angekündigt hatte, seine Kunden künftig ausschließlich auf Kurdisch zu bedienen. Die Behörden werfen dem Gastronomen vor, durch sein Vorhaben terroristische Propaganda zu betreiben, ein diesbezügliches Strafverfahren wurde eingeleitet. Zuvor war der Cafébesitzer bereits in den sozialen Medien angefeindet worden (BAMF 3.6.2024, vgl. BIRN 30.5.2024).
Im Sommer 2024 wurden an mehreren Orten Hochzeitsgäste, die kurdische Lieder sangen und kurdische Tänze tanzten von der Polizei verhaftet bzw. wurde Anklage wegen "Verbreitung von Terrorismuspropaganda" erhoben. Dieses Verbrechen kann mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte schon zuvor entschieden, dass das Singen von Volksliedern oder das Vortragen von Gedichten, das Rufen allgemeiner Slogans, auch bei öffentlichen Versammlungen, oder der Verweis auf den 40-jährigen Aufstand der bewaffneten Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gegen das türkische Militär rechtlich erlaubte Meinungsäußerungen darstellen. Denn der Inhalt der Lieder und Slogans auf den Hochzeitsfeiern und anderswo ruft weder zur Gewalt auf noch stellt er eine unmittelbare Gefahr für Personen dar, die eine strafrechtliche Verfolgung rechtfertigen könnte (HRW 15.8.2024). - Mehr als 30 Verhaftungen erfolgten im Juli in den Provinzen Istanbul, Aydın, Mersin, Ağrı, Siirt, Batman und Hakkâri. So wurden am 27.7.2024 Presseberichten zufolge insgesamt elf Personen verhaftet, die in Istanbul bei verschiedenen Hochzeiten laut eines Istanbuler Gerichts "Propaganda für terroristische Organisationen" betrieben haben sollen. In Hakkâri kam es am 28.7.2024 zu Razzien während Hochzeitsfeierlichkeiten, da auf jenen kurdische Lieder gespielt und dazu getanzt worden sei. Berichten zufolge sollen bei den Razzien eine nicht näher bekannte Anzahl an Musikern und Hochzeitsgästen ebenfalls unter dem Vorwurf der "Propaganda für eine terroristische Organisation" festgenommen worden sein. Am 5.8.2024 wurden fünf Personen festgenommen, da sie auf einer Hochzeit in der Provinz Osmaniye kurdischsprachige Lieder gesungen, den kurdischen Volkstanz "Halay" aufgeführt und die Hochzeitsfahrzeuge mit gelben und roten Luftschlangen geschmückt haben sollen. Unter den Festgenommenen waren auch die beiden Ko-Vorsitzenden der Partei für Gleichheit und Demokratie (DEM) des Bezirks Osmaniye (BAMF 12.8.2024, S. 7; vgl. Bianet 30.7.2024, MLSA 1.8.2024). Am 10.8.2024 führte die Istanbuler Polizei eine Razzia bei einer Hochzeit im Stadtteil Esenyurt durch, bei der acht Personen festgenommen wurden, darunter die Gastgeber der Hochzeit und Musiker. Die Razzia wurde Berichten zufolge durch das Abspielen "politischer Lieder" ausgelöst. Fünf der acht Personen, die wegen "Propaganda für eine terroristische Organisation" angeklagt waren, wurden nach ihrer Aussage auf dem Polizeirevier Kıraç wieder freigelassen. Drei Musiker, die nach ihrer Aussage an die Staatsanwaltschaft verwiesen wurden, wurden mit dem Antrag auf Freilassung auf Bewährung an das Gericht verwiesen, welches die Musiker in Folge auf Bewährung freiließ (Mezopotamya 12.8.2024; vgl. Bianet 12.8.2024). Und auch Ende Oktober 2024 wurde laut Medienberichten eine kurdische Familie, diesmal von türkischen Nationalisten, angegriffen, nachdem sie bei einer Hochzeit im türkischen Bezirk Çanakkale kurdische Musik gespielt hatte (SCF 28.10.2024; vgl. Medya 28.10.2024).
[Anmerkung: Für Beispiele vor dem Jahr 2024 siehe vormalige Versionen der Länderinformationen Türkei!]
Stellung der kurdischen Sprache im Bildungssystem
Der Gebrauch des Kurdischen ist stark rückläufig, insbesondere unter der kurdischen Jugend, auch wenn es kein offizielles Verbot gibt. Der private Gebrauch der kurdischen Sprache ist seit Anfang der 2000er-Jahre keinen Restriktionen ausgesetzt. Die türkische Verfassung erkennt allerdings nur Türkisch als Amtssprache des Landes an. Somit genießt das Kurdische keinen rechtlichen Schutz (MBZ 2.2025a, S. 55; vgl. AA 20.5.2024, S. 10), so auch nicht als Unterrichtssprache (ÖB Ankara 4.2025, S. 40). Unterricht in kurdischer Sprache ist an öffentlichen Schulen seit 2012 im Ausmaß von zwei Stunden ab einer Schülerzahl von zehn (Duvar 5.12.2024; vgl. AA 20.5.2024) und an privaten Einrichtungen seit 2014 möglich (als Wahlpflichtfach). Der Unterricht wird in der Praxis aufgrund faktischer Barrieren aber oftmals nicht angeboten (AA 20.5.2024). Mit Stand Dezember 2024 gab es diese Möglichkeit jedoch nur in 13 Städten. Umfragen zeigen, dass es an Lehrkräften für den Kurdisch-Unterricht mangelt. In anderen Fällen wussten die Eltern nicht, dass ihr Kind Kurdischunterricht nehmen durfte. - 2020 wussten einer Umfrage zufolge nur 30 % der kurdischen Eltern, dass es die Möglichkeit zu Kurdischunterricht gibt. - Die Eltern trauten sich oft nicht zu fragen. In letzterem Fall befürchteten sie, mit der PKK in Verbindung gebracht zu werden (Duvar 5.12.2024; vgl. MBZ 2.2025a, S. 57). Kinder mit kurdischer Muttersprache können Kurdisch im staatlichen Schulsystem nicht als Hauptsprache erlernen. Nur 18 % der kurdischen Bevölkerung beherrschen ihre Muttersprache in Wort und Schrift, wobei die Kurdischkenntnisse vor allem in den Großstädten zurückgehen (ÖB Ankara 4.2025, S. 40; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 36). Optionale Kurse in Kurdisch werden an öffentlichen staatlichen Schulen weiterhin angeboten, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch (Kurmanci und Zazaki). Nur wenige politische Parteien haben muttersprachlichen Unterricht ausdrücklich in ihre Wahlprogramme aufgenommen. Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure und die willkürliche Zensur wirken sich weiterhin negativ auf Kunst und Kultur aus, und eine Reihe von Kunst- und Kulturgruppen in kurdischer Sprache wurden von den Treuhändern entlassen (EC 8.11.2023; S. 44; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 40). Unzählige Konzerte, Festivals und kulturelle Veranstaltungen wurden von den Gouvernements und Gemeinden mit der Begründung "Sicherheit und öffentliche Ordnung" verboten. Kurdische Kultur- und Sprachinstitutionen, Medien und zahlreiche Kunsträume blieben größtenteils geschlossen, wie schon seit dem Putschversuch 2016 (EC 30.10.2024; S. 35). In diesem Zusammenhang problematisch ist die geringe Zahl an Kurdisch-Lehrern sowie deren Verteilung, oft nicht in den Gebieten, in denen sie benötigt werden. Zu hören ist auch von administrativen Problemen an den Schulen. Zudem wurden staatliche Subventionen für Minderheitenschulen wesentlich gekürzt (ÖB Ankara 4.2025, S. 40f.). 2024 führte die Entscheidung des Bildungsministeriums, von 20.000 neuen Lehrerstellen nur zehn Stellen für Kurdischlehrer (sechs Lehrer für den Kurmanci-Dialekt und vier für Zazaki) zu vergeben, zu heftigen Reaktionen von Politikern und Organisationen der Zivilgesellschaft, die argumentieren, dass dadurch das Recht der Kurden auf Bildung in ihrer Muttersprache untergraben wird (SCF 9.5.2024; vgl. VOA 9.5.2024).
Laut einem kürzlich vom Kurdish Studies Center veröffentlichten Bericht sprechen 30 % der Kurden Kurdisch auf einem fortgeschrittenen Niveau und 31 % auf einem mittleren Niveau. Für zwei von fünf Personen spielt die Sprache in ihrem Leben fast keine Rolle. Es besteht auch eine starke Korrelation zwischen der Stärke der kurdischen Identität und dem Niveau der kurdischen Sprachkenntnisse. Während bei denjenigen mit einer sehr starken kurdischen Identität der Anteil der Kurdisch Sprechenden 50 % erreicht, sprechen nur 7,5 % derjenigen mit einer schwachen kurdischen Identität gut Kurdisch (KSC 12.2023, S. 15). Dieselbe Studie zeigt auf, dass mehr als die Hälfte der Kinder kurdischsprachiger Eltern nicht gut Kurdisch sprechen (MRG 29.4.2024, S. 19).
Ab 2016 richtete sich der zunehmende Druck auf die kurdische politische Bewegung direkt gegen diese Sprachkurse und die Vereine, die sie anboten, was zu ihrer Schließung führte. Obwohl sowohl Präsenz- als auch Online-Kurse von neuen Vereinen wie der 2017 gegründeten Mesopotamian Language and Culture Research Association (MED-DER) angeboten werden, stehen diese Einrichtungen unter ständiger staatlicher Überwachung. Die Teilnehmer dieser Kurse laufen Gefahr, als verdächtig eingestuft zu werden, ohne die Möglichkeit zu haben, eine solche Profilerstellung vorherzusehen (MRG 29.4.2024, S. 17).
Verwendung des Kurdischen in den Medien, im Kulturbereich und Gefängnissen
Seit 2009 gibt es im staatlichen Fernsehen einen Kanal mit einem 24-Stunden-Programm in kurdischer Sprache (ÖB Ankara 4.2025, S. 40; vgl. FES 11.12.2024). Nicht-staatliche kurdische Medien dagegen haben wirtschaftlich wie politisch große Schwierigkeiten (FES 11.12.2024). Insgesamt gibt es acht Fernsehkanäle, die ausschließlich auf Kurdisch ausstrahlen, sowie 27 Radiosender, die entweder ausschließlich auf Kurdisch senden oder kurdische Programme anbieten (ÖB Ankara 4.2025, S. 40). Allerdings wurden mit der Verhängung des Ausnahmezustands im Jahr 2016 viele Vereine, private Theater, Kunstwerkstätten, Medienunternehmen und ähnliche Einrichtungen, die im Bereich der kurdischen Kultur und Kunst tätig sind, geschlossen (İBV 7.2021, S. 8; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 40), bzw. wurden ihnen Restriktionen hinsichtlich der Verwendung des Kurdischen auferlegt (K24 10.4.2022). Beispiele von Konzertabsagen wegen geplanter Musikstücke in kurdischer Sprache sind ebenso belegt wie das behördliche Vorladen kurdischer Hochzeitssänger zum Verhör, weil sie angeblich "terroristische Lieder" sangen (AlMon 10.8.2022; vgl. KurdLRMRP 2.2025, S. 14-18).
Auch 2024 wurde im kulturellen Raum die kurdische Sprache beschnitten. Am 16.1.2024 untersagten die türkischen Behörden eine Theateraufführung in kurdischer Sprache (unter dem Titel "Qral û Travis" - "Der König und Travis") in der östlichen Stadt Patnos in der Provinz Ağrı. Dabei wurde vom Organisator seitens des Sicherheitsbüros neben dem Plakat und dem Skript des Stücks auch dessen Vorstrafenakte angefordert. Als einzigen Grund gaben die Behörden an, die Aufführung sei "unangemessen". Dies sorgte für Verwunderung, da die Aufführung bereits in anderen Teilen der Türkei aufgeführt worden war (Duvar 23.1.2024). Allerdings wurde die Aufführung selbigen Stückes im Februar 2024 in mehreren Städten ebenfalls verhindert. In Istanbul verbot die Bezirksverwaltung Şişli das Stück ohne Angabe von Gründen. Das Publikum wurde daran gehindert, den Saal zu betreten. Die Schauspieler wurden gewaltsam vom Veranstaltungsort entfernt. Schauspieler und andere, die gegen das Verbot protestierten, wurden festgenommen (KurdLRMRP 2.2025, S. 9). Am 21.2.2024, dem Internationalen Tag der Muttersprachen, untersagten die Behörden ein Konzert von Kemal Kahraman in kurdischer Sprache in der östlichen Stadt Bingöl. Die Behörden gaben keinen Grund dafür an (Bianet 22.2.2024; vgl. Rudaw 21.2.2024). Im Mai 2024 wurden mehrere Konzerte der kurdischen Sängerin Sasa Serap behördlich abgesagt (KurdLRMRP 2.2025, S. 9). Im September wurden drei Mitglieder der kurdischen Musikgruppe Koma Hevra festgenommen, weil sie in Diyarbakır kurdische Lieder während eines Konzertes, das von der Stadtverwaltung Diyarbakır organisiert wurde, am Dağkapı Square sangen. Den Mitgliedern wurde vorgeworfen, aufgrund des Inhalts der von ihnen vorgetragenen kurdischen Lieder "Propaganda für eine Organisation" zu machen. Nach einer Befragung bei der Anti-Terror-Abteilung der Polizeibehörde von Diyarbakır wurden sie noch am selben Tag wieder freigelassen (MLSA 1.10.2024; vgl. KurdLRMRP 2.2025, S. 10). Im Oktober 2024 entschied das türkische Ministerium für Kultur und Tourismus, dass der Film Rojbash nicht für den Vertrieb geeignet sei. In diesem Spielfilm spielte eine Gruppe kurdischer Schauspieler mit. In dem Film wurde hauptsächlich die kurdische Sprache vertont. Die Behörden gaben keinen konkreten Grund für diese Entscheidung an. Der Filmemacher interpretierte die Entscheidung als eine Maßnahme, um den Gebrauch des Kurdischen einzuschränken (MBZ 2.2025a, S. 56; vgl. MLSA 10.10.2024). Am 22.12.2024 gab YEWKURD, ein Verband kurdischer Verleger, bekannt, dass die Behörden in den drei Wochen zuvor 120 Bücher, Zeitschriften, Zeitungen und andere Veröffentlichungen in kurdischer Sprache verboten hatten. Einige Bücher befassten sich mit politisch sensiblen Themen, wie dem Verlauf des syrischen Bürgerkriegs in Afrin, einer Region, in der viele Kurden leben. Andere Bücher taten dies nicht, wurden aber ebenfalls verboten, wie etwa ein Buch über kurdische Mythologie (MBZ 2.2025a, S. 57; vgl. Duvar 22.12.2024).
Die Polizei nahm am 5.3.2025 im Rahmen einer laufenden Untersuchung unter der Leitung der Generalstaatsanwaltschaft Istanbul vier kurdische Buchautoren fest. Die Behörden gaben deren Beteiligung an der Erstellung von "Hînker", einem Lehrbuch in kurdischer Sprache, als Grund für ihre Festnahme an. Das Buch, das erstmals 2008 entwickelt wurde, wird von kurdischen Institutionen, darunter dem Kurdischen Institut Istanbul, in großem Umfang als Bildungsressource genutzt (Duvar 5.3.2025; vgl. C8 6.3.2025, Medya 6.3.2025). Die Staatsanwaltschaft gab an, dass die Autoren aufgrund des Inhalts des Buches, das "organisatorische Ideologie" enthalte, verhaftet wurden. Behauptet wird, dass die PKK das Buch verwendet habe, um ihren Mitgliedern die kurdische Sprache beizubringen (C8 6.3.2025; vgl. Medya 6.3.2025).
In einem politisierten Kontext kann die Verwendung des Kurdischen auch in Gefängnissen zu Schwierigkeiten führen. - Gefangene im Typ-T-Gefängnis von Afyon berichteten im März 2024, dass die Gefängnisverwaltung bei denjenigen eingreift, die kurdische Musik hören. In ihrer Erklärung sagten die Gefangenen, dass die Wärter mit den Worten eingegriffen: "Ihr hört kurdische Lieder, schaltet keine kurdischen Lieder ein". Die Insassen beschwerten sich und bezeichneten die Vorgangsweise als Angriff auf ihre (kurdische) Sprache. Die Wärter sollen erwidert haben: "Hört keine kurdischen Lieder und keine kurdischen Nachrichten". Die Insassen berichteten auch, dass die von ihnen auf Kurdisch verfassten oder erhaltenen Briefe konfisziert wurden, mit der Rechtfertigung, dass es keinen Dolmetscher gebe. Insassen aus dem Hochsicherheitsgefängnis Tekirdağ (F-Typ), die sich an die Menschenrechtsvereinigung (İHD) wandten, gaben an, dass sie daran gehindert werden, Bücher zu bekommen, insbesondere auf Kurdisch, dass sie aufgefordert werden, für einen Übersetzer zu bezahlen, der die Bücher übersetzt, und dass ihnen keine Briefe und Schriften in kurdischer Sprache ausgehändigt werden. Auch Hochsicherheitsgefängnis Kırşehir wurde von den Insassen die Bezahlung für die Übersetzung kurdischer Bücher verlangt (KurdLRMRP 2.2025, S. 21). Ein Gefängnis in der türkischen Provinz Şırnak hat im August 2024 ein Verbot des Gebrauchs der kurdischen Sprache bei Telefongesprächen zwischen Insassen und ihren Familien verhängt (SCF 12.8.2024; vgl. TR724 12.8.2024). Familien wurden gezwungen, während offener Besuche im Erzincan L-Typ-Gefängnis "auf Türkisch zu sprechen" (KurdLRMRP 2.2025, S. 21).
Weitere Beispiele aus den Jahren vor 2024 finden sich in den Länderinformationen zur Türkei vor 2025.
Amtliche Verwendung des Kurdischen und dessen neuerliche Einschränkung
In den letzten Jahren haben die Behörden kurdische Ortsnamen in vielen Dörfern und Stadtvierteln wieder eingeführt, obwohl diese in einigen Fällen inzwischen wieder entfernt wurden (DFAT 16.5.2025, S. 12; vgl. MRG 29.4.2024, S. 19). Die vom Staat ernannten Treuhänder im Südosten änderten weiterhin die ursprünglichen (kurdischen) Straßennamen und Namen von Kulturzentren (EC 30.10.2024; S. 35). Im August 2024 sind in der Provinz Diyarbakır auf Anweisung des Gouverneursamtes zum wiederholten Male kurdischsprachige Verkehrsschilder entfernt worden. Das Innenministerium hatte zuvor eine Richtlinie erlassen, wonach alle Verkehrsschilder den von der türkischen Generaldirektion für Autobahnen (KGM) festgelegten Standards entsprechen müssten. Die KGM hatte die Entfernung der kurdischen Verkehrsschilder auf Anweisung des Ministeriums veranlasst, aber die Gemeinden hatten die Schilder zunächst in Van und anschließend in Diyarbakır, Batman und Mardin wieder aufgestellt. Die Schilder seien nun in Diyarbakır ein zweites Mal entfernt worden. Laut dem Vize-Vorsitzenden der Anwaltskammer von Diyarbakır gebe es keine rechtlichen Hindernisse, die Gemeinden daran hindern, öffentliche Dienstleistungen in verschiedenen Sprachen anzubieten und außerdem gebe es seit 15 Jahren Warnschilder auf Kurdisch in Diyarbakır (BAMF 12.8.2024, S. 7f., vgl. Bianet 31.7.2024a, MLSA 1.8.2024).
2013 wurde per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch, somit vor allem Kurdisch, vor Gericht und in öffentlichen Ämtern und Einrichtungen (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB Ankara 4.2025, S. 41). Trotz einiger Fortschritte stellt das Fehlen von Übersetzungsdiensten für nicht-türkischsprachige Personen im öffentlichen Raum, insbesondere in wichtigen Bereichen wie dem Gesundheits- und Sozialwesen, nach wie vor eine große Herausforderung dar. Darüber hinaus werden trotz des bestehenden Rechtsrahmens keine Übersetzungsdienste vor Gericht angeboten (MRG 29.4.2024, S. 19). 2013 kündigte die türkische Regierung im Rahmen einer Reihe von Reformen ebenfalls an, dass sie das Verbot des kurdischen Alphabets aufheben und kurdische Namen offiziell zulassen würde. Doch ist die Verwendung spezieller kurdischer Buchstaben (X, Q, W, Î, Û, Ê) weiterhin nicht erlaubt, wodurch Kindern nicht der korrekte kurdische Name gegeben werden kann (Duvar 2.2.2022; vgl. MRG 29.4.2024, S. 19). Das Verfassungsgericht sah im diesbezüglichen Verbot durch ein lokales Gericht jedoch keine Verletzung der Rechte der Betroffenen (Duvar 25.4.2022).
Siehe auch das Unterkapitel: Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit / OppositionHaftbedingungen
Verwendung des Begriffes "Kurdistan"
Obwohl der einstige türkische Staatspräsident Abdullah Gül bei seinem historischen Besuch 2009 im Nachbarland Irak zum ersten Mal öffentlich das Wort "Kurdistan" in den Mund nahm, auch wenn er sich auf die irakische autonome Region bezog, galt dies damals als Tabubruch (FAZ 24.3.2009). Laut dem pro-kurdischen Internetportal Bianet lassen sich etliche Beispiele finden, wonach das Wort "Kurdistan" in der Türkei je nach der politischen Atmosphäre gesagt oder nicht gesagt werden kann. Das Wort "Kurdistan" zu sagen, kann eine Beleidigung sein oder auch nicht. Aber am gefährlichsten ist es immer, wenn Kurden "Kurdistan" sagen (Bianet 16.7.2019). - Während auch Erdoğan, damals Regierungschef, den Begriff anlässlich des Besuchs des Präsidenten der Kurdischen Region im Nordirak, Massoud Barzani, in Diyarbakır im Oktober 2013 verwendete (DW 19.11.2013), kam es kaum einen Monat später zu Spannungen im türkischen Parlament, weil in einem Bericht der pro-kurdischen BDP [Vorgängerpartei der HDP] zum Budgetentwurf der Regierung der Begriff "Kurdistan" zur Beschreibung der kurdischen Siedlungsgebiete in Ost- und Südostanatolien auftauchte. Die anderen Parteien im Parlament wandten sich gegen die Benutzung des Wortes, das bei türkischen Nationalisten als Ausdruck eines kurdischen Separatismus gilt. Während einer Debatte über den BDP-Bericht gingen Abgeordnete von BDP und ultra-nationalistischen MHP aufeinander los (Standard 10.12.2013). - Nach der parlamentarischen Geschäftsordnung können Abgeordnete wegen der Verwendung des Wortes "Kurdistan" oder anderer sensibler Begriffe im Plenum des Parlaments verwarnt oder vorübergehend aus dem Parlament ausgeschlossen werden. Die Behörden wendeten dieses Verfahren nicht einheitlich an (USDOS 22.4.2024, S. 28).
2019 sagte Binali Yıldırım, der AKP-Kandidat für das Amt des Bürgermeisters von İstanbul und ehemaliger Ministerpräsident, auf einer Kundgebung vor den Wahlen "Kurdistan", und als er darauf angesprochen wurde, antwortete er, dass das Wort Kurdistan jenes sei, welches Mustafa Kemal Atatürk für die Vertreter verwendet hatte, die während des Unabhängigkeitskampfes vor der Gründung der Republik aus dieser Region kamen. Für die "Vereinigung der Jugendbewegung Kurdistans" in Istanbul hingegen erklärte das Innenministerium, dass die Verwendung des Wortes "Kurdistan" ein Verstoß gegen Artikel 14 der Verfassung und Artikel 302 des türkischen Strafgesetzbuches sei. Es dürfe nicht im Namen einer Vereinigung verwendet werden. Es folgte eine Klage gegen den Verein (Bianet 16.7.2019). Und im Oktober 2021 verhaftete die Polizei in Siirt vorübergehend einen kurdischen Geschäftsmann, nachdem er während eines Streits mit einem nationalistischen Politiker seine Stadt als Teil von "Kurdistan" bezeichnet hatte. Ihm wurde vorgeworfen, Propaganda für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu machen (Rudaw 29.10.2021).
Die Auseinandersetzung hinsichtlich der Verwendung des Begriffes "Kurdistan" hat mittlerweile selbst den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erreicht. - Dieser entschied am 13.6.2023, dass die türkischen Behörden die Rechte des ehemaligen Abgeordneten der Demokratischen Volkspartei (HDP), Osman Baydemir, verletzt hatten, indem sie gegen ihn eine Strafe verhängten, weil er 2017 während einer Rede im Parlament den Begriff "Kurdistan" verwendet hatte. In seinem Urteil vom 13.6.2023 stellte der EGMR fest, dass Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) über "Meinungsfreiheit" verletzt worden sei. Der EGMR verurteilte die Türkei zur Zahlung einer Entschädigung von fast 17.000 Euro an Baydemir (Duvar 13.6.2023; vgl. ECHR 13.6.2023).
Die Thematik bleibt allerdings aktuell. - So entschied das Verfassungsgericht zugunsten von Abdurrahim Kılıç, der zuvor wegen des Tragens eines T-Shirts mit dem Wort "Kurdistan" und dem Emblem der Mesopotamischen Sonne verurteilt worden war. Im Jahr 2016 verurteilte ihn das schwere Strafgericht Midyat wegen "terroristischer Propaganda" zu einer Geldstrafe von 7.300 Lira [Anm.: zum damaligen Kurs um die 2.200 Euro]. Infolge der Bestätigung des Urteils durch den Kassationsgerichtshof 2021 reichte Kılıç eine Individualbeschwerde beim Verfassungsgericht ein. Am 12.6.2024 entschied das Verfassungsgericht, dass Kılıçs Recht auf freie Meinungsäußerung, das durch Artikel 26 der Verfassung geschützt ist, verletzt worden war. In seinem ausführlichen Urteil kritisierte das Gericht die mangelnde Begründung der Vorinstanz für die Verurteilung von Kılıç und stellte fest, dass in dem Urteil weder die Bedeutung der Symbole auf dem T-Shirt noch ihre angebliche Verbindung zu einer terroristischen Organisation erläutert wurde. Darüber hinaus wies das Gericht darauf hin, dass nicht bewertet wurde, inwiefern das Tragen des T-Shirts zu Gewalt aufrief oder die öffentliche Ordnung bedrohte (Bianet 31.7.2024b; vgl. IFE 2.8.2024, Duvar 30.7.2024).
Relevante Bevölkerungsgruppen
Frauen
Letzte Änderung 2025-08-06 13:32
Allgemeiner Rechtsrahmen, Rechtsdefizite und die generelle Lage der Frauen
Die türkische Gesetzgebung verankert die Gleichheit von Mann und Frau in Art. 10 der Verfassung (ÖB Ankara 4.2025, S. 49; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 65f., DFAT 16.5.2025, S. 28). Frauen sind in fast allen Bereichen des öffentlichen Lebens vertreten. Dennoch bestehen nach wie vor erhebliche soziale, kulturelle und religiöse Hindernisse für die Gleichstellung der Geschlechter, und Männer dominieren in der Regel die Machtpositionen (DFAT 16.5.2025, S. 28; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 65f.). Frauen sehen sich de facto mit Hindernissen für die politische Teilhabe konfrontiert und sind in der Politik und in Führungspositionen der Regierung weiterhin unterrepräsentiert. Nach den Wahlen 2023 hielten Frauen etwa 20 % der Sitze in der Großen Nationalversammlung inne, ein leichter Anstieg gegenüber den Wahlen 2018 (FH 26.2.2025, B4; vgl. DFAT 16.5.2025, S. 28). Frauen leiden Berichten zufolge unter geschlechtsspezifischer Diskriminierung und Gewalt, und trotz eines relativ fortschrittlichen rechtlichen Umfelds und der historischen Anerkennung der Gleichstellung der Geschlechter war der staatliche Schutz für Frauen nicht immer verfügbar oder wirksam (DFAT 16.5.2025, S. 28; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 65f.).
Gewalt gegen Frauen sowie sexuelle Übergriffe, inklusive Vergewaltigung - auch in der Ehe - sind unter Strafe gestellt (ÖB Ankara 4.2025, S. 49), und zwar mit zwei bis zehn Jahren Freiheitsentzug bei Verurteilung wegen versuchten sexuellen Missbrauchs und mindestens zwölf Jahren bei Verurteilung wegen Vergewaltigung oder sexueller Nötigung (USDOS 22.4.2024, S. 63). Allerdings ist Gewalt gegen Frauen, inklusive Ehrenmorde, Zwangsehen sowie häusliche Gewalt, nach wie vor weit verbreitet, da es keine wirksamen und abschreckenden Strafen gibt, die Gesetze nur unzureichend umgesetzt werden und die Qualität der verfügbaren Unterstützungsdienste gering ist. Auch die Zahl der Femizide ist nach wie vor hoch. Tief verwurzelte kulturelle Normen und fortbestehende Geschlechterstereotypen behindern weiterhin Fortschritte bei der Gleichstellung der Geschlechter (EC 30.10.2024, S. 34; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 49, USDOS 22.4.2024, S. 63).
Zwar wurden in den letzten 15 Jahren zahlreiche neue Gesetze - insbesondere 2012 das Gesetz Nr. 6284 über den Schutz der Familie und die Verhütung von Gewalt - und politische Maßnahmen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen verabschiedet, inklusive der Bekämpfung häuslicher Gewalt, doch gibt es in fast allen Bereichen der Sozialpolitik, die mit Frauenrechten zu tun haben - von sexueller Gewalt über häusliche Gewalt bis hin zu Menschenhandel - erhebliche Umsetzungslücken, die weiterhin eine große Herausforderung darstellen. So werden im Strafgesetzbuch nicht alle Arten von Gewalt gegen Frauen als Straftaten definiert. Zwangsheirat oder psychische Gewalt werden nicht ausdrücklich unter Strafe gestellt. Besorgniserregend ist laut Sonderberichterstatterin über Gewalt gegen Frauen und Mädchen der Vereinten Nationen auch die Unvereinbarkeit und mangelnde Harmonisierung der nationalen Gesetze der Türkei mit ihren internationalen Menschenrechtsverpflichtungen (OHCHR 27.7.2022a, S. 4). Das UN-Komitee für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau (CEDAW-Komitee) begrüßte 2022 die bedeutenden Rechtsreformen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, und dass das Gesetz Nr. 6284 aus dem Jahr 2012 über den Schutz der Familie und die Verhütung von Gewalt gegen Frauen einen wichtigen Rahmen für die Gewaltprävention und den Schutz der Opfer bildet. CEDAW stellte jedoch mit Besorgnis fest, dass sowohl der Geltungsbereich der bestehenden Rechtsvorschriften als auch ihre Umsetzung noch Lücken aufweisen (UN-CEDAW 12.7.2022, S. 7f.) bzw. die Umsetzung und Durchsetzung der bestehenden Rechtsmittel, wie sie im Schutzgesetz vorgesehen sind, weiterhin zu wünschen übrig lässt (MBZ 2.2025a, S. 79). Der Europäische Ausschuss für soziale Rechte (European Committee of Social Rights) des Europarates stellte in seinem Länderbericht 2023 zur Türkei fest, dass die Situation in der Türkei nicht mit Artikel 16 der Charta vereinbar ist, und zwar weil nicht nachgewiesen wurde, dass Frauen in der Gesetzgebung und in der Praxis ein angemessener Schutz vor häuslicher Gewalt gewährleistet wird (CoE-ECSR 3.2024, S. 26).
Der UN-Ausschuss gegen Folter (CAT) zeigte sich im August 2024 hinsichtlich der Vorwürfe besorgt, dass präventive und schützende einstweilige behördliche Verfügungen nicht für einen ausreichenden Zeitraum gewährt werden, dass Beschwerden über geschlechtsspezifische und häusliche Gewalt häufig abgewiesen werden, insbesondere in ländlichen Gebieten und wenn es um LGBT-Personen geht, und dass die Bereitstellung von Unterkünften diskriminierend ist für ältere Frauen und Frauen mit jugendlichen Söhnen oder Kindern mit Behinderungen (CAT 14.8.2024, S. 9/32). Entsprechend den Bedenken des Ausschusses, so die türkische Frauenrechtsorganisation Mor Çatı, sind die Verurteilungsraten bei Gewalt gegen Frauen niedrig, und es gibt große Probleme bei der Ermittlung von Fällen von Gewalt gegen Frauen und der Strafverfolgung der Täter (Mor Çatı 17.7.2024).
Der UN-Menschenrechtsausschuss zeigte sich im November 2024 besorgt über die sehr hohe Zahl von Femiziden und anderen Tötungen im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt und sogenannten Ehrenverbrechen sowie über das Fehlen wirksamer Präventions- und Schutzmaßnahmen, effektiver Ermittlungen und strafrechtlicher Verfolgung der Täter. Der Ausschuss war besorgt ob der Berichte über die Normalisierung von Gewalt gegen Frauen und glaubwürdige Berichte über Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, gegen Frauen in Haftanstalten und über den fehlenden Zugang zu medizinischer Versorgung von Frauen, die verdächtigt werden, mit der Gülen-Bewegung verbunden zu sein. Der Ausschuss war weiters besorgt darüber, dass Frauen, die Opfer jeglicher Art von Gewalt geworden sind, angesichts der Passivität der Behörden und des Risikos der Stigmatisierung und Reviktimisierung (UNHRCOM 28.11.2024, S. 4).
Zuletzt brachte das Europäische Parlament "seine tiefe Besorgnis über die Rückschritte bei den Frauenrechten, die geschlechtsspezifische Gewalt und die Zunahme von Femiziden in der Türkei im Jahr 2024 zum Ausdruck, die den höchsten Stand seit 2010 [...] erreichte [und] fordert[e] die türkischen staatlichen Stellen nachdrücklich auf, den Rechtsrahmen und seine Umsetzung zu verbessern, auch durch die uneingeschränkte Anwendung des Schutzgesetzes Nr. 6284, damit wirksam gegen alle Formen von Gewalt gegen Frauen und die Praxis der sogenannten "Ehrenmorde" vorgegangen wird und der anhaltenden Politik der Straffreiheit ein Ende gesetzt wird, indem die Täter zur Rechenschaft gezogen werden" (EP 7.5.2025, Pt. 27).
Austritt aus der "Istanbul-Konvention" - politische Gründe
Der Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention trat mit 1.7.2021 in Kraft (ÖB Ankara 4.2025, S. 49; vgl. AP 19.7.2022). Das Gesetz zum Schutz der Familie und zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen (Gesetz Nr. 6284) aus dem Jahr 2012 übernahm allerdings viele Aspekte der Istanbul-Konvention in das innerstaatliche Recht und bleibt trotz des Austritts der Türkei aus der Konvention in Kraft. Darüber hinaus ist die Türkei an andere internationale Menschenrechtsvorschriften gebunden, die sie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen verpflichten. Zu nennen sind hier insbesondere das UN-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) (HRW 5.2022, S. 2, 5). Die Bewertung der Auswirkungen des Austritts der Türkei aus der Istanbul-Konvention erwies sich als recht schwierig. Einer Quelle des niederländischen Außenministeriums zufolge wirkte sich der Austritt der Türkei aus diesem Vertrag vor allem auf der politischen Ebene aus. Nach dem Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention legten die türkischen Behörden ihren eigenen Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen vor. Der Aktionsplan enthielt weder einen Hinweis auf die "Gleichstellung der Geschlechter" noch waren Frauenrechtsorganisationen bei seiner Ausarbeitung konsultiert worden (MBZ 31.8.2023, S. 59).
Seinerzeit wurde die Istanbul-Konvention als erste internationale völkerrechtsverbindliche Vereinbarung vom damaligen Ministerpräsidenten Erdoğan als einem der ersten 2011 unterschrieben und im Parlament 2012 ratifiziert. Seit Jahren wurde insbesondere von den Islamisten innerhalb und außerhalb der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) die Kritik an der Konvention immer lauter, nämlich dahin gehend, dass diese die Ordnung in der Familie untergrabe, die Scheidungsrate steigere und überhaupt hierdurch die Frau dem Manne den Gehorsam verweigere. Außerdem sahen islamisch-konservative Kreise in der Konvention auch einen Türöffner für die von ihnen verhasste "LGBTIQ-Kultur" und überhaupt für das Vordringen vermeintlicher westlicher Dekadenz (Standard 20.3.2021; vgl. AP 20.3.2021, NZZ 21.3.2021).
Kinder-, Früh- und Zwangsehen
Kinder-, Früh- und Zwangsehen sind in den letzten Jahren zurückgegangen, kommen aber immer noch vor. Lokalen Quellen des australischen Außenministeriums zufolge werden in streng religiösen Gemeinschaften, darunter auch in städtischen Gebieten, manchmal Ehen mit Mädchen im Alter von nur zehn Jahren geschlossen, die erst gemeldet werden, wenn das Mädchen zur Entbindung ins Krankenhaus kommt. Auch in einigen syrischen Flüchtlingsgemeinschaften sollen Kinderheiraten weit verbreitet sein (DFAT 16.5.2025, S. 29).
Während ihrer langjährigen Regierungsherrschaft hat die konservative AK-Partei eine starke Agenda der Familienwerte vorangetrieben: Frauen sollten heiraten bzw. sich nicht scheiden lassen und drei Kinder bekommen, so z. B. Präsident Erdoğan (FH 26.2.2025, G4 vgl. NYRB 20.2.2019). Empfängnisverhütung ist nach wie vor legal, aber der Zugang dazu wird immer schwieriger (FH 26.2.2025, G4).
Gesetzliche Beschränkungen gibt es für das Recht der Frauen auf Wiederverheiratung, das eine 300-tägige Wartezeit nach der Auflösung einer Ehe vorschreibt (mit der Geburt eines Kindes endet auch die Wartezeit) (USDOS 22.4.2024, S. 65f.).
Menschenhandel
Laut der Expertengruppe des Europarates gegen Menschenhandel (GRETA) waren im Jahr 2023 von 1.466 Opfern des Menschenhandels 82 % weiblich. Die vorherrschende Form der Ausbeutung [ohne Geschlechtsdifferenzierung bei den Zahlen] ist nach wie vor die sexuelle Ausbeutung (758 Opfer, d. h. 52 %), gefolgt von der Ausbeutung der Arbeitskraft (441 Opfer, d. h. 30 %) und der Zwangsheirat (132 Opfer, d. h. 9 %). Nach Angaben von Vertretern von NGOs gegenüber GRETA sind die Frauenschutzhäuser für Opfer von Menschenhandel unzureichend für die Unterbringung von Opfern des Menschenhandels, da sie deren Bedürfnissen nicht gerecht werden und ihr Personal keine oder nur sehr begrenzte Kenntnisse über Menschenhandel hat. Die staatliche Institution des Nationale Berichterstatters (HREI) hat dem Ministerium für Familie und Soziales empfohlen, eine spezielle Schutzeinrichtung für Opfer von Menschenhandel zu öffnen (CoE - GRETA 22.10.2024, S. 6, 36; vgl. TİHEK/HREI 3.2023, S. 36).
Gesetzliche Schutzmaßnahmen und deren praktische Umsetzung/ Verschärfungen des Strafrechts bezüglich Gewalt gegen Frauen
Das Gesetz verpflichtet die Polizei und die lokalen Behörden, Überlebenden von Gewalt oder von Gewalt bedrohten Personen verschiedene Schutz- und Unterstützungsleistungen zu gewähren. Es schreibt auch staatliche Dienstleistungen wie Unterkünfte und vorübergehende finanzielle Unterstützung für Überlebende vor und sieht vor, dass Familiengerichte Sanktionen gegen die Täter verhängen können (USDOS 22.4.2024, S. 63). Opfer häuslicher Gewalt können bei der Polizei oder beim Staatsanwalt am Gericht eine vorbeugende Verwarnung beantragen, die eine Reihe von Maßnahmen umfassen kann, die darauf abzielen, Täter häuslicher Gewalt zu zwingen, alle Formen der Belästigung und des Missbrauchs einzustellen, einschließlich des Verbots, sich dem Opfer zu nähern und es zu kontaktieren. Die Opfer haben auch das Recht, Schutzanordnungen zu beantragen, um verschiedene Formen des physischen Schutzes zu erwirken, einschließlich des sofortigen Zugangs zu einem Frauenhaus oder einer kurzfristigen Unterkunft, wenn kein Frauenhaus in unmittelbarer Nähe zur Verfügung steht. Des Weiteren besteht die Möglichkeit, auf Verlangen Polizeischutz in Anspruch zu nehmen, und in einigen Fällen können Frauen ihre Identität und ihren Aufenthaltsort anonymisieren lassen. Die Gerichte stellen eine einstweilige Verfügung für eine bestimmte Dauer von bis zu sechs Monaten. Das Opfer kann deren Verlängerung beantragen. Täter können mit kurzen Haftstrafen (zorlama hapsi) belegt oder zum Tragen einer elektronischen Fußfessel verpflichtet werden, wenn sie gegen die Bedingungen der vorbeugenden Abmahnung verstoßen (HRW 5.2022, S. 2).
Laut Generaldirektion für die Stellung der Frau des türkischen Ministeriums für Familie, Arbeit und soziale Dienste gibt es verschiedene öffentliche Einrichtungen, die dem Schutze der Frauen dienen. Exemplarisch, nebst den Einrichtungen der Polizei, Gendarmarie, den Hospitälern usw., sind insbesondere folgende zu nennen: Die Zentren für Gewaltprävention und -überwachung (Violence Prevention and Monitoring Centres - VPMCs/ Şiddet Önleme ve İzleme Merkezleri - ŞÖNİM) bieten im Rahmen des Gesetzes Nr. 6284 über den Schutz der Familie und die Verhütung von Gewalt gegen Frauen psychosoziale, rechtliche, gesundheitliche und wirtschaftliche Unterstützung, Bildungs- und Berufsberatung sowie Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen für Gewaltopfer an. Im Rahmen des Gesetzes Nr. 6284 erbringen die VPMC/ŞÖNİM derzeit Dienstleistungen in 81 Provinzen. So nicht vorhanden, übernehmen andere Einrichtungen, wie beispielsweise die Provinzdirektionen des Ministeriums für Familie, Arbeit und Soziales, die Rolle der ŞÖNİM. In den Großstädten wurden Ermittlungsbüros für häusliche Gewalt (Juli 2023 gab es 225 solcher Büros) eingerichtet, die den Staatsanwaltschaften unterstellt sind. Zu den Aufgaben dieser Büros gehören die Überwachung der Ermittlungen bei Verbrechen gegen Frauen und der Abschluss dieser Ermittlungen, die Durchführung der Aufgaben und Verfahren nach dem Gesetz Nr. 6284 sowie die Kontrolle und Überwachung der ordnungsgemäßen Umsetzung der Präventions- und Schutzmaßnahmen. Gewaltopfer können sich an das Familiengericht wenden, indem sie einen Antrag auf Inanspruchnahme des Gesetzes einreichen. Mit dem Beschluss des Rates der Richter und Staatsanwälte vom 27.12.2019 wurden aus den Familiengerichten spezialisierte Gerichte gemacht, um die Effizienz und Wirksamkeit der Gerichte zu gewährleisten und dringende Entscheidungen zu treffen. Mit Stand Juli 2023 gab es 406 solcher Gerichte. Schlussendlich bieten die 83 Frauenberatungsstellen der Anwaltskammern kostenlose Beratungsdienste für diejenigen an, die nicht genügend Informationen haben, wo und wann sie Rechtsmittel einlegen können. In den Beratungszentren dieser Organisationen erhalten Frauen rechtliche und psychologische Beratung und können bei Bedarf in Schutzhäusern untergebracht werden (MFLSS/GDSW 7.2023, S. 99-104).
Die Frauenrechtsorganisation Mor Çatı Women’s Shelter Foundation kritisiert allerdings die Wirksamkeit der staatlichen ŞÖNİM. - In den zwölf Jahren seit der Einrichtung von ŞÖNİM gäbe es immer noch Schwierigkeiten bei der Funktionsweise der Unterstützungsmechanismen. Eines der Hauptprobleme bestünde darin, dass die Strafverfolgungsbehörden und die Staatsanwaltschaft als erste Anlaufstelle definiert sind, auch im Falle der Zuweisung von Notunterkünften, und die ŞÖNİM erst an zweiter Stelle stehen. Sie seien nicht als Institutionen definiert, die ganzheitliche und spezialisierte Unterstützung bietet. Frauen würden sich auch nicht an ŞÖNİM wenden, weil sie nicht von deren Existenz wüsten. Andere häufige Probleme, mit denen Frauen konfrontiert seien, wenn sie sich an ŞÖNİM wenden, seien falsche oder unvollständige Informationen. Überdies würden ŞÖNİM-Mitarbeiter versuchen die Konflikte zu schlichten, und zudem würden diese eine anklagende und wertende Haltung gegenüber Frauen einnehmen (Mor Çatı 17.7.2024).
Die "Kadın Dayanışma Vakfı - Foundation for Women’s Solidarity" führt auf ihrer Webseite alle jene staatlichen Stellen an, an die sich von Gewalt bedrohte oder betroffene Frauen wenden können (Siehe hierzu für Details die englischsprachige Webseite: https://www.kadindayanismavakfi.org.tr/en/what-to-do-when-exposed-to-violence/). Hierbei wird beschrieben, was, je nach Institution, zu tun ist. Die angeführten Einrichtungen sind: Polizei-/Gendarmerieposten, Polizei-Hotline 155, Gendarmerie-Hotline 156, Sozialhilfe-Hotline 183, die Staatsanwaltschaft, das Familiengericht, die Zentren für Gewaltprävention und -überwachung (ŞÖNİM), die Provinzialdirektionen für Familie, Arbeit und Sozialdienste, Frauenorganisationen, Frauenhilfsstellen der Stadtverwaltungen, Krankenhäuser, Zentren für soziale Dienste, Gouverneursbüros der Provinzen (KDV/FWS o.D.; vgl. MFLSS/GDSW 7.2023, S. 99-104).
Praxis: Frauen zögern aus verschiedenen Gründen, eine Anzeige zu erstatten, darunter ihr Misstrauen gegenüber dem System, ihre Angst, dass der Täter mehr Schaden anrichten könnte, wenn eine Anzeige erstattet wird, ihre Befürchtung, dass sich ein Scheidungsverfahren dadurch in die Länge zieht oder der Täter keine Alimente zahlt, sowie der Einfluss der Familiendynamik. Davon abgesehen sehen sich Frauen auch anderen Hindernissen gegenüber, wenn sie Maßnahmen ergreifen wollen, darunter der Mangel an Informationen über das Beschwerdeverfahren, das sehr langwierige Gerichtsverfahren, welches auf die Beschwerde folgt, unzureichende Dienste zur Verhinderung von Gewalt während der Ermittlungen/des Gerichtsverfahrens und die Herausforderung, die finanzielle Belastung durch Gerichtsverfahren zu tragen. Hinzukommt, dass sowohl Ermittlungsverfahren als auch Gerichtsverfahren in den meisten Fällen nicht innerhalb einer angemessenen Frist durchgeführt werden. - Nach Abschluss des Verfahrens vor dem örtlichen Gericht, das ein bis zwei Jahre dauern kann, kann es durchschnittlich zwei bis drei Jahre dauern, bis die Berufungsurteile gefällt werden. Vor dem Kassationsgericht kann es weitere zwei bis drei Jahre dauern (Mor Çatı 17.7.2024).
Mit dem vierten Justizreformpaket vom Juli 2021 wurden die Verbrechen der vorsätzlichen Tötung, vorsätzlichen Körperverletzung, Verfolgung und Freiheitsentziehung einer ehemaligen Ehepartnerin/ eines ehemaligen Ehepartners in die Liste der sog. "qualifizierten Verbrechen" aufgenommen, was bisher nur während aufrechter Ehe galt. Die Strafen wurden angehoben. Im Mai 2022 trat ein Justiz-Sofortpaket zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen in Kraft. Trotz positiver Änderungen, wie der Anhebung der Mindesthöhe von Freiheitsstrafen für einige Delikte, halten Experten die neuen Regelungen für wenig wirkungsvoll, vor allem aufgrund der nach wie vor vergleichsweise niedrigen Höchststrafen (ÖB Ankara 4.2025, S. 49f.). Sie kritisierten auch die Beschränkung auf das formale Kriterium einer (früheren) Ehe unter Nichtbeachtung anderer partnerschaftlicher Verbindungen (ÖB Ankara 30.11.2022, S. 13f.). So kritisierte Reem Alsalem, UN-Sonderberichterstatterin über Gewalt gegen Frauen und Mädchen, dass die Änderung der Strafprozessordnung jedoch vorsieht, dass neben einem "dringenden strafrechtlichen Verdacht" auch "konkrete Beweise" für die Verhängung einer Untersuchungshaft während des Prozesses bei Straftaten, einschließlich sexueller Übergriffe und Missbrauch, verlangt werden. Laut Alsalem zugetragenen Informationen würden Männer, die Gewalt gegen Frauen ausüben, sich weiterhin erfolgreich auf "Gewohnheit" als mildernden Umstand berufen, um ihre Strafe gemäß Artikel 29 des Strafgesetzbuches zu verringern, was gegen internationale Menschenrechtsvorschriften verstößt. Anlass zur Sorge gäbe außerdem der eingeschränkte Umfang der Prozesskostenhilfe, der dazu führt, dass Frauen, die den Mindestlohn verdienen, keinen Anspruch auf Prozesskostenhilfe haben, das umständliche Verfahren zum Nachweis der Anspruchsberechtigung und die Sprachbarrieren, mit denen sich rechtsuchende Frauen konfrontiert sehen, insbesondere Frauen, die ethnischen Minderheiten angehören, einschließlich türkisch-kurdischer Frauen, und Frauen, die Flüchtlinge oder Migranten sind oder unter vorübergehendem Schutz stehen. Auch geschlechtsspezifische Stereotype und der Mangel an Richterinnen sind Alsalem zufolge problematisch (OHCHR 27.7.2022a, S. 6).
Am 27.5.2022 wurde das Gesetz Nr. 7406, welches u. a. Änderungen des türkischen Strafgesetzbuches und der Strafprozessordnung (StPO) vornimmt, im Amtsblatt veröffentlicht. Dieses Änderungsgesetz macht die vorsätzliche Tötung einer Person zu einem erschwerenden Delikt, wenn das Opfer eine Frau ist. Zuvor galt unter anderem die Tötung einer "Frau, von der man weiß, dass sie schwanger ist", als erschwerender Umstand. Durch die Gesetzesänderung wird die vorsätzliche Tötung einer Frau nun mit einer verschärften lebenslangen Freiheitsstrafe geahndet. Das Änderungsgesetz führt auch erhöhte Mindeststrafen für die Straftatbestände der vorsätzlichen Körperverletzung (Art. 86 StGB), der Peinigung (vorsätzliche Zufügung von Schmerzen und Leiden an einer Person, die mit der Menschenwürde unvereinbar ist, Art. 96), Folter (folterähnliche Handlungen von Amtsträgern und ihren Gehilfen, Art. 94) und die Drohung, das Leben oder die körperliche oder sexuelle Unversehrtheit zu verletzen (Art. 106), wenn das Opfer eine Frau ist. Mit den Änderungen wird auch ein neuer Straftatbestand eingeführt, der die Verursachung einer schwerwiegenden Beunruhigung [disquiet] oder der Angst einer Person hinsichtlich ihrer eigenen Sicherheit oder die ihrer Angehörigen durch die beharrliche körperliche Verfolgung der Person oder den beharrlichen Versuch, mit der Person über Kommunikationsmedien, informationstechnische Systeme oder eine dritte Person Kontakt aufzunehmen unter Strafe stellt. Die Verfolgung der Straftat setzt die Anzeige des Opfers voraus, wobei die Straftat mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zwei Jahren geahndet wird. Die Strafe wird auf ein bis drei Jahre Gefängnis erhöht, wenn es u. a. ein geschiedener oder getrennt lebender Ehepartner ist. Schließlich wurden Änderungen an Artikel 62 der Strafprozessordnung (StPO) vorgenommen, indem die Gründe für eine Strafmilderung nach Ermessen des Gerichts festgelegt sind. Die Änderungen stellen klar, dass "das Verhalten des Täters nach der Begehung der Straftat und während des Prozesses" Reue zeigen muss, damit es als Grund für eine Strafmilderung gilt. Die Gründe sind nun dezidiert aufgelistet, etwa der Hintergrund des Straftäters, seine sozialen Beziehungen und das reumütige Verhalten des Straftäters nach der Begehung der Straftat. Neu wird eine Ausnahme hinzugefügt, die besagt, dass vorgeschobene Handlungen eines Straftäters, die darauf abzielen, das Gericht zu beeinflussen, nicht als Grund für eine Strafmilderung angesehen werden können. Eine Reihe von Frauengruppen und Juristen haben die neuen Änderungen kritisiert, weil sie sich auf die Verschärfung der Strafen konzentrieren und nicht auf Maßnahmen zur Prävention und effizienten Untersuchung und Verfolgung von Gewaltdelikten gegen Frauen sowie auf die Unterstützung der Opfer. Die Kriminalisierung von Stalking scheint von diesen positiver aufgenommen worden zu sein, obwohl sie kritisierten, dass die Verfolgung der Straftat von der Anzeige des Opfers abhängig gemacht wird (LoC 20.6.2022).
Laut Informationen des niederländischen Außenministeriums unter Berufung auf den "Schattenbericht" der türkischen Frauenorganisation "Mor Çatı Women’s Shelter Foundation" an den UN-Ausschuss gegen Folter (CAT) vom Juli 2024 gab es mehrere Fälle von Frauen, die Gewalt bei der Polizei oder der Staatsanwaltschaft angezeigt hatten, aber nicht ernst genommen wurden. Sie wurden davon abgehalten, Anzeige zu erstatten, oder an Frauenorganisationen verwiesen, obwohl letztere kein Mandat hatten gegen Gewalt vorzugehen. Es kam auch vor, dass Polizeibeamte oder Staatsanwälte Frauen in sexistischer oder frauenfeindlicher Weise behandelten. Diese Beamten und Staatsanwälte wurden nicht zur Rechenschaft gezogen. Mor Çatı berichtete auch von Situationen, in denen aggressive Männer wiederholt ungestraft gegen ein Kontaktverbot verstießen. Beobachtet wurde zudem, dass die Dauer einer einstweiligen Verfügung kurz war und von 24 Stunden bis zu sechs Monaten reichte. Infolgedessen mussten die Frauen immer wieder neue Anträge auf Erlass einer einstweiligen Verfügung stellen. Mor Çatı berichtete, dass die Behörden in einigen Fällen auch angemessen intervenierten. Eine vertrauliche Quelle des niederländischen Außenministeriums wies darauf hin, dass die Polizei ihre Vorgehensweise bei Anzeigen von Frauen nicht standardisiert habe. Infolgedessen handeln die Polizeibeamten nach eigenem Ermessen, was dazu führe, dass die Anzeigen unterschiedlich behandelt werden. Die Polizei sei eher geneigt, Frauen zu helfen, die Spuren von körperlicher Gewalt trugen oder sexuelle Gewalt erlitten hatten. Im Gegensatz dazu werden Opfer "unsichtbarer" Gewalt, wie z. B. psychische Gewalt und finanzieller Missbrauch, weniger ernst genommen (MBZ 2.2025a, S. 79). Zwar erlassen Polizei und Gerichte Präventiv- und Schutzanordnungen. Deren Nichtbeachtung jedoch hinterlässt gefährliche Schutzlücken für Frauen (HRW 5.2022, S. 3). In vielen Fällen konnten sich Männer, gegen die ein Kontaktverbot verhängt worden war, der Wohnadresse der betroffenen Frau nähern, ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen. Es gab auch Verzögerungen bei der Verhängung von Kontaktverboten, oder diesbezügliche Aufforderungen dazu wurden einfach nicht befolgt (MBZ 2.3.2022, S. 53; vgl. HRW 5.2022, S. 3). Nicht nur stellen die Gerichte häufig Verwarnungen für viel zu kurze Zeiträume aus, sondern die Behörden verabsäumen es, wirksame Risikobewertungen vorzunehmen oder die Wirksamkeit der Anordnungen zu überwachen, sodass Überlebende häuslicher Gewalt der Gefahr fortgesetzter - und manchmal tödlicher - Gewalt ausgesetzt sind. Bei denjenigen, die strafrechtlich verfolgt und verurteilt wurden, kommt dies oft zu spät und die Strafen sind zu gering, um eine wirksame Abschreckung zu bewirken. In den schwerwiegendsten Fällen wurden Frauen ermordet, obwohl den Behörden die Gefahr, der sie ausgesetzt waren, bekannt war und den Tätern förmliche Vorbeugeanordnungen zugestellt worden waren (HRW 5.2022, S. 3).
Die unzureichende Datenerhebung verhindert, dass die Behörden und die Öffentlichkeit einen soliden Überblick über das Ausmaß der häuslichen Gewalt in der Türkei oder die Lücken in der Umsetzung des Schutzes erhalten, die zu den anhaltenden Risiken für die Opfer beitragen (HRW 5.2022, S. 4; vgl. EC 30.10.2024, S. 34).
Laut (damaligen) Innenminister Süleyman Soylu wurde seit ihrer Einführung 2018 die staatliche mobile Anwendung KADES, die Frauen eine Hotline zur Meldung häuslicher Gewalt bietet, bis April 2023 von 5,2 Millionen Frauen heruntergeladen. In der Praxis hat die KADES-App die Erwartungen nicht erfüllt. Um sich zu vergewissern, ruft die Polizei oft vor dem Einsatz die betreffende Frau an, nachfragend, ob sie tatsächlich in Gefahr ist. Ein weiteres Problem ist, dass Frauen in gefährlichen Situationen nicht immer in der Lage sind, ans Telefon zu gehen. Darüber hinaus werden die beteiligten Männer aggressiver, wenn sie erfahren, dass die Frauen die Polizei gerufen hat. Beamte haben, wenn sie tatsächlich auf Notrufe reagierten, in der Regel versucht zwischen den Frauen und ihren Peinigern zu vermitteln, um eine Versöhnung herbeizuführen (MBZ 31.8.2023, S. 61; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 64).
Die Gerichte urteilen oft milde über die Täter sexueller Gewalt auch im Falle von Ehrenmorden und die Strafen werden oft herabgesetzt, wenn der Angeklagte während des Prozesses "gutes Benehmen" an den Tag legt bzw. im Falle eines Ehrenmordes "provoziert" wurde. Beispielsweise verurteilte ein Gericht im Februar 2025 einen Mann, der seine Schwiegertochter getötet hatte, zu einer reduzierten Strafe mit der Begründung, er sei "provoziert" worden (DFAT 16.5.2025, S. 29f.; vgl. SCF 20.5.2025).
Frauenrechtsaktivistinnen in der Türkei haben erklärt, dass Täter, die geschlechtsspezifische Gewalt, Femizid und sexuellen Missbrauch begehen, dank reduzierter Haftstrafen straffrei ausgehen. Nach Angaben der Aktivistinnen wurden in den ersten neun Monaten des Jahres 2023 mindestens 17 Täter zu reduzierten Haftstrafen verurteilt. Einige dieser Fälle betrafen den sexuellen Missbrauch von minderjährigen Mädchen. Canan Güllü, Vorsitzende der Föderation der türkischen Frauenverbände, sagte, dass solche Strafmilderungen zu einem Anstieg der Fälle von körperlichem und sexuellem Missbrauch geführt haben. Sie kritisierte zudem, dass Richter und Staatsanwälte nicht über die notwendige Ausbildung verfügen, um geschlechtsspezifische Gewalt und Missbrauch vollständig zu verstehen. - Türkische Gerichte sind wiederholt in die Kritik geraten, weil sie dazu neigen, Straftäter milde zu bestrafen, indem sie behaupten, die Tat sei "aus Leidenschaft" begangen worden, oder indem sie das Schweigen der Opfer als Zustimmung auslegen (SCF 3.10.2023). Dies illustriert das Beispiel eines Ex-Polizisten, der seine ehemalige Freundin entführt und tagelang gefoltert hatte. Er wurde zwar zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt, doch nach nur zwei Monaten in einer offenen Anstalt kam er unter Auflagen frei. Er drohte der Frau erneut. Die Frau postete einen Hilferuf in sozialen Medien. Der Täter erwirkte ein Verbot für die Verbreitung ihres Posts, weil dieser angeblich seine Persönlichkeitsrechte verletze. Eine solche Straflosigkeit ermutige die Männer weiter zur Gewalt gegen Frauen, so die Frauenrechtlerin Uysal, "weil sie wissen, dass sie nach ein paar Tagen oder Monaten wieder auf freiem Fuß sind" (DW 15.10.2024). Milde Strafen für Männer, die Frauen geschlagen, vergewaltigt oder ermordet haben, haben eine Kultur der Straflosigkeit für geschlechtsspezifische Gewalt geschaffen (DFAT 16.5.2025, S. 29).
Femizide und sog. "Ehrenmorde"
Gewalt gegen Frauen bleibt in der Türkei ein hochaktuelles Thema. Berichten von Frauenrechtsorganisationen zufolge gab es 2024 394 Frauenmorde sowie 259 "verdächtige" Todesfälle. Damit ist 2024 das Jahr mit der höchsten Frauenmordrate seit Beginn der Erhebung 2010. Das Thema findet in den letzten Jahren wachsende Aufmerksamkeit. In Teilen der Bevölkerung findet eine wachsende Sensibilisierung statt. Projekte von NGOs zielen auf eine weitere Bewusstseinsbildung für das Problem ab (ÖB Ankara 4.2025, S. 50; vgl. DFAT 16.5.2025, S. 29). Zwar ist die Gewalt gegen Frauen nicht neu, aber laut Esin Izel Uysal, Rechtsanwältin der Plattform "Wir werden die Frauenmorde stoppen" hat sie eine neue Dimension angenommen. "Die Verbrechen werden brutaler und die Opfer und Täter jünger", so Uysal. Die Gewalt geschieht meistens zu Hause, immer öfter aber auch auf offener Straße. In den meisten Fällen sind die Täter Partner, Ex-Partner oder Familienmitglieder. 65 % der Täter gaben 2024 an, die Frauen getötet zu haben, weil diese sich trennen wollten oder weil sie eine Partnerschaft oder Ehe abgelehnt hätten (DW 15.10.2024; vgl. BAMF 27.11.2023). Ehrenmorde kommen besonders im Südosten des Landes vor (USDOS 22.4.2024, S. 64f.)
Es kommt immer noch zu sogenannten Ehrenmorden an Frauen oder Mädchen, die eines sog. "schamlosen Verhaltens" aufgrund einer (sexuellen) Beziehung vor der Eheschließung bzw. eines "Verbrechens in der Ehe" verdächtigt werden. Dies kann auch Vergewaltigungsopfer betreffen (AA 20.5.2024, S. 14). Das UN-Komitee für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau zeigte sich in seinem Bericht zur Türkei besorgt über das Fortbestehen von Verbrechen, einschließlich Tötungen, die im Namen der sogenannten "Ehre" begangen werden, und über die relativ hohe Zahl von erzwungenen Selbstmorden oder getarnten Morden an Frauen. Das CEDAW-Komitee nahm mit Besorgnis die begrenzten Bemühungen der Türkei zur Kenntnis, die Öffentlichkeit über den kriminellen Charakter und das irreführende Konzept der sogenannten "Ehrenverbrechen" aufzuklären. Das Komitee nahm die übermittelten Informationen seitens der Türkei zur Kenntnis, wonach Artikel 29 des Strafgesetzbuchs, der mildernde Umstände im Falle einer "ungerechtfertigten Provokation" vorsieht, nicht auf Tötungen im Namen der sogenannten "Ehre" angewendet wird. Der Ausschuss ist jedoch nach wie vor besorgt, dass dies keinen ausreichenden rechtlichen Schutz darstellt, da die Bestimmung, die die Anwendung von Artikel 29 ausdrücklich verbietet, sich nur auf Tötungen im Namen der "Sitte" (töre) bezieht und daher möglicherweise nicht immer Tötungen im Namen der sogenannten "Ehre" (namus) abdeckt (UN-CEDAW 12.7.2022, S. 9).
Schutzeinrichtungen
Die Hilfsangebote für Frauen, die Gewalt überlebt haben, sind nach wie vor sehr begrenzt, und die Zahl der Zentren, die solche Dienste anbieten, ist weiterhin unzureichend (USDOS 22.4.2024, S. 64; vgl. ÖB Ankara 28.12.2023, S. 46, SCF 20.5.2025). Das dortige Personal, insbesondere im Südosten des Landes, kann keine angemessene Betreuung und Dienste anbieten. Laut einigen NGOs ist der Mangel an Dienstleistungen für ältere Frauen, LGBTI-Frauen sowie für Frauen mit älteren Kindern noch akuter (USDOS 22.4.2024, S. 64). Besonders in Südost-Anatolien ist der Bedarf an Schutzeinrichtungen hoch (ECRE/AIDA 20.8.2024a).
Die Zahl der Frauenhäuser wird vom zuständigen Familienministerium nicht regelmäßig veröffentlicht. Laut NGOs gab es 2024 112 dem Familienministerium angegliederte Frauenhäuser mit einer Kapazität von 2.805 Plätzen für weibliche Opfer von Gewalt und deren Kinder. Zudem gibt es zumindest 37 von NGOs betriebene Frauenhäuser (ÖB Ankara 4.2025, S. 50). Den Angaben der Menschenrechtsvereinigung İHD zufolge waren es 145 Frauenhäuser, von denen 110 vom Ministerium für Familie und Soziales und je eines von der Migrationsverwaltung und der Mor Çatı Women's Shelter Foundation betrieben werden. Buben, älter als zwölf, und Frauen, älter als 60, können jedoch nicht in diesen Unterkünften untergebracht werden, mit Ausnahme der Schutzeinrichtung von Mor Çatı. Auch die Zahl der Unterkünfte, die Asylwerber, Flüchtlinge und Migrantinnen aufnehmen, ist begrenzt. Laut İHD sind die Bürgermeisterämter auch 2021 nicht ihren Verpflichtungen zur Einrichtung und Unterhaltung von Frauenhäusern nachgekommen. Obwohl 237 Bürgermeisterämter verpflichtet sind, Frauenhäuser einzurichten, verfügen nur 33 Gemeinden über solche Einrichtungen (İHD/HRA 2.8.2022, S. 2). Schutzeinrichtungen für Frauen und Mädchen fehlen insbesondere in ländlichen und entlegenen Regionen. Flüchtlingsfrauen und Migrantinnen (OHCHR 27.7.2022a, S. 7) sowie Frauen und Mädchen mit Behinderungen stoßen beim Zugang zu Unterkünften auf erhebliche Hindernisse (OHCHR 27.7.2022a, S. 7; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 51).
Die meisten von der Regierung betriebenen Frauenhäuser gelten als überfüllt und bieten nur eine Grundversorgung, ohne professionelle Beratung oder psychologische Betreuung. Die Lebensbedingungen in den meisten dieser Frauenhäuser ähneln jenen in Gefängnissen (ECRE/AIDA 20.8.2024a; vgl. MBZ 2.3.2022, S. 55, MBZ 2.2025a, S. 81f.). - Die Bewegungsfreiheit der Frauen in den staatlichen Unterkünften ist stark eingeschränkt. Die dürfen die Unterkunft nur zum Einkaufen, für Bewerbungen und zum Arbeiten verlassen. In den staatlichen Unterkünften werden die Frauen mit Kameras überwacht und dürfen keine Handys benutzen. Darüber hinaus mangelt es an Möglichkeiten zu Freizeitaktivitäten (MBZ 2.2025a, S. 82). - Die Wartezeiten für die Aufnahme sind lang, sodass Frauen, die dringend Hilfe und Beratung benötigen, diese nicht zeitnah erhalten. Zudem gibt es Behördenmitarbeiter, die nur Opfer von physischer Gewalt aufnehmen, nicht aber Opfer von psychischer Gewalt, obwohl auch letztere Opfergruppe Anspruch auf Schutz hat. Außerdem verlangen Beamte, obwohl sie dazu nicht befugt sind, in einigen Fällen medizinische Unterlagen, oder andere offizielle Berichte, als Beweis dafür, dass die Frau körperlich angegriffen wurde (MBZ 2.3.2022, S. 55; vgl. MBZ 2.2025a, S. 81f.). Das UN-CEDAW-Komitee bemängelte 2022, dass Frauen, die versuchen, einer Gewaltbeziehung zu entkommen, unzureichende Unterstützung und Rechtsmittel zur Verfügung stehen. Dies spiegelt sich unter anderem in der unzureichenden Anzahl von Frauenhäusern in der gesamten Türkei und in den unangemessenen Bedingungen für Frauen in Frauenhäusern wider (UN-CEDAW 12.7.2022, S. 8).
Allgemein werden Maßnahmen in diesem Bereich im Zusammenwirken mit dem Innenministerium, dem Gesundheitsministerium, dem Justizministerium, dem Verteidigungsministerium sowie dem Amt für Religiöse Angelegenheiten (Diyanet) gesetzt. Polizeibeamte, Beschäftigte des Gesundheitsbereichs sowie Religionsvertreter wurden entsprechend geschult (ÖB Ankara 4.2025, S. 50). Es fehlt jedoch bislang an ausreichender Koordination zwischen einzelnen Institutionen sowie Sensibilisierung von Exekutivbeamten, wie mit Fällen von Gewalt umzugehen ist (ÖB Ankara 4.2025, S. 51; vgl. EC 6.10.2020, S. 38). NGOs beklagen, dass religiöse Würdenträger, denen offenbar leichterer Zugang zu Frauenhäusern gewährt wird als Psychologinnen und Sozialarbeiterinnen, Frauen oftmals zu einer Rückkehr in die Familie überreden (ÖB Ankara 4.2025, S. 51).
Behördliches Vorgehen gegen Frauenorganisationen und Frauenrechtsaktivistinnen
Die Frauenbewegung ist nach wie vor mit Repressionen seitens des türkischen Staates konfrontiert. Dennoch hat sich die Frauenbewegung in der Türkei als kämpferisch und vital erwiesen (MBZ 2.2025a, S. 80). Frauenorganisationen werden durch Verleumdungen, Festnahmen, Ermittlungen und Verhaftungen unter Druck gesetzt. Auch Aktivistinnen wurden bei der Wahrnehmung ihres Rechts auf Versammlungsfreiheit inhaftiert und waren polizeilicher Gewalt ausgesetzt. Schließungsverfahren und Gerichtsverfahren liefen bzw. laufen gegen einige Frauenorganisationen. Mehrere Menschenrechtsverteidigerinnen und Aktivistinnen wurden inhaftiert und zu Geldstrafen verurteilt, weil sie an Demonstrationen für die Rechte der Frauen teilgenommen hatten. (EC 8.11.2023, S. 16, 30).
Wie in den Jahren zuvor, kam es auch 2025 wieder zu Festnahmen und dem Verbot von Demonstration zum Internationalen Frauentag. - Trotz des Demonstrationsverbotes des Vorstehers des Istanbuler Bezirkes Beyoğlu, einschließlich des Taksim-Platzes und des Gezi-Parks, versammelten sich am 8. März in Istanbul 3.000 Personen, welche durch das Stadtzentrum zogen. Der Marsch endete ohne Zwischenfälle, dennoch sollen gemäß Veranstaltern die Sicherheitskräfte 200 Demonstrierende zusammengetrieben und 112 Personen davon festgenommen haben, wobei tags darauf alle Personen bis auf eine nach Verhören freigekommen waren. Nebst dem Istanbuler Bezirk Kadıköy mit mehreren hundert DemonstrantInnen kam es auch in anderen Städten wie etwa Ankara und Diyarbakir zu Demonstrationen, welche gemäß Presseberichten weitestgehend friedlich abgelaufen waren (BAMF 10.3.2025, S. 10f.; vgl. TM 9.3.2025, Bianet 10.3.2025).
Hassreden gegen unabhängige Frauenorganisationen haben zugenommen. Erklärungen des Innenministeriums, die Frauenorganisationen und Feministinnen wegen angeblicher terroristischer Verbindungen ins Visier nahmen, bedrohen die Existenz von Frauenverbänden. Frauenmärsche wurden mit Polizeigewalt beantwortet, und es wurde ein Gerichtsverfahren zur Schließung der bekannten Frauenplattform namens "We Will Stop Femicides Platform" eingeleitet (EC 12.10.2022, S. 41).
Sozioökonomische Stellung
Die Kluft zwischen den Geschlechtern auf dem Arbeitsmarkt ist trotz leichter Fortschritte weiterhin sehr groß. Frauen sind einem höheren Armutsrisiko ausgesetzt als Männer. Es wurde ein neues Projekt zur Förderung der Beschäftigung von Frauen initiiert, das jedoch angesichts der großen Zahl von Frauen im erwerbsfähigen Alter nur eine begrenzte Reichweite hat und dessen Wirkung überwacht werden muss. Die Richtlinie über die Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben wurde teilweise umgesetzt. Das geschlechtsspezifische Lohngefälle bei den Verdiensten beträgt 6,2 %. Die unzureichende Verfügbarkeit erschwinglicher Betreuungsdienste für Kinder, die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei der Übernahme von Betreuungsaufgaben und das Fehlen entschlossener politischer Maßnahmen behindern nach wie vor eine höhere Beschäftigungsquote von Frauen. Politische Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Sozialleistungen und Sozialhilfe sind begrenzt (EC 30.10.2024, S. 69).
Frauen werden bei der Beschäftigung diskriminiert. Um die Einstellung von Frauen zu fördern, zahlt der Staat statt der Arbeitgeber mehrere Monate lang die Sozialversicherungsprämien für alle weiblichen Beschäftigten, die älter als 18 Jahre sind (USDOS 22.4.2024, S. 65f.). Die Beschäftigungsquote lag 2024 bei 49,5 %. Bei den Frauen lag die Quote bei 32,5 % im Unterschied zu den Männern, die eine Beschäftigungsquote von 66,9 % verzeichnen konnten (TUIK 20.3.2025).
Mit einem Wert von 0,633 (2024: 0,645) [1 = bester Wert] lag die Türkei auf Platz 135 (2024: 127) von 148 untersuchten Ländern im Global Gender Gap Index 2025. In den Sub-Indizes lag die Türkei bei der "Wirtschaftlichen Teilhabe" auf Platz 133. Währenddessen sahen die Platzierungen beim "Bildungsstand" mit Rang 92 und "Gesundheit" Rang 82 besser aus. Eine deutliche Abnahme war in der Subkategorie "Politischen Ermächtigung" zu verzeichnen. Hier rutschte das Land innerhalb eines Jahres von Platz 114 auf Platz 139 ab (WEF 11.6.2025; vgl. WEF 11.6.2024).
Zur allgemeinen Situation der kurdischen Frauen siehe Kapitel: Kurden; zur Lage von inhaftierten Frauen siehe Kapitel: Haftbedingungen.
Kinder und minderjährige Jugendliche (bis 18)
Letzte Änderung 2025-08-06 13:32
Rechtslage und staatliche Maßnahmen
Die Türkei ist Vertragsstaat der folgenden internationalen Menschenrechtsinstrumente in Bezug auf die Rechte des Kindes: das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (CRC) und seine Fakultativprotokolle über die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten und den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornografie (DFAT 16.5.2025, S. 9).
Die Umsetzung der Kinderrechte entspricht nicht den internationalen Standards und dem EU-Besitzstand. Zwar gibt es nationale Rechtsvorschriften und politische Maßnahmen, die die volle Verwirklichung der Kinderrechte in der Türkei gewährleisten sollen, doch ist ihre Umsetzung unzureichend, was auch auf den Mangel an angemessenen Ressourcen zurückzuführen ist. Der Grundsatz des „Kindeswohls“ wird zwar in den Rechtsdokumenten anerkannt, seine Umsetzung hängt jedoch von subjektiven Einschätzungen ab. Speziell auf die Bedürfnisse von Kindern, die Opfer verschiedener Straftaten geworden sind, zugeschnittene Dienste sind begrenzt. Besorgniserregend ist nach wie vor die Situation von Jugendlichen, die wegen Mitgliedschaft in terroristischen Organisationen festgenommen und inhaftiert werden (EC 30.10.2024, S. 34). Der Schutz der Rechte des Kindes ist nach wie vor auch in der Jugendgerichtsbarkeit unzureichend. - Im Jänner 2023 wurde eine parlamentarische Kommission zur Untersuchung von Kindesmissbrauch eingesetzt. Es muss jedoch laut Europäischer Kommission ein nationaler Aktionsplan zur Bekämpfung und Verhinderung von Kinder-, Früh- und Zwangsehen und zur Sensibilisierung für die schädlichen Auswirkungen von Kinderheiraten errichtet werden. Konsequente Anstrengungen sind erforderlich, um Kinderarbeit, insbesondere unter Flüchtlingen, zu beseitigen, so die Kommission (EC 8.11.2023, S. 40f.).
Während Kindesmisshandlung eine Straftat darstellt, ist körperliche Züchtigung durch Eltern und andere Betreuungspersonen nicht ausdrücklich verboten. Körperliche Züchtigung kommt nach wie vor vor, insbesondere in der Familie. Laut lokalen Quellen wird körperliche Züchtigung in der Kindererziehung trotz der Bemühungen der Regierung gesellschaftlich und kulturell weitgehend akzeptiert. Körperliche Züchtigung in Schulen ist weniger verbreitet, kommt aber dennoch vor (DFAT 16.5.2025, S. 37).
Jugendliche Straftäter im Rechtssystem
Kinder können bei strafrechtlichen Streitigkeiten kostenlosen Rechtsbeistand in Anspruch nehmen, für zivilrechtliche Fälle und/oder andere Beschwerdemechanismen gibt es jedoch keine solche Regelung. Besorgniserregend ist laut Europäischer Kommission (EK) nach wie vor die Tatsache, dass Jugendliche unter dem Vorwurf der Mitgliedschaft in terroristischen Organisationen festgenommen und inhaftiert werden. Die Maßnahmen ohne Freiheitsentzug für Kinder müssen verbessert werden, so die EK. Die Möglichkeiten von NGOs und Anwaltskammern, zu intervenieren, zu überwachen und bei Rechtsstreitigkeiten eingebunden zu werden, sind sowohl rechtlich als auch praktisch begrenzt. Es gibt nicht genügend spezialisierte Kindergerichte, Kindergerichtshöfe und qualifiziertes Personal wie Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte und Sachverständige. Fast die Hälfte der betroffenen Kinder steht immer noch vor nicht spezialisierten Gerichten. Derzeit gibt es 81 Jugendgerichte und zwölf hohe Jugendstrafgerichte, was dem Gesetz entspricht, wonach es in jeder Provinz ein Jugendgericht geben muss. Dies reicht jedoch nicht aus, um den Bedürfnissen der Großstädte gerecht zu werden (EC 8.11.2023, S. 41).
Jährlich werden rund 1.000 Strafverfahren gegen Minderjährige im Rahmen des Anti-Terror-Gesetzes Nr. 3713 durchgeführt. Laut der Statistik des türkischen Justizministeriums wurden im Jahr 2022 in 762, im Jahr 2021 in 1.414 und im Jahr 2020 in 1.003 Fällen Minderjährige in Verfahren an türkischen Gerichten als Angeklagte nach dem Anti-Terror-Gesetz Nr. 3713 geführt. 2021 kam es zu 167 Verurteilungen nach dem Anti-Terrorgesetz, wobei in 23 Fällen 12- bis 14-Jährige und in 50 Fällen 15- bis 17- Jährige zu Freiheitsstrafen verurteilt wurden. Nach Artikel 220 des Strafgesetzes, welcher für die Ahndung der vorliegenden Straftat ebenfalls Anwendung finden kann, wurden 2021 in 25 Fällen Minderjährige verurteilt und in sechs Fällen gegen 12- bis 14-Jährige und in acht Fällen gegen 15- bis 17-Jährige eine Freiheitsstrafe ausgesprochen (SFH 13.4.2023; vgl. MoJ - GDJR S 2022, S. 118. 121f.).
Gemäß Artikel 107 des Gesetzes Nr. 5275 über die Vollstreckung von Strafen und Sicherheitsmaßnahmen sind die Bedingungen für eine Entlassung auf Bewährung sehr streng, für Kinder und Minderjährige, die verurteilt wurden, wegen der Gründung oder Führung einer illegalen Organisation, wegen Straftaten im Rahmen der Aktivitäten einer solchen Organisation sowie wegen Straftaten, die unter das Anti-Terror-Gesetz Nr. 3713 fallen. So ist die Bedingung für die Entlassung auf Bewährung, dass zwei Drittel der Strafe verbüßt wurden. Für Minderjährige, die wegen Straftaten im Geltungsbereich des Anti-Terror-Gesetzes verurteilt wurden, werden laut Auskunftsperson der Schweizerischen Flüchtlingshilfe keine erleichternden Entscheidungen wie zum Beispiel ein Aufschub der Strafe oder weitere Maßnahmen getroffen, nur weil die Betroffenen minderjährig sind (SFH 13.4.2023).
Menschenrechtsverletzungen an Kindern
Das UN-Komitee für die Rechte des Kindes zeigte sich im Juni 2023 zutiefst besorgt über die anhaltende Unterdrückung der Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit von Kindern im Namen der Terrorismusbekämpfung und stellt fest, dass seit 2016 Tausende von Kindern festgenommen, inhaftiert und wegen terroristischer Anschuldigungen verurteilt wurden. Das Komitee verwies auf die Empfehlungen des Menschenrechtsausschusses und empfahl der Türkei außerdem, sicherzustellen, dass das Anti-Terror-Gesetz von 1991 (Gesetz Nr. 3713) nicht zur Unterdrückung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit von Kindern verwendet wird, dass Anti-Terrormaßnahmen verhältnismäßig sind und im Einklang mit der Rechtsstaatlichkeit, den Menschenrechten und den Grundfreiheiten stehen und dass jede Gewalt, die Kindern von den Sicherheitskräften im Zuge von Anti-Terrormaßnahmen zugefügt wird, untersucht wird und die Täter entsprechend verfolgt und bestraft werden. Das UN-Komitee zeigte sich überdies tief besorgt über Berichte von Folter und unmenschlicher und erniedrigender Behandlung und Isolationshaft von Kindern durch Gefängniswärter in geschlossenen Einrichtungen, einschließlich der geschlossenen Strafvollzugsanstalt in Diyarbakır (UN-CRC 2.6.2023b).
Die spezifischen Bedürfnisse von inhaftierten Kindern in Bezug auf Bildung, Rehabilitation und Wiedereingliederung in die Gesellschaft werden nicht in vollem Umfang erfüllt, wobei Mädchen am stärksten betroffen sind, da die Regelungen und Einrichtungen nicht geschlechtsspezifisch konzipiert sind. Das Anti-Folter-Komitee der Vereinten Nationen zeigte sich überdies besorgt über das niedrige Mindestalter für die Strafmündigkeit in der Türkei (CAT 14.8.2024, S. 4).
Kinderarbeit und Kinderarmut
Die Bemühungen um den Aufbau von Kapazitäten zur Bekämpfung der Kinderarbeit wurden auf nationaler und lokaler Ebene fortgesetzt. Dennoch gibt es nach wie vor Praktiken der Kinderarbeit, die gegen internationale Normen verstoßen und von denen insbesondere Jugendliche und Buben mit Migrationshintergrund betroffen sind. In der Türkei fehlt es an angemessenen Daten zu Kinderarbeit, welche die nötigen Anhaltspunkte liefern würden, um die Ursachen des Problems zu bekämpfen. Die Umsetzung des Nationalen Programms der Türkei zur Beseitigung der Kinderarbeit ist in einem fortgeschrittenen Stadium. Kinderarbeit ist jedoch immer noch weit verbreitet, insbesondere bei Kindern mit Migrationshintergrund (EC 8.11.2023, S. 100f.). So stieg der Anteil der arbeitenden Kinder in der Altersgruppe der 15-17-Jährigen im Jahr 2023 auf 22,1 % (EC 30.10.2024, S. 68).
Die Regierung erklärte 2018 zum Jahr der Abschaffung von Kinderarbeit, machte aber nur moderate Fortschritte. Darüber hinaus wurden 355 Arbeitsinspektoren, 81 Provinzdirektoren und 320 Lehrer zum Thema Kinderarbeit geschult. Dennoch sind Kinder in der Türkei den schlimmsten Formen von Kinderarbeit ausgesetzt, einschließlich kommerzieller sexueller Ausbeutung und Rekrutierung durch nicht-staatliche bewaffnete Gruppen. Die uneinheitliche Durchsetzung der Gesetze führt zu einem unzureichenden Schutz von Kindern, die Kinderarbeit verrichten. Kinder verrichten etwa in der saisonalen Landwirtschaft und in kleinen und mittleren Produktionsbetrieben gefährliche Arbeiten (USDOL 26.9.2023). Einem aktuellen Bericht der NGO İSİG über Kinderarbeit zufolge sind in der Türkei in den letzten elf Jahren (seit 2013) mindestens 695 arbeitende Kinder ums Leben gekommen. Laut ISIG starben in den ersten fünf Monaten des Jahres 2024 mindestens 24 arbeitende Kinder (VOA 14.6.2024; vgl. İSİG 11.6.2024).
Der Europäische Ausschuss für soziale Rechte (European Committee of Social Rights) des Europarates stellte in seinem Länderbericht 2023 zur Türkei fest, dass in 27 von 36 Punkten keine Konformität mit der Europäischen Sozialcharta vorlag. Der Ausschuss stellte fest, dass die Situation in der Türkei u. a. aus folgenden Gründen nicht mit der Sozialcharta konform ist: Es wurde nicht nachgewiesen, dass die Arbeit, die von Kindern unter 15 Jahren zu Hause verrichtet wird, behördlich wirksam überwacht wird, und dass das Verbot der Beschäftigung von Kindern unter 15 Jahren in der Praxis gewährleistet ist (Art. 7 § 1). Weiters kommt der Ausschuss zum Schluss, dass das Verbot der Beschäftigung von Personen unter 18 Jahren für gefährliche oder gesundheitsschädliche Tätigkeiten nicht wirksam garantiert ist (Art. 7 § 2); die Dauer der leichten Arbeit, die Kindern während der Schulferien erlaubt ist, übermäßig lang ist und Kinder daher möglicherweise nicht den vollen Nutzen aus der Bildung ziehen können (Art. 7 § 3); die tägliche und wöchentliche Arbeitszeit für arbeitende Minderjährige unter 16 Jahren übermäßig lang ist (Art. 7 § 4); die Löhne junger Arbeitnehmer nicht fair und die an Lehrlinge gezahlten Zulagen nicht angemessen sind (Ar. 7 § 5) und nicht alle Formen der sexuellen Ausbeutung von Kindern strafbar sind, und Kinder, die selbst Opfer sexueller Ausbeutung sind, strafrechtlich verfolgt werden können (Art. 7 § 10) (CoE-ECSR 3.2024, S. 2-5).
Bis zu zwei Millionen leisten in der Türkei Kinderarbeit. Gesetzlich zwar verboten, zwingt die Not Familien oft dazu, ihre Kinder zum Geldverdienen anstatt in die Schule zu schicken, z. B. während der Baumwollernte (ARD 25.10.2020, Min. 1). Obwohl die Kinderarbeit erheblich zurückgegangen ist, stellt sie in der saisonalen landwirtschaftlichen Produktion immer noch ein Problem dar. In der Agrarwirtschaft, mit Ausnahme von Familienbetrieben, wird mobile und saisonale Landarbeit im Nationalen Programm zur Beseitigung von Kinderarbeit (2017-2023) als eine der schlimmsten Formen der Kinderarbeit eingestuft, nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen, damit verbundenen Risiken. Kinder, die in der landwirtschaftlichen Saisonarbeit beschäftigt sind, stellen eine der am meisten benachteiligten Gruppen dar, was die Arbeits- und Lebensbedingungen in Verbindung mit Umwelt-, Bildungs- und Gesundheitsproblemen betrifft (ILO 5.3.2021, S. 3). Offiziellen Zahlen zufolge sind 720.000 Kinder gezwungen, zum Haushaltseinkommen ihrer Familien beizutragen. Rund 31 % dieser Kinder arbeiten in der Landwirtschaft, fast 24 % in der Industrie und 45,5 % im Dienstleistungssektor. 20 % der Kinder sind Saisonarbeiter (Duvar 7.6.2021b; vgl. ILO 5.3.2021, S. 2). Das US-amerikanische Arbeitsministerium geht in der Altersgruppe der Sechs- bis 14-Jährigen sogar von einem Anteil von 57 % aus, welcher in der Landwirtschaft arbeitet, gefolgt von fast 16 % in der Industrie und 27 % im Dienstleistungssektor (USDOL 26.9.2023). Der Anteil der arbeitenden Kinder in der Altersgruppe 5-17 Jahre wird von der türkischen Statistikbehörde auf 4,4 % geschätzt. 79,7 % der erwerbstätigen Kinder sind in der Altersgruppe 15-17 Jahre, 15,9 % in der Altersgruppe 12-14 Jahre und 4,4 % in der Altersgruppe 5-11 Jahre. Eine Untersuchung nach Geschlecht zeigt, dass 70,6 % der arbeitenden Kinder männlich und 29,4 % weiblich sind (ILO 5.3.2021, S. 2; vgl. CoE-ECSR 3.2024). 2020 starben 22 Minderjährige unter 14 Jahren und 46 im Alter von 15 bis 17 Jahren bei Arbeitsunfällen (Duvar 11.6.2021).
Laut einer Studie der "Economic Policy Research Foundation of Turkey" (TEPAV) leben fast zehn Millionen Kinder in der Türkei in Armut. Die Ergebnisse zeigen, dass jüngere Kinder besonders gefährdet sind, da über 43 % der 0- bis 14-Jährigen im Jahr 2022 in Armut lebten (SCF 9.8.2024; vgl. TEPAV 5.2024). Einem gemeinsamen Bericht von UNICEF und dem türkischen Statistikinstitut aus dem Jahr 2023 zufolge leben etwa sieben Millionen der rund 22,2 Millionen Kinder in der Türkei in Armut. Das bedeutet, dass das Familieneinkommen unter 60 % des nationalen Durchschnitts liegt. 3,5 Millionen dieser Kinder befinden sich in dem für die Entwicklung entscheidenden Alter von 0 - 8 Jahren. Die Daten deuten auf einen stetigen Anstieg der Kinderarmut seit 2017 hin, was die ohnehin drängenden Armutsprobleme des Landes noch verschärft. UNICEF setzte die Türkei auf Platz 38 von 39 Ländern der Europäischen Union und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), mit einer Kinderarmutsquote von 33,8 % (TR-Today 26.9.2024; vgl. AP 25.12.2024, VOA 25.12.2024). Die soziale Ausgrenzung von Kindern in der Türkei ist nach wie vor alarmierend hoch, wobei die jüngsten Daten kaum oder gar keine Verbesserung erkennen lassen. Der Bericht weist auch auf erhebliche regionale Unterschiede hin, wobei die südöstliche Region [Anm.: mehrheitlich von Kurden bewohnt] am stärksten von Kinderarmut betroffen ist. Obwohl nur 29,6 % der Kinder in der Türkei in dieser Region leben, sind 48,5 % der Kinder in der Region von Armut betroffen. Allein in den Provinzen Şanlıurfa und Diyarbakır leben 13,1 % der verarmten Jugendlichen der Türkei (SCF 9.8.2024; vgl. TEPAV 5.2024).
Abgesehen von der Kinderarbeit nimmt infolge der Wirtschaftskrise auch die allgemeine Armut zu, welche insbesondere Kinder betrifft. - Laut Berichten müssen Millionen Kinder aufgrund der Wirtschaftskrise auf ein grundlegendes Menschenrecht verzichten: das auf ausreichende Ernährung. Einer von vier Schülern geht hungrig zur Schule (FAZ 15.12.2022). In der Türkei brechen die Kinder die Schule in einem noch nie dagewesenen Ausmaß ab, weil sich die Eltern einen Schulbesuch, dazu gehört insbesondere die Verpflegung, nicht mehr leisten können. Laut Omer Yilmaz, Vorsitzender der Schülerelternvereinigung, waren offiziellen Statistiken zufolge im Zeitraum 2021-2022 rund 1,2 Millionen Kinder im Alter von fünf bis 17 Jahren in keiner Schule eingeschrieben. Nimmt man die Schüler hinzu, die Berufsschulen und offene Schulen besuchen, in denen sie vier Tage die Woche arbeiten, so sind heute fast vier Millionen Kinder außerhalb des regulären Bildungssystems und arbeiten entweder für einen geringen Lohn oder suchen nach einem Arbeitsplatz, so Yilmaz (AlMon 23.11.2022).
Laut einer UNICEF-Studie, welche 43 Länder der EU bzw. OECD und G7-Staaten umfasste, lag die Türkei bei der Lebenszufriedenheit der 15-Jährigen an letzter Stelle, wobei sich der Wert zwischen 2018 und 2022 um mehr als 10 % verschlechtert hatte. Als einziges Land lag die Lebenszufriedenheit in der Türkei bei unter 50 % (UNICEF 5.2025, S. 17).
Eheschließungen von Kindern und Minderjährigen
Obwohl Kinderehen illegal sind, werden sie häufig geschlossen, vor allem im Rahmen inoffizieller religiöser Zeremonien oder durch die Erlangung von Heiratslizenzen mit gefälschten Ausweisen (FH 26.2.2025, G4). Die sog. "Kinderehen" stellen weiterhin ein großes Problem, insbesondere in den ländlichen Gebieten und den südöstlichen Provinzen, dar. Unter außerordentlichen Umständen (meist eine Schwangerschaft) kann ein Richter 16-Jährigen die Erlaubnis zur Verehelichung erteilen, sofern die Eltern zustimmen, ansonsten sind Eheschließungen von Minderjährigen unter 17 Jahren verboten. Verehelichung von Kindern unter 16 Jahren ist unter keinen Umständen rechtlich erlaubt. Ehen können nur durch das Standesamt bestätigt werden. Das Parlament verabschiedete allerdings am 18.10.2017 ein Gesetz, das es auch Muftis [islamische Rechtsgelehrte] erlaubt, Trauungen vorzunehmen. Laut Statistikamt ist der Anteil der Eheschließungen von minderjährigen Mädchen auf 3,8 % gesunken (2018). Die offenkundige Problematik dieser Zahl liegt darin, dass nur amtlich geschlossene Ehen erfasst werden. Die meisten Eheschließungen von Kindern werden aber nur vor einem Imam vollzogen (ÖB Ankara 10.2019; vgl. DFAT 16.5.2025, S. 29). NGOs kritisieren, dass das Alter von minderjährigen Mädchen durch Behörden nach oben "korrigiert" werde, um eine zivilrechtliche Heirat zu ermöglichen. Insbesondere bei von Muftis geschlossenen Zivil-Ehen wird von fehlender Kontrolle der Altersvorschriften berichtet und damit von der Möglichkeit, diese Vorschrift zu umgehen. Staatliche Statistiken zu rein religiösen Eheschließungen gibt es ebenso wenig wie Daten zu Ehen mit Minderjährigen oder zu Zwangsverheiratungen (AA 20.5.2024, S. 14). Die Geburtenstatistik des türkischen Statistikinstituts (TÜİK) führt an, dass 2021 insgesamt 7.190 Mädchen selbst ein Kind zur Welt brachten (Duvar 29.6.2022, vgl. BirGün 27.6.2022), davon waren 117 Kinder unter 15 Jahren und 7.073 in der Altersgruppe der 15- bis 17-Jährigen (BirGün 27.6.2022). Siehe auch das Kapitel: Relevante Bevölkerungsgruppen / Frauen
Auch wenn die Türkei über einen soliden Rechtsrahmen zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern, einschließlich Mädchen verfügt, so werden laut der "UN-Sonderberichterstatterin über Gewalt gegen Frauen ihre Ursachen und Folgen" einige der jüngsten Änderungen der türkischen Rechtsvorschriften zum sexuellen Missbrauch von Kindern (vom Dezember 2016) als Verstoß gegen die internationalen Verpflichtungen des Landes angesehen (OHCHR 27.7.2022b, S. 4).
Früh- und Zwangsverheiratungen sind vor allem im Südosten weit verbreitet. Frauenrechtlerinnen berichten, dass das Problem nach wie vor gravierend ist. Überdies gibt es Brautentführungen, insbesondere in ländlichen Gebieten, obwohl diese Praktiken nicht weit verbreitet sind. NGOs berichten von Kindern im Alter von zwölf Jahren, die in inoffiziellen religiösen Zeremonien verheiratet werden, insbesondere in armen und ländlichen Regionen und unter der syrischen Gemeinschaft (USDOS 22.4.2024, S. 70f.; vgl. DFAT 16.5.2025, S. 29). Siehe auch das Unterkapitel: Relevante Bevölkerungsgruppen / Kinder und minderjährige Jugendliche (bis 18) / Flüchtlingskinder und minderjährige Flüchtlinge
Sexueller Missbrauch, Gewalt und Ausbeutung
Das Gesetz stellt die sexuelle Ausbeutung von Kindern unter Strafe und sieht eine Mindeststrafe von acht Jahren Gefängnis vor. Die Strafe für eine Verurteilung wegen Förderung oder Beihilfe zur kommerziellen sexuellen Ausbeutung von Kindern beträgt bis zu zehn Jahre Gefängnis. Wenn Gewalt oder Druck im Spiel sind, kann ein Richter die Strafe verdoppeln. Weibliche Flüchtlinge und Asylsuchende sind besonders gefährdet, von kriminellen Organisationen ausgebeutet und zu kommerziellem Sex gedrängt zu werden. Diese Praxis ist besonders unter adoleszenten Mädchen verbreitet. Laut NGOs sind besonders junge syrische weibliche Flüchtlinge gefährdet, von kriminellen Organisationen ausgebeutet und zur Sexarbeit gedrängt zu werden (USDOS 22.4.2024, S. 71f.).
Hinsichtlich Kindesmissbrauchs ermächtigt das Gesetz die Polizei und die lokalen Behörden, Kindern, die Opfer von Gewalt geworden oder von Gewalt bedroht sind, verschiedene Schutz- und Unterstützungsleistungen zu gewähren. Dennoch berichten Kinderrechtsaktivisten über eine uneinheitliche Umsetzung und fordern eine Ausweitung der Unterstützung für die Opfer. Das Gesetz verpflichtet die Regierung, den Opfern Dienstleistungen, wie Unterkünfte und vorübergehende finanzielle Unterstützung, zur Verfügung zu stellen, und ermächtigt Familiengerichte, Sanktionen gegen die für die Gewalt verantwortlichen Personen zu verhängen. Ist das Opfer des Missbrauchs zwischen zwölf und 18 Jahren alt, so wird auf sexuelle Belästigung eine Freiheitsstrafe von drei bis acht Jahren, auf sexuellen Missbrauch eine Freiheitsstrafe von acht bis 15 Jahren und auf Vergewaltigung eine Freiheitsstrafe von mindestens 16 Jahren verhängt. Ist das Opfer jünger als zwölf Jahre, so wird auf Belästigung eine Mindeststrafe von fünf, auf sexuellen Missbrauch eine Mindeststrafe von zehn und auf Vergewaltigung eine Mindeststrafe von 18 Jahren verhängt. (USDOS 22.4.2024, S. 70).
Das UN-Komitee für die Rechte des Kindes war ernsthaft besorgt über die mangelnde Anerkennung, die unzureichende Berichterstattung und die unzureichende Untersuchung von Gewalt gegen Kinder, einschließlich körperlicher Züchtigung und häuslicher Gewalt, sowie über die begrenzten professionellen Kapazitäten und Verfahren, um solche Fälle zu verhindern, zu identifizieren, zu melden und in einer kindgerechten Weise darauf zu reagieren, einschließlich der Bereitstellung von Opferhilfe und des Zugangs zu Rechtsmitteln. In Anbetracht der Tatsache, dass die Türkei ein Ziel- und Transitland für den Menschenhandel ist, zeigte sich das UN-Komitee besonders besorgt über den hohen Anteil von Kindern in der Türkei, die zum Zweck der sexuellen Ausbeutung und der Ausbeutung der Arbeitskraft gehandelt werden, sowie über Berichte über Mittäterschaft offizieller Stellen (UN-CRC 2.6.2023b). Dass die Türkei in den letzten Jahren verstärkt ein Zielland für Menschenhandel ist, zeigen auch die Vergleichszahlen. In der Periode 2014-2018 zählten die Behörden 775 Opfer, während zwischen 2019 und 2023 die Zahl bereits 1466 stieg. - 2023 waren hiervon 29 % (422) Kinder (CoE - GRETA 22.10.2024, S. 6).
Aus der Strafregisterstatistik des Justizministeriums geht hervor, dass die Strafgerichte in der Türkei im Jahr 2021 einen Anstieg von 32,55 % von Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs gegenüber dem Vorjahr verzeichnete. Dementsprechend gab es Verurteilungen in 16.161 der 29.822 Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch, darunter sowohl Freiheits- als auch Geldstrafen (Duvar 29.6.2022, vgl. BirGün 27.6.2022). Der negative Trend setzte sich fort. - Ende März 2023 gab das Justizministerium bekannt, dass die Zahl der eingeleiteten Strafverfahren wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern im Jahr 2022 im Vergleich zum Vorjahr wiederum um 33 % gestiegen war. Kindesmissbrauchsdelikte verzeichneten 2023 den zweitstärksten Anstieg aller Straftaten. Menschenrechtsorganisationen werfen der türkischen Regierung vor, keine ausreichenden Maßnahmen zum Schutz von Kindern etabliert zu haben, obwohl das Land das Übereinkommen des Europarats zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch (sog. Lanzarote-Konvention) im Jahr 2011 ratifiziert hat (BAMF 3.4.2023, S. 9).
Laut dem Zentrum für Kinderrechte (FISA) wurden in den vergangenen zweieinhalb Jahren seit Herbst 2024 mindestens 64 Kinder ermordet, oft infolge häuslicher Gewalt. Das Zentrum sammelt seine Daten aus öffentlich zugänglichen Quellen, denn seit 2016 veröffentlichen die Behörden keine offiziellen Daten mehr zu getöteten oder vermissten Kindern. Den letzten veröffentlichten Statistiken zufolge wurden im Zeitraum von 2008 bis 2016 landesweit 104.531 Kinder als vermisst gemeldet. Experten kritisieren die mangelnde Transparenz und fehlende präventive Politik in diesem Bereich und fordern eine systematische Sammlung und Veröffentlichung von Informationen zu den vermissten Kindern. Auch der UN-Ausschuss für Kinderrechte (CRC) appelliert schon seit Jahren an die türkischen Behörden, die entsprechenden Informationen bereitzustellen (DW 24.9.2024).
Kindersoldaten
Die USA setzten am 1.7.2021 die Türkei, und somit erstmalig ein NATO-Land, auf die Liste jener Staaten, die 2020 in den Einsatz von Kindersoldaten verwickelt waren, und zwar in die Rekrutierung und den Einsatz von Kindersoldaten in Syrien und Libyen (USDOS 1.7.2021; vgl. BAMF 5.7.2021, S. 15, MEE 1.7.2021). Laut dem Trafficking in Persons Report von 2024 des US-Außenministeriums, hat die türkische Regierung Elemente der Syrischen Nationalarmee (SNA), einer Koalition nicht-staatlicher bewaffneter Gruppen in Syrien, die Kindersoldaten rekrutiert und einsetzt, unterstützt. Auch die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) rekrutierte und entführte Kinder, um sie als Kindersoldaten einzusetzen (USDOS 24.6.2024).
Auswirkungen des Erdbebens vom Februar 2023
Der Zugang zu Grundbedürfnissen wie Nahrung, Wasser und Unterkünften war die wichtigste Herausforderung nach dem Erdbeben, wobei Kinder häufig am stärksten gefährdet waren. Kinder in den betroffenen Gemeinden hatten aufgrund der obligatorischen Schulschließungen keinen Zugang mehr zu Bildung. Schließlich hatte das Erdbeben die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass Kinder ausgebeutet und missbraucht werden (KRF 20.2.2023). Mehrere Menschenrechtsverletzungen gegen Kinder wurden aus den Erdbebengebieten vermeldet (EC 8.11.2023, S. 40). Es wurde in dem Zusammenhang über Fälle von Kinderhandel und Kinderarbeit berichtet (KRF 20.2.2023).
Hinsichtlich Kindern und Minderjährigen in Gefängnissen siehe den Abschnitt zu Kindern und Minderjährigen im Kapitel: Haftbedingungen. Informationen zu Roma-Kindern finden sich in einem eigenen Abschnitt im Unterkapitel: Ethnische Minderheiten / Roma.
Bewegungsfreiheit
Letzte Änderung 2025-08-06 13:33
Art. 23 der Verfassung garantiert die Bewegungsfreiheit im Land, das Recht zur Ausreise sowie das für türkische Staatsangehörige uneingeschränkte Recht zur Einreise. Die Bewegungsfreiheit kann nach dieser Bestimmung jedoch begrenzt werden, um Verbrechen zu verhindern (ÖB Ankara 4.2025, S. 14f.; vgl. USDOS 22.4.2024 S. 41).
So ist die Bewegungsfreiheit generell in einigen Regionen und für Gruppen, die von der Regierung mit Misstrauen behandelt werden, eingeschränkt. Im Südosten der Türkei ist die Bewegungsfreiheit aufgrund des Konflikts zwischen der Regierung und der Arbeiterpartei Kurdistans - PKK limitiert (FH 26.2.2025, G1). Die Behörden sind befugt, die Bewegungsfreiheit Einzelner innerhalb der Türkei einzuschränken. Die Provinz-Gouverneure können zum Beispiel Personen, die verdächtigt werden, die öffentliche Ordnung behindern oder stören zu wollen, den Zutritt oder das Verlassen bestimmter Orte in ihren Provinzen für eine Dauer von bis zu 15 Tagen verbieten (ÖB Ankara 4.2025, S. 9; vgl. USDOS 22.4.2024 S. 42), obschon die Verfassung vorschreibt, dass nur Richter die Bewegungsfreiheit von Bürgern limitieren können, und auch nur in Verbindung mit einer strafrechtlichen Untersuchung bzw. Verfolgung (USDOS 22.4.2024 S. 42).
Bei der Einreise in die Türkei besteht allgemeine Personenkontrolle. Türkische Staatsangehörige, die ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument besitzen, können die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Bei Einreise wird überprüft, ob ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder Ermittlungs- bzw. Strafverfahren anhängig sind. An Grenzübergängen können Handy, Tablet, Laptop usw. von Reisenden ausgelesen werden, um insbesondere regierungskritische Beiträge, Kommentare auf Facebook, WhatsApp, Instagram etc. festzustellen, die wiederum in Maßnahmen wie z. B. Vernehmung, Festnahme, Strafanzeige usw. münden können. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier. Türkische Staatsangehörige dürfen nur mit einem gültigen Pass das Land verlassen. Die illegale Ein- und Ausreise ist strafbar. Die Ausreisekontrollen an türkischen Grenzübergängen sind in der Regel streng. Ein- und Ausreisedaten werden genauestens erfasst und die Reisenden in den entsprechenden Fahndungssystemen überprüft (AA 20.5.2024, S. 24f.).
Es ist gängige Praxis, dass Richter ein Ausreiseverbot gegen Personen verhängen, gegen die strafrechtlich ermittelt wird, oder gegen Personen, die auf Bewährung entlassen wurden. Eine Person muss also nicht angeklagt oder verurteilt werden, um ein Ausreiseverbot zu erhalten (MBZ 18.3.2021, S. 27f.; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 14f.). Es gibt keine eindeutige Antwort auf die Frage, inwieweit eine Person, die das negative Interesse der türkischen Behörden auf sich gezogen hat, das Land legal verlassen kann, oder eben nicht, während ein Strafverfahren noch anhängig ist. Es kommt auf die Umstände des Einzelfalls an (MBZ 2.3.2022, S. 27). Dennoch bestätigten Quellen des niederländischen Außenministeriums, dass in den meisten Fällen mit politischer Dimension, die im Kontext des Strafrechts als "Terrorfälle" gelten, ein Ausreiseverbot verhängt wird. In Fällen mit politischem Kontext sind insbesondere kurdische Aktivisten und (angebliche) Gülenisten betroffen. Die Häufigkeit von Ausreiseverboten in Fällen mit einer politischen Dimension gilt als "weit verbreitet" und "systematisch". Jedoch gibt es Fälle von unauffälligen politischen Aktivisten, gegen die kein Ausreiseverbot verhängt wurde (MBZ 2.2025a, S. 37).
Mitunter wird sogar gegen Parlamentarier ein Ausreiseverbot verhängt. - So wurde im März 2022 auf richterliches Geheiß dem HDP-Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioğlu die Ausreise untersagt und sein Reisepass im Rahmen der gegen ihn eingeleiteten Ermittlungen eingezogen (Duvar 10.3.2022). Ende Dezember 2022 wurde, ebenfalls gegen einen HDP-Parlamentarier, eine Reisesperre verhängt. Zeynel Özen, der zudem schwedischer Staatsbürger und Mitglied des Harmonisierungsausschusses der Europäischen Union ist, wurde auf Anweisung des Innenministers am Flughafen Istanbul ohne Begründung die Ausreise verweigert (Medya 26.12.2022; vgl. Duvar 26.12.2022). Vor dem Hintergrund des Gazakrieges wurde im Oktober 2023 15 Parlamentariern der pro-kurdischen Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker - HEDEP [mit abgeänderter Abkürzung inzwischen DEM-Partei als Vorgängerin der HDP bzw. der Grünen Linkspartei] trotz parlamentarischer Immunität die Ausreise verweigert (Duvar 20.10.2023).
Im Juni 2024 zogen die Behörden die Pässe von neun Ko-Bürgermeistern aus Gemeinden mit kurdischer Mehrheit ein, darunter die Bürgermeisterin von Diyarbakır Serra Bucak, ohne dass ein Gerichtsbeschluss vorlag. Das Innenministerium verteidigte den Schritt mit dem Hinweis auf die nationale Sicherheit und die öffentliche Ordnung (Medya 24.6.2024; vgl. Rudaw 24.6.2024). Im Februar 2025 untersagte ein Istanbuler Gericht zwei leitenden Funktionären des Wirtschaftsverbands TUSIAD im Rahmen einer Untersuchung ihrer Äußerungen zur Demokratie, die Erdogan als Untergrabung der Regierung bezeichnet hatte, die Ausreise ins Ausland. Auf der Generalversammlung der Organisation hatten TUSIAD-Präsident Orhan Turan und Omer Aras, der Vorsitzende der türkischen Bankensparte der QNB, das harte Vorgehen der Regierung gegen Oppositionelle und Journalisten kritisiert (REU 20.2.2025). Drei Monate später wurde die Ausreisesperre aufgehoben. Das Verfahren lief hingegen weiter, wobei der Staatsanwalt bis zu fünf Jahren Haft forderte (HDN 20.5.2025; vgl. Bianet 22.5.2025).
Das Recht zur Ausreise wiederum darf durch eine richterliche Entscheidung im Rahmen einer strafrechtlichen Ermittlung oder Verfolgung eingeschränkt werden. Die Strafrichter machen von den Einschränkungsmöglichkeiten großzügig Gebrauch. Es ist gang und gäbe, dass insbesondere Personen mit Auslandsbezug, welche sich nicht in Untersuchungshaft befinden, mit einer parallel zum Ermittlungsverfahren unter Umständen mehrere Jahre dauernden Ausreisesperre belegt werden. Hunderte EU-Bürger, darunter viele Österreicher, sind von dieser Maßnahme ebenso betroffen wie Tausende türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in einem EU-Mitgliedstaat. Umgekehrt wird über nicht türkische Staatsangehörige, die mit der türkischen Strafjustiz in Kontakt gekommen sind oder deren Aktivitäten außerhalb der Türkei als negativ wahrgenommen wurden, eine Einreisesperre verhängt (ÖB Ankara 4.2025, S. 14f.). Das deutsche Auswärtige Amt, antwortend auf eine parlamentarische Anfrage, gab im Juni 2022 an, dass 104 Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit an der Ausreise gehindert wurden. 55 hätten sich wegen "Terror"-Vorwürfen in Haft befunden, und gegen 49 weitere wäre eine Ausreisesperre verhängt worden (FR 11.6.2022). Mindestens 65 deutsche Staatsbürger konnten mit Stand November 2023 die Türkei aufgrund von Ausreisesperren nicht verlassen, die Hälfte wegen Terrorvorwürfen (Zeit Online 16.11.2023).
Mitunter wird ein Ausreiseverbot ausgesprochen, ohne dass die betreffende Person davon weiß. In diesem Fall erfährt sie es erst bei der Passkontrolle zum Zeitpunkt der Ausreise, woraufhin höchstwahrscheinlich ein Verhör folgt. So wie z. B. Strafverfahren und Strafen werden auch Ausreiseverbote im sog. Allgemeinen Informationssammlungssystem (Genel Bilgi Toplama Sistemi - GBT) erfasst. Die Justizbehörden und der Sicherheitsapparat, einschließlich Polizei und Gendarmerie, haben Zugriff auf das GBT. Wenn ein Zollbeamter am Flughafen die Identitätsnummer der betreffenden Person in das GBT eingibt, wird ersichtlich, dass das Gericht ein Ausreiseverbot verhängt hat. Unklar ist hingegen, ob ein Ausreiseverbot auch im sog. Nationalen Justizinformationssystem (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP) und im e-Devlet (e-Government-Portal) aufscheint und somit dem Betroffenen bzw. seinem Anwalt zugänglich und offenkundig wäre. Die Polizei und die Gendarmerie können eine Person auch auf andere Weise daran hindern, das Land legal zu verlassen, indem sie in der internen Datenbank, genannt PolNet, ohne Wissen eines Richters einschlägige Anmerkungen zur betreffenden Person einfügen. Solche Notizen können den Zoll darauf aufmerksam machen, dass die betreffende Person das Land nicht verlassen darf. Auf diese Weise kann eine Person an einem Flughafen angehalten werden, ohne dass ein Ausreiseverbot im GBT registriert wird (MBZ 18.3.2021, S. 27f).
Die Regierung beschränkt weiterhin Auslandsreisen von Bürgern, die unter Terrorverdacht stehen oder denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zum gescheiterten Putschversuch 2016 vorgeworfen werden. Das gilt auch für deren Familienangehörige. Medienschaffende, Menschenrechtsverteidiger und andere, die mit politisch motivierten Anklagen konfrontiert sind. Sie werden oft unter "gerichtliche Kontrolle" gestellt, bis das Ergebnis ihres Prozesses vorliegt. Dies beinhaltet häufig ein Verbot, das Land zu verlassen. Die Behörden hindern auch einige türkische Doppel-Staatsbürger aufgrund eines Terrorismusverdachts daran, das Land zu verlassen, was dazu führt, dass manche das Land illegal verlassen. Ausgangssperren, die von den lokalen Behörden als Reaktion auf die militärischen Operationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verhängt wurden, und die militärische Operation des Landes in Nordsyrien schränkten die Bewegungsfreiheit ebenfalls ein (USDOS 22.4.2024, S. 42f.).
Urteile des Verfassungsgerichtes im Sinne der Bewegungsfreiheit
Das türkische Verfassungsgericht hob Ende Juli 2019 eine umstrittene Verordnung auf, die nach dem Putschversuch eingeführt worden war und mit der die türkischen Behörden auch die Pässe von Ehepartnern von Verdächtigen für ungültig erklären konnten, auch wenn keinerlei Anschuldigungen oder Beweise für eine Straftat vorlagen. Die Praxis war auf breite Kritik gestoßen und als Beispiel für eine kollektive Bestrafung und Verletzung der Bewegungsfreiheit angeführt worden (TM 26.7.2019). Das Verfassungsgericht entschied überdies Ende Jänner 2022, dass die massenhafte Annullierung der Pässe von Staatsbediensteten nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 rechtswidrig war. Das Gericht stellte fest, dass einige Regelungen des Notstandsdekrets Nr. 7086 vom 6.2.2018 verfassungswidrig sind, unter anderem mit der Begründung, wonach die Vorschriften, die vorsehen, dass die Pässe der aus dem öffentlichen Dienst Entlassenen eingezogen werden, die Reisefreiheit des Einzelnen über das Maß hinaus einschränken, welches die Situation des Notstandes erfordern würde. Überdies wurde dem Verfassungsgericht nach das durch die Verfassung garantierte Recht der Unschuldsvermutung verletzt (Duvar 29.1.2022).
Im Frühjahr 2024 erklärte das Verfassungsgericht, dass das gegen die Menschenrechtsaktivistin Nurcan Kaya verhängte internationale Reiseverbot ihre Meinungsfreiheit verletze. Nurcan Kaya wurde am Istanbuler Flughafen im Oktober 2019 festgenommen, als sie versuchte, an einer Sitzung der Vereinten Nationen teilzunehmen. Kaya wurde im Rahmen einer Untersuchung inhaftiert unter der Anschuldigung "Hass und Feindschaft unter den Menschen zu schüren", nachdem sie 2014 in einem Tweet geschrieben hatte: "Nicht nur die Kurden, sondern alle in Kobanê lebenden Völker leisten Widerstand." Während ihres Prozesses unterlag Kaya einer 1,5-monatigen gerichtlichen Kontrolle, die ein internationales Reiseverbot und die Beschlagnahme ihres Reisepasses beinhaltete. - Das Verfassungsgericht erkannte an, dass die gerichtlichen Maßnahmen Kayas Fähigkeit zur Teilnahme am öffentlichen Diskurs beeinträchtigten, und sprach Kaya 13.500 Lira (ca. 390 Euro) als immateriellen Schadenersatz zu. Darüber hinaus kritisierte das Verfassungsgericht die Justiz dafür, dass sie vor der Verhängung des Reiseverbots keine weniger restriktiven Maßnahmen in Betracht gezogen und Berufungen gegen das Verbot aus „abstrakten Gründen“ abgelehnt hatte (Duvar 7.3.2024; vgl. MLSA 6.3.2024).
Im November 2024 erklärte das Verfassungsgericht die Bestimmung im Passgesetz für nichtig, welche die Ausstellung von Reisepässen an Personen untersagte, die vom Innenministerium als ein allgemeines Sicherheitsrisiko angesehen wurden, wenn sie das Land verließen. Das Verfassungsgericht stellte fest, dass die fragliche gesetzliche Einschränkung nicht allgemeiner Natur war, sondern sich vielmehr gegen bestimmte Personen richtete. Es betonte, dass das Recht, das Land zu verlassen, gemäß Artikel 23 der Verfassung nur aufgrund strafrechtlicher Ermittlungen oder Strafverfolgung eingeschränkt werden kann. Das Verfassungsgericht entschied, dass die Entscheidung über diese Angelegenheit durch Verwaltungsbehörden einen Verstoß darstellt. Das Gericht befand, dass die Bestimmung das verfassungsmäßige Recht auf Freizügigkeit in einer Weise einschränkt, die nicht mit den in der Verfassung dargelegten Gründen für eine Einschränkung vereinbar ist. Folglich erklärte es die Gesetzesklausel für nichtig, die Personen, die vom Innenministerium als Sicherheitsrisiken eingestuft wurden, die Ausstellung von Reisepässen verweigerte (Bianet 21.11.2024; vgl. TM 21.11.2024).
Grundversorgung / Wirtschaft
Letzte Änderung 2025-08-06 13:32
Die makroökonomischen Stabilisierungsmaßnahmen haben die Unsicherheit verringert. Die Preisstabilität bleibt das vorrangige Ziel der Politik, und die Geld- und Fiskalpolitik ist darauf ausgerichtet, die Senkung der Inflation voranzutreiben und gleichzeitig die Sozialpolitik zum Schutz der Schwächsten zu stärken. Die Inflation ging von einem Höchststand von 75 % im Mai 2024 auf 38 % im März 2025 zurück. Die Inflation der Lebensmittelpreise ist niedriger und könnte laut Weltbank die Auswirkungen der steigenden Preise auf die am stärksten benachteiligten Bevölkerungsgruppen abmildern. Die Inflation dürfte bis Ende 2025 einen Wert im oberen Bereich der 20 % erreichen (WB 24.4.2025).
Das Wirtschaftswachstum der Türkei könnte sich 2025 von 3,2 % im Jahr 2024 und 5,1 % im Jahr 2023 laut Internationalem Währungsfonds infolge der strafferen Geldpolitik auf 2,6 % abschwächen, denn in wichtigen Absatzmärkten wie in der EU lässt die Dynamik nach. Noch aber treiben Konsum und Exporte das türkische Wachstum an (GTAI 19.2.2025; vgl. WB 24.4.2025). Die wirtschaftliche Lage zeigt langsam nachhaltige Zeichen der Verbesserung. Es scheint, dass die stringente orthodoxe Wirtschaftspolitik der letzten 18 Monate beginnt Früchte zu tragen. Gleichzeitig sieht man erste Anzeichen, dass der innertürkische Konsum sich verlangsamt, was einerseits gut für die Inflation ist, andererseits würde eine zu starke Verlangsamung die Wachstumsaussichten reduzieren (WKO 3.2025, S. 4).
Nach der gewonnenen Wahl im Mai 2023 vollzog Staatspräsident Erdoğan einen Kurswechsel hin zu einer restriktiven Geldpolitik, mit dem obersten Ziel, die horrende Inflation zu bekämpfen. Die Niedrigzinspolitik der Vorjahre hat Spuren hinterlassen. Sie befeuerte die Inflation und den Abwertungsdruck auf die türkische Lira. Die Nettoreserven der Zentralbank sind gesunken, die Auslandsverschuldung und Abhängigkeit von ausländischen Finanzhilfen ist hoch. Die bisherigen Entscheidungen lassen auf eine verlässlichere Wirtschafts- und Geldpolitik hoffen. Viele Unternehmen befürchten allerdings weitere Kehrtwenden Erdoğans. Für die künftige Wirtschaftsentwicklung wird es entscheidend sein, Vertrauen bei internationalen Investoren und der heimischen Wirtschaft zurückzugewinnen. Die Inflation hat die reale Kaufkraft der Haushalte geschmälert. Gehaltserhöhungen federn die Einbußen meist nur ab. Noch treibt die Inflation den Konsum an, denn Sparen lohnt sich kaum. Die Bevölkerung flüchtet wegen der schwachen Lira in Gold, Devisen, Aktien, Kryptowährung oder Immobilien (GTAI 19.2.2025).
Die Zahl der Arbeitslosen im Alter von 15 Jahren und älter ist gemäß staatlicher Statistik im Jahr 2024 im Vergleich zum Vorjahr um 151 Tausend auf 3 Millionen 113 Tausend Personen gesunken. Die Arbeitslosenquote ist um 0,7 Prozentpunkte auf 8,7 % gesunken. Sie wurde auf 7,1 % für Männer und 11,8 % für Frauen geschätzt. Die Jugendarbeitslosenquote in der Altersgruppe der 15- bis 24-Jährigen lag bei 16,3 %, was einem Rückgang von 1,1 Prozentpunkten gegenüber dem Vorjahr entspricht. Während diese Quote für Männer auf 13,1 % betrug, lag sie bei den jungen und Frauen bei 22,3 %. - Die Zahl der Erwerbstätigen im Alter von 15 Jahren und darüber wurde mit 32 Millionen 620 Tausend Personen angegeben, wobei die Zahl der Erwerbstätigen um 988 Tausend Personen zunahm und die Erwerbstätigenquote im Jahr 2024 im Vergleich zum Vorjahr um 1,2 Prozentpunkte auf 49,5 % stieg. Diese Quote wurde für Männer auf 66,9 % und für Frauen auf 32,5 % geschätzt (TUIK 20.3.2025).
Eine wachsende Zahl meist junger Menschen verlässt das Land. Diese Entwicklungen kündigen eine drohende demografische Krise an, die sich negativ auf die türkische Wirtschaft auswirken und eine umfassende Anpassung der Sozialpolitik erforderlich machen wird. Die Auswanderung begann nach 2020 anzusteigen, aber 2023 war ein Rekordjahr für die Abwanderung: 715.000 Menschen verließen das Land dauerhaft, darunter 291.000 türkische Staatsbürger, was einem Anstieg von 53 % gegenüber dem Vorjahr entspricht. Die Mehrheit der Auswanderer war zwischen 25-29 und 30-34 Jahre alt (OSW/Z.Krzyżanowska 7.8.2024; vgl. FP 27.1.2023). Eine empirische Studie der Forschungsagentur KONDA vom Mai 2024 unter 930 Jugendlichen zwischen 15 und 29 (von insgesamt 3.147 Befragten aller Altersgruppen) ergab, dass fast 60 % der jungen Menschen zwischen 15 und 24 Jahren im Ausland leben wollen, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten. In der Altersgruppe der 25- bis 29-Jährigen ging dieser Anteil zwar leicht zurück, lag aber immer noch bei mehr als der Hälfte (Duvar 24.6.2024). Bestätigt wird dies durch eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung aus 2024. - Demnach hatten in der Altersgruppe der 14 bis 29-Jährigen 16,1 % ein "sehr starkes", 19,4 % ein "starkes" und weitere 26,6 % ein "moderates" Verlangen für mehr als sechs Monate in ein anderes Land zu emigrieren, wobei 57,4 % wirtschaftliche und immerhin 13,1 % politische Gründe angaben (FES 10.2024, S. 2, 77f.).
Armut und soziale Ungleichheit
Was die soziale Inklusion und den sozialen Schutz betrifft, so verfügt die Türkei laut Europäischer Kommission noch immer nicht über eine gezielte Strategie zur Armutsbekämpfung. Der anhaltende Preisanstieg hat das Armutsrisiko für Arbeitslose und Lohnempfänger in prekären Beschäftigungsverhältnissen weiter erhöht. Die Armutsquote erreichte 2022 14,4 % gegenüber 13,8 % im Jahr 2021. Die Quote der schweren materiellen Verarmung (severe-material-deprivation rate) erreichte im Jahr 2022 28,4 % (2021: 27,2 %). Das Risiko von Armut und sozialer Ausgrenzung ist bei Kindern am höchsten und bei älteren Menschen stark erhöht (EC 30.10.2024, S. 68). Die Kinderarmutsquote war im Jahr 2022 mit 41,6 % besonders hoch (EC 8.11.2023, S. 102). Der Gini-Koeffizient als Maß für die soziale Ungleichheit (Dieser schwankt zwischen 0, was theoretisch völlige Gleichheit, und 1, was völlige Ungleichheit bedeuten würde.) betrug 2024 nach Einberechnung der dämpfend wirkenden Sozialtransfers 0,413. 2014 lag er noch bei 0,391 (TUIK 27.12.2024). [Anm.: In Österreich betrug laut Momentum Institut der Gini-Koeffizient nach Steuern und staatlichen Transferleistungen 2020 0,28].
Zu den bekannten Auswirkungen hoher Inflation gehört, dass die Schere zwischen niedrigen und hohen Einkommen weiter auseinandergeht. Von 2014 bis 2023 ist der Anteil der niedrigsten vier Einkommensgruppen (80 %) am Gesamteinkommen gesunken, während der Anteil der höchsten Einkommensgruppe von 45,9 auf 49,8 % gestiegen ist. Das bedeutet, dass die obersten 20 % fast die Hälfte des verfügbaren Einkommens besitzen. Während Haushalte in der niedrigsten Einkommensgruppe mehr als 36 % ihres Einkommens für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke aufwenden müssen, beträgt dieser Anteil in der höchsten Einkommensgruppe nur gut 14 %. Das bedeutet, dass die niedrigste Einkommensgruppe mit 78 % überdurchschnittlich von der Inflation betroffen ist. Betrachtet man den Zeitraum von zehn Jahren, so ist der Anteil der Ausgaben für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke in der niedrigsten Einkommensgruppe von 28,8 % in 2014 auf 36,6 % in 2023 angestiegen (FES 11.7.2024).
Die Armutsgrenze in der Türkei lag Ende Dezember 2024 laut Daten des Türkischen Gewerkschaftsbundes (Türk-İş) bei 68.675 Lira (rund 1.875 Euro) (Dezember 2023: 47.000 Lira/ damals rund 1.400 Euro). Allerdings erhöhten sich die Mindestausgaben einer vierköpfigen Familie innerhalb der letzten zwölf Monate um 46 %. - Die Armutsgrenze gibt an, wie viel Geld eine vierköpfige Familie benötigt, um sich ausreichend und gesund zu ernähren, und deckt auch die Ausgaben für Grundbedürfnisse wie Kleidung, Miete, Strom, Wasser, Verkehr, Bildung und Gesundheit ab. - Die Hungerschwelle, die den Mindestbetrag angibt, der erforderlich ist, um eine vierköpfige Familie im Monat vor dem Hungertod zu bewahren, lag Ende 2024 bei knapp 21.000 Lira bzw. circa 575 Euro (Ende Dezember 2023: 14.431 Lira bzw. rund 440 Euro) (Duvar 1.1.2025; vgl. Duvar 3.1.2024).
Um die Kaufkraft zu stärken, hob die Regierung den gesetzlichen Mindestlohn zum 1.1.2025 von 17.000 Lira (465 Euro) um 30 % auf 22.104 Lira (607 Euro) an (Tagesschau 3.1.2025; vgl. MLSS/CSGB 24.12.2024). Während die Befürworter der Maßnahme argumentieren, dass es sich um den höchsten Mindestlohn der letzten Jahre handelt, mit einer Erhöhung um 30 %, weisen Kritiker darauf hin, dass er deutlich unter der jährlichen Inflationsrate für 2024 von 44 % lag. - Steigende Mietkosten unterstreichen die Unzulänglichkeiten des neuen Mindestlohns, zumal 42 % der Türken nur den Mindestlohn verdienen. In Istanbul liegt die durchschnittliche Monatsmiete bei 709 Dollar, in Ankara bei 567 Dollar - beide Zahlen liegen über oder nahe dem Mindestlohn (MEE 27.12.2024). Die Istanbuler Planungsagentur (IPA), die der Istanbuler Stadtverwaltung angegliedert ist, hat die durchschnittlichen Lebenshaltungskosten für eine vierköpfige Familie in der Megastadt im Juli 2024 auf 66.550 Lira (1.982 US-$) berechnet. Das war fast das Vierfache des Mindestlohns (17.002 Lira). Die Steigerungsrate der letzten zwölf Monate lag somit bei 71,4 % (Duvar 6.8.2024).
Die Lohneinkommen, die durch Mindestlohnsteigerungen (30 % im Jahr 2025) und eine starke Arbeitsmarktentwicklung angekurbelt werden, dürften weiterhin die wichtigste Triebkraft für die Armutsbekämpfung sein. Angesichts der hohen Gesamtarbeitslosigkeit und der informellen Beschäftigung könnten jedoch Personen, die vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind, nicht vom Wachstum profitieren. Gezielte und flexible Sozialschutzprogramme sind laut Weltbank erforderlich, um diese Gruppe vor den Auswirkungen der hohen Inflation zu schützen (WB 24.4.2025).
Die Krise bedeutet für viele Türken Schwierigkeiten zu haben, sich Lebensmittel im eigenen Land leisten zu können. Der normale Bürger kann sich inzwischen Milch- und Fleischprodukte nicht mehr leisten: Diese werden nicht mehr für jeden zu haben sein, so Semsi Bayraktar, Präsident des Türkischen Verbandes der Landwirtschaftskammer. Die Türkei befand sich 2023 mit 69 % an fünfter Stelle auf der Liste der globalen Lebensmittel-Inflation (DW 13.4.2023). Bülent Mumay, Türkei-Kolumnist der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, beschreibt die Lage Anfang 2025 folgendermaßen: "[...] Wohnungsmieten stiegen 2024 um 52 %. Die Preise für Möbel haben sich in den letzten fünf Jahren um 555 % verteuert, für große und kleine Haushaltsgeräte gar um 615 %. Für junge Leute ist aus ökonomischen Gründen bereits die Fortsetzung ihres Studiums schwierig geworden, geschweige denn die Gründung einer Familie. Innerhalb der letzten fünf Jahre brachen rund 325.000 Studenten ihr Studium ab, um stattdessen zum Familieneinkommen beizutragen. Doch wer sich für Arbeit statt Studium entscheidet, ist zum Mindestlohn von rund 600 Euro verdammt – wie mindestens die Hälfte aller Erwerbstätigen im Land. 90 % der Erwerbstätigen in der Türkei verdienen unter 1200 Euro im Monat. Diese Situation führt dazu, dass sich die Armut im Land weiter ausbreitet. Rund 40 % der Menschen können sich rotes oder weißes Fleisch oder Fisch nicht einmal mehr jeden zweiten Tag leisten. 15 % können ihre Heizkosten nicht mehr aufbringen. 12 % waren im letzten Monat außerstande, ihre Miete zu zahlen. 60 % können abgenutztes Mobiliar nicht ersetzen, 31 % nicht einmal ein undichtes Dach reparieren lassen. Und eine Woche Urlaub im Jahr bleibt für 58 % unerschwinglich [...]" (FAZ/Mumay B. 3.1.2025).
Die staatlichen Ausgaben für Sozialleistungen betrugen 2023 lediglich 10,1 % des BIP. In vielen Fällen sorgen großfamiliäre Strukturen für die Sicherung der Grundversorgung (ÖB Ankara 4.2025, S. 57). In Zeiten wirtschaftlicher Not wird die Großfamilie zur wichtigsten Auffangstation. Gerade die Angehörigen der ärmeren Schichten, die zuletzt aus ihren Dörfern in die Großstädte zogen, reaktivieren nun ihre Beziehungen in ihren Herkunftsdörfern. In den dreimonatigen Sommerferien kehren sie in ihre Dörfer zurück, wo zumeist ein Teil der Familie eine kleine Subsistenzwirtschaft aufrechterhalten hat (Standard 25.7.2022). NGOs, die Bedürftigen helfen, finden sich vereinzelt nur in Großstädten (ÖB Ankara 4.2025, S. 57).
Die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist gewährleistet. Unterkünfte im unteren Preissegment sind Mangelware. Die Zahl der Obdachlosen steigt durch Flüchtlinge, Inflation und zuletzt durch das Erdbeben. Bis auf einige gemeinnützige Einrichtungen mit wenigen Plätzen gibt es keine staatlichen Obdachlosenunterkünfte (AA 20.5.2024, S. 21).
Sozialbeihilfen / -versicherung
Letzte Änderung 2025-08-06 13:01
Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität, gewährt (AA 20.5.2024, S. 21). Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftung für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfı) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind (AA 14.6.2019). Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können (AA 20.5.2024, S. 21; vgl. ÖSV/Hekimler A. 14.11.2020).
Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber 46 Sozialunterstützungsleistungen, wobei der Anspruch an schwer zu erfüllende Bedingungen gekoppelt ist. - Hierzu zählen (alle mit Stand: April 2025): Sachspenden in Form von Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und 300 Lira für das erste, 400 für das zweite, 600 ab dem dritten Kind beträgt; für hilfsbedürftige Familien mit Mehrlingen: Kindergeld für die Dauer von zwölf Monaten über monatlich 400 Lira, wenn das pro Kopf Einkommen der Familie 7.368,22 Lira nicht übersteigt; finanzielle Unterstützung für Gebärende: sog. "Stillgeld" in einmaliger Höhe von 1.238 TL (bei geleisteten Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst); Wohnprogramme; Pensionen und Betreuungsgeld für Behinderte und ältere pflegebedürftige Personen: zwischen 3.723,27 und 5.584,91 Lira je nach Grad der Behinderung. Zudem existiert eine Unterstützung in der Höhe von 10.125,56 Lira für Personen, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern (Grad der Behinderung von mindestens 50 % sowie Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag). Witwenunterstützung: Unterstützung von monatlich 1.000 Lira für Witwen, in deren Haushalt keine sozialversicherte Person lebt und welche bedürftig sind, aus dem Sozialhilfe- und Solidaritätsfonds der Regierung. Zudem gibt es die Hinterbliebenenpension, die sich nach dem Monatseinkommen des verstorbenen Ehepartners richtet, maximal 75 % des Bruttomonatsgehalts des verstorbenen Ehepartners (ÖB Ankara 4.2025, S. 57f.).
Pflegebedürftigkeit ist bis heute im türkischen Sozialversicherungssystem nicht als Risiko anerkannt, und es existiert auch keine einheitliche Definition des Begriffs "Pflegebedürftigkeit". Im Endeffekt gibt es kein System, das die Pflegebedürftigen oder ihre pflegenden Familienangehörigen direkt oder indirekt finanziell unterstützt. In der Türkei ist Pflege im eigenen Heim eine weitverbreitete Praxis, wobei es sich selten um eine professionelle Pflege handelt, da sich diese nicht einmal annähernd jeder leisten kann. Ein weiteres, immer mehr bemerkbar werdendes Problem ist der Fachkräftemangel im Pflegebereich. Die einzige Leistung, die seit einigen Jahren gewährt wird, ist das sog. Pflegegeld, das allerdings nicht mit dem Pflegegeld in Österreich zu vergleichen ist. In der Türkei hat nicht jeder Bedürftige bei Eintritt des Pflegefalles Anspruch auf die Pflegegeldleistung. Im bestehenden System werden geistig oder körperlich behinderten Personen ab dem Behinderungsgrad von über 50 % und unter sehr strengen Auflagen Leistungen zugesprochen, wobei diese finanziellen Leistungen bei Weitem nicht die anfallenden Kosten decken (ÖSV/Hekimler A. 14.11.2020).
Das Sozialversicherungssystem besteht aus zwei Hauptzweigen, nämlich der langfristigen Versicherung (Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung) und der kurzfristigen Versicherung (Berufsunfälle, berufsbedingte und andere Krankheiten, Mutterschaftsurlaub) (SGK 2016). Das türkische Sozialversicherungssystem finanziert sich nach der Allokationsmethode durch Prämien und Beiträge, die von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und dem Staat geleistet werden. Für die arbeitsplatzbezogene Unfall- und Krankenversicherung inklusive Mutterschaft bezahlt der unselbstständig Erwerbstätige nichts, der Arbeitgeber 2 %; für die Invaliditäts- und Pensionsversicherung beläuft sich der Arbeitnehmeranteil auf 9 % und der Arbeitgeberanteil auf 11 %. Der Beitrag zur allgemeinen Krankenversicherung beträgt für die Arbeitnehmer 5 % und für die Arbeitgeber 7,5 % (vom Bruttogehalt). Bei der Arbeitslosenversicherung zahlen die Beschäftigten 1 % vom Bruttolohn (bis zu einem Maximum) und die Arbeitgeber 2 %, ergänzt um einen Beitrag des Staates in der Höhe von 1 % des Bruttolohnes (bis zu einem Maximumwert) (SSA 9.2018).
Arbeitslosenunterstützung
Letzte Änderung 2025-08-06 13:01
Die Arbeitslosenversicherung wurde im Jahr 1999 eingeführt und ist als Pflichtversicherung konzipiert. Versichert sind grundsätzlich alle Personen, die einer Beschäftigung im Rahmen eines Arbeitsvertrages nachgehen. Bestimmte Personengruppen sind von der Versicherungspflicht ausdrücklich ausgenommen, wie z. B. die Beamten und diejenigen, welche selbstständig einem Beruf nachgehen. Generell wird zwischen aktiven und passiven Leistungen unterschieden. Das von der Versicherung gezahlte Arbeitslosengeld stellt eine passiv geleistete Hilfe, eine angebotene Arbeits- und Berufsausbildung dagegen eine aktive Hilfsleistung dar. Im Fall der Arbeitslosigkeit gibt es nur eine finanzielle Unterstützung, die aus der Arbeitslosenversicherung gewährt wird, nämlich das Arbeitslosengeld. Daher wird nach dem zeitlich befristeten Arbeitslosengeld keine weitere finanzielle Leistung aus der Arbeitslosenversicherung sowie aus weiteren Institutionen erbracht (ÖSV/Hekimler A. 14.11.2020).
Arbeitslosengeld wird maximal zehn Monate lang ausbezahlt, wenn zuvor eine ununterbrochene, angemeldete Beschäftigung von mindestens 120 Tagen bestanden hat und nachgewiesen werden kann. Die Höhe des Arbeitslosengeldes richtet sich nach dem Durchschnittsverdienst der letzten vier Monate und beträgt 40 % des Durchschnittslohns der letzten vier Monate, maximal jedoch 80 % des Bruttomindestlohns. Die Leistungsdauer richtet sich danach, wie viele Tage der Arbeitnehmer in den letzten drei Jahren Beiträge entrichtet hat (İŞKUR o.D.; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 57).
Personen, die 600 Tage lang Zahlungen geleistet haben, haben Anspruch auf 180 Tage Arbeitslosengeld. Bei 900 Tagen beträgt der Anspruch 240 Tage, und bei 1.080 Beitragstagen macht der Anspruch 300 Tage aus (IOM 10.2024, S. 2; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 57, İŞKUR o.D.). Zudem muss der Arbeitnehmer die letzten 120 Tage vor dem Leistungsbezug ununterbrochen in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis gestanden haben. Für die Dauer des Leistungsbezugs übernimmt die Arbeitslosenversicherung die Beiträge zur Kranken- und Mutterschutzversicherung (ÖB Ankara 4.2025, S. 57; vgl. ÖSV/Hekimler A. 14.11.2020). Das Gesetz schreibt vor, dass das Arbeitsverhältnis nicht auf Betreiben des Arbeitnehmers aufgelöst oder aufgrund seines Fehlverhaltens gekündigt worden sein darf (ÖSV/Hekimler A. 14.11.2020).
Nach Erhöhung des Mindestlohns im Jänner 2025 beträgt der Mindestarbeitslosenbetrag derzeit 10.323 Lira (ca. 250 EUR), der Maximalbetrag 20.646 Lira (rund 500 EUR) (İŞKUR 2025; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 57, CottGroup 25.12.2024).
Behandlung nach Rückkehr
Letzte Änderung 2025-08-06 13:33
Die türkischen Behörden unterhalten eine Reihe von Datenbanken, die Informationen für Einwanderungs- und Strafverfolgungsbeamte bereitstellen. Das "Allgemeine Informationssammlungssystem", das Informationen über Haftbefehle, frühere Verhaftungen, Reisebeschränkungen, Wehrdienstaufzeichnungen und den Steuerstatus liefert, ist in den meisten Flug- und Seehäfen des Landes verfügbar. Ein separates Grenzkontroll-Informationssystem, das von der Polizei genutzt wird, sammelt Informationen über frühere Ankünfte und Abreisen. Das Direktorat, zuständig für die Registrierung von Justizakten, führt Aufzeichnungen über bereits verbüßte Strafen. Das "Zentrale Melderegistersystem" (MERNIS) verwaltet Informationen über den Personenstand (DFAT 16.5.2025, S. 41).
Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Im anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert. In der Regel wird ein Anwalt hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter. Bei der Befragung durch den Richter ist der Anwalt ebenfalls anwesend. Wenn aufgrund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise ebenfalls festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt (AA 24.8.2020, S. 27; vgl. UKHO 10.2019a, S. 49).
Personen, die für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) oder eine mit der PKK verbündete Organisation tätig sind/waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen [Stand Juni 2025]. Das gleiche gilt auch für die Tätigkeit in bzw. für andere Terrororganisationen wie die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), die türkische Hisbollah [Anm.: auch als kurdische Hisbollah bekannt, und nicht mit der schiitischen Hisbollah im Libanon verbunden], al-Qa'ida, den Islamischen Staat (IS) etc. Seit dem Putschversuch 2016 werden Personen, die mit dem Gülen-Netzwerk in Verbindung stehen, in der Türkei als Terroristen eingestuft. Nach Mitgliedern der Gülen-Bewegung, die im Ausland leben, wird zumindest national in der Türkei gefahndet; über Sympathisanten werden (eventuell nach Vernehmungen bei der versuchten Einreise) oft Einreiseverbote verhängt (ÖB Ankara 4.2025, S. 55). Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) als Teilorganisationen der als terroristisch eingestuften PKK (TRMFA 2022). Die PYD bzw. ihr militärischer Arm, die YPG, sind im Unterschied zur PKK seitens der EU nicht als terroristische Organisationen eingestuft (EU 31.1.2025).
Öffentliche Äußerungen, auch in sozialen Netzwerken, Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten, Beerdigungen etc. im Ausland, bei denen Unterstützung für kurdische Belange geäußert wird, können strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie als Anstiftung zu separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen (AA 20.5.2024, S. 15f.), auch das bloße Liken eines fremden Beitrages in sozialen Medien, und Handlungen (z. B. die Unterzeichnung einer Petition) (AA 28.7.2022, S. 15) zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung führen und sogar als Indizien für eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation herangezogen werden. Für die Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen reicht hierfür ggf. bereits die Mitgliedschaft in bestimmten Vereinen oder die Teilnahme an oben aufgeführten Arten von Veranstaltungen aus (AA 20.5.2024, S. 15f.). Auch nicht-öffentliche Kommentare können durch anonyme Denunziation an türkische Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet werden (AA 24.4.2025). Es sind zudem Fälle bekannt, in denen Türken, auch Doppelstaatsbürger, welche die türkische Regierung in den Medien oder in sozialen Medien kritisierten, bei der Einreise in die Türkei verhaftet oder unter Hausarrest gestellt wurden, bzw. über sie ein Reiseverbot verhängt wurde (MBZ 31.10.2019, S. 52; vgl. AA 24.4.2025). Festnahmen, Strafverfolgungen oder Ausreisesperren sind auch im Zusammenhang mit regierungskritischen Stellungnahmen in den sozialen Medien zu beobachten, vermehrt auch aufgrund des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung. Hierfür wurden bereits mehrjährige Haftstrafen verhängt. Auch Ausreisesperren können für Personen mit Lebensmittelpunkt z. B. in Deutschland existenzbedrohende Konsequenzen haben (AA 24.4.2025). Laut Angaben von Seyit Sönmez von der Istanbuler Rechtsanwaltskammer sollen an den Flughäfen Tausende Personen, Doppelstaatsbürger oder Menschen mit türkischen Wurzeln, verhaftet oder ausgewiesen worden sein, und zwar wegen "Terrorismuspropaganda", "Beleidigung des Präsidenten" und "Aufstachelung zum Hass in der Öffentlichkeit". Hierbei wurden in einigen Fällen die Mobiltelefone und die Konten in den sozialen Medien an den Grenzübergängen behördlich geprüft. So etwas Problematisches vorgefunden wird, werden in der Regel Personen ohne türkischen Pass unter dem Vorwand der Bedrohung der Sicherheit zurückgewiesen, türkische Staatsbürger verhaftet und mit einem Ausreiseverbot belegt (SCF 7.1.2021; vgl. Independent 5.1.2021). Auch Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden (AA 24.4.2025).
Personen, die in einem Naheverhältnis zu einer im Ausland befindlichen, in der Türkei insbesondere aufgrund des Verdachts der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation bekanntlich gesuchten Person stehen, können selbst zum Objekt strafrechtlicher Ermittlungen werden. Dies betrifft auch Personen mit Auslandsbezug, darunter Österreicher und EU-Bürger, sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz im Ausland, die bei der Einreise überraschend angehalten und entweder in Untersuchungshaft verbracht oder mit einer Ausreisesperre belegt werden. Generell ist jedoch nicht eindeutig feststellbar, ob diese Personen tatsächlich lediglich aufgrund ihres Naheverhältnisses zu einer bekannten gesuchten Person gleichsam in "Sippenhaft" genommen werden, oder ob sie aufgrund eigener Aktivitäten im Ausland (etwa in Verbindung mit der PKK oder der Gülen-Bewegung) ins Visier der türkischen Strafjustiz geraten sind (ÖB Ankara 4.2025, S. 15).
Abgeschobene türkische Staatsangehörige werden von der Türkei rückübernommen. Das Verfahren ist jedoch oft langwierig ÖB Ankara 4.2025, S. 55). Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt (DFAT 16.5.2025, S. 42; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 55). Eine Abfrage im Zentralen Personenstandsregister ist verpflichtend vorgeschrieben, insbesondere bei Rückübernahmen von türkischen Staatsangehörigen. Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. § 3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt. Drittstaatenangehörige werden gemäß ICAO-[International Civil Aviation Organization] Praktiken rückübernommen. Die Türkei hat zudem mit Griechenland, Kirgistan, Pakistan, Rumänien, Syrien und der Ukraine ein entsprechendes bilaterales Abkommen unterzeichnet (ÖB Ankara 4.2025, S. 62). Die ausgefeilten Informationsdatenbanken der Türkei bedeuten, dass abgelehnte Asylbewerber wahrscheinlich die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich ziehen, wenn sie eine Vorstrafe haben oder Mitglied einer Gruppe von besonderem Interesse sind, einschließlich der Gülen-Bewegung, kurdischer oder oppositioneller politischer Aktivisten, oder sie Menschenrechtsaktivisten, Wehrdienstverweigerer oder Deserteure sind (DFAT 16.5.2025, S. 42; vgl. MBZ 18.3.2021, S. 71). Anzumerken ist, dass die Türkei keine gesetzlichen Bestimmungen hat, die es zu einem Straftatbestand machen, im Ausland Asyl zu beantragen (MBZ 18.3.2021, S. 71).
Gülen-Anhänger, gegen die juristisch vorgegangen wird, bekommen im Ausland von der dort zuständigen Botschaft bzw. dem Generalkonsulat keinen Reisepass ausgestellt (VB Istanbul 23.6.2025; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 20). Sie erhalten nur ein kurzfristiges Reisedokument, damit sie in die Türkei reisen können, um sich vor Gericht zu verantworten. Sie können auch nicht aus der Staatsbürgerschaft austreten. Die Betroffenen können nur über ihre Anwälte in der Türkei erfahren, welche juristische Schritte gegen sie eingeleitet wurden, aber das auch nur, wenn sie in die Akte Einsicht erhalten, d. h., wenn es keine geheime Akte ist. Die meisten, je nach Vorwurf, können nicht erfahren, ob gegen sie ein Haftbefehl besteht oder nicht (VB Istanbul 23.6.2025).
Eine Reihe von Vereinen (oft von Rückkehrern selbst gegründet) bieten spezielle Programme an, die Rückkehrern bei diversen Fragen wie etwa der Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen sollen. Zu diesen Vereinen gehören unter anderem:
Rückkehrer Stammtisch Istanbul, Frau Çiğdem Akkaya, LinkTurkey, E-Mail: info@link-turkey.com
Die Brücke, Frau Christine Senol, Email: http://bruecke-istanbul.com/
TAKID, Deutsch-Türkischer Verein für kulturelle Zusammenarbeit, ÇUKUROVA/ADANA, E-Mail: almankulturadana@yahoo.de, www.takid.org (ÖB Ankara 4.2025, S. 56).
Strafbarkeit von im Ausland gesetzten Handlungen/ Doppelbestrafung
Hinsichtlich der Bestimmungen zur Doppelbestrafung hat die Türkei im Mai 2016 das Protokoll 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ratifiziert. Art. 4 des Protokolls besagt, dass niemand in einem Strafverfahren unter der Gerichtsbarkeit desselben Staates wegen einer Straftat, für die er bereits nach dem Recht und dem Strafverfahren des Staates rechtskräftig freigesprochen oder verurteilt worden ist, erneut verfolgt oder bestraft werden darf (DFAT 16.5.2025, S. 40).
Gemäß Art. 8 des Strafgesetzbuches sind türkische Gerichte nur für Straftaten zuständig, die in der Türkei begangen wurden (Territorialitätsprinzip) oder deren Ergebnis in der Türkei wirksam wurde. Gegen Personen, die im Ausland für eine in der Türkei begangene Straftat verurteilt wurden, kann in der Türkei erneut ein Verfahren geführt werden (Art. 9). Ausnahmen vom Territorialitätsprinzip sehen die Art. 10 bis 13 des Strafgesetzbuches vor. So werden etwa öffentlich Bedienstete und Personen, die für die Türkei im Ausland Dienst versehen und im Zuge dieser Tätigkeit eine Straftat begehen, trotz Verurteilung im Ausland in der Türkei einem neuerlichen Verfahren unterworfen (Art. 9). Türkische Staatsangehörige, die im Ausland eine auch in der Türkei strafbare Handlung begehen, die mit einer mehr als einjährigen Haftstrafe bedroht ist, können in der Türkei verfolgt und bestraft werden, wenn sie sich in der Türkei aufhalten und nicht schon im Ausland für diese Tat verurteilt wurden (Art. 11/1). Art. 13 des türkischen Strafgesetzbuchs enthält eine Aufzählung von Straftaten, auf die unabhängig vom Ort der Tat und der Staatsangehörigkeit des Täters türkisches Recht angewandt wird. Dazu zählen vor allem Folter, Umweltverschmutzung, Drogenherstellung, Drogenhandel, Prostitution, Entführung von Verkehrsmitteln oder Beschädigung derselben und Geldfälschung (ÖB Ankara 4.2025, S. 55f.). Art. 16 sieht vor, dass die im Ausland verbüßte Haftzeit von der endgültigen Strafe abgezogen wird, die für dieselbe Straftat in der Türkei verhängt wird. Darüber hinaus sind Fälle bekannt, in denen türkische Behörden die Auslieferung von Personen beantragt haben, die aufgrund von Bedenken wegen doppelter Strafverfolgung abgelehnt wurden. Die Türkei wendet die Bestimmungen zur doppelten Strafverfolgung auf einer Ad-hoc-Basis an (DFAT 16.5.2025, S. 40).
Eine weitere Ausnahme vom Prinzip "ne bis in idem", d. h. der Vermeidung einer Doppelbestrafung, findet sich im Art. 19 des Strafgesetzbuches. Während eines Strafverfahrens in der Türkei darf zwar die nach türkischem Recht gegen eine Person, die wegen einer außerhalb des Hoheitsgebiets der Türkei begangenen Straftat verurteilt wird, verhängte Strafe nicht mehr als die in den Gesetzen des Landes, in dem die Straftat begangen wurde, vorgesehene Höchstgrenze der Strafe betragen, doch diese Bestimmungen finden keine Anwendung, wenn die Straftat begangen wird: entweder gegen die Sicherheit von oder zum Schaden der Türkei; oder gegen einen türkischen Staatsbürger oder zum Schaden einer nach türkischem Recht gegründeten privaten juristischen Person (CoE-VC 15.2.2016).
Einer Quelle des niederländischen Außenministeriums zufolge wird die illegale Ausreise aus der Türkei nicht als Straftat betrachtet. Infolgedessen müssten Personen, die unter diesen Umständen zurückkehren, wahrscheinlich nur mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (MBZ 31.8.2023, S. 88).
Rückkehrunterstützung des österreichischen Staates
Letzte Änderung 2025-01-09 14:36
[Dieses Kapitel basiert auf Informationen, die von der Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU GmbH) mit Stand Dezember 2024 zur Verfügung gestellt worden sind (BMI 6.12.2024). Im Bereich der Rückkehrunterstützung kann es zu kurzfristigen Änderungen kommen. Für weitere Informationen sei auf die entsprechende Seite der BBU verwiesen].
Die Mitarbeiter der Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU GmbH) informieren individuell über die Möglichkeiten der freiwilligen Rückkehr bzw. die verfügbaren Unterstützungsleistungen.
Die Rückkehrunterstützung umfasst folgende Leistungen:
Kostenlose individuelle Beratung zur freiwilligen Rückkehr einschließlich Antragsstellung auf finanzielle Unterstützung durch die BBU
Organisatorische Unterstützung bei der Reisevorbereitung
Übernahme der Heimreisekosten
Finanzielle Starthilfe in Höhe von bis zu € 900
Reintegrationsprogrammteilnahme nach der Rückkehr im Zielland
Ein Rechtsanspruch auf diese Unterstützungsleistungen besteht nicht. Die Bewilligung erfolgt durch das österreichische Bundesamt für Fremdwesen und Asyl (BFA). Weitere Informationen zu den aktuellen Unterstützungsangeboten (Rückkehrunterstützung inkl. Reintegrationsunterstützung) sind auf der Webseite www.returnfromaustria.at verfügbar.
Die BBU unterstützt sowohl bei der Reiseplanung und der Flugbuchung als auch bei der Beschaffung von Heimreisedokumenten, einer ggf. notwendigen medizinischen Versorgung sowie mit der Übernahme der Rückreisekosten. Organisatorische Unterstützung kann grundsätzlich in jeder Verfahrenskonstellation gewährt werden. Voraussetzung für die Gewährung der Übernahme der Heimreisekosten ist die Mittellosigkeit der rückkehrenden Person.
Finanzielle Starthilfe
Die Höhe der finanziellen Starthilfe ist in einem degressiven Modell geregelt und staffelt sich nach dem Zeitpunkt der Antragstellung auf unterstützte freiwillige Rückkehr:
Während des laufenden asyl- oder fremdenrechtlichen Verfahrens bis ein Monat nach Rechtskraft der Rückkehrentscheidung: € 900,00 pro Person; ab einem Monat nach Rechtskraft der Rückkehrentscheidung: € 250,00 pro Person
Kernfamilien: Maximalbetrag von € 3.000 pro Familie
Sonderkonstellation: Für vulnerable Rückkehrende, die grundsätzlich von der finanziellen Starthilfe ausgeschlossen wären, kann nach individueller Einzelfallprüfung durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) ein einmaliger Betrag von € 250,00 pro Person gewährt werden.
Kriterien für den Erhalt der finanziellen Starthilfe und der Reintegrationsunterstützung (Ausnahmen im Einzelfall möglich):
Freiwillige Ausreise
Finanzielle Bedürftigkeit bzw. Mittellosigkeit
Erstmaliger Bezug der Unterstützungsleistung
Nachhaltigkeit der Ausreise
Keinerlei Evidenz eines Sicherheitsrisikos durch die freiwillige Rückkehr
Keine schwere Straffälligkeit
Ausgeschlossen vom Bezug der finanziellen Starthilfe sind EWR-Bürger, Personen aus den Westbalkan-Staaten sowie Staatsangehörige von Ländern mit visumsfreier Einreise nach Österreich (z. B. Georgien, Moldawien). Sonderkonstellation: Für vulnerable Rückkehrende aus diesen Regionen, die grundsätzlich von der finanziellen Starthilfe ausgeschlossen wären, kann nach individueller Einzelfallprüfung durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) ein einmaliger Betrag von € 250,00 pro Person gewährt werden
Reintragrationsunterstützung
Für 42 Herkunftsländer können freiwillige Rückkehrer im Sinne des Leitgedankens "Rückkehr mit Perspektiven" Reintegrationsunterstützung im Wert von bis zu € 3.500 beantragen.
Die Abwicklung des Reintegrationsangebots erfolgt mit den Kooperationspartnern:
Frontex (EU Reintegrationsprogramm EURP)
IOM Österreich (Reintegrationsprogramm RESTART IV)
Caritas Österreich (Reintegratonsprogramm IRMA plus III)
OFII (französische Migrationsbehörde „French Office for Immigration and Integration“)
ETTC (im Irak tätige NGO „European Technology and Training Centre“)
Im Rahmen der Reintegrationsprogramme erhalten Rückkehrende umfassende Unterstützung bei der Wiedereingliederung in ihrem Herkunftsland. Dazu gehören individuelle, persönliche Beratung und vorwiegend Sachleistungen z. B. wirtschaftliche, soziale und psychosoziale Hilfen. Die Programme bieten ein breites Spektrum an Leistungen, um einen optimalen Einsatz der Mittel zu gewährleisten.
Weitere Informationen zu den jeweiligen Programmen bzw. für welche Herkunftsländer diese angeboten werden, sind den oben angeführten Seiten zu entnehmen (BMI 6.12.2024).
Quelle
BMI - Bundesministerium für Inneres [Österreich] (6.12.2024): Österreichische Rückkehrunterstützung – Übersicht der Leistungen
2. Beweiswürdigung:
Beweis erhoben wurde im gegenständlichen Beschwerdeverfahren durch Einsichtnahme in die Verfahrensakte des BFA unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben der BF, der von ihnen vorgelegten Beweismittel, der bekämpften Bescheide, der Beschwerdeschriftsätze, durch die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem BVwG und die Einsichtnahme in die aktuellen länderkundlichen Informationen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat der BF, welche der Rechtsvertretung im Vorfeld der mündlichen Verhandlung übermittelt wurden. Ferner wurden amtswegig Auszüge aus dem Strafregister, dem Zentralen Melderegister, dem Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister, dem AJWEB und dem Betreuungsinformationssystem über die Gewährleistung der vorübergehenden Grundversorgung für hilfs- und schutzbedürftige Fremde in Österreich beigeschafft.
2.1. Zum Verfahrensgang:
Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem Akteninhalt.
2.2. Zu den Personen der Beschwerdeführer:
Die personenbezogenen Feststellungen hinsichtlich der BF ergaben sich aus ihren in diesen Punkten einheitlichen, im Wesentlichen widerspruchsfreien Angaben sowie ihren im Verfahren dargelegten Sprach- und Ortskenntnissen und den seitens der BF vorgelegten Bescheinigungsmitteln. Da die BF im gegenständlichen Verfahren durchwegs gleichlautend zu Protokoll gaben, Staatsangehörige der Türkei, der Volksgruppe der Kurden und islamischen Glaubensgemeinschaft angehörig zu sein, waren die diesbezüglichen Feststellungen zu treffen.
Mangels Vorlage von nationalen Identitätsdokumenten im Original konnten die Identitäten der BF nicht festgestellt werden, weshalb gegenständlich Verfahrensidentitäten vorliegen.
Die Feststellungen zum persönlichen Lebenswandel, zur Schulbildung und den beruflichen Betätigungen sowie zu den familiären und privaten Verhältnissen der BF in ihrem Herkunftsstaat ergaben sich aus den diesbezüglich im Umfang des wiedergegebenen Aussagekerns stringenten und gleichlautenden, daher glaubhaften Angaben der BF in den Einvernahmen vor dem BFA sowie in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem erkennenden Gericht. Dass ihr Wohnsitz in der Türkei zuletzt durchgehend in XXXX verortet war, war nach den diesbezüglich ebenso kongruenten Ausführungen der BF1 und BF2 im Rahmen ihrer Angaben im Verfahren unstrittig.
Der Gesundheitszustand der BF wurde auf Basis ihrer eigenen, diesbezüglich glaubhaften Angaben im Verfahren festgestellt. Nach den vorliegenden Länderberichten verfügt die Türkei über ein umfassend ausgebautes landesweites Gesundheitssystem, welches den Zugang zu medizinischer Versorgung ermöglicht. Somit ist es sowohl der BF2, als auch der BF3 möglich, sich auch in der Türkei einer medizinischen Behandlung zu unterziehen. Dass ihnen ein effektiver Zugang zum Gesundheitssystem in der Türkei bzw. eine Behandlungsmöglichkeit unzugänglich sei, behaupteten sie im Verfahren auch nicht. In der Stellungnahme vom 26.08.2025 wurde lediglich ausgeführt, dass aus dem aktuellen LIB zur Türkei nicht hervorgehe, ob eine psychologische Betreuung u.a. in Form von Psychotherapie in der Türkei gewährleistet wäre und deshalb für die Entscheidung nicht herangezogen werden könne. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass sich aus dem aktuellen LIB zur Türkei sehr wohl ergibt, dass „landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet sind“, insbesondere auch bei psychiatrischen Erkrankungen (AA 20.5.2024, S. 21). Die Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgt überwiegend in öffentlichen Institutionen. Bei der Behandlung sind zunehmend private Kapazitäten und ein steigender Standard festzustellen. Insofern kann der Behauptung der BF nicht gefolgt werden und ist jedenfalls von einer Behandlungsmöglichkeit der Erkrankungen der BF in der Türkei auszugehen. Auch Rückkehrer sind nicht vom Gesundheitssystem ausgeschlossen, wie sich den Länderberichten entnehmen lässt; zum Gesundheitssystem zählt auch die Verfügbarkeit von entsprechenden Medikamenten, möge es sich auch nicht um die gleichen wie in Österreich, sondern um Generika handeln.
Soweit die BF in der Stellungnahme vom 24.06.2025 die Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens beantragten, um die Glaubwürdigkeit der BF3 sowie die Ursachen ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigungen und eine allfällige Retraumatisierung im Falle einer Rückkehr in die Türkei zu klären, war diesem Beweisantrag nicht zu entsprechen. Zum Gesundheitszustand der BF3 liegt ein aktueller ärztlicher Entlassungsbericht samt fachärztlicher Diagnosestellung vor. Dieser weist eine rezidivierende depressive Störung in derzeit leichter Ausprägung aus, ohne Hinweis auf psychotische Symptome oder schwerwiegende psychiatrische Einschränkungen. Es bestehen keine Anhaltspunkte für eine akute Suizidalität oder eine behandlungsbedürftige somatische Erkrankung. Die BF3 ist in psychovegetativ stabilem Zustand aus der stationären Behandlung entlassen worden, unter Fortsetzung der begonnenen Psychotherapie und einer einfachen medikamentösen Begleitbehandlung. Damit ist der gesundheitliche Zustand der BF3 hinreichend dokumentiert und geklärt. Nach herrschender Rechtsprechung kommt ärztlichen Attesten und fachärztlichen Befunden die gleiche Beweiskraft zu wie einem gerichtlich eingeholten Sachverständigengutachten, da es auf die innere Wahrheit eines Beweismittels ankommt (vgl. VwSlg 2453 A/1952). Angesichts der bereits vorliegenden fachärztlichen Unterlagen ist daher nicht erkennbar, welche entscheidungsrelevanten Fragen durch ein zusätzliches Gutachten noch geklärt werden sollten. Im Übrigen betrifft die beantragte Beweisaufnahme Fragestellungen (wie die Beurteilung der Glaubwürdigkeit der BF3 oder die Annahme einer Retraumatisierung im Falle einer Rückkehr), die nicht durch medizinische Gutachten, sondern durch das Gericht in freier Beweiswürdigung bzw. auf Basis der länderkundlichen Feststellungen zu beantworten sind. Die Glaubwürdigkeitsprüfung ist ureigene Aufgabe des Gerichts und nicht an Sachverständige delegierbar. Die Einholung eines weiteren Gutachtens würde somit auf einen unzulässigen Erkundungsbeweis hinauslaufen. Hinzu kommt, dass es den Parteien im Rahmen ihrer Mitwirkungspflicht freigestanden wäre, ein entsprechendes Privatgutachten selbst beizubringen, was jedoch nicht geschehen ist. Das Gericht geht daher davon aus, dass der Gesundheitszustand der BF3 durch die vorliegenden Unterlagen ausreichend erhoben ist und kein weiterer Beweisbedarf besteht.
Die Feststellungen zu den Reisebewegungen der BF beruhten auf den diesbezüglich plausiblen und gleichbleibenden Angaben der BF im gegenständlichen Verfahren sowie den vom erkennenden Gericht eingeholten Auszügen aus dem IZR. Insbesondere kam den diesbezüglichen Angaben der BF in der Erstbefragung erhöhte Glaubwürdigkeit zu, da diese gemäß § 19 Abs. 1 AsylG 2005 vor allem der Ermittlung der Identität und der Reiseroute des Fremden dient (VwGH 16.07.2020, Ra 2019/19/0419).
Die getroffenen Feststellungen zum Aufenthalt der BF in Österreich, ihren Aktivitäten und Integrationsbemühungen, gründeten sich auf den bezughabenden Darlegungen der BF in den Verfahren vor dem BFA und dem BVwG, denen keine gegenteiligen Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens entgegenstanden. Ferner wurden amtswegig Auszüge aus dem Strafregister, dem Zentralen Melderegister, dem Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister, dem AJWEB und dem Betreuungsinformationssystem über die Gewährleistung der vorübergehenden Grundversorgung für hilfs- und schutzbedürftige Fremde in Österreich beigeschafft, denen keine gegenteiligen Beweisergebnisse entnommen werden konnten. Zweifel an den diesbezüglichen Angaben der BF bestanden daher prinzipiell nicht. Der Besuch von Basisbildungskursen wurde von dem BF1 und der BF2 durch die Vorlage von Besuchsbestätigungen bescheinigt, Zertifikate über absolvierte Deutsch- oder Integrationsprüfungen vermochten sie im Verfahren nicht in Vorlage zu bringen. Der Besuch eines Basisbildungskurses sowie der bestandenen Integrationsprüfung der BF3 wurde durch die Vorlage einer Besuchsbestätigung sowie eines entsprechenden Zertifikates bescheinigt. Davon, dass sich die BF1 bis BF3 grundlegend auf Deutsch verständigen können, konnte sich die erkennende Richterin durch persönliche Wahrnehmung in der mündlichen Beschwerdeverhandlung, überzeugen. In Bezug auf die BF4 bis BF6 konnten geringfügige Deutschkenntnisse, in abwägender Gegenschau der kurzen Aufenthaltsdauer einerseits und ihrer schulischen bzw. kindergartenbezogenen Inklusion und sich zwangsläufig daraus ergebenden Interaktion mit ihrem pädagogischen Umfeld sowie der alterstypisch-vermehrten Kontakte mit anderen Kinder andererseits, als wahr unterstellt werden. Die Mitgliedschaft in Vereinen oder erbrachte gemeinnützige Leistungen (sofern altersmäßig zumutbar) wurden von den BF nicht behauptet. Die Feststellungen zu ihren freundschaftlichen und sozialen Kontakten sind ihren dahingehend plausiblen Angaben zu entnehmen. Dass sie im Bundesgebiet über keine besonders engen Freundschaften verfügen, wurde einerseits aufgrund dessen, dass sie derartige Kontakte konkretisiert im Verfahren (beispielsweise durch Namenswiedergabe oder die Vorlage von entsprechenden Unterstützungs- bzw. Empfehlungsschreiben) nicht ausgeführt haben, festgestellt, andererseits aufgrund der kurzen Aufenthaltsdauer der BF im österreichischen Bundesgebiet und der geringen Deutschkenntnisse, welche die Begründung intensiver persönlicher Kontakte zu Österreichern kontraindizierte, angenommen. Der BF1 gab in der mündlichen Beschwerdeverhandlung an, dass es sich bei seinen Freunden um „Kirchenfreunde“ sowie ein paar türkischstämmige Familien handeln würde, die BF2 gab selbst an, nur sehr wenige Freunde zu haben. Die BF3 erklärte in der Verhandlung zwar, viele Freunde zu haben, gab jedoch auch gleichzeitig an, nicht viel aus dem Haus zu kommen (VHS, S 6). Das Vorhandensein von familiären Anknüpfungspunkten in Österreich sowie von Verwandten in Deutschland konnte aufgrund der Angaben der BF in der mündlichen Beschwerdeverhandlung erhoben werden, jedoch gaben die BF in diesem Zusammenhang auch an, keinen Kontakt zu jenen Personen zu haben. Es ging aus den Angaben der BF auch ansonsten nicht hervor, dass sie anderweitig familiäre Kontakte unterhalten würden.
Dass die BF1 bis BF3 in Österreich strafrechtlich unbescholten sind, geht aus der Einsicht in das Strafregister der Republik Österreich hervor. Die übrigen BF sind aufgrund ihres jungen Alters noch strafunmündig.
2.3. Zu den angegebenen Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates:
2.3.1. Die BF führten aus, die Familie der geschiedenen Schwägerin der BF2 habe diese für die Scheidung verantwortlich gemacht. In diesem Zusammenhang sei vor ihrem Haus ein Auto angezündet und das Geschäft der BF2 durch wiederholte Belästigungen zur Schließung gebracht worden. Zudem habe ein Mann namens XXXX die BF3 über einen längeren Zeitraum belästigt, ihr nachgestellt und versucht, sie mitzunehmen, weshalb diese die Schule abgebrochen und einen Selbstmordversuch unternommen habe. Anzeigen bei der Polizei hätten zu keinen Konsequenzen geführt. Darüber hinaus sei die BF3 im Keller des Wohnhauses Opfer einer sexuellen Nötigung durch einen unbekannten Mann geworden, wobei sich ähnliche Vorfälle mehrfach wiederholt hätten. Sie habe zudem angegeben, von der strenggläubigen Familie des BF1 gezwungen worden zu sein, ein Kopftuch zu tragen und regelmäßig einen Korankurs zu besuchen, und im Falle von Ungehorsam um ihre Sicherheit gefürchtet zu haben. Schließlich sei auch einer der Söhne der BF in der Schule bedroht worden, während die BF2 von wiederholten Drohungen berichtet habe, ihre Tochter könne entführt und „verkauft“ werden. Insgesamt sei die Familie aus der Türkei ausgereist, um insbesondere die Kinder in Sicherheit zu bringen.
Die erkennende Richterin gelangte nach Durchführung eines verwaltungsgerichtlichen Ermittlungsverfahrens und Anhörung der BF im Rahmen einer mündlichen Beschwerdeverhandlung zur Erkenntnis, dass den Schlussfolgerungen des Bundesamtes im Ergebnis nicht entgegenzutreten war. Allein schon der Vergleich des Aussageverhaltens des BF - jeweils für sich isoliert als auch untereinander betrachtet - in den unterschiedlichen Abschnitten der parteienschaftlichen Einlassung in die hiesigen Verfahren (Erstbefragung, Einvernahme und Verhandlung) förderte bereits erhebliche Widersprüche im Kernvorbringen der BF zu Tage und unterlag der als maßgeblich dargestellte Verfolgungssachverhalt auch Steigerungen, weshalb die BF persönlich als nicht glaubwürdig im Verfahren zu würdigen waren, dies aus nachfolgend zusammengetragenen Erwägungen:
Aufgrund der Diversität des Fluchtvorbringens der BF sei in weiterer Folge losgelöst voneinander auf die einzelnen dargelegten Punkte eingegangen; insoweit ein thematischer Nahebezug besteht, werden Themenkomplexe auch gemeinsam behandelt. Dies insbesondere, um die Übersichtlichkeit zu wahren.
2.3.2. Zum behaupteten Brandanschlag
2.3.2.1. Bereits hinsichtlich der Frage, wessen Fahrzeug von dem behaupteten Brandanschlag betroffen gewesen sein soll, ergeben sich eklatante Widersprüche im Vorbringen der BF. So brachte die BF2 in der Erstbefragung zunächst vor, die Familie der geschiedenen Schwägerin habe ihr Auto („unser Auto“) angezündet (BF2, AS 11). In der behördlichen Einvernahme führte sie jedoch wiederum aus, es habe sich um ein Fahrzeug gehandelt, das ihr Bruder während eines Türkei-Aufenthaltes benützt habe, und das vor ihrem Haus abgebrannt sei (BF2, AS 35). Demgegenüber schilderte die BF3 in der Erstbefragung ebenfalls, ihr Auto („unser Auto“) sei vor dem Wohnhaus der Familie in Brand gesteckt worden (BF3, AS 11). Der BF1 wiederum gab an, es sei das Auto des Schwagers, konkret des Bruders seiner Ehefrau, gewesen, das vor dem Haus „abgefackelt“ worden sei (BF1, AS 35). Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch, dass der BF1 diesen Vorfall, der von den anderen Familienmitgliedern als zentrales Bedrohungselement dargestellt wurde, selbst ausdrücklich als „Kleinigkeit“ bezeichnete (BF1, AS 35).
Die Angaben der einzelnen Familienmitglieder divergieren somit bereits in einem für die behauptete Bedrohungslage zentralen Punkt, nämlich wessen Auto überhaupt von dem Vorfall betroffen gewesen sein soll. Angesichts der Schwere eines Branddelikts direkt vor dem Wohnhaus wäre zu erwarten gewesen, dass die BF diesen Vorfall konsistent, detailreich und nachvollziehbar schildern können. Stattdessen divergieren die Angaben bereits in der Frage, wessen Fahrzeug betroffen war, und bewertet der BF1 den Vorfall sogar als nebensächlich. Die aufgezeigten Widersprüche lassen vielmehr erkennen, dass es den BF nicht gelingt, ein in sich schlüssiges und glaubhaftes Bild zu vermitteln, was bereits erheblich gegen die Glaubhaftigkeit des behaupteten Vorfalles spricht, ebenso wie die eigene Bagatellisierung durch den BF1.
2.3.2.2. Auch in Bezug auf die Frage, wer den angeblichen Brandanschlag verübt haben soll und wie die staatlichen Stellen darauf reagierten, ergeben sich erhebliche Ungereimtheiten. So gab der BF1 in der behördlichen Einvernahme an, der Täter sei ein gewisser „ XXXX “ gewesen, dessen Identität der Polizei bekannt gewesen sei, der jedoch aufgrund seiner Drogensucht und fehlenden Zurechnungsfähigkeit nicht zur Verantwortung gezogen werden konnte (BF1, AS 36). Die BF2 hingegen erklärte zunächst in ihrer behördlichen Einvernahme, es handle sich um „ XXXX “/„ XXXX “/„ XXXX “, der auf einer Videoaufnahme als Brandstifter zu erkennen sei (BF2, AS 46). In der mündlichen Beschwerdeverhandlung erweiterte sie dieses Vorbringen dahingehend, dass dieser Täter Teil einer „großen Mafia“ sei, die in XXXX „alles in der Hand“ habe, weshalb die Polizei untätig geblieben sei, wobei sie überdies davon sprach, dass der Gerichtsakt „verschwunden“ sei und sie hierzu sogar eine Eingabe über das Portal e-Devlet gemacht habe (VHS, S 15 f).
Damit stehen sich mehrere, nicht miteinander vereinbare Schilderungen gegenüber. Nach der Darstellung des BF1 habe die Polizei genau gewusst, wer der Täter war, sei aber wegen dessen angeblicher Schuldfähigkeit untätig geblieben. Nach der Darstellung der BF2 sei der Täter hingegen eindeutig auf einem Video erkennbar gewesen, jedoch sei es infolge „mafiöser Verbindungen“ zu einem vollständigen Verschwinden des Aktes gekommen. Während also in einer Version die Strafverfolgung an der persönlichen Situation des Täters („nicht zurechnungsfähig“) gescheitert sein soll, wird in der anderen Version behauptet, es habe eine klare Beweislage gegeben, die nur aufgrund von Korruption oder Einflussnahme nicht weiterverfolgt worden sei. Hinzu kommt die unterschiedliche Täterbezeichnung („ XXXX “ einerseits, „ XXXX / XXXX / XXXX “ andererseits), wodurch bereits die grundlegende Identität des angeblichen Brandstifters unklar bleibt.
Die aufgezeigten eklatanten Widersprüche in einem zentralen Punkt des Vorbringens – nämlich wer den behaupteten Brandanschlag verübt haben soll und weshalb die Behörden nichts unternahmen – lassen erkennen, dass es den BF nicht gelingt, ein in sich schlüssiges, nachvollziehbares und konsistentes Bild zu vermitteln. Gerade wenn ein gezielter Anschlag auf ein Fahrzeug unmittelbar vor dem eigenen Wohnhaus behauptet wird, wäre zu erwarten gewesen, dass die Betroffenen hier übereinstimmende, konkrete und detailreiche Angaben machen. Die massiv abweichenden Schilderungen sprechen vielmehr klar gegen die Glaubhaftigkeit des Vorbringens.
2.3.2.3. Die BF2 erwähnte im Verfahren zwar beiläufig, es existiere eine Videoaufzeichnung, auf der der Täter des angeblichen Brandanschlages eindeutig zu erkennen sei (BF2, AS 46). Ein solches Video wurde jedoch zu keinem Zeitpunkt vorgelegt oder auch nur näher konkretisiert; weder Quelle, Zeitpunkt der Aufnahme noch das Speichermedium oder die Person, in deren Besitz sich die Aufnahme befinden soll, wurden genannt. Ebenfalls fehlt jede Bestätigung, dass die Polizei eine derartige Aufnahme tatsächlich gesichtet oder sichergestellt hätte (vgl. dazu die widersprüchlichen Angaben zur polizeilichen Vorgangsweise, VHS, S 15). Angesichts der behaupteten Beweisqualität einer „eindeutigen“ Videoaufnahme wäre zu erwarten gewesen, dass die BF2 dieses leicht beizubringende Bescheinigungsmittel (oder zumindest nachvollziehbare Kopien/Standbilder) auch tatsächlich in Vorlage bringt. Da dies unterblieb und auch keinerlei plausible Erklärung für die Nichtvorlage erfolgt ist, geht das Gericht davon aus, dass eine derartige Videoaufnahme tatsächlich nicht existiert.
Gleiches gilt für das von der BF2 ins Treffen geführte Schreiben über das Portal e-Devlet, mit dem sie den Vorfall angeblich bis „zur höchsten Stelle“ gemeldet habe (VHS, S 15). Auch dieses Dokument wurde nicht beigebracht; es fehlt sowohl eine Abschrift als auch ein Screenshot oder eine Bestätigung mit Eingangsdatum oder Geschäftszahl. Zwar behauptete die BF2, derzeit keinen Zugang zu e-Devlet zu haben, erklärte jedoch gleichzeitig, die „Anzeigenunterlagen vom Brand“ zu Hause zu besitzen (VHS, S 15) – ohne diese jemals vorzulegen. Dieser Widerspruch bleibt unerklärt und spricht ebenfalls gegen das Vorliegen der behaupteten Unterlagen.
In der Gesamtschau ist daher festzuhalten, dass die BF trotz mehrfacher Hinweise auf angeblich vorhandene Belege – Videoaufnahme, e-Devlet-Schreiben – keine überprüfbaren Nachweise für den behaupteten Vorfall vorgelegt haben. Das Gericht geht daher davon aus, dass diese Beweismittel tatsächlich nicht existieren und die entsprechenden Behauptungen lediglich eine nachträgliche Steigerung des Vorbringens darstellen. Dies schwächt das Vorbringen zum angeblichen Brandanschlag zusätzlich und nachhaltig in seiner Glaubhaftigkeit.
2.3.3. Völlig unplausibel erscheint auch die von der BF2 in der mündlichen Beschwerdeverhandlung geschilderte Begründung dafür, weshalb ihr die Familie der geschiedenen Schwägerin angeblich die Schuld am Scheitern der Ehe ihres Bruders zuschreibe. So führte die BF2 aus, die ehemalige Schwägerin habe ihr vorgeworfen, die Ehe sei nur deshalb gescheitert, weil sie eine zu enge Beziehung zu ihrem Bruder habe und ihn zu sehr beeinflusse (VHS, S 16). Dieses Vorbringen entbehrt jedoch jeder Lebenswahrscheinlichkeit. Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb allein eine enge geschwisterliche Bindung ursächlich für die Scheidung einer Ehe sein sollte, zumal die BF2 selbst mehrfach betont hat, sich in die Auseinandersetzungen zwischen ihrem Bruder und dessen Ehefrau nicht eingemischt zu haben. Hinzu kommt, dass die behauptete Vorwurfsrichtung („zu enge Beziehung“) in eklatantem Widerspruch zu der ebenfalls von der BF2 vorgebrachten Behauptung steht, sie sei gerade deshalb verantwortlich gemacht worden, weil sie die Schwägerin nicht unterstützt und nicht deren Seite ergriffen habe (BF2, AS 37).
Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die BF2 in ihrer behördlichen Einvernahme selbst angab, ihr Bruder lebe bereits seit rund zwölf Jahren in Österreich (BF2, AS 37), während sie mit ihrer Familie erst im Juli 2023 die Türkei verlassen habe. Zu jenem Zeitpunkt, als es zur Scheidung kam, bestand somit überhaupt kein persönlicher Kontakt zwischen der BF2 und den Eheleuten in der Türkei. Ein allfälliger Austausch mit der Schwägerin hätte sich daher allenfalls auf gelegentliche Telefonate beschränkt. Es ist aber völlig lebensfremd anzunehmen, dass aus einem derart losen, bloß telefonischen Kontakt ein solches Ausmaß an Hass und Verfolgungswillen seitens der Schwägerin erwachsen sein sollte, dass dieser in Brandstiftungen, Drohungen und mafiöse Bedrohungsszenarien gemündet hätte. Auch aus diesem Grund erscheint die Behauptung, die BF2 sei von der Familie der geschiedenen Schwägerin für das Scheitern der Ehe verantwortlich gemacht und verfolgt worden, als nicht plausibel und in sich widersprüchlich.
2.3.4. Zum Geschäft der BF2
2.3.4.1. Auch das Vorbringen der BF2 zur behaupteten Schließung ihres Kosmetikgeschäftes erweist sich bei näherer Betrachtung als nicht nachvollziehbar. In ihrer behördlichen Einvernahme gab sie an, sie habe das Geschäft schließen müssen, da wiederholt Kunden gekommen seien, die nach dem Umsatz gefragt hätten (BF2, AS 40 f). Bei näherer Schilderung zeigte sich jedoch, dass es sich dabei um völlig alltägliche Situationen handelte. So habe ein Kunde lediglich nach einem Parfum gefragt, ein anderer nach einem Augenbrauenstift – ohne dass es dabei zu Drohungen, Übergriffen oder sonstigen Auffälligkeiten gekommen wäre (BF2, AS 40). Weshalb diese Vorgänge ein Bedrohungsszenario darstellen sollten, erschließt sich nicht.
Noch weniger nachvollziehbar ist die von der BF2 gezogene Verbindung zu einer angeblich in XXXX tätigen Mafia. Auf ausdrückliche Nachfrage räumte sie ein, dass diese Verbindung nicht auf konkreten Wahrnehmungen beruhe, sondern lediglich auf einer persönlichen „Vermutung“ bzw. einem „Gefühl“ (BF2, AS 41). Der behauptete Zusammenhang zwischen den harmlosen Nachfragen von Kunden und einem organisierten Bedrohungsszenario entbehrt damit jeglicher objektiven Grundlage. Dass ein Geschäft allein deshalb geschlossen wird, weil einzelne Kunden Fragen nach Produkten oder nach der Geschäftslage stellen, ist lebensfremd und in keiner Weise plausibel.
2.3.4.2. Völlig unplausibel erscheint in diesem Zusammenhang auch die weitere Darstellung der BF2, wonach sie nach den angeblichen Vorfällen ihr Geschäft geschlossen und ihre Waren von da an von zuhause aus verkauft habe (BF2, AS 46). Wenn die von ihr behaupteten Bedrohungen tatsächlich von Personen ausgingen, die sich als Kunden ausgaben, so wäre es naheliegend gewesen, dass diese Personen in einem solchen Fall geradewegs zu ihrem Wohnhaus gekommen wären, um ihre Forderungen dort fortzusetzen oder noch zu intensivieren. Es widerspricht jeder Lebenserfahrung, dass jemand, der sich durch das Verhalten von „Kunden“ in seinem Geschäft existenziell bedroht fühlt, dieselben Kunden anschließend freiwillig in seine private Wohnung einlädt, die in aller Regel als noch verletzlicherer und weniger geschützter Ort anzusehen ist.
Darüber hinaus ist zu bedenken, dass die BF2 damit ihre eigene Familie, insbesondere ihre Kinder, einer noch größeren Gefahr ausgesetzt hätte, indem sie die angeblichen Bedroher unmittelbar in den familiären Lebensbereich hineingelassen hätte. Ein solches Verhalten ist, wenn man die behaupteten Bedrohungsszenarien ernst nähme, völlig unvernünftig und widerspricht jeder nachvollziehbaren Schutzstrategie. Vielmehr spricht dieses Vorbringen dafür, dass die BF2 in Wahrheit gar keinen ernsthaften Bedrohungen ausgesetzt war und nachträglich versucht, alltägliche Geschäftsschwierigkeiten in ein Bedrohungsszenario umzudeuten.
2.3.4.3. Zusätzlich fällt auf, dass die BF2 im Rahmen der behördlichen Einvernahme auch hinsichtlich der Häufigkeit der angeblichen Vorfälle widersprüchliche Angaben machte. Einerseits erklärte sie, derartige Vorfälle, bei denen sich Personen in ihrem Geschäft nach ihrem Umsatz erkundigt hätten, seien „sehr häufig“ vorgekommen (BF2, AS 40). Kurz darauf relativierte sie jedoch ihre Darstellung und sprach nur noch davon, insgesamt „drei Mal“ in dieser Weise bedrängt worden zu sein (BF2, AS 41). Diese Diskrepanz zwischen einer unbestimmten, aber hohen Häufigkeit einerseits und einer klar begrenzten, geringen Zahl von drei Vorfällen andererseits ist augenfällig. Gerade wenn es um die Schilderung existenzbedrohender Ereignisse geht, wäre zu erwarten gewesen, dass die BF2 konsistent und ohne derartige Abweichungen berichtet. Die widersprüchlichen Angaben legen vielmehr nahe, dass die behaupteten Vorfälle nicht in der von der BF2 dargestellten Form stattgefunden haben und nachträglich übersteigert oder dramatisiert wurden.
2.3.4.4. Besonders augenfällig ist auch der Widerspruch zwischen den Schilderungen der BF2 und jenen des BF1 zur angeblichen Bedrohung im Zusammenhang mit dem Geschäft. Während die BF2 in ihrer Einvernahme mehrfach erklärte, sie habe sich durch das Verhalten von Kunden im Geschäft bedroht gefühlt, die nach Umsatz und geschäftlichen Details gefragt hätten (BF2, AS 40 f), schilderte der BF1 in seiner Einvernahme ein völlig anderes Szenario. Er wisse nur, dass seine Frau Nachrichten von Seiten der geschiedenen Schwägerin erhalten habe, in denen „immer wieder Dinge angedroht worden seien“; die Schwägerin selbst sei jedoch nie erschienen, sondern habe Drohungen über andere Personen ausrichten lassen (BF1, AS 36). Damit divergieren die Darstellungen in einem zentralen Punkt. Nach den Angaben der BF2 seien es reale Kundenkontakte gewesen, die für sie ein Bedrohungsszenario darstellten, wohingegen der BF1 von anonymen Drohungen aus der Ferne berichtete, die über Dritte überbracht worden seien. Gerade wenn beide Ehepartner von denselben angeblichen Vorfällen betroffen gewesen wären, wäre zu erwarten gewesen, dass ihre Darstellungen zumindest im Kern übereinstimmen. Die erheblichen Unterschiede in der Schilderung sprechen daher klar gegen die Glaubhaftigkeit des Vorbringens.
2.3.4.5. Besonders ins Auge fällt die erhebliche Steigerung des Vorbringens der BF2 im Laufe des Verfahrens. In der behördlichen Einvernahme beschränkte sie sich darauf, darzustellen, dass ihr Geschäft geschlossen werden musste, weil wiederholt Kunden nach den Umsätzen gefragt hätten. In diesem Zusammenhang führte sie selbst aus, dass die von ihr behauptete Verbindung dieser Personen zu mafiösen Strukturen bloß auf einer eigenen Vermutung beruhe (BF2, AS 40 f). Von konkreten Bedrohungen oder gar Forderungen war in diesem Zusammenhang jedoch nicht die Rede. Demgegenüber brachte die BF2 in der mündlichen Beschwerdeverhandlung ein völlig neues und weitaus schwerwiegenderes Bedrohungsszenario vor. Nunmehr will sie insgesamt dreimal ausdrücklich bedroht worden sein; die angeblichen Täter hätten sie nicht nur unter Druck gesetzt, sondern auch Geldforderungen erhoben und im Falle der Nichtzahlung damit gedroht, ihre Tochter zu entführen und zu verkaufen (VHS, S 16).
Ein derart gravierender Vorfall, der unzweifelhaft als zentrale Grundlage des Fluchtvorbringens zu erwarten gewesen wäre, blieb somit in der niederschriftlichen Erstschilderung gänzlich unerwähnt. Gerade bei derartigen massiven Drohungen, die die Unversehrtheit der eigenen Tochter betreffen, wäre zu erwarten gewesen, dass die BF2 diese unmittelbar und von Beginn an gegenüber den Behörden hervorhebt und detailliert schildert. Das völlige Fehlen dieses Aspekts in der behördlichen Einvernahme, bei der ausdrücklich nach sämtlichen Fluchtgründen gefragt wurde, ist daher nicht nachvollziehbar. Die nachträgliche Präsentation eines solchen Vorbringens erst in der mündlichen Verhandlung erweckt vielmehr den Eindruck einer asyltaktischen Steigerung: Die BF2 passte ihre Aussagen im Verfahren offenbar sukzessive an, um ihre Schutzbedürftigkeit schwerwiegender erscheinen zu lassen. Diese Vorgehensweise ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ein wesentliches Indiz gegen die Glaubwürdigkeit.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die BF2 ihr Vorbringen im Laufe des Verfahrens von bloßen Umsatzfragen durch Kunden bis hin zu massiven Bedrohungen mit Erpressungs- und Entführungsszenarien kontinuierlich gesteigert hat. Gerade diese Diskrepanz zwischen einer anfänglich harmlosen Schilderung und den späteren dramatischen Behauptungen unterminiert die Glaubwürdigkeit des gesamten Vorbringens und lässt dieses als nicht glaubhaft erscheinen.
2.3.4.6. Schließlich gab der BF1 in der mündlichen Beschwerdeverhandlung selbst an, dass weder er noch die BF2 in der Türkei Probleme gehabt hätten (VHS, S 14). Diese klare Aussage steht in einem eklatanten Widerspruch zum zentralen Vorbringen der BF2, wonach sie in ihrem Geschäft durch mafiöse Strukturen bedroht, zur Zahlung von Geld erpresst und sogar mit der Entführung ihrer Tochter konfrontiert worden sei. Wenn der BF1, der Ehemann und engste Angehörige der BF2, ausdrücklich erklärt, dass seine Frau keinerlei Schwierigkeiten in der Türkei gehabt habe, so spricht dies eindeutig gegen die Glaubwürdigkeit der von der BF2 geschilderten massiven Vorfälle. Es ist nicht nachvollziehbar, dass die BF2 wiederholt und mit Nachdruck von schwerwiegenden Bedrohungen berichtete, während ihr Ehemann in der mündlichen Verhandlung das Gegenteil behauptete. Dieser diametrale Widerspruch innerhalb derselben Familie lässt das Vorbringen der BF2 als konstruiert erscheinen und trägt maßgeblich zur Unglaubwürdigkeit des gesamten Fluchtvorbringens bei.
2.3.5. Zur angeblichen Bedrohung der BF3
2.3.5.1. Allein schon der Umstand, dass die BF3 im Zuge der polizeilichen Erstbefragung lediglich ganz allgemein von einem „Druck“ auf ihre Familie sprach, zudem vom Arbeitsplatzverlust ihrer Eltern sowie einem abgebrannten Auto, jedoch keinerlei auf ihre Person bezogene konkrete Fluchtgründe erwähnte, spricht klar gegen die Glaubwürdigkeit ihres späteren, weitaus detaillierteren Vorbringens. Insbesondere schwerwiegende Vorfälle wie die von ihr später geschilderten sexuellen Belästigungen und Bedrohungen durch einen Mann namens XXXX , der sie über Monate hinweg verfolgt, an der Schule abgepasst und schließlich sogar versucht haben soll, sie mitzunehmen, sowie der von ihr verübte Selbstmordversuch wurden im Rahmen der Erstbefragung mit keinem Wort erwähnt, was erhebliche Zweifel an ihrer persönlichen Glaubwürdigkeit in jenem Sinne weckte, dass sich der Eindruck der faktenfernen Steigerung des Vorbringens zwecks Optimierung der Schutzgewährungswahrscheinlichkeit zwanglos aufdrängte. Dazu ist auszuführen, dass es den Erfahrungen des erkennenden Gerichts diametral widerstreitet, dass schutzbedürftige Fremde nicht in jeder Phase des Verfahrens darauf besinnt sind, ein umfassendes Fluchtvorbringen zu erstatten, um den ihrem Prozessstandpunkt entsprechenden Verfahrensausgang zu erzielen. Dass relevantes Vorbringen (wie hier: eine monatelange Verfolgung und sexuelle Belästigung die in einem Selbstmordversuch gipfelte) in einem nicht unwesentlichen Abschnitt der parteienschaftlichen Einlassung geradezu zurückgehalten wird, ist nicht lebensnah und für jedermann, sohin auch für die BF3 offensichtlich - gemessen an dem im Asylverfahren begehrten Rechtsschutzziel - gänzlich kontraproduktiv, mithin unvernünftig.
Das BVwG verkennt prinzipiell nicht, dass die Erstbefragung gemäß § 19 Abs 1 AsylG 2005 zwar „insbesondere“ der Ermittlung der Identität und der Reiseroute eines Fremden dient und sich nicht auf die „näheren“ Fluchtgründe zu beziehen hat (vgl. hierzu auch VfGH 27.06.2012, U 98/12 und AsylGH 23.10.2012, C19 425588-1/2012). Ferner mögen auch Bedenken gegen eine unreflektierte Übernahme von Beweisergebnissen (vgl. z. B. VwGH 13.11.2014, Ra 2014/18/0061 mwN) bestehen. Ein allgemeines Beweisverwertungsverbot ist damit jedoch nicht normiert. Die Verwaltungsbehörde und das BVwG dürfen im Rahmen ihrer Beweiswürdigung nämlich durchaus die Ergebnisse der Erstbefragung in ihre Beurteilung miteinbeziehen. Selbst etwaige Mängel in der (Niederschrift der) Erstbefragung führen per se nicht dazu, dass eine Verwertung des übrigen in der Niederschrift der Erstbefragung protokollierten Fluchtvorbringens als (schlechthin) unzulässig anzusehen wäre (vgl. VwGH 05.02.2021, Ra 2020/19/0322). Gemäß § 19 Abs 1 AsylG ist es weder der Behörde noch dem BVwG verwehrt, im Rahmen beweiswürdigender Überlegungen Widersprüche und sonstige Ungereimtheiten zwischen der Erstbefragung und späteren Angaben einzubeziehen. Es bedarf aber sorgsamer Abklärung und auch einer in der Begründung vorzunehmenden Offenlegung, worauf diese fallbezogen zurückzuführen sind (vgl. VwGH 12.8.2019, Ra 2019/20/0366, mwN). Das BVwG verkennt nicht, dass sich die Erstbefragung der BF3 nicht in erster Linie auf ihre Fluchtgründe bezog und diese daher nur in aller Kürze angegeben und protokolliert wurden. Es wäre jedoch - auch mit Blick auf das Wesen der Erstbefragung - zu erwarten gewesen, dass die BF3 eine gegen ihre Person gerichtete Verfolgung durch einen älteren Mann - so sie tatschlich mit einer solchen Gesamtsituation im Herkunftsstaat konfrontiert gewesen wäre - von sich aus, wenn auch nur kursorisch, vorgebracht hätte. Die BF3 erwähnte dies gegenüber der Polizei jedoch mit keinem Wort, sondern sprach lediglich ganz allgemein von einem „Druck“ auf ihre Familie sprach, zudem vom Arbeitsplatzverlust ihrer Eltern sowie einem abgebrannten Auto. Die Frage, ob es konkrete Hinweise dafür gebe, dass ihr bei Rückkehr unmenschliche Behandlung, unmenschliche Strafe oder die Todesstrafe drohen oder sie im Falle ihrer Rückkehr mit Sanktionen zu rechnen hätte, verneinte die BF3. Dass sie es sohin gänzlich unterließ, die behaupteten massiven Belästigungen und Übergriffe durch einen Stalker sowie den von ihr gesetzten Selbstmordversuch gegenüber der Polizei auch nur andeutungsweise zu erwähnen, wohingegen sie diese im fortgesetzten Verfahren gegenüber dem BFA zum Schwerpunkt ihres Fluchtvorbringens erhob, legt nur den Schluss nahe, dass das - später erstattete - Vorbringen „nachgeschoben“ wurde und nicht den Tatsachen entspricht. Selbst wenn die Erstbefragung keine detaillierte Aufnahme des Ausreisegrundes umfasst, wäre dennoch aus Sicht des BVwG zu erwarten, dass die den Asylwerber selbst betreffenden ausreisekausalen Ereignisse und gegen ihn gerichteten Maßnahmen im Herkunftsstaat zuvorderst und in den Grobzügen gleichbleibend bei der ersten sich bietenden Gelegenheit dargelegt werden. Die im gegenständlichen Fall nicht stringente Darlegung ihrer persönlichen Fluchtmotive, bei der Erstbefragung einerseits (allgemeiner „Druck“, Arbeitsplatzverlust der Eltern, abgebranntes Auto) und der Einvernahme vor der belangten Behörde andererseits (gegen ihre Person gerichtete Verfolgung durch älteren Mann, massive Belästigungen und Übergriffe durch einen Stalker sowie ein von ihr gesetzter Selbstmordversuch), entkräftet die Glaubhaftigkeit ihres Vorbringens zu den ausreisekausalen Ereignissen (zur Zulässigkeit derartiger Erwägungen bei Durchführung einer mündlichen Verhandlung und Verschaffung eines persönlichen Eindrucks von der beschwerdeführenden Partei vgl. VwGH 24.03.2015, Ra 2014/19/0143, siehe auch mwN VwGH 30.09.2019, Ra 2019/20/0455, und zur Maßgeblichkeit der aufgezeigten Widersprüche VwGH 17.05.2018, Ra 2018/20/0168).
Es wird zwar nicht in Abrede gestellt, dass Ungereimtheiten zwischen den Angaben einer Asylwerberin im Rahmen der polizeilichen Erstbefragung und ihren späteren Aussagen differenziert zu beurteilen sind. Wie der VfGH in der Entscheidung vom 27.06.2012, U 98/12, im Zusammenhang mit einem jugendlichen Asylwerber festhielt, sind bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit insbesondere auch die psychische Verfassung sowie das jugendliche Alter und der damit verbundene Entwicklungsstand des Betroffenen zu berücksichtigen. Gleiches bekräftigte der VfGH bereits in VfSlg 18.701/2009, wonach bei psychisch angeschlagenen Personen ein großzügigerer Maßstab an die Detailliertheit des Vorbringens anzulegen ist. Im gegenständlichen Fall ist daher nicht zu verkennen, dass die BF3 zum Zeitpunkt der Ausreise noch minderjährig war und laut vorgelegten Befunden an einer depressiven Symptomatik litt. Diese Umstände sind bei der Würdigung ihrer Angaben zu berücksichtigen und können erklären, weshalb sie ihre Situation nicht in allen Details von Beginn an schilderte. Gleichwohl ist festzuhalten, dass es den Erfahrungen des Gerichts widerspricht, wenn eine Asylwerberin selbst einschneidende, sie persönlich betreffende Erlebnisse – wie etwa massives Stalking, sexuelle Belästigungen sowie einen Suizidversuch – im Rahmen der Erstbefragung überhaupt nicht erwähnt und stattdessen lediglich allgemeine familiäre Schwierigkeiten anführt. Selbst unter Berücksichtigung ihres jungen Alters und einer psychischen Belastung wäre es zu erwarten gewesen, dass die BF3 wenigstens in den Grundzügen auf diese für ihre Person zentralen Ereignisse hinweist. Dass dies gänzlich unterblieb, deutet vielmehr auf ein späteres Nachschieben hin und belastet die Glaubwürdigkeit ihres Vorbringens erheblich.
2.3.5.2. Besonders gravierend sind die Widersprüche hinsichtlich der Frage, wer überhaupt für die angeblichen Bedrohungen und Übergriffe gegenüber der BF3 verantwortlich gewesen sein soll. So gab die BF3 in ihrer niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA an, die Polizei habe nichts unternehmen können, da der betreffende Mann nicht bekannt gewesen sei (BF3, AS 37). Demgegenüber führte die BF2 aus, der Mann sei der Polizei sehr wohl bekannt gewesen, sein Name sei „ XXXX “ und er stehe in einem Verwandtschaftsverhältnis zur ehemaligen Schwägerin der BF2 (BF2, AS 37 f). In der mündlichen Beschwerdeverhandlung wurde diese Darstellung jedoch erneut relativiert, dort erklärte der BF1, es sei überhaupt nicht herausgefunden worden, wer dieser „Junge“ gewesen sei (VHS, S 13). Auch die BF3 selbst gab in der Verhandlung an, dass sie nicht wisse, um wen es sich gehandelt habe (VHS, S 22).
Diese sich widersprechenden Aussagen innerhalb ein und derselben Familie – von einer klar benannten Person („ XXXX “) über eine angeblich polizeibekannte Person bis hin zu einem völlig „unbekannten Jungen“ – stehen in diametralem Gegensatz zueinander. Während die BF2 noch betonte, es handle sich um eine konkrete Person mit eindeutiger familiärer Zuordnung zur Ex-Schwägerin, wich die BF3 in der Verhandlung von dieser Darstellung ab und nannte keinen Namen mehr, sondern schilderte stattdessen erstmals einen völlig neuen, ihr unbekannten Mann, der sie in einem Keller sexuell attackiert haben soll. Die Unstimmigkeiten gehen so weit, dass im Gesamtverfahren mehrere unterschiedliche Täterfiguren nebeneinander auftreten, „ XXXX “ als drogenabhängiger Brandstifter (BF1, AS 36), „ XXXX “ als Stalker und Verwandter der Ex-Schwägerin (BF2, AS 37 f), „ XXXX “ als mafiös agierender Bedroher (VHS, S 15 f) sowie schließlich ein nicht näher identifizierter Mann, der die BF3 im Keller zu sexuell nötigen versucht haben soll (VHS, S 21 f). Eine konsistente Täterschaft, die die Vorfälle schlüssig erklären könnte, ist damit zu keinem Zeitpunkt erkennbar.
Diese Vielzahl an einander widersprechenden und sich überlagernden Täterdarstellungen lässt das gesamte Vorbringen der BF als unglaubwürdig erscheinen. Ein reales, konsistentes Bedrohungsszenario wäre mit einem klar erkennbaren, einheitlich beschriebenen Täterbild verbunden. Dass hier jedoch im Verlauf des Verfahrens immer wieder unterschiedliche Personen mit wechselnden Rollen in Erscheinung treten, spricht eindeutig für eine konstruierte und gesteigerte Darstellung.
2.3.5.3. Ein weiteres erhebliches Glaubwürdigkeitsdefizit ergibt sich aus den äußerst vagen und widersprüchlichen zeitlichen Angaben der BF. So gab der BF1 in seiner niederschriftlichen Einvernahme an, er wisse das Datum des Selbstmordversuches seiner eigenen Tochter nicht und könne lediglich angeben, dass dieser entweder im Jahr 2021 oder 2022 stattgefunden habe (BF1, AS 34). Dass ein derart einschneidendes Ereignis – der angebliche Suizidversuch der eigenen Tochter – vom Vater zeitlich nicht einmal ansatzweise eingeordnet werden kann, erscheint völlig lebensfremd und nicht nachvollziehbar. Auch die BF3 selbst konnte den Beginn der angeblichen Bedrohungen und Nachstellungen nicht konkret benennen, sondern beschränkte sich auf die vage Angabe, dies sei „vermutlich 2022“ gewesen (BF3, AS 32). Gerade wenn – wie behauptet – die Belästigungen durch einen Mann und der anschließende Suizidversuch die zentralen Ausreisegründe darstellen sollen, wäre zu erwarten gewesen, dass sowohl die Eltern als auch die unmittelbar betroffene Tochter den zeitlichen Ablauf dieser Geschehnisse klar und konsistent schildern können. Die Unfähigkeit, die behaupteten Schlüsselereignisse auch nur annähernd zeitlich festzumachen, spricht vielmehr dafür, dass die Geschehnisse in der dargestellten Form nicht stattgefunden haben. Ein real erlebtes, traumatisches Ereignis dieser Tragweite wäre nach der allgemeinen Lebenserfahrung fest in der Erinnerung der Beteiligten verankert und könnte jedenfalls in den Grundzügen – insbesondere hinsichtlich des Zeitpunkts – zuverlässig wiedergegeben werden.
Hinzu kommt, dass der BF1 in der mündlichen Beschwerdeverhandlung das Datum des angeblichen Selbstmordversuches plötzlich genau anzugeben wusste und diesen „Anfang Juli 2022“ verortete (VHS, S 11). Diese neuerliche Angabe steht jedoch in klarem Widerspruch zu seinen vorherigen Aussagen, wonach er sich zwischen 2021 und 2022 nicht festlegen konnte (BF1, AS 34). Noch gravierender ist allerdings, dass die Darstellung auch mit dem von der BF3 geschilderten Ablauf nicht in Einklang zu bringen ist, diese hatte angegeben, dass die Probleme nach den Sommerferien im Zuge des Beginns der neunten Schulstufe entstanden seien (BF3, AS 32). Der Suizidversuch sei aber erst zu einem späteren Zeitpunkt erfolgt, nämlich nachdem sie die Schule bereits besucht und die Familie zwischenzeitlich sogar einen Umzug nach Istanbul unternommen habe (BF3, AS 30 f). Ein Vorfall „Anfang Juli“ ist damit ausgeschlossen, da die Schule in der Türkei regulär erst im September beginnt.
Demgegenüber schilderte die BF2 in der mündlichen Beschwerdeverhandlung nochmals einen völlig anderen zeitlichen Ablauf und gab an, ihre Tochter habe bereits ein bis zwei Tage nach dem 10.06. einen Selbstmordversuch unternommen (VHS, S 17). Zu diesem Zeitpunkt war das Schuljahr in der Türkei jedoch noch nicht beendet, sodass die Angabe der BF2 mit den eigenen Schilderungen der BF3, wonach die Probleme erst in den Sommerferien bzw. mit Beginn der neunten Klasse begonnen hätten, nicht vereinbar ist. Damit ergibt sich ein gravierender Widerspruch zwischen den Angaben von Mutter und Tochter über den Zeitpunkt des angeblichen Suizidversuchs. Während die Tochter diesen erst nach Beginn des neuen Schuljahres und nach einem gescheiterten Ortswechsel nach Istanbul verortet, behauptet die Mutter, er sei bereits unmittelbar im Juni erfolgt. Diese Diskrepanz ist nicht mit einem tatsächlich erlebten Geschehen erklärbar und stellt ein weiteres gewichtiges Indiz für die Unglaubwürdigkeit des gesamten Fluchtvorbringens dar.
2.3.5.4. Auch die Angaben der BF3 zu den behaupteten Vorfällen vor ihrer Schule sind widersprüchlich und nicht nachvollziehbar. So erklärte sie einerseits, der Mann habe sie „sehr oft“ beziehungsweise „ab und zu“ vor der Schule abgepasst (BF3, AS 33). Zugleich gab sie jedoch an, im neuen Schuljahr lediglich drei Tage die Schule besucht zu haben. Es widerspricht jeder Lebenserfahrung, dass in einem derart kurzen Zeitraum eine wiederholte und „sehr häufige“ Belästigung vor der Schule stattgefunden haben soll.
2.3.5.5. Ein weiteres gewichtiges Indiz gegen die Glaubwürdigkeit des Vorbringens ist das völlige Desinteresse des BF1 an den angeblich gravierenden Vorkommnissen rund um seine Tochter BF3. So erklärte der BF1 in seiner niederschriftlichen Einvernahme ausdrücklich, er wisse „eigentlich gar nichts“ über den Vorfall (BF1, AS 34) und habe sich auch nicht weiter darum bemüht, Näheres zu erfahren. Zur Begründung führte er aus, in der Türkei sei traditionell die Mutter für die Angelegenheiten der Tochter zuständig, während der Vater sich um die Söhne kümmere. Auf Nachfrage hielt er sogar fest, er habe seine Tochter lediglich gefragt, ob sie nun glücklich sei, und damit sei für ihn „die Pflicht erfüllt“ gewesen (BF1, AS 34). Ebenso betonte er, er habe nie mit seiner Tochter über die Probleme gesprochen und dies auch nicht für notwendig erachtet, da sie ihn darum gebeten habe, das Thema nicht anzusprechen; er habe dies akzeptiert (BF1, AS 36).
Ein solches Verhalten widerspricht jeglicher Lebenserfahrung. Ein Vater, der von einem Selbstmordversuch seiner Tochter erfährt, würde – so ein solcher tatsächlich stattgefunden hätte – naheliegenderweise alles daransetzen, die Hintergründe zu erfahren und die eigene Tochter bestmöglich zu schützen. Dass der BF1 sich damit begnügt haben will, nach ihrem allgemeinen Befinden zu fragen, und ansonsten keinerlei Nachforschungen angestellt haben soll, ist nicht plausibel und spricht klar gegen die Authentizität des Vorbringens. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die geschilderten Ereignisse in Wahrheit gar nicht stattgefunden haben und dem BF1 daher auch kein konkretes Wissen dazu zukam.
Auch die Angaben der BF2, wonach sie ihrem Ehemann über die angeblichen Vorfälle rund um die BF3 kaum etwas erzählt habe, stehen in deutlichem Widerspruch zum behaupteten Geschehensablauf. So führte die BF2 in der mündlichen Verhandlung aus, sie habe den BF1 über die Bedrohungen und die Hintergründe des Selbstmordversuchs ihrer Tochter nicht im Detail informiert, da sie seine Reaktion nicht habe einschätzen können (VHS, S 19). Es ist jedoch völlig lebensfremd, dass ein Vater von einem angeblichen Selbstmordversuch seiner Tochter nur in allgemeinen Worten erfahren haben soll und dennoch bereit gewesen wäre, seine gesamte Existenz – Haus, Arbeit und soziales Umfeld – aufzugeben, um gemeinsam mit seiner Familie das Land zu verlassen. Gerade wenn der BF1 – wie von ihm selbst vorgebracht – keine konkreten Kenntnisse über die Probleme seiner Tochter hatte und auch von seiner Ehefrau nicht in die Details eingeweiht wurde, wäre ein derart drastischer Schritt kaum nachvollziehbar. Vielmehr spricht diese Konstellation klar dafür, dass die von der Familie behaupteten Ereignisse in Wahrheit nicht stattgefunden haben und lediglich nachträglich als Begründung für die Ausreise konstruiert wurden.
Widersprüchlich und unglaubwürdig erscheinen schließlich auch die Angaben des BF1 in der mündlichen Beschwerdeverhandlung, wonach er selbst ebenfalls Nachrichten von dem angeblichen Verfolger seiner Tochter erhalten haben will (VHS, S 13). So schilderte er, dass er ein- bis zweimal SMS bekommen habe, in denen behauptet worden sei, seine Tochter befinde sich nicht in der Schule. Auf Nachfrage erklärte er, die Tochter sei aber tatsächlich in der Schule gewesen, und er habe deshalb gemeinsam mit seiner Ehefrau Anzeige bei der Polizei erstatten wollen. Diese habe jedoch erklärt, aufgrund der Verwendung einer „unbekannten SIM-Karte“ könne nichts unternommen werden. Diese Darstellung steht in klarem Widerspruch zu den bisherigen Einlassungen des BF1 in seiner niederschriftlichen Einvernahme, wo er noch ausdrücklich betonte, über die Probleme seiner Tochter „eigentlich gar nichts“ zu wissen (BF1, AS 34) und nie mit ihr darüber gesprochen zu haben (BF1, AS 36). Es ist nicht nachvollziehbar, dass der BF1 einerseits keinerlei Kenntnis von den Problemen seiner Tochter gehabt haben will, andererseits aber plötzlich selbst von den angeblichen Belästigungen unmittelbar betroffen gewesen sein soll. Hinzu kommt, dass weder die BF2 noch die BF3 zuvor jemals erwähnt hatten, dass auch der BF1 Nachrichten dieses Inhalts erhalten habe – ein Umstand, der bei Wahrunterstellung wohl von Beginn an als zentrales Detail im Vorbringen hätte erscheinen müssen. Die erst in der mündlichen Verhandlung nachgeschobene Behauptung des BF1, selbst in die behaupteten Vorfälle involviert gewesen zu sein, stellt daher eine klare Steigerung des Vorbringens dar und unterstreicht einmal mehr die mangelnde Glaubwürdigkeit der Angaben der gesamten Familie.
2.3.5.6. Besonders gravierend treten die Ungereimtheiten in den Angaben des BF1 zutage, wenn man seine Aussagen in der mündlichen Beschwerdeverhandlung mit seinen früheren Einlassungen vergleicht. Während im bisherigen Verfahren der angebliche Stalker und die daraus resultierenden Bedrohungen der Tochter stets im Vordergrund standen, rückte der BF1 in der mündlichen Verhandlung plötzlich eine völlig andere Ursache für deren psychische Krise und den behaupteten Suizidversuch in den Mittelpunkt. So erklärte er, seine Tochter habe wegen des von der Familie und dem Clan ausgeübten strengen religiösen und gesellschaftlichen Drucks, insbesondere aufgrund von Vorschriften hinsichtlich Bekleidung, Kopftuch, Fasten und Teilnahme an religiösen Kursen, keinen Ausweg mehr gesehen und deshalb versucht, sich das Leben zu nehmen (VHS, S 11). Damit begründete der BF1 die angebliche Selbsttötungshandlung nicht mehr mit den vorher mehrfach ins Treffen geführten Belästigungen durch einen Mann, sondern ausschließlich mit familiär-kulturellen Restriktionen. Diese massive Verschiebung der Kausalität – vom äußeren Bedroher hin zu internen sozialen und religiösen Umständen – stellt eine gravierende Änderung des Vorbringens dar, die die Glaubwürdigkeit nachhaltig erschüttert.
Zudem führte der BF1 in der Verhandlung erstmals aus, dass er seine Tochter von der Schule genommen habe, weil sie sich „falsch angezogen“ habe und weil es aufgrund von Gruppenkonflikten an der Schule zu Schlägereien hätte kommen können (VHS, S 13). Damit gab er als Ursache für den Schulabbruch nicht mehr die angeblichen Bedrohungen durch den Stalker an, sondern rein interne, auf ihr Verhalten und die schulische Situation zurückzuführende Gründe. Auch hier wich er also fundamental von den bisherigen Darstellungen ab. Auffällig ist überdies, dass der BF1 die behaupteten Belästigungen seiner Tochter in der Verhandlung überhaupt nicht von sich aus erwähnte, sondern diese erst nach ausdrücklicher Nachfrage durch das Gericht zur Sprache brachte.
Diese erheblichen Abweichungen verdeutlichen, dass der BF1 sein Vorbringen im Laufe des Verfahrens mehrfach veränderte und nach Bedarf adaptierte. Ein konsistentes und stringentes Fluchtvorbringen, das gerade bei gravierenden, angeblich ausreisekausalen Geschehnissen zu erwarten wäre, liegt nicht vor. Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, dass die Schilderungen flexibel den jeweiligen Verfahrenssituationen angepasst wurden, um die Erfolgsaussichten zu erhöhen. Die Glaubwürdigkeit der Angaben des BF1 ist daher in hohem Maße erschüttert.
2.3.5.7. Auch die BF2 schilderte in der mündlichen Beschwerdeverhandlung die angeblichen Vorfälle rund um die BF3 in einer Weise, die erheblich von ihrem bisherigen Vorbringen abweicht. Während sie zuvor – etwa in der behördlichen Einvernahme – im Wesentlichen von Belästigungen durch einen Mann sowie von Nachrichten sprach, in denen ihre Tochter bedroht oder verfolgt worden sein soll (BF2, AS 40 ff), steigerte sie ihre Darstellung in der mündlichen Verhandlung beträchtlich. Dort führte sie aus, die Bedrohungen hätten nicht bloß in anstößigen Nachrichten oder Nachstellungen bestanden, sondern es sei vielmehr direkt damit gedroht worden, die BF3 zu entführen und sogar „zu verkaufen“ (VHS, S 19).
Diese Steigerung ist in mehrfacher Hinsicht auffällig und unglaubwürdig. Zum einen handelt es sich bei der behaupteten Drohung, ein minderjähriges Mädchen zu verschleppen und zu verkaufen, um einen massiven Eingriff in die persönliche Integrität, der für eine Mutter zweifellos so gravierend wäre, dass er von Beginn an als zentrales Element des Fluchtvorbringens Erwähnung gefunden hätte. Dass ein derart einschneidendes Geschehen über Monate hinweg mit keinem Wort erwähnt wurde und erst in der mündlichen Verhandlung zur Sprache kam, widerspricht jeder Lebenserfahrung. Zum anderen fügt sich diese nachträgliche Darstellung nahtlos in das bereits erkennbare Muster der Vorbringensteigerungen der gesamten Familie: Ereignisse, die zunächst verhältnismäßig vage und wenig konkret beschrieben wurden, werden im Laufe des Verfahrens immer drastischer ausgeschmückt und dramatisiert, um dem Vorbringen größeres Gewicht zu verleihen.
Das erkennende Gericht verkennt nicht, dass traumatische Erlebnisse im Einzelfall zu Verzögerungen oder Zurückhaltung bei der Schilderung führen können. Vorliegend ist jedoch nicht erkennbar, dass die BF2 bei ihren früheren Einvernahmen in irgendeiner Form gehemmt gewesen wäre, einschneidende Ereignisse darzulegen – im Gegenteil, sie schilderte ausführlich sowohl den behaupteten Autobrand als auch die angeblichen Vorfälle im Geschäft. Gerade deshalb ist es nicht nachvollziehbar, dass eine derart gravierende Bedrohungslage wie die Drohung, die Tochter zu entführen und zu verkaufen, erst in der Verhandlung „nachgeschoben“ wurde.
Diese verspätete und gesteigerte Darstellung der BF2 spricht daher deutlich gegen die Glaubhaftigkeit ihres Vorbringens und bestätigt, dass es sich bei den geschilderten Bedrohungen nicht um tatsächlich erlebte Ereignisse handelt, sondern um nachträgliche Konstruktionen zur Unterstützung des Asylbegehrens.
2.3.5.8. Schließlich steigerte auch die BF3 in der mündlichen Beschwerdeverhandlung ihr Vorbringen in erheblichem Maße. Während sie in der behördlichen Einvernahme die Bedrohungen durch den Mann noch vergleichsweise vage und wenig konkret beschrieb und als schwerwiegendsten Vorfall lediglich schilderte, dass er sie einmal am Arm festgehalten habe und ihr mehrmals nachgestellt habe (BF3, AS 33), brachte sie in der mündlichen Verhandlung erstmals die Behauptung vor, sie sei im Keller des Wohnhauses Opfer eines versuchten Vergewaltigungsdeliktes geworden (VHS, S 21). Sie schilderte detailliert, wie der Mann ihr den Mund zugehalten und versucht habe, sie in einen abgelegenen Bereich zu ziehen, und erklärte, sie habe erst durch das Erscheinen ihrer Mutter gerettet werden können. Darüber hinaus führte sie aus, derartige Vorfälle hätten sich nicht nur einmal, sondern „ein paar Mal“ wiederholt (VHS, S 21 f).
Eine derartige Vorbringensteigerung ist in mehrfacher Hinsicht auffällig. Zum einen handelt es sich bei dem geschilderten Geschehen um ein existenziell einschneidendes Erlebnis, das nach der allgemeinen Lebenserfahrung – gerade bei einem minderjährigen Mädchen – von Beginn an im Mittelpunkt des Fluchtvorbringens stehen müsste. Dass ein angeblicher Vergewaltigungsversuch zunächst völlig unerwähnt blieb und stattdessen bloß von einem kurzen Festhalten an der Hand berichtet wurde, um dann erst in der mündlichen Verhandlung eine massiv dramatisierte Version desselben Vorfalls zu präsentieren, entzieht dem Vorbringen jede Glaubwürdigkeit.
Zum anderen fügt sich dieses nachgeschobene Vorbringen in das bei allen Familienmitgliedern erkennbare Muster ein, die behaupteten Geschehnisse im Laufe des Verfahrens zunehmend zu steigern und zu dramatisieren. Besonders bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass auch die BF2 in der Verhandlung erstmals behauptete, der BF3 sei am 10.06. „etwas Schreckliches“ widerfahren (VHS, S 17). Auch dieses angeblich ausreisekausale Ereignis war zuvor weder in der Erstbefragung noch in den niederschriftlichen Einvernahmen oder der Beschwerde jemals erwähnt worden.
Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb die BF3 – die ansonsten durchaus zu längeren und detaillierten Schilderungen fähig war – eine so gravierende und sie unmittelbar betreffende Bedrohungslage zunächst zurückgehalten und erst in der mündlichen Verhandlung offenbart haben sollte. Das erkennende Gericht verkennt nicht, dass traumatische Ereignisse im Einzelfall zu Verzögerungen oder Hemmungen bei der Offenlegung führen können. Allerdings zeigt sich im konkreten Fall, dass die BF3 bereits zuvor wiederholt und über mehrere Verfahrensstufen hinweg Gelegenheit hatte, ihre Erlebnisse umfassend zu schildern, ohne dass sie diesen angeblichen Vergewaltigungsversuch jemals erwähnte. Auch die BF2, die in ihren Aussagen ansonsten keine erkennbare Zurückhaltung zeigte, brachte das angebliche „schreckliche“ Ereignis vom 10.06. erst spät und ohne jede Konkretisierung vor.
Das Gericht erachtet es daher als erwiesen, dass es sich bei diesen nachträglich behaupteten Vorfällen um eine taktische Vorbringensteigerung handelt, die nicht auf tatsächlich Erlebtem beruht, sondern allein dazu dient, das Fluchtvorbringen dramatischer erscheinen zu lassen und die Erfolgsaussichten des Asylantrags zu erhöhen. Diese auffällige Inkonsistenz belastet die Glaubwürdigkeit der BF3 in erheblichem Maße und stellt die gesamte Darstellung der Familie in ein noch deutlicheres Licht der Unzuverlässigkeit.
2.3.6. Zur angeblichen Bedrohung des Sohnes
Ein weiteres Indiz für die Unglaubwürdigkeit des Vorbringens stellt die vom BF1 in der mündlichen Beschwerdeverhandlung erstmals behauptete Bedrohung seines Sohnes dar. Während er in der behördlichen Einvernahme ausdrücklich erklärte, dass seine Söhne keine individuellen Probleme in der Türkei gehabt hätten (BF1, AS 29), brachte er in der Verhandlung plötzlich vor, sein Sohn sei von einem Mitschüler mit Handzeichen bedroht worden, man werde ihm „den Kopf abschneiden“ (VHS, S 11).
Diese Darstellung steht nicht nur im Widerspruch zu seinen eigenen früheren Angaben, sondern auch zu jenen der BF2. Diese hatte in der behördlichen Einvernahme auf die ausdrückliche Frage, ob ihre anderen Kinder oder ihr Ehemann jemals von Vorfällen betroffen gewesen seien, klar verneint (BF2, AS 42). Zudem erklärte die BF2 im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung, auf die Frage, ob ihre Kinder BF4 bis BF6 eigene Fluchtgründe hätten, ausdrücklich, dass alle Kinder „dieselben Gründe“ hätten wie die Eltern und die BF3, also keine individuellen, von den Eltern abweichenden Probleme. Damit hat sie als Mutter jegliche besondere Gefährdungslage ihres Sohnes von sich aus ausgeschlossen.
Die erstmalige Behauptung einer Bedrohung in der mündlichen Verhandlung erweist sich daher als klassische Vorbringensteigerung, die ersichtlich dem Zweck dient, das Fluchtvorbringen dramatischer erscheinen zu lassen. Gerade weil der angebliche Vorfall – eine massive Drohung mit Enthauptung – objektiv schwerwiegend wäre, wäre zu erwarten gewesen, dass dieser bereits in der Erstbefragung oder zumindest im Zuge der niederschriftlichen Einvernahmen vor dem BFA von beiden Elternteilen von sich aus geschildert worden wäre. Dass dies unterblieb und die behauptete Bedrohung erst spät in der mündlichen Verhandlung thematisiert wurde, spricht klar dafür, dass es sich um eine nachträgliche Konstruktion handelt.
Auch unter dem Gesichtspunkt der allgemeinen Lebenserfahrung ist nicht plausibel, dass Eltern, die nach eigenen Angaben gerade die Sicherheit ihrer Kinder als Hauptmotiv für ihre Ausreise betrachteten, eine derart einschneidende und konkrete Bedrohung ihres Sohnes über Monate hinweg mit keinem Wort erwähnten, um sie dann plötzlich in der Beschwerdeverhandlung nachzuschieben. Dies belastet nicht nur die Glaubwürdigkeit des BF1, sondern das gesamte Familienvorbringen in erheblichem Maße.
2.3.7. Zum angeblichen Zwang des Tragens eines Kopftuches
Auch das in der mündlichen Beschwerdeverhandlung erstmals substantiiert erhobene Vorbringen der BF3, die Familie des BF1 lebe den islamischen Glauben „extrem streng“, sie sei zum Tragen eines Kopftuchs und zum Besuch eines Korankurses gezwungen worden und habe bei „Ungehorsam“ sogar um ihr Leben wegen der Familienehre gefürchtet (VHS, S 22), erweist sich als massive Vorbringensteigerung und ist nicht glaubhaft. In den vorangegangenen Einvernahmen stand – soweit überhaupt zu ihrer Person vorgebracht wurde – ausschließlich das Narrativ des angeblichen Stalkings sowie der daraus abgeleiteten psychischen Belastung im Vordergrund; religiös motivierte innerfamiliäre Zwangsmaßnahmen oder Drohkulissen wurden nicht thematisiert. Es ist nach der Lebenserfahrung nicht nachvollziehbar, dass eine Minderjährige, die behauptet, über einen längeren Zeitraum zu religiösen Praktiken (Kopftuch/Korankurs) gezwungen worden zu sein und bei Zuwiderhandeln „um ihr Leben“ gefürchtet zu haben, diese für sie selbst zentralen Motive bei wiederholten, ausdrücklich zur Vollständigkeit mahnenden Befragungen vollständig unerwähnt lässt und erst in der Verhandlung zur Sprache bringt.
Besonders schwer wiegt, dass die BF3 in der behördlichen Einvernahme ausdrücklich Probleme aufgrund ihres Religionsbekenntnisses verneinte (BF3, AS 29). Zudem erklärte sie dort – auf Nachfrage –, dass sie bereits „alles gesagt“ habe und ihrem Vorbringen „nichts mehr hinzufügen“ wolle (BF3, AS 38). Diese unmissverständlichen Angaben stehen in diametralem Gegensatz zur späteren Behauptung, religiöser Druck und ein Kopftuchzwang hätten sie in eine ausweglose Situation gebracht und seien ausreisekausal gewesen.
Hinzu kommt, dass auch der BF1 und die BF2 bei der behördlichen Einvernahme religiös motivierte Probleme verneint haben. Dieses pauschale Bestreiten kollidiert mit dem späteren Bild einer „extrem streng“ religiös geprägten Familienumgebung, in der die BF3 angeblich systematisch Vorschriften zu Bekleidung und Religionspraxis auferlegt worden sein sollen. Auch der BF1 verschob in der Verhandlung die Ursache des behaupteten Suizidversuchs seiner Tochter plötzlich weg vom angeblichen Stalker hin zu innerfamiliärem/religiösem Druck (VHS, S 11), was die Inkonsistenz der Familiendarstellung zusätzlich verstärkt.
Erschwerend kommt hinzu, dass die BF in den früheren Aussagen keine Probleme aus Istanbul oder Adana berichtet hatten – vielmehr wurde dort erklärt, man habe sich dort lediglich nicht wohlgefühlt (vgl. BF2, AS 36; BF3, AS 36), spezifische religiöse Zwangssituationen seien nicht vorgebracht worden. Wäre der behauptete Kopftuch-/Korandruck tatsächlich ausreisekausal gewesen, wäre zu erwarten gewesen, dass ein vorübergehender Aufenthalt außerhalb des engen Familienumfelds zumindest erleichternd wahrgenommen oder dass entsprechende Zwangsmaßnahmen dort weiterhin konkretisiert worden wären. Beides ist nicht geschehen; erst in der Verhandlung wird der religiöse Druck nachgeschoben.
Schließlich bleibt das neue Vorbringen auch vage. Es fehlt an prüffähiger Konkretisierung (wer genau setzte wann welche Maßnahme, welche Sanktionen folgten bei Nichtbefolgung, zeitliche Einordnung im Verhältnis zu den übrigen Geschehensabläufen). Diese fehlende Substantiierung steht in auffälligem Gegensatz zur behaupteten Schwere (Zwang, Ehrgewalt-Furcht) und bestätigt das Muster der vorbringenstaktischen Dramatisierung. Im Gesamtbild ist das erst in der Verhandlung entwickelte Kopftuch-/Religionsdruck-Narrativ daher als nicht glaubhaft zu qualifizieren und vermag das Fluchtvorbringen der BF3 nicht zu stützen.
2.3.8. Probleme in anderen Landesteilen
2.3.8.1. Auch die Angaben der BF zur Möglichkeit, sich durch einen Umzug in einen anderen Landesteil der behaupteten Bedrohung zu entziehen, sprechen gegen die Glaubhaftigkeit ihres Vorbringens. Die BF2 erklärte auf ausdrückliche Nachfrage, dass es in Istanbul wie auch in Adana „keine Probleme mit der Verwandtschaft“ gegeben habe; man habe dort lediglich wegen der Kinder nicht bleiben wollen (BF2, AS 36). In dieselbe Richtung weist die BF3, die festhielt, in Istanbul habe es keine Probleme gegeben, es habe ihnen dort lediglich nicht gefallen (BF3, AS 36). Der BF1 bestätigte diese Linie und führte aus, für ihn persönlich spräche nichts gegen eine Rückkehr nach Istanbul; Arbeit fände er „überall“ in der Türkei und eine Wohnung in Istanbul sei kein Problem. Bedenken äußerte er einzig in Form allgemeiner Befürchtungen zur Sicherheitslage („Kriminelle und Drogensüchtige“ in der ganzen Türkei), ohne jeglichen Bezug zu einer konkreten, gegen die Familie gerichteten Verfolgung oder einem identifizierbaren Täterkreis (BF1, AS 37).
Diese konsistenten Einlassungen in den behördlichen Einvernahmen zeigen, dass nach eigenem Vorbringen weder in Istanbul noch in Adana eine konkrete Gefährdung bestanden hat, sondern die Aufenthalte dort aus Präferenzgründen („nicht gefallen“, erzieherische Erwägungen) beendet wurden. Damit fehlt es gerade an jenem Element, das eine landesweite oder auch nur überregionale Verfolgungsreichweite begründen könnte. Wenn ein Ausweichen in andere Landesteile nach eigenem Bekunden problemlos möglich war und keine spezifischen Bedrohungen auftraten, relativiert dies das behauptete Bedrohungsniveau erheblich und lässt das Vorbringen einer allgegenwärtigen Gefahr als nicht schlüssig erscheinen. Die in den Einvernahmen dokumentierten Aussagen sprechen vielmehr dafür, dass allfällige Konflikte – ihrer eigenen Darstellung nach – lokal begrenzt gewesen wären und ein innerstaatliches Ausweichen zumutbar und effektiv möglich gewesen wäre. Dies belastet die Glaubhaftigkeit des Fluchtvorbringens in wesentlicher Weise.
2.3.8.2. Demgegenüber zeigt sich in der mündlichen Beschwerdeverhandlung eine deutliche Steigerung des Vorbringens. So führte der BF1 nunmehr aus, dass die angeblichen telefonischen Belästigungen gegenüber der BF3 nach einem Umzug in eine andere Stadt sogar zugenommen hätten (VHS, S 14). Diese Darstellung steht in offenem Widerspruch zu seinen eigenen Angaben in der behördlichen Einvernahme, wonach es ihm persönlich bei einer Rückkehr nach Istanbul „gar nichts“ anhaben könnte und er lediglich in abstrakter Form Kriminalität und Drogensucht in der Türkei erwähnte (BF1, AS 37). Auch die BF2 brachte erstmals in der mündlichen Verhandlung vor, es habe in Istanbul ebenfalls konkrete Probleme gegeben (VHS, S 18), während sie zuvor ausdrücklich erklärt hatte, es habe dort „keine Probleme“ gegeben, man habe sich dort lediglich nicht wohlgefühlt (BF2, AS 36). Diese markanten Abweichungen lassen keinen Zweifel daran, dass es sich hierbei um ein spätes Nachschieben handelt, das allein der Dramatisierung des Fluchtvorbringens dient. Naheliegend ist zudem, dass dieses neue Vorbringen gerade deshalb erstattet wurde, um der im angefochtenen Bescheid aufgezeigten Möglichkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative entgegenzutreten und so das Verfahrensergebnis zu beeinflussen. Wäre es tatsächlich bereits während der Aufenthalte in Istanbul oder Adana zu massiven Bedrohungen gekommen, wäre es nach der Lebenserfahrung ausgeschlossen, dass die BF dies in den vorangegangenen, ausführlichen Befragungen vollständig unerwähnt gelassen hätten. Die nunmehr geschilderten Vorkommnisse stellen sich daher als bloße Vorbringensteigerung ohne Tatsachensubstrat dar und unterstreichen die Unglaubwürdigkeit des gesamten Fluchtvorbringens.
2.3.9. Die dargelegten Ungereimtheiten, welche nicht bloß von untergeordneter Beschaffenheit waren, sondern vielmehr Kernelemente des Vorbringens der BF betrafen, hatten zur Folge, dass die persönliche Glaubwürdigkeit der BF maßgeblich erschüttert wurde und das BVwG den Eindruck gewann, ihre gesamte Fluchtgeschichte beruhe auf einem freien Gedankenwerk. Jedenfalls wäre davon auszugehen gewesen, dass die BF im Stande sind, zumindest wesentliche Eckpunkte ihres Kernvorbringens schlüssig und gleichlautend bzw. zumindest stringent zu halten, was bei Gesamtbetrachtung der vorangeführten Erwägungen gegenständlich nicht der Fall war. Dass tatsächlich erlebte Sachverhalte im Bewusstsein von Personen deutlich besser verankert sein müssen, diese sohin - gegenüber Gedankenkonstruktionen - auch nach längerer Zeit im Wesentlichen gleichbleibend abgerufen bzw. wiedergegeben werden können, musste als Grundvoraussetzung für die entsprechende Glaubhaftmachung angenommen werden.
2.3.10. Zur kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit
Eine Verfolgung der BF aufgrund ihrer kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit wurde von diesen während des gesamten Verfahrens nicht behauptet. Vielmehr verneinten sowohl die BF2 in ihrer behördlichen Einvernahme ausdrücklich, jemals aufgrund ihres Religionsbekenntnisses oder ihrer Volksgruppenzugehörigkeit Probleme gehabt zu haben (BF2, AS 28), als auch die BF3 auf entsprechende Nachfrage, ob sie aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit oder Religion Schwierigkeiten gehabt habe (BF3, AS 29). Auch der BF1 verneinte in seiner behördlichen Einvernahme ausdrücklich, jemals aufgrund seiner Volksgruppe Schwierigkeiten gehabt zu haben (BF1, AS 32). In der mündlichen Verhandlung erstatteten die BF ebenfalls kein dahingehendes substantiiertes Vorbringen. Es konnte daher festgestellt werden, dass die BF im Falle einer Rückkehr in die Türkei nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aufgrund ihrer kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit oder sonstiger individueller, in ihrer Person liegender Gründe einer relevanten (Individual- oder Gruppen- )Verfolgungsgefahr ausgesetzt wären.
Zur allgemeinen Situation der Kurden in der Türkei ist festzuhalten, dass sich diese entsprechend der Länderberichte aktuell derart gestaltet, dass gegenwärtig Personen kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit in der Türkei generell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit allein aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit keiner, eine maßgebliche Intensität erreichenden, Verfolgung ausgesetzt bzw. staatlichen Repressionen unterworfen sind. Vereinzelte staatliche Aktionen oder solche von Einzelpersonen richten sich gegen Institutionen und Personen, denen (auf susbstantiierter Tatsachengrundlage) ein Naheverhältnis zur PKK unterstellt wird. Auch Personen in gehobener Stellung könnten Ziel dieser Aktionen werden. Gründe, warum die türkischen Behörden ein nachhaltiges Interesse gerade an den BF haben sollten, wurden nicht glaubhaft vorgebracht. Insbesondere wurde im gesamten Verfahren kein Sachverhalt vorgebracht, aus dem sich ergeben würde, dass es sich bei den BF um exponierte Persönlichkeiten handeln würde. Konkrete und aktuelle Verfolgungshandlungen aufgrund der kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit der BF wurden ebenso wenig dargelegt, sondern wurden diese in der behördlichen Einvernahme ausdrücklich verneint. Dass die BF ohne Hinzutreten weiterer sie exponierender Umstände bloß aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum kurdischen Volk in den Fokus der Behörden geraten würden, kann als ausgeschlossen erachtet werden. Die teils angespannte Situation exponierter Vertreter der kurdischen Opposition wird vom erkennenden Gericht nicht verkannt, gegenständlich ist jedoch weder eine derartige Stellung der BF in der kurdischen Gesellschaft erkennbar, noch sind Hinweise darauf ersichtlich, dass sie von einer menschenrechtswidrigen Situation persönlich betroffen wären. Diskriminierungshandlungen gegen Angehörige von Minderheiten sind im Übrigen – wenn auch zu verurteilen – in keinem Staat der Erde auszuschließen, ziehen jedoch in aller Regel keine Schutzrelevanz nach sich. Im Lichte dessen kann die allgemeine Situation der Kurden in der Türkei zu keiner maßgeblichen Gefährdung der BF führen.
Diesbezüglich ist darauf hinzuweisen, dass es auch den Familien der BF, bei welchen es sich ebenfalls um Angehörige der kurdischen Volksgruppe handelt, weiterhin möglich ist unbehelligt in der Türkei zu leben.
Sofern die BF vermeinen, dass Kurden Diskriminierungen im Alltag ausgesetzt seien, ist darauf hinzuweisen, dass derartige Nachteile – selbst wenn diese in der Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe fußen - angesichts der fehlenden Eingriffsintensität keine asylrelevante Verfolgung begründen. Allgemeine Diskriminierungen, etwa soziale Ächtung oder gesellschaftliche Nachteile können für sich genommen nicht die hinreichende Intensität für eine Asylgewährung aufweisen. Bestimmte Benachteiligungen (wie etwa allgemeine Geringschätzung durch die Bevölkerung, Schikanen, gewisse Behinderungen in der Öffentlichkeit) bis zur Erreichung einer Intensität, dass deshalb ein Aufenthalt des Beschwerdeführers im Heimatland als unerträglich anzusehen wäre (VwGH 07.10.1995, Zl. 95/20/0080; 23.05.1995, Zl. 94/20/0808), sind hinzunehmen.
2.3.11. Abschließend ist anzumerken, dass es keine Hinweise dafür gibt, dass die BF wegen ihres Aufenthaltes im Ausland von Seiten der türkischen Behörden Schwierigkeiten bekommen würden. Den zur Rückkehr in die Türkei getroffenen Feststellungen kann nicht entnommen werden, dass Rückkehrer aus dem westlichen Ausland schon aufgrund des Auslandsaufenthaltes oder einer im Ausland erfolgten Asylantragstellung gefährdet wären. Es liegen keine Erkenntnisse vor, die auf eine systematische Diskriminierung oder eine Verfolgung zurückgeführter oder freiwillig zurückgekehrter türkischer Staatsbürger schließen lassen. Den BF wird kein Naheverhältnis zur PKK oder einer anderen terroristischen Organisation unterstellt. Gegen sie besteht auch kein Haftbefehl und es ist auch kein Strafverfahren anhängig. Die BF waren vor ihrer Ausreise nicht politisch aktiv und haben sich auch in ihrer Zeit in Österreich nicht politisch betätigt oder an Demonstrationen teilgenommen. Ebenso wenig haben sie sich in sozialen Netzwerken öffentlich regierungskritisch geäußert.
2.4. Die Annahme, dass die BF bei einer Rückkehr in die Türkei auch insoweit keiner maßgeblichen Gefährdung ausgesetzt wären, als sie etwa in wirtschaftlicher Hinsicht in eine existenzbedrohende Notlage geraten würden, stützt sich darauf, dass es sich sowohl beim BF1, als auch bei der BF2 um erwerbsfähige Personen mit Berufserfahrung handelt, die in der Türkei bereits viele Jahre lang am Erwerbsleben teilgenommen haben und denen entsprechende Erwerbstätigkeiten auch im Rückkehrfall zugemutet werden können. Dass die BF1 und BF2 grundsätzlich dazu in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt in der Türkei eigenständig bestreiten bzw. für jenen ihrer Kinder (BF3 bis BF6) sorgen zu können, konnte in Zusammenschau ihrer in körperlicher Hinsicht unbeeinträchtigten Gesundheitszustände sowie ihrer zusammenhänglichen Angaben, wonach sie sich selbst für arbeitsfähig erachten einerseits, und ihrer türkischen Sprachkenntnisse sowie praktischen Fertigkeiten andererseits, vorausgesetzt werden. Dass sie Leistungen aus dem türkischen Sozialhilfesystem erhalten könnten, ergibt sich aus den diesbezüglichen Feststellungen zur Lage in der Türkei, wonach allen türkischen Staatsangehörigen diese Leistungen zustehen. Auch unter Berücksichtigung ihrer Ortsabwesenheit kann kein konkretes Risiko erkannt werden, dass die BF nach einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht in der Lage sein würden, sich in die türkische Gesellschaft zu reintegrieren und aus eigener Kraft ein zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts hinreichendes finanzielles Standbein aufzustellen. Aus den Länderberichten ergibt sich zudem kein Hinweis, dass die wirtschaftliche Lage in Türkei derart prekär ist, dass alle Bewohner der Republik von existenzgefährdenden Lebensbedingungen betroffen wären. Da die BF demnach keine besondere Vulnerabilität aufweisen, ist ihnen eine Niederlassung in ihrem Herkunftsstaat möglich und zumutbar. Für das erkennende Gericht ist demnach nicht ersichtlich, warum es den BF bzw. im Besonderen dem BF1 im Falle einer Rückkehr nicht (erneut) gelingen sollte, sowohl seinen eigenen Lebensunterhalt als auch jenen der BF2 sowie der BF3 – BF6 durch eigene Teilhabe am Erwerbsleben zu sichern. Insbesondere gab auch der BF1 in der behördlichen Einvernahme selbst an, dass es kein Problem sei, in der Türkei Arbeit und eine Wohnung zu finden (BF1, AS 38).
Ebenso ist davon auszugehen, dass in der Republik Türkei die Grundversorgung der Bevölkerung gesichert ist, eine soziale Absicherung auf niedrigem Niveau besteht, die medizinische Grundversorgung flächendeckend gewährleistet ist, Rück- bzw. Heimkehrer mit keinen Repressalien zu rechnen haben und in die Gesellschaft integriert werden.
Im gegebenen Zusammenhang ist auch von Bedeutung, dass nach der Rechtsprechung das Vorliegen exzeptioneller Umstände im Hinblick auf die Bestreitung des Lebensunterhaltes detailliert und konkret darzulegen wäre, umso mehr als das Vorhandensein naher Verwandter mit eigenen Familien in der Herkunftsregion dafürspricht, dass – zumindest im Regelfall – eine Lebensgrundlage besteht. Ein gegenteiliges, detailliertes und konkretes Vorbringen wurde weder in der Beschwerde, noch in der mündlichen Verhandlung erstattet, vielmehr legten die BF selbst dar, keine existenziellen Probleme in ihrem Herkunftsland vorgefunden zu haben, sondern gaben an, dass es ihnen finanziell gut gegangen sei und verfügen die BF in der Türkei über umfangreichen Grund- und Immobilienbesitz, darunter mehrere Gärten und Felder mit einer Gesamtfläche von etwa 20–30 Hektar, eine Eigentumswohnung in Gaziantep, Miteigentum am Elternhaus der BF2 sowie eine weitere Wohnung des BF1, zudem über ein Auto. Die landwirtschaftlichen Flächen werden weiterhin von Angehörigen bewirtschaftet, und die daraus erzielten Einnahmen werden für die BF2 angespart, sodass von einer gesicherten wirtschaftlichen Basis in der Türkei auszugehen ist (VHS, S 9).
2.5. Die vom BVwG zu Punkt 1.3. getroffenen Feststellungen zur allgemeinen Lage in der Türkei stützten sich auf das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zur Türkei in seiner Version 10, mit Veröffentlichungsdatum vom 06.08.2025. Die Länderfeststellungen stellten sich in den für die gegenständliche Entscheidung wesentlichen Aspekten als ausreichend und tragfähig dar. Die getroffenen Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat ergaben sich aus den angeführten herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen. Die Länderfeststellungen basieren auf vielgestaltigen Quellen, denen keine Voreingenommenheit unterstellt werden konnte. Das BVwG hat diesbezüglich das Parteiengehör gewahrt. Die BF sind diesen Quellen nicht konkret und substantiiert entgegengetreten. Im Rahmen der Beweiswürdigung wurde bereits dargestellt, dass es den BF nicht gelungen ist, glaubhaft zu machen, dass sie die von ihnen geschilderten Erlebnisse tatsächlich persönlich so erlebt haben.
3. Rechtliche Beurteilung:
Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 BFA-VG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.
Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), geregelt. Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
§ 1 BFA-VG bestimmt, dass dieses Bundesgesetz allgemeine Verfahrensbestimmungen beinhaltet, die für alle Fremden in einem Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vor Vertretungsbehörden oder in einem entsprechenden Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gelten. Weitere Verfahrensbestimmungen im AsylG und FPG bleiben unberührt.
Zu Spruchteil A):
3.1. Zu den Spruchpunkten I. der angefochtenen Bescheide
3.1.1. § 3 AsylG
(1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.
(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 2 3) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.
(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn
1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht oder
2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat.
(4) Einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, kommt eine befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter zu. Die Aufenthaltsberechtigung gilt drei Jahre und verlängert sich um eine unbefristete Gültigkeitsdauer, sofern die Voraussetzungen für eine Einleitung eines Verfahrens zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten nicht vorliegen oder das Aberkennungsverfahren eingestellt wird. Bis zur rechtskräftigen Aberkennung des Status des Asylberechtigten gilt die Aufenthaltsberechtigung weiter. Mit Rechtskraft der Aberkennung des Status des Asylberechtigten erlischt die Aufenthaltsberechtigung.
(4a) Im Rahmen der Staatendokumentation (§ 5 BFA-G) hat das Bundesamt zumindest einmal im Kalenderjahr eine Analyse zu erstellen, inwieweit es in jenen Herkunftsstaaten, denen im Hinblick auf die Anzahl der in den letzten fünf Kalenderjahren erfolgten Zuerkennungen des Status des Asylberechtigten eine besondere Bedeutung zukommt, zu einer wesentlichen, dauerhaften Veränderung der spezifischen, insbesondere politischen, Verhältnisse, die für die Furcht vor Verfolgung maßgeblich sind, gekommen ist.
(4b) In einem Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 1 Z 1 gilt Abs. 4 mit der Maßgabe, dass sich die Gültigkeitsdauer der befristeten Aufenthaltsberechtigung nach der Gültigkeitsdauer der Aufenthaltsberechtigung des Familienangehörigen, von dem das Recht abgeleitet wird, richtet.
(5) Die Entscheidung, mit der einem Fremden von Amts wegen oder auf Grund eines Antrags auf internationalen Schutz der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, ist mit der Feststellung zu verbinden, dass diesem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Flüchtling im Sinne von Art 1 Abschnitt A Z 2 der GFK ist eine Person, die aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Gesinnung verfolgt zu werden, sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder die sich als Staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will.
Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern, ob eine vernunftbegabte Person nach objektiven Kriterien unter den geschilderten Umständen aus Konventionsgründen wohlbegründete Furcht erleiden würde (VwGH 9.5.1996, Zl. 95/20/0380). Dies trifft auch nur dann zu, wenn die Verfolgung von der Staatsgewalt im gesamten Staatsgebiet ausgeht oder wenn die Verfolgung zwar nur von einem Teil der Bevölkerung ausgeübt, aber durch die Behörden und Regierung gebilligt wird, oder wenn die Behörde oder Regierung außerstande ist, die Verfolgten zu schützen (VwGH 4.11.1992, 92/01/0555 ua.).
Gemäß § 2 Abs 1 Z 11 AsylG 2005 ist eine Verfolgung jede Verfolgungshandlung im Sinne des Art 9 Statusrichtlinie. Demnach sind darunter jene Handlungen zu verstehen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art 15 Abs 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (Recht auf Leben, Verbot der Folter, Verbot der Sklaverei oder Leibeigenschaft, Keine Strafe ohne Gesetz) oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon – wie in ähnlicher beschriebenen Weise – betroffen ist.
Nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person ist als „Verfolgung“ iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (vgl. etwa VwGH 11.12.2019, Ra 2019/20/0295, Rn. 27, unter Bezugnahme auf Art. 9 Abs. 1 der Statusrichtlinie 2011/95/EU).
Nach der auch hier anzuwendenden Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine Verfolgung weiters ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (z.B. VwGH vom 19.12.1995, Zl. 94/20/0858; 14.10.1998, Zl. 98/01/0262). Die Verfolgungsgefahr muss nicht nur aktuell sein, sie muss auch im Zeitpunkt der Bescheiderlassung vorliegen (VwGH 05.06.1996, Zl. 95/20/0194).
Verfolgung kann nur von einem Verfolger ausgehen. Verfolger können gemäß Art 6 Statusrichtlinie der Staat, den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschende Parteien oder Organisationen oder andere Akteure sein, wenn der Staat oder die das Staatsgebiet beherrschenden Parteien oder Organisationen nicht in der Lage oder nicht Willens sind, Schutz vor Verfolgung zu gewähren.
Nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes müssen konkrete, den Asylwerber selbst betreffende Umstände behauptet und bescheinigt werden, aus denen die von der zitierten Konventionsbestimmung geforderte Furcht rechtlich ableitbar ist (vgl zB vom 8. 11. 1989, 89/01/0287 bis 0291 und vom 19. 9 1990, 90/01/0113). Der Hinweis eines Asylwerbers auf einen allgemeinen Bericht genügt dafür ebenso wenig wie der Hinweis auf die allgemeine Lage, zB. einer Volksgruppe, in seinem Herkunftsstaat (vgl VwGH 29. 11. 1989, 89/01/0362; 5. 12. 1990, 90/01/0202; 5. 6. 1991, 90/01/0198; 19. 9 1990, 90/01/0113).
Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Konvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes befindet.
Fehlt ein kausaler Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen, kommt die Asylgewährung nicht in Betracht (vgl. VwGH 16.4.2020, Ra 2019/14/0505, Rn. 17, mwN).
3.1.2. Fallbezogen ergibt sich daraus Folgendes:
3.1.2.1. Die Anträge waren nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 AsylG zurückzuweisen, da die BF weder in einem sicheren Drittstaat Schutz finden können, noch wurde ihnen in einem anderen EWR-Staat oder der Schweiz der Status eines Asylberechtigten bzw. subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Zudem ist kein anderer Staat aufgrund von vertraglichen Vereinbarungen oder der Dublin-Verordnung für die Prüfung der Anträge auf internationalen Schutz zuständig.
3.1.2.2. Nach Ansicht des BVwG sind auch die dargestellten Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status als Asylberechtigter, nämlich eine glaubhafte Verfolgungsgefahr im Herkunftsstaat aus einem in Art 1 Abschnitt A Z 2 der GFK angeführten Grund nicht gegeben.
Wie sich aus den Erwägungen ergibt, ist es den BF nicht gelungen eine solche aus ihren dargelegten Fluchtgeschichten glaubhaft zu machen, weshalb diese vorgetragenen und als fluchtkausal bezeichneten Angaben bzw. die daraus resultierenden Rückkehrbefürchtungen gar nicht als Feststellung der rechtlichen Beurteilung zugrunde gelegt werden und es ist auch deren Eignung zur Glaubhaftmachung wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung somit gar nicht näher zu beurteilen (vgl. VwGH 9.5.1996, Zl.95/20/0380).
Ein in seiner Intensität asylrelevanter Eingriff in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen führt dann zur Flüchtlingseigenschaft, wenn er an einem in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK festgelegten Grund, nämlich die Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung anknüpft.
Eine gegen die BF gerichtete Verfolgungsgefahr aus solchen Gründen wurde im gesamten Verfahren nicht glaubhaft gemacht.
3.1.2.3. Hinsichtlich des bloßen Umstands der kurdischen Abstammung der BF ist auszuführen, dass sich entsprechend der herangezogenen Länderberichte und aktuellen Medienberichte die Situation für Kurden – abgesehen von den Berichten betreffend das Vorgehen des türkischen Staates gegen Anhänger und Mitglieder der als Terrororganisation eingestuften PKK und deren Nebenorganisationen, wobei eine solche Gefahr hinsichtlich der BF1 in keiner Weise indiziert war – nicht derart gestaltet, dass von Amts wegen aufzugreifende Anhaltspunkte dafür existieren würden, dass gegenwärtig Personen kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit in der Türkei generell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit allein aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit einer maßgebliche Intensität erreichenden Verfolgung ausgesetzt bzw. staatlichen Repressionen unterworfen sein würden. Gründe, warum die türkischen Behörden ein nachhaltiges Interesse gerade an den BF haben sollten, wurden nicht dargetan.
Weiters ist festzuhalten, dass etwa unspezifische Verfolgungshandlungen von nur geringer Schwere nach ständiger Judikatur des VwGH nicht ausreichen, solange sie nicht eine derartige Intensität erreichen, dass deshalb ein weiterer Aufenthalt im Herkunftsstaat als unerträglich anzusehen wäre (VwGH 07.10.1993, 93/01/0942; 07.10.1993, 93/01/0872; 07.11.1995, 95/20/0080; 25.04.1995, 94/20/0762). Benachteiligungen, allgemeine Geringschätzung und Schikanen, erreichen insgesamt noch nicht eine derartige Intensität, dass deshalb ein weiterer Aufenthalt des Beschwerdeführers im Heimatland als unerträglich oder unzumutbar anzusehen wäre (VwGH 23. 5. 1995, 92/20/0808). Weiters führte der VwGH aus, dass auch aus allgemeinen Verhältnissen im Heimatland eines Asylwerbers nach den Umständen des Einzelfalles auf die konkrete Verfolgung einer Person rückgeschlossen werden kann (VwGH 6. 3. 1996, 95/20/0210) und, dass bei wirtschaftlichen Maßnahmen, wie etwa bei Enteignungen, das in diesem Zusammenhang für die Annahme einer Verfolgungsgefahr erforderliche Ausmaß an Intensität der staatlichen Maßnahme nur bei Bedrohung der (wirtschaftlichen) Existenz des Beschwerdeführers erreicht wäre (VwGH 27. 7. 1995, 95/19/0048; vgl auch VwGH 23. 2. 1994, 93/01/0586; 27. 4. 1994, 93/01/0487; 19. 5. 1994, 94/19/0716; 25. 4. 1995, 94/20/0762; 25. 4. 1995, 94/20/0790; 30. 4. 1997, 95/01/0529; 8. 9. 1999, 98/01/0614; vgl auch UBAS 6. 8. 1998, 204.176/0-VIII/22/98).
Selbst wiederholten Vorladungen zur Polizei und Befragungen nach dem Aufenthaltsort von Verwandten kommt nicht der Charakter von Eingriffen zu, die ihrer Intensität nach als Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention qualifiziert werden könnten (VwGH 21.04.1993, Zl. 92/01/1059). Im Falle einer viermaligen Inhaftierung zu jeweils bis drei Tagen erkannte der Verwaltungsgerichtshof, ohne an dieser Stelle eine Verfolgungsprognose anzustellen, dass diese vom Beschwerdeführer beschriebenen Vorgänge von ihm zu Recht als "Schikanen" bezeichnet worden seien, weil sie auch in ihrer Gesamtheit nicht das Maß an Intensität erreichen, dessen es bedürfte, um "den weiteren Verbleib im Heimatland als unerträglich erscheinen zu lassen" (vgl VwGH 26. 6. 1996, 95/20/0147). Festnahmen und Anhaltungen im Anschluss an Demonstrationen stellen ebenso wenig, wenn sie ohne weitere Folgen blieben, eine Verfolgung iSd GFK dar (VwGH 27.06.1995, 94/20/0689; VwGH 17.06.1993, 93/01/0348, 0349; 15.12.1993, 93/01/0019; 23.02.1994, 93/01/0407; 02.02.1994, 93/01/0345).
Entsprechend der Feststellungen zur Lage in der Türkei sind Angehörige der kurdischen Volksgruppe zwar Nachteilen ausgesetzt, diese erreichen jedoch nicht die Intensität, dass deshalb ein Aufenthalt in der Türkei als unerträglich anzusehen oder mit einem gänzlichen Verlust der Lebensgrundlage verbunden wäre, was auch daran erkennbar ist, dass nahe Angehörige der BF mit beruflicher Verankerung weiterhin in der Türkei leben, ohne Schwierigkeiten ausgesetzt zu sein. Eine Verfolgung der BF aufgrund ihrer kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit wurde von ihnen ohnehin während des gesamten Verfahrens nicht behauptet und verneinten die BF1 bis BF3 eine solche ausdrücklich in der behördlichen Einvernahme ausdrücklich.
3.1.2.4. Auch die allgemeine Lage ist im gesamten Herkunftsstaat nicht dergestalt, dass sich konkret für die BF eine begründete Furcht vor einer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohenden asylrelevanten Verfolgung ergeben würde.
Nachteile, die auf die allgemeinen politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Lebensbedingungen in einem Staat zurückzuführen sind, stellen keine Verfolgung im Sinne des Asylgesetzes dar und sind auch, da eine Existenzbedrohung, respektive wirtschaftliche Nachteile nicht basierend auf den Gründen der GFK vorgebracht wurde, nicht asylrelevant; derartiges (mangelnde Lebensgrundlage) wäre ausschließlich unter dem Punkt „Gewährung subsidiären Schutzes“ zu prüfen.
Zu einer allfällig existenziellen Gefährdung der BF im Falle einer Rückkehr ist zusätzlich auszuführen, dass unter Berücksichtigung der vom BVwG getroffenen Länderfeststellungen, jedenfalls keine existentiellen Gefährdungen von Angehörigen ihrer Volksgruppe festgestellt werden können. Zum Entscheidungszeitpunkt sind auch keine Umstände notorisch, aus denen sich eine ernste Verschlechterung der allgemeinen Lage oder der wirtschaftlich-sozialen Lage in der Herkunftsregion der BF ergeben würde.
3.1.2.5. Es war unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände daher zu Recht kein Status eines/r Asylberechtigten zu gewähren, die Entscheidungen des BFA im Ergebnis zu bestätigen und die Beschwerden somit jeweils hinsichtlich der Spruchpunkte I. der angefochtenen Bescheide abzuweisen.
3.2. Zu den Spruchpunkten II. der angefochtenen Bescheide
3.2.1. § 8 AsylG
(1) Der Status des subsidiär Schutzberechtigten ist einem Fremden zuzuerkennen,
1. der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder
2. dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist,
wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK [Recht auf Leben], Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
(2) Die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 ist mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.
(3) Anträge auf internationalen Schutz sind bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht.
(3a) Ist ein Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht schon mangels einer Voraussetzung gemäß Abs. 1 oder aus den Gründen des Abs. 3 oder 6 abzuweisen, so hat eine Abweisung auch dann zu erfolgen, wenn ein Aberkennungsgrund gemäß § 9 Abs. 2 vorliegt. Diesfalls ist die Abweisung mit der Feststellung zu verbinden, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat unzulässig ist, da dies eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Dies gilt sinngemäß auch für die Feststellung, dass der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen ist.
(4) Einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wird, ist vom Bundesamt oder vom Bundesverwaltungsgericht gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter zu erteilen. Die Aufenthaltsberechtigung gilt ein Jahr und wird im Falle des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen über Antrag des Fremden vom Bundesamt für jeweils zwei weitere Jahre verlängert. Nach einem Antrag des Fremden besteht die Aufenthaltsberechtigung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Verlängerung des Aufenthaltsrechts, wenn der Antrag auf Verlängerung vor Ablauf der Aufenthaltsberechtigung gestellt worden ist.
(5) In einem Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 1 Z 2 gilt Abs. 4 mit der Maßgabe, dass die zu erteilende Aufenthaltsberechtigung gleichzeitig mit der des Familienangehörigen, von dem das Recht abgeleitet wird, endet.
(6) Kann der Herkunftsstaat des Asylwerbers nicht festgestellt werden, ist der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen. Diesfalls ist eine Rückkehrentscheidung zu verfügen, wenn diese gemäß § 9 Abs. 1 und 2 BFA-VG nicht unzulässig ist.
(7) Der Status des subsidiär Schutzberechtigten erlischt, wenn dem Fremden der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird.
Art. 2 EMRK lautet:
„(1) Das Recht jedes Menschen auf das Leben wird gesetzlich geschützt. Abgesehen von der Vollstreckung eines Todesurteils, das von einem Gericht im Falle eines durch Gesetz mit der Todesstrafe bedrohten Verbrechens ausgesprochen worden ist, darf eine absichtliche Tötung nicht vorgenommen werden.
(2) Die Tötung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie sich aus einer unbedingt erforderlichen Gewaltanwendung ergibt: a) um die Verteidigung eines Menschen gegenüber rechtswidriger Gewaltanwendung sicherzustellen; b) um eine ordnungsgemäße Festnahme durchzuführen oder das Entkommen einer ordnungsgemäß festgehaltenen Person zu verhindern; c) um im Rahmen der Gesetze einen Aufruhr oder einen Aufstand zu unterdrücken.“
Während entsprechend des 6. ZPEMRK die Todesstrafe weitestgehend abgeschafft wurde, erklärt das 13. ZPEMRK die Todesstrafe als vollständig abgeschafft.
Art. 3 EMRK lautet:
„Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“
Folter bezeichnet jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispiel um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, um sie für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen, um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen oder aus einem anderen, auf irgendeiner Art von Diskriminierung beruhenden Grund, wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis verursacht werden. Der Ausdruck umfasst nicht Schmerzen oder Leiden, die sich lediglich aus gesetzlich zulässigen Sanktionen ergeben, dazu gehören oder damit verbunden sind (Art. 1 des UN-Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984).
Unter unmenschlicher Behandlung ist die vorsätzliche Verursachung intensiven Leides unterhalb der Stufe der Folter zu verstehen (Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer, Bundesverfassungsrecht 10. Aufl. (2007), RZ 1394).
Unter einer erniedrigenden Behandlung ist die Zufügung einer Demütigung oder Entwürdigung von besonderem Grad zu verstehen (Näher Tomasovsky, FS Funk (2003) 579; Grabenwarter, Menschenrechtskonvention 134f).
Art. 3 EMRK enthält keinen Gesetzesvorbehalt und umfasst jede physische Person (auch Fremde), welche sich im Bundesgebiet aufhält.
Der EGMR geht in seiner ständigen Rechtsprechung davon aus, dass die EMRK kein Recht auf politisches Asyl garantiert. Die Rückkehrentscheidung eines Fremden kann jedoch eine Verantwortlichkeit des ausweisenden Staates nach Art. 3 EMRK begründen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass die betroffene Person im Falle seiner Rückkehrentscheidung einem realen Risiko ausgesetzt würde, im Empfangsstaat einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung unterworfen zu werden (vgl. etwa EGMR, Urteil vom 8. April 2008, NNYANZI gegen das Vereinigte Königreich, Nr. 21878/06).
Eine aufenthaltsbeendende Maßnahme verletzt Art. 3 EMRK auch dann, wenn begründete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Fremde im Zielland gefoltert oder unmenschlich behandelt wird (für viele: VfSlg 13.314; EGMR 7.7.1989, Soering, EuGRZ 1989, 314). Die Asylbehörde hat daher auch Umstände im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers zu berücksichtigen, auch wenn diese nicht in die unmittelbare Verantwortlichkeit Österreichs fallen. Als Ausgleich für diesen weiten Prüfungsansatz und der absoluten Geltung dieses Grundrechts reduziert der EGMR jedoch die Verantwortlichkeit des Staates (hier: Österreich) dahingehend, dass er für ein „ausreichend reales Risiko“ für eine Verletzung des Art. 3 EMRK eingedenk des hohen Eingriffschwellenwertes („high threshold“) dieser Fundamentalnorm strenge Kriterien heranzieht, wenn dem Beschwerdefall nicht die unmittelbare Verantwortung des Vertragstaates für einen möglichen Schaden des Betroffenen zu Grunde liegt (vgl. Karl Premissl in Migralex „Schutz vor Abschiebung von Traumatisierten in „Dublin-Verfahren““, derselbe in Migralex: „Abschiebeschutz von Traumatisieren“; EGMR: Ovidenko vs. Finnland; Hukic vs. Scheden, Karim, vs. Schweden, 4.7.2006, Appilic 24171/05, Goncharova Alekseytev vs. Schweden, 3.5.2007, Appilic 31246/06.
Der EGMR erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass ein "real risk" (reales Risiko) vorliegt, wenn stichhaltige Gründe ("substantial grounds") dafür sprechen, dass die betroffene Person im Falle der Rückkehr in die Heimat das reale Risiko (insbesondere) einer Verletzung ihrer durch Art. 3 MRK geschützten Rechte zu gewärtigen hätte. Dafür spielt es grundsätzlich keine Rolle, ob dieses reale Risiko in der allgemeinen Sicherheitslage im Herkunftsstaat, in individuellen Risikofaktoren des Einzelnen oder in der Kombination beider Umstände begründet ist. Allerdings betont der EGMR in seiner Rechtsprechung auch, dass nicht jede prekäre allgemeine Sicherheitslage ein reales Riskio iSd Art. 3 MRK hervorruft. Im Gegenteil lässt sich seiner Judikatur entnehmen, dass eine Situation genereller Gewalt nur in sehr extremen Fällen ("in the most extreme cases") diese Voraussetzung erfüllt (vgl. etwa EGMR vom 28. November 2011, Nr. 8319/07 und 11449/07, Sufi und Elmi gg. Vereinigtes Königreich, RNr. 218 mit Hinweis auf EGMR vom 17. Juli 2008, Nr. 25904/07, NA gg. Vereinigtes Königreich). In den übrigen Fällen bedarf es des Nachweises von besonderen Unterscheidungsmerkmalen ("special distinguishing features"), aufgrund derer sich die Situation des Betroffenen kritischer darstellt als für die Bevölkerung im Herkunftsstaat im Allgemeinen (vgl. etwa EGMR Sufi und Elmi, RNr. 217).
Der EGMR geht weiters allgemein davon aus, dass aus Art. 3 EMRK grundsätzlich kein Bleiberecht mit der Begründung abgeleitet werden kann, dass der Herkunftsstaat gewisse soziale, medizinische od. sonst. unterstützende Leistungen nicht biete, die der Staat des gegenwärtigen Aufenthaltes bietet. Nur unter außerordentlichen, ausnahmsweise vorliegenden Umständen kann die Entscheidung, den Fremden außer Landes zu schaffen, zu einer Verletzung des Art. 3 EMRK führen (vgl für mehrere. z. B. Urteil vom 2.5.1997, EGMR 146/1996/767/964 [„St. Kitts-Fall“], oder auch Application no. 7702/04 by SALKIC and Others against Sweden oder S.C.C. against Sweden v. 15.2.2000, 46553 / 99).
Voraussetzung für das Vorliegen einer relevanten Bedrohung ist auch, dass eine von staatlichen Stellen zumindest gebilligte oder nicht effektiv verhinderbare Bedrohung der relevanten Rechtsgüter vorliegt oder dass im Heimatstaat des Asylwerbers keine ausreichend funktionierende Ordnungsmacht (mehr) vorhanden ist und damit zu rechnen wäre, dass jeder dorthin abgeschobene Fremde mit erheblicher Wahrscheinlichkeit der in (nunmehr) § 8 Abs. 1 AsylG umschriebenen Gefahr unmittelbar ausgesetzt wäre (vgl. VwGH 26.6.1997, 95/21/0294).
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat der Antragsteller das Bestehen einer aktuellen, durch staatliche Stellen zumindest gebilligten oder nicht effektiv verhinderbaren Bedrohung der relevanten Rechtsgüter glaubhaft zu machen, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffender, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerter Angaben darzutun ist (VwGH 26.6.1997, Zl. 95/18/1293, 17.7.1997, Zl. 97/18/0336). So auch der EGMR in stRsp, welcher anführt, dass es trotz allfälliger Schwierigkeiten für den Antragsteller „Beweise“ zu beschaffen, es dennoch ihm obliegt - so weit als möglich - Informationen vorzulegen, die der Behörde eine Bewertung der von ihm behaupteten Gefahr im Falle einer Abschiebung ermöglicht (zB EGMR Said gg. die Niederlande, 5.7.2005).
Aus jüngster Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. zB. 06.11.2018, Ra 2018/01/0106 mwN) ergeben sich für die Auslegung von § 8 AsylG folgende Leitlinien:
Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH hat ein Drittstaatsangehöriger "nur dann Anspruch auf subsidiären Schutz ..., wenn stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass er bei seiner Rückkehr in sein Herkunftsland tatsächlich Gefahr liefe, eine der drei in Art 15 der Richtlinie definierten Arten eines ernsthaften Schadens zu erleiden" (vgl. zuletzt EuGH 24.4.2018, C-353/16, MP, Rn. 28, mwN).
Artikel 15 der RICHTLINIE 2011/95/EU lautet:
Als ernsthafter Schaden gilt
a) die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe oder
b) Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung eines Antragstellers im Herkunftsland oder
c) eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
Der EuGH hat im Urteil vom 18.12.2014, C-542/13, M´Bodj, klargestellt, dass der Umstand, dass ein Drittstaatsangehöriger nach Art 3 MRK nicht abgeschoben werden kann, nicht bedeutet, dass ihm subsidiärer Schutz zu gewähren ist. Subsidiärer Schutz (nach Art 15 lit a und b der Statusrichtlinie) verlangt nach dieser Auslegung durch den EuGH dagegen, dass der ernsthafte Schaden „durch das Verhalten von Dritten (Akteuren) verursacht“ werden muss und dieser „nicht bloß Folge allgemeiner Unzulänglichkeiten im Herkunftsland“ ist.
Zur letztgenannten Voraussetzung (lit. c) des Art 15 der Statusrichtlinie (bewaffneter Konflikt) hat der EuGH bereits festgehalten, dass das "Vorliegen einer solchen Bedrohung ... ausnahmsweise als gegeben angesehen werden" kann, "wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt (...) ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls in die betroffene Region ‚allein durch ihre Anwesenheit‘ im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein" (vgl. EuGH 17.2.2009, C-465/07, Elgafaji, Rn. 35). Auch wenn der EuGH in dieser Rechtsprechung davon spricht, dass es sich hiebei um "eine Schadensgefahr allgemeinerer Art" handelt (Rn. 33), so betont er den "Ausnahmecharakter einer solchen Situation" (Rn. 38), "die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass die fragliche Person dieser Gefahr individuell ausgesetzt wäre" (Rn. 37). Diesen Ausnahmecharakter betonte der EuGH in seiner jüngeren Rechtsprechung, Urteil vom 30. Jänner 2014, C-285/12, Diakite, Rn. 30.
Nach der Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 18.12.2014, M'Bodj, C- 542/13) widerspricht es der Statusrichtlinie und ist es unionsrechtlich unzulässig, den in dieser Richtlinie vorgesehenen Schutz Drittstaatsangehörigen zuzuerkennen, die sich in Situationen befinden, die keinen Zusammenhang mit dem Zweck dieses internationalen Schutzes aufweisen, etwa aus familiären oder humanitären Ermessensgründen, die insbesondere auf Art 3 MRK gestützt sind.
3.2.2. Fallbezogen ergibt sich daraus Folgendes:
Im gegenständlichen Fall ist es den BF nicht gelungen ihre vorgebrachte individuelle Bedrohung bzw. Verfolgungsgefahr im dargestellten Ausmaß glaubhaft zu machen, weshalb sich daraus auch kein zu berücksichtigender Sachverhalt ergibt, der gemäß § 8 Abs 1 AsylG zur Unzulässigkeit der Abschiebung, Zurückschiebung oder Zurückweisung in den Herkunftsstaat führen könnte.
Die BF haben im Verfahren keine relevanten schweren oder lebensbedrohlichen Erkrankungen dargelegt, weshalb sich daraus kein Rückkehrhindernis ergibt. Bei der BF3 wurde eine leichte depressive Symptomatik festgestellt, bei der BF2 eine Anpassungsstörung mit depressiver Reaktion. Die BF3 besucht deshalb einmal in der Woche eine Gesprächstherapie und hat im Februar 2025 ein Beruhigungs- bzw. Schlafmittel (Atarax) verschrieben bekommen. Die BF2 besucht einmal im Monat eine Gesprächstherapie, zudem leidet sie an Diabetes mellitus und nimmt diesbezüglich entsprechende Medikamente ein. Eine medizinische Behandlung der Erkrankungen ist auch in der Türkei problemlos möglich.
Zur medizinischen Versorgungssituation ist auszuführen, dass nach der ständigen Rechtsprechung im Allgemeinen kein Fremder ein Recht hat, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, allerdings muss der Betroffene auch tatsächlich Zugang zur notwendigen Behandlung haben, wobei die Kosten der Behandlung und Medikamente, das Bestehen eines sozialen und familiären Netzwerks und die für den Zugang zur Versorgung zurückzulegende Entfernung zu berücksichtigen sind (vgl. EGMR 13.12.2016, 41738/10, Paposhvili gegen Belgien, Rz 189 ff).
Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK. Solche liegen jedenfalls vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben, aber bereits auch dann, wenn stichhaltige Gründe dargelegt werden, dass eine schwerkranke Person mit einem realen Risiko konfrontiert würde, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Zielstaat der Abschiebung oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt (vgl. EGMR 13.12.2016, 41738/10, Paposhvili gegen Belgien, Rz 189 ff). Bloß spekulative Überlegungen über einen fehlenden Zugang zu medizinischer Versorgung sind ebenso unbeachtlich wie eine Minderung der Lebensqualität (Urteil des EGMR (Große Kammer) vom 27. Mai 2008, N. v. The United Kingdom, Nr. 26.565/05).
Das erkennende Gericht verkennt nicht, dass die medizinische Versorgung in der Türkei teilweise nicht das österreichische Niveau erreicht und mit Kosten verbunden sein kann. Allfällige Schwierigkeiten bei der Gewährleistung einer entsprechenden medizinischen Behandlung im Herkunftsstaat erreichen im vorliegenden Fall die unbestreitbar hohe Schwelle des Art. 3 EMRK, wie sie von der erwähnten Judikatur festgesetzt wird, aber in Bezug auf die BF2 und BF3 nicht. Die BF leiden aktuell an keiner die hohe Schwelle des Art. 3 EMRK überschreitenden, lebensbedrohlichen Krankheit und es ist nicht davon auszugehen, dass ihr Gesundheitszustand wegen ihrer Rückkehr in die Türkei lebensbedrohend beeinträchtigt wird oder die BF durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würden, unter qualvollen Umständen zu sterben. Mögen die BF2 und BF3 aktuell zwar eine Gesprächstherapie besuchen sowie ein Beruhigungs- bzw. Schlafmittel (BF3) bzw. ein Diabetes-Medikament (BF2) zu sich nehmen, so sind sie doch jedenfalls reisefähig und auch in der Lage, medizinische Versorgungseinrichtungen bei Bedarf zur Inanspruchnahme der indizierten Gesundheitsleistungen aufzusuchen. Es reicht in solcherart gelagerten Fällen aus, wenn medizinische Behandlungsmöglichkeiten im Land der Abschiebung verfügbar sind, was in der Türkei festgestelltermaßen der Fall ist. Dass die Behandlung im Herkunftsstaat nicht den gleichen Standard wie in Österreich aufweist oder unter Umständen auch kostenintensiver ist, ist vor dem Hintergrund der oa. Judikatur unerheblich.
Dass die BF im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat Folter, einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung oder Strafe ausgesetzt sein könnten, konnte im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht festgestellt werden.
Es kann auch nicht erkannt werden, dass den BF im Falle einer Rückkehr in die Türkei die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten wäre (vgl. VwGH 16.07.2003, 2003/01/0059), haben doch die BF selbst nicht ausreichend konkret vorgebracht, dass ihnen im Falle einer Rückführung in die Türkei jegliche Existenzgrundlage fehlen würde und sie in Ansehung existentieller Grundbedürfnisse (wie etwa Versorgung mit Lebensmitteln oder einer Unterkunft) einer lebensbedrohenden Situation ausgesetzt wären.
Bei den BF1 und BF2 handelt es sich um gesunde, arbeitswillige und -fähige Personen, die in der Türkei aufgewachsen sind, prägende Abschnitte ihrer Sozialisierung und Persönlichkeitsentwicklung erfahren haben und dort auch über umfangreiche familiäre Anknüpfungspunkte verfügen. Der BF1 und die BF2 sammelten in der Vergangenheit bereits mehrjährige Berufserfahrung. Einer neuerlichen Erwerbsaufnahme stehen auf Basis der bereits gewonnenen Erfahrungen bzw. Fähigkeiten keine unüberwindbaren Hindernisse entgegen. Der BF1 und die BF2 waren bis zur Ausreise aus der Türkei in der Lage, im Herkunftsstaat ihre Existenz zu sichern und für den Lebensunterhalt der Familie aufzukommen. Die Pflege und Obsorge der BF3 bis BF6 sind jedenfalls durch die BF2 sichergestellt. Zur Deckung eines allfälligen, zusätzlichen Betreuungsbedarfes hinsichtlich der BF3 bis BF6 können - für die Fälle einer Erwerbsaufnahme durch die BF2 oder einer schwangerschafts- bzw. geburtsbedingten Verhinderung - die familiären Netzwerke der BF unterstützend herangezogen werden.
Nach dem festgestellten Sachverhalt besteht auch kein Hinweis auf „außergewöhnliche Umstände“, welche eine Rückkehr der BF in die Türkei unzulässig machen könnten.
Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nicht, dass die wirtschaftliche Situation in der Türkei angespannt ist, allerdings nicht so weit, dass dadurch die Existenz der BF als gefährdet anzusehen wäre. Von den BF selbst sind dahingehend keine Bedenken bezüglich der Rückkehrsituation dargelegt worden. Die Türkei unternimmt (wie nahezu alle anderen Staaten weltweit und damit beispielsweise auch Österreich) entsprechende Maßnahmen zur Stabilisierung der wirtschaftlichen Lage einerseits und zur Absicherung der eigenen Staatsangehörigen in ihren Grundbedürfnissen andererseits. Abschließend wird auf das in der Türkei bestehende Sozialsystem verwiesen.
Eine die physische Existenz nur unzureichend sichernde Versorgungssituation im Herkunftsstaat, die im Einzelfall eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte darstellen würde (vgl. VwGH 21.08.2001, 2000/01/0443; 13.11.2001, 2000/01/0453; 18.07.2003, 2003/01/0059), liegt nicht vor.
Es wäre dem BF1 (zumindest) zumutbar, durch eigene und notfalls auch wenig attraktive und seiner Vorbildung nicht entsprechende Arbeit oder durch Zuwendungen von dritter Seite, zB. Verwandte, sonstige sie schon bei der Ausreise unterstützende Personen, Hilfsorganisationen, religiös-karitativ tätige Organisationen - erforderlichenfalls unter Anbietung seiner gegebenen Arbeitskraft als Gegenleistung - dazu beizutragen, um das für seinen bzw. den Lebensunterhalt der BF2 und BF3 – BF6 unbedingt Notwendige erlangen zu können. Zu den regelmäßig zumutbaren Arbeiten gehören dabei auch Tätigkeiten, für die es keine oder wenig Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs ausgeübt werden können, auch soweit diese Arbeiten im Bereich einer „Schatten- oder Nischenwirtschaft“ stattfinden, wobei hier auf kriminelle Aktivitäten nicht verwiesen wird.
Ergänzend ist anzuführen, dass auch eine Rückkehrhilfe (über diese wird im erstinstanzlichen Verfahren schon informiert) als Startkapital für die Fortsetzung des bisherigen Lebens in der Türkei gewährt werden kann. Im Rahmen der Rückkehrhilfe wird bzw. werden dabei der Neubeginn zu Hause unterstützt, Kontakte zu Hilfsorganisationen im Heimatland vermittelt, finanzielle Unterstützung geleistet und beim Zugang zu Wohn-, Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten geholfen. Den BF stehen die in der Türkei vorhandenen Systeme der sozialen Sicherheit (u. a. Sozialleistungen für Bedürftige durch die Stiftungen für Soziale Hilfe und Solidarität als Anspruchsberechtigter) offen, da sie über die türkische Staatsbürgerschaft verfügen. Entsprechend der Feststellungen zu Sozialbeihilfen in der Türkei sind nach Art. 2 des Gesetzes Nr. 3294 bedürftige Staatsangehörige anspruchsberechtigt, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Leistungen werden etwa in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besonderen Hilfeleistungen, wie Katastrophenhilfe oder die Volksküchen, gewährt. Eine Reihe von Vereinen (oft von Rückkehrern selbst gegründet) bieten weiters spezielle Programme an, die Rückkehrern bei diversen Fragen wie etwa der Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen sollen. Zu diesen Vereinen gehören unter anderem: Rückkehrer Stammtisch Istanbul, Frau Qigdem Akkaya, LinkTurkey, E-Mail: info@link-tur key.com, Die Brücke, Frau Christine Senol, Email: info@bruecke-istanbul.org , http://bruecke-istan bul.com/, TAKID, Deutsch-Türkischer Verein für kulturelle Zusammenarbeit, QUKUROVA/ADANA, E-Mail: almankulturadana@yahoo.de .
Auf Grund der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens ergibt sich somit kein „reales Risiko“, dass es derzeit durch die Rückführung der BF in den Herkunftsstaat zu einer Verletzung von Art 2 EMRK, Art 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe kommen würde.
Es kam im Verfahren nicht hervor, dass konkret für die BF im Falle einer Rückverbringung in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr bestünde, als Zivilpersonen einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts ausgesetzt zu sein.
3.2.3. Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würden die BF somit nicht in Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK oder den relevanten Zusatzprotokollen Nr. 6 und Nr. 13 verletzt werden. Weder droht im Herkunftsstaat durch direkte Einwirkung noch durch Folgen einer substantiell schlechten oder nicht vorhandenen Infrastruktur ein reales Risiko einer Verletzung der oben genannten von der EMRK gewährleisteten Rechte. Dasselbe gilt für die reale Gefahr, der Todesstrafe unterworfen zu werden. Auch Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für die BF als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen.
Es war unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände daher zu Recht kein Status eines/r subsidiär Schutzberechtigten zu gewähren, die Entscheidungen des BFA im Ergebnis zu bestätigen und die Beschwerden somit jeweils hinsichtlich der Spruchpunkte II. der angefochtenen Bescheide abzuweisen.
3.3. Zu den Spruchpunkten III. der angefochtenen Bescheide
3.3.1. Gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und von Amts wegen kein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt wird.
3.3.2. Gegenständlich wurden die Anträge auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch in Bezug auf den Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen.
3.3.3. Wie aus dem Verfahrensgang ersichtlich, erfolgte die Abweisung auch nicht gemäß § 8 Abs 3a AsylG 2005 (Ausschluss v. subs. Schutz) und ist auch keine Aberkennung (v. subs. Schutz) gemäß § 9 Abs 2 AsylG 2005 ergangen.
3.3.4. Gemäß § 57 Abs 1 AsylG 2005 ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zu erteilen:
1. wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs 1 Z 1 oder Z 3 FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB entspricht,
2. zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder
3. wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.
3.3.5. Der Aufenthalt der BF im Bundesgebiet war ausweislich der Feststellungen nie nach § 46a Abs. 1 Z 1 oder Abs. 1a FPG 2005 geduldet. Ihr Aufenthalt ist nicht zur Gewährlistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Sie wurden schließlich auch nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.
Ein Sachverhalt, wonach den BF gemäß § 57 Abs 1 Z 1-3 AsylG eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zu erteilen wäre, liegt hier somit nicht vor, weshalb eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ vom Bundesamt zu recht nicht zu erteilen war.
3.4. Zu den Spruchpunkten IV. der angefochtenen Bescheide
3.4.1. Da sich die BF nach Abschluss des Verfahrens nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten, nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG (Zurückweisung, Transitsicherung, Zurückschiebung und Durchbeförderung) fallen und ihnen auch amtswegig kein Aufenthaltstitel gem. § 57 AsylG zu erteilen war, ist diese Entscheidung gem. § 10 Abs 2 AsylG mit einer Rückkehrentscheidung gem. dem 8. Hauptstück des FPG (Aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen Fremde) zu verbinden.
Dem zur Folge hat das Bundesamt gemäß § 52 Abs 1 FPG [Rückkehrentscheidung] gegen einen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn er sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält (Z1) oder nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und das Rückkehrentscheidungsverfahren binnen sechs Wochen ab Ausreise eingeleitet wurde (Z2).
Gemäß Abs 2 leg cit hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird (Z 2) und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.
3.4.2. Die BF sind Staatsangehörige der Republik Türkei und keine begünstigten Drittstaatsangehörigen. Es kommt ihnen auch kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zu. Daher ist gegenständlich gem. § 52 Abs 2 FPG grundsätzlich die Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung zu prüfen.
3.4.3. Gemäß § 52 FPG iVm § 9 BFA-VG darf eine Rückkehrentscheidung nicht verfügt werden, wenn es dadurch zu einer Verletzung des Privat- und Familienlebens in Österreich käme:
§ 9 Abs 1 bis 3 BFA-VG lautet:
(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Rückkehrentscheidung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.
Art 8 EMRK, Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens:
(1) Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.
(2) Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.“
Für die Beurteilung ob ein relevantes Privat- und/oder Familienleben iSd Art 8 EMRK vorliegt sind nach der höchstgerichtlichen Judikatur insbesondere nachfolgende Umstände beachtlich:
Privatleben:
Nach der Rechtsprechung des EGMR (vgl. aktuell SISOJEVA u.a. gg. Lettland, 16.06.2005, Bsw. Nr. 60.654/00) garantiert die Konvention Fremden kein Recht auf Einreise und Aufenthalt in einem Staat. Unter gewissen Umständen können von den Staaten getroffene Entscheidungen auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts (z. B. eine Rückkehrentscheidungsentscheidung) aber in das Privatleben eines Fremden eingreifen. Dies beispielsweise dann, wenn ein Fremder den größten Teil seines Lebens in dem Gastland zugebracht (wie im Fall SISOJEVA u.a. gg. Lettland) oder besonders ausgeprägte soziale oder wirtschaftliche Bindungen im Aufenthaltsstaat vorliegen, die sogar jene zum eigentlichen Herkunftsstaat an Intensität deutlich übersteigen (vgl. dazu BAGHLI gg. Frankreich, 30.11.1999, Bsw. Nr. 34374/97; ebenso die Rsp. des Verfassungsgerichtshofes; vgl. dazu VfSlg 10.737/1985; VfSlg 13.660/1993).
Bei der Schutzwürdigkeit des Privatlebens manifestiert sich der Grad der Integration des Fremden insbesondere an intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen (vgl. EGMR 4.10.2001, Fall Adam, Appl. 43.359/98, EuGRZ 2002, 582; 9.10.2003, Fall Slivenko, Appl. 48.321/99, EuGRZ 2006, 560; 16.6.2005, Fall Sisojeva, Appl. 60.654/00, EuGRZ 2006, 554; vgl. auch VwGH 5.7.2005, 2004/21/0124; 11.10.2005, 2002/21/0124).
Familienleben:
Das Recht auf Achtung des Familienlebens iSd Art. 8 EMRK schützt das Zusammenleben der Familie. Es umfasst jedenfalls alle durch Blutsverwandtschaft, Eheschließung oder Adoption verbundenen Familienmitglieder, die effektiv zusammenleben; das Verhältnis zwischen Eltern und minderjährigen Kindern auch dann, wenn es kein Zusammenleben gibt (EGMR Kroon, VfGH 28.06.2003, G 78/00); etwa bei Zutreffen anderer Faktoren aus denen sich ergibt, dass eine Beziehung genügend Konstanz aufweist, um de facto familiäre Bindungen zu erzeugen: z. B. Natur und Dauer der Beziehung der Eltern und insbesondere, ob sie geplant haben ein gemeinsames Kind zu haben; ob der Vater das Kind als eigenes anerkannt hat; ob Unterhaltszahlungen für die Pflege und Erziehung des Kindes geleistet wurden; und die Intensität und Regelmäßigkeit des Umgangs (EGMR v. 8.1.2009, Zl 10606/07, Fall Grant gg. Vereinigtes Königreich).
Eine familiäre Beziehung unter Erwachsenen fällt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) nur dann unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (vgl. dazu auch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 9. Juni 2006, B 1277/04, unter Hinweis auf die Judikatur des EGMR; des Weiteren auch das Erkenntnis des VwGH vom 26. Jänner 2006, Zl. 2002/20/0423 und die darauf aufbauende Folgejudikatur, etwa die Erkenntnisse vom 26. Jänner 2006, Zl. 2002/20/0235, vom 8. Juni 2006, Zl. 2003/01/0600, vom 22. August 2006, Zl. 2004/01/0220 und vom 29. März 2007, Zl. 2005/20/0040, vom 26. Juni 2007, 2007/01/0479).
Alle anderen verwandtschaftlichen Beziehungen (zB zwischen Enkel und Großeltern, erwachsenen Geschwistern [vgl. VwGH 22.08.2006, 2004/01/0220, mwN; 25.4.2008, 2007/20/0720 bis 0723-8], Cousinen [VwGH 15.01.1999, 97/21/0778; 26.6.2007, 2007/01/0479], Onkeln bzw. Tanten und Neffen bzw. Nichten) sind nur dann als Familienleben geschützt, wenn eine „hinreichend starke Nahebeziehung“ besteht. Nach Ansicht der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ist für diese Wertung insbesondere die Intensität und Dauer des Zusammenlebens von Bedeutung (vgl. VfSlg 17.457/2005). Dabei werden vor allem das Zusammenleben und die gegenseitige Unterhaltsgewährung zur Annahme eines Familienlebens iSd Art 8 EMRK führen, soweit nicht besondere Abhängigkeitsverhältnisse, wie die Pflege eines behinderten oder kranken Verwandten, vorliegen.
Ist von einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme die gesamte Familie betroffen, greift sie lediglich in das Privatleben der Familienmitglieder und nicht auch in ihr Familienleben ein; auch dann, wenn sich einige Familienmitglieder der Abschiebung durch Untertauchen entziehen (EGMR im Fall Cruz Varas gegen Schweden). In diesen Fällen ist nach der Judikatur des EGMR der Eingriff in das Privatleben gegebenenfalls separat zu prüfen (Chvosta, Die Rückkehrentscheidung von Asylwerbern und Art 8 MRK, ÖJZ 2007/74, 856 mwN).
Der Begriff des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse Intensität aufweisen, etwa ein gemeinsamer Haushalt vorliegt (vgl. dazu EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; Frowein - Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, 2. Auflage (1996) Rz 16 zu Art. 8; Baumgartner, Welche Formen des Zusammenlebens schützt die Verfassung? ÖJZ 1998, 761; vgl. auch Rosenmayer, Aufenthaltsverbot, Schubhaft und Abschiebung, ZfV 1988, 1). In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; s. auch EKMR 07.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Onkel bzw. Tante und Neffen bzw. Nichten (EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 05.07.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt (vgl. Baumgartner, ÖJZ 1998, 761; Rosenmayer, ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).
3.4.4. Die BF verfügen in Österreich über familiäre Anknüpfungspunkte in Form eines hier aufhältigen Bruders sowie einer Tante der BF2. Die BF haben zu diesen beiden Verwandten jedoch keinerlei Kontakt und es besteht kein finanzielles oder sonstiges Abhängigkeitsverhältnis. In Deutschland leben weitschichtige Verwandte der BF, zu denen jedoch ebenfalls kein Kontakt besteht. Basierend auf den getroffenen Feststellungen ist somit davon auszugehen, dass die Rückkehrentscheidungen keinen Eingriff in das Recht auf Familienleben der BF darstellen, jedoch einen solchen in das Recht auf Privatleben, wenngleich dieser schon alleine durch den erst kurzen Aufenthalt und den niedrigen Integrationsgrad in Österreich, welcher darüber hinaus nur durch die unbegründete Stellung von Asylanträgen erreicht werden konnte, relativiert wird.
3.4.5. Im vorliegenden Fall ist der Eingriff gesetzlich vorgesehen und verfolgt gem. Art 8 Abs, 2 EMRK legitime Ziele, nämlich
- die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe und Ordnung, worunter auch die geschriebene
Rechtsordnung zu subsumieren ist;
- das wirtschaftliche Wohl des Landes;
- zur Verhinderung von strafbaren Handlungen;
Öffentliche Ordnung / Verhinderung von strafbaren Handlungen (insb. im Bereich des Aufenthaltsrechtes):
Der EGMR geht davon aus, dass die Konvention kein Recht auf Aufenthalt in einem bestimmten Staat garantiert. Der EGMR erkennt in stRsp weiters, dass die Konventionsstaaten nach völkerrechtlichen Bestimmungen berechtigt sind, Einreise, Rückkehrentscheidung und Aufenthalt von Fremden ihrer Kontrolle zu unterwerfen, soweit ihre vertraglichen Verpflichtungen dem nicht entgegenstehen (vgl. uva. zB. Urteil Vilvarajah/GB, A/215 § 102 = NL 92/1/07 und NL 92/1/27f.). Die Schaffung eines Ordnungssystems mit dem die Einreise und der Aufenthalt von Fremden geregelt wird, ist auch im Lichte der Entwicklungen auf europäischer Ebene notwendig. Dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen kommt im Interesse des Schutzes der öffentlichen Ordnung (Art 8 Abs 2 EMRK) daher ein hoher Stellenwert zu (VfGH 29.9.2007, B 328/07, VwGH 16.01.2001, Zl. 2000/18/0251 uva.). Die öffentliche Ordnung, hier va. das Interesse an einer geordneten Zuwanderung, erfordert es daher, dass Fremde, die nach Österreich einwandern wollen, die dabei zu beachtenden Vorschriften einhalten. Die öffentliche Ordnung wird z. B. schwerwiegend beeinträchtigt, wenn einwanderungswillige Fremde, ohne das betreffende Verfahren abzuwarten, sich unerlaubt nach Österreich begeben, um damit die österreichischen Behörden vor vollendete Tatsachen zu stellen. Die Rückkehrentscheidung kann in solchen Fällen trotz eines vielleicht damit verbundenen Eingriffs in das Privatleben und Familienleben erforderlich sein, um jenen Zustand herzustellen, der bestünde, wenn sich der Fremde gesetzestreu verhalten hätte (VwGH 21.2.1996, 95/21/1256). Dies insbesondere auch deshalb, weil als allgemein anerkannter Rechtsgrundsatz grundsätzlich gilt, dass aus einer unter Missachtung der Rechtsordnung geschaffenen Situation keine Vorteile gezogen werden dürfen. (VwGH 11.12.2003, 2003/07/0007). Der VwGH hat weiters festgestellt, dass beharrliches illegales Verbleiben eines Fremden nach rechtskräftigem Abschluss des Asylverfahrens bzw. ein länger dauernder illegaler Aufenthalt eine gewichtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Hinblick auf ein geordnetes Fremdenwesen darstellen würde, was eine Rückkehrentscheidung als dringend geboten erscheinen lässt (VwGH 31.10.2002, Zl. 2002/18/0190). Aus Art 8 EMRK ist zudem kein Recht auf Wahl des Familienwohnsitzes ableitbar (VfGH 13.10.2007, B1462/06 mwN).
Die rechtswidrige Einreise und der rechtswidrige Aufenthalt im Bundesgebiet stellen eine Verwaltungsübertretung dar. Im darin enthaltenen Strafrahmen des FPG lässt der Gesetzgeber das hohe öffentliche Interesse an der Verhinderung bzw. Bekämpfung des nicht rechtmäßigen Aufenthaltes im Bundesgebiet erkennen. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung stellt daher ein Instrument zur Verhinderung eines derartigen unter Strafe gestellten Verhaltens bzw. Unterlassens dar. Die allgemeine Lebenserfahrung zeigt, dass die Mehrzahl der Fremden nach rechtskräftigem Abschluss ihres Asylverfahrens der durch die Rückkehrentscheidung bestehenden auferlegten Ausreiseverpflichtung nicht (freiwillig) nachkommt. Nur für den Fall der Erlassung eines den Aufenthalt des Fremden beendenden Titels besteht (unbeschadet der sonstigen Zuständigkeit der Sicherheitsbehörde für Aufenthaltsbeendigungen von Fremden) für diesen Fremden nach Abschluss seines Asylverfahrens die gesetzliche Verpflichtung Österreich zu verlassen und können Organe des öffentlichen Sicherheitsdienste nur diesfalls im Falle der Weigerung im Auftrage der Sicherheitsbehörde diese im öffentlichen Interesse notwendige Aufenthaltsbeendigung auch mit behördlicher Befehls- und Zwangsgewalt durchführen.
Wirtschaftliches Wohl:
Die geordnete Zuwanderung von Fremden ist auch für das wirtschaftliche Wohl des Landes (vgl zB EGMR 31.7.2008, Darren Omoregie u.a. gg. Norwegen) von besonderer Bedeutung, da diese sowohl für den geordneten Arbeitsmarkt als auch für das Sozial- und Gesundheitssystem erhebliche Auswirkung hat.
Es entspricht der allgemeinen Lebenserfahrung, dass insbesondere bei nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältigen Fremden, welche daher auch grundsätzlich über keine arbeitsrechtliche Berechtigung verfügen, idR die reale Gefahr besteht, dass sie zur Finanzierung ihres Lebensunterhaltes in die gesellschaftlich unerwünschte, aber doch real vorhandene Schattenwirtschaft ausweichen, was wiederum erhebliche Folgewirkungen auf den offiziellen Arbeitsmarkt, das Sozialsystem und damit auf das wirtschaftliche Wohl des Landes hat (vgl. ÖJZ 2007/74, Peter Chvosta, Die Rückkehrentscheidung von Asylwerbern und Art 8 EMRK, S 857 mwN).
Wenn das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein mussten, ist dies bei der Abwägung gegebenenfalls als die persönlichen Interessen mindernd in Betracht zu ziehen (EGMR 24.11.1998, Fall Mitchell, Appl. 40.447/98; 5.9.2000, Fall Solomon, Appl. 44.328/98; 31.1.2006, Fall Rodrigues da Silva und Hoogkamer, Appl. 50.435/99, ÖJZ 2006, 738 = EuGRZ 2006, 562, Fall Nnyanzi gg. Vereinigtes Königreich, Fall Darren Omoregie u.a. gg. Norwegen).
Privatleben iSd Art 8 Abs 1 EMRK kann grundsätzlich nur im Rahmen eines legalen Aufenthaltes entstehen. Eine während des laufenden Asylverfahrens bloß vorläufige Aufenthaltsberechtigung ist nicht geeignet berechtigterweise schon die Erwartung hervorzurufen, in Österreich bleiben zu dürfen (EGMR in den Sachen Ghiban v. 7.10.04, 33743/03 und Dragan NVwZ 2005, 1043, Nnyanzi gg. Norwegen).
Der Asylwerber kann während seines Asylverfahrens nicht darauf vertrauen, dass ein in dieser Zeit entstehendes Privat- bzw. Familienleben auch nach der Erledigung seines Asylantrages fortgesetzt werden kann. Die Rechte aus der GFK dürfen nicht dazu dienen, die Einwanderungsregeln zu umgehen (ÖJZ 2007/74, Peter Chvosta, Die Rückkehrentscheidung von Asylwerbern und Art 8 EMRK, S 857 mwN).
Verfügt der Beschwerdeführer über einen gesicherten Aufenthalt und ist er nicht straffällig geworden, so bewirken diese Umstände keine relevante Verstärkung seiner persönlichen Interessen (Hinweis E 24. Juli 2002, 2002/18/0112; 31.10.2002, 2002/18/0190).
Das Gewicht einer aus dem langjährigen Aufenthalt in Österreich abzuleitenden Integration ist weiters dann gemindert, wenn dieser Aufenthalt lediglich auf einen unberechtigten Asylantrag zurückzuführen ist (VwGH 26.6.2007, 2007/01/0479 mwN). Beruht der bisherige Aufenthalt auf rechtsmissbräuchlichem Verhalten (insbesondere bei Vortäuschung eines Asylgrundes [vgl VwGH 2.10.1996, 95/21/0169]), relativiert dies die ableitbaren Interessen des Asylwerbers wesentlich [vgl. die Erkenntnisse vom 28. Juni 2007, Zl. 2006/21/0114, und vom 30. August 2007, Zl. 2006/21/0246] (VwGH 20.12.2007, 2006/21/0168).
Bei der Abwägung der Interessen ist auch zu berücksichtigen, dass es dem Beschwerdeführer bei der asylrechtlichen Rückkehrentscheidung grundsätzlich nicht verwehrt ist, bei Erfüllung der allgemeinen aufenthaltsrechtlichen Regelungen des FPG bzw. NAG wieder in das Bundesgebiet zurückzukehren (vgl. ÖJZ 2007/74, Peter Chvosta, Die Rückkehrentscheidung von Asylwerbern und Art 8 EMRK, S 861, mwN).
3.4.6. Im Einzelnen ergibt sich unter zentraler Beachtung der in § 9 Abs 1 Z 1-9 BFA-VG genannten Determinanten Folgendes:
- Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt rechtswidrig war:
Die BF reisten nicht rechtmäßig in das Bundesgebiet ein.
Erst ab Stellung der Anträge auf internationalen Schutz hatten die BF vorläufige Aufenthaltsberechtigungen nach dem AsylG.
Nach Abweisung ihrer Anträge und Verfügung von asylrechtlichen Rückkehrentscheidungen durch das BFA wurde die vorläufige Aufenthaltsberechtigung durch Einbringung der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht für die Dauer des Beschwerdeverfahrens verlängert.
Abgesehen von den aus den bloßen Asylantragstellungen resultierenden vorläufigen Aufenthaltsberechtigungen für die Dauer des Verfahrens kam nicht hervor, dass die BF zu irgendeinem Zeitpunkt über einen anderen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet verfügt hätten.
Es kam nicht hervor, dass die BF zu irgendeiner Zeit versucht hätten, unter Einhaltung des geltenden Einreise- bzw. Aufenthaltsrechtes nach Österreich zu gelangen.
- das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens:
Die BF verfügen über keine maßgeblichen familiären, jedoch über die festgestellten privaten Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet.
- Schutzwürdigkeit des Privatlebens / Die Frage, ob das Privatleben / Familienleben zu einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstaates bewusst waren:
Die Anknüpfungspunkte in Österreich wurden zur Gänze in einer Zeit erlangt, in der der Aufenthalt der BF durch die bloß vorläufige Aufenthaltsberechtigung für die Dauer des Asylverfahrens stets prekär war.
Einem Asylwerber muss (spätestens) nach der erstinstanzlichen Abweisung seines Asylantrages - auch wenn er subjektiv Hoffnungen auf ein positives Verfahrensende haben sollte - im Hinblick auf die negative behördliche Beurteilung des Antrages von einem nicht gesicherten weiteren Aufenthalt ausgehen [Hinweis E 25. März 2010, 2010/21/0064 bis 0068] (VwGH 29.4.2010, 2010/21/0085). Im gegenständlichen Fall wurden die Asylanträge der BF mit Bescheiden vom 21.03.2024 abgewiesen. Weiters kommt hinzu, dass davon auszugehen ist, dass diese als unbegründet zu erachtenden Asylanträge zudem hinsichtlich der Fluchtgründe teilweise auf falsche Gegebenheiten gestützt und damit versucht wurde, die Asylinstanzen zu täuschen.
Nach den erstinstanzlichen Entscheidungen waren die weiteren Aufenthalte der BF lediglich durch Ergreifung von Rechtsmitteln gegen diese Entscheidungen und der dadurch bedingten Verlängerung der vorläufigen Aufenthaltsberechtigungen möglich.
Nur beim Vorliegen von außergewöhnlichen, besonders zu berücksichtigenden Sachverhalten kann sich ergeben, dass den Fremden, welche rechtswidrig in das Bundesgebiet einreisten oder sich rechtswidrig in diesem aufhalten, ihre Obliegenheit zum Verlassen des Bundesgebietes nachgesehen und ein Aufenthaltsrecht erteilt wird. Derartige Umstände liegen im gegenständlichen Fall nicht vor.
Keinesfalls entspricht es der fremden- und aufenthaltsrechtlichen Systematik, dass das Knüpfen von privaten bzw. familiären Anknüpfungspunkten nach rechtswidriger Einreise oder während eines auf einen unbegründeten Antrag fußenden Asylverfahrens bzw. gar nach negativer Entscheidung im Rahmen eines Automatismus zur Erteilung eines Aufenthaltstitels führen. Dies kann nur ausnahmsweise in Einzelfällen bei Vorliegen eines besonders qualifizierten Sachverhalts der Fall sein, welcher hier bei weitem nicht vorliegt (vgl. hier etwa Erk. d. VfGH U 485/2012-15 vom 12.06.2013).
- Grad der Integration:
Die BF reisten Ende Juli 2023 rechtswidrig in Österreich ein und befinden sich somit seit etwas weniger als zwei Jahren und zwei Monaten in Österreich, was in Bezug auf ihr Lebensalter noch einen relativ kurzen Zeitraum darstellt. Die BF beziehen seit ihrer Einreise durchgehend (mit einer kleinen Unterbrechung von einem Tag) Leistungen aus der Grundversorgung für hilfsbedürftige Fremde in Österreich und sind die (grundsätzlich erwerbsfähigen) BF1 und BF2 damit – mit Ausnahme eines einzelnen Arbeitstages des BF1 am 17.09.2024 – zu keinem Zeitpunkt während ihres hiesigen Aufenthalts in einem Beschäftigungsverhältnis gestanden. Eine Selbsterhaltungsfähigkeit liegt daher nicht vor. Einstellungszusage wurden im Verfahren nicht in Vorlage gebracht. Der BF1 und die BF2 besuchten in Österreich einen Basisbildungskurs legten bisher jedoch keine Deutsch- oder Integrationsprüfung ab. Sie absolvierten im Bundesgebiet auch keine sonstigen Ausbildungen. Die BF3 besuchte in Österreich ebenfalls einen Basisbildungskurs sowie einen Kurs „OÖ Finanzführerschein Basic“ und absolvierte eine Integrationsprüfung auf dem Sprachniveau A1. Zudem besuchte sie ein Jahr lang die Polytechnische Schule. Die BF weisen einfache Deutschkenntnisse auf, sodass eine grundsätzliche Kommunikation auf Deutsch möglich ist. Die BF4 bis BF6 sind in Österreich schulisch inkludiert und nehmen am Unterricht teil. Die BF engagieren sich (sofern altersmäßig zumutbar) im Bundesgebiet weder ehrenamtlich noch gehören sie einem Verein an. Die BF verfügen in Österreich über familiäre Anknüpfungspunkte in Form eines hier aufhältigen Bruders sowie einer Tante der BF2. Die BF haben zu diesen beiden Verwandten jedoch keinerlei Kontakt und es besteht kein finanzielles oder sonstiges Abhängigkeitsverhältnis. In Deutschland leben weitschichtige Verwandte der BF, zu denen jedoch ebenfalls kein Kontakt besteht. Die BF konnten sich in Österreich bereits einen Freundes- bzw. Bekanntenkreis aufbauen, wobei zu jenen Personen kein finanzielles oder sonstiges Abhängigkeitsverhältnis besteht. Besonders enge Freundschaften wurden im Verfahren nicht vorgebracht, ebenso wenig wie Unterstützungsschreiben von Freunden. Die BF sind in Österreich strafrechtlich unbescholten.
- Bindungen zum Herkunftsstaat:
Die BF wurden in der Türkei geboren, absolvierten dort (teilweise) ihre Schulbildungen, können sich im Herkunftsstaat verständigen und haben dort prägende Abschnitte ihrer Sozialisation und Persönlichkeitsentwicklung erfahren sowie nahezu ihr gesamtes Leben zugebracht. Der BF1 stammt aus der Stadtgemeinde XXXX in der südostanatolischen Provinz Gaziantep, wo er aufwuchs und bis ca. zum 16. Lebensjahr lebte, ehe er gemeinsam mit seinem Bruder in die Stadt XXXX zog. Die BF2 stammt ebenfalls aus der Stadtgemeinde XXXX in der südostanatolischen Provinz Gaziantep, wo sie aufwuchs und bis zu ihrem 18. Lebensjahr lebte. Im Oktober oder November 2007 heirateten der BF1 und die BF2 in der Türkei standesamtlich sowie traditionell und lebten ab diesem Zeitpunkt bis zu ihrer Ausreise in der Stadt XXXX . Der Ehe entsprangen die vier gemeinsamen Kinder BF3 bis BF6. Der BF1 besuchte fünf Jahre lang die Schule und ging anschließend verschiedenen Erwerbstätigkeiten nach. So arbeitete er zwei Jahre lang als Schweißer in einer Eisenwarenwerkstatt, 1-2 Jahre als Installateur, drei Jahre lang als Elektrogerätereparateur sowie zwischenzeitig auch als Reinigungskraft in einem Restaurant. Ungefähr 15 Jahre lang arbeitete er dann in der Textilbranche und die letzten beiden Jahre vor seiner Ausreise in einer Teppichproduktionsfirma. Nebenbei half er auch in Garten- und Feldwirtschaft mit. Im Jahr 2005 leistete er seinen Militärdienst ab. Der BF1 ist Miteigentümer einer Wohnung in der Türkei und verfügt dort über ein Auto. Die BF2 besuchte in der Türkei acht Jahre lang die Schule, wobei sie die letzten drei Jahre via Fernunterricht absolvierte. Von ihrem 10. Lebensjahr bis zu ihrem 18. Lebensjahr arbeitete die BF2 in einer Seidenteppichproduktionsfirma, anschließend betrieb sie über 10 Jahre lang eine Boutique. Von 2021 bis 2022 machte die BF2 eine Kochausbildung. Sie verfügt in der Türkei über mehrere Gärten und Felder von einer insgesamten Fläche von ca. 20-30 Hektar. Zudem verfügt sie über eine Eigentumswohnung in XXXX und über Miteigentum am Elternhaus. Die Pistazienfelder der BF2 werden aktuell von ihrem Bruder bewirtschaftet, die Einnahmen werden aufgeteilt und der Anteil der BF2 von ihrem Bruder für sie aufgespart. Die BF3 besuchte in der Türkei acht Jahre lang die Schule und konnte in der Türkei noch keine Berufserfahrung sammeln. Die BF4 bis BF6 waren in der Türkei altersgemäß in den entsprechenden Schulstufen eingeschult. Die BF waren in der Türkei im Hinblick auf ihre Grundbedürfnisse abgesichert. Der BF1 und die BF2 waren bis zur Ausreise aus der Türkei in der Lage, im Herkunftsstaat ihre Existenz sowie jene ihrer Familie zu sichern, ihre finanzielle Situation war gut. Die BF verfügen zudem über umfangreiche familiäre Anknüpfungspunkte in der Türkei. Dort leben insbesondere die Eltern, ein Bruder, zwei Schwestern, ein Onkel und zwei Tanten des BF1 in der Herkunftsregion des BF1. Sowohl die Eltern, als auch die drei Geschwister des BF1 verfügen jeweils über ein eigenes Haus. Die Eltern verfügen über eine Landwirtschaft und bewirtschaften diese. Die beiden Schwestern des BF1 sind verheiratet und werden von ihren Ehegatten versorgt, ein Ehegatte arbeitet in einem Möbelhaus, der andere im Krankenhaus. Der Bruder des BF1 ist Elektriker. Die BF2 ist über ihre Mutter, eine Schwester und einen Bruder in der Türkei familiär angebunden. Darüber hinaus leben auch mehrere Onkel und Tanten in der Herkunftsregion der BF2. Sowohl die Mutter, als auch die beiden Geschwister der BF2 verfügen jeweils über ein eigenes Haus. Die Mutter der BF2 verfügt zudem über eine Landwirtschaft und bezieht Witwenpension. Die Schwester ist verheiratet und wird von ihrem Ehegatten versorgt, der in einer Fabrik als Eisengießer arbeitet. Der Bruder der BF2 arbeitet im Krankenhaus und ist Leiter der Gesundheitsabteilung. Die genannten Personen verfügen über Vermögen und (soweit persönlich erwerbsfähig und -tätig) über Einkommen. Die finanzielle Situation der Familie des BF1 in der Türkei ist normal, jene der Familie der BF2 ist sehr gut. Die BF stehen in regelmäßigen telefonischen Kontakt mit ihren Familienangehörigen in der Türkei, es geht ihnen gut. Da sich die BF lediglich etwas mehr als zwei Jahre nicht in der Türkei aufhielten, kann eindeutig nicht davon ausgegangen werden, dass sie von ihrem Herkunftsstaat entwurzelt wären. Der Verwaltungsgerichtshof geht davon aus, dass selbst bei einem etwa acht Jahre dauernden inländischen Aufenthalt ein Fremder dadurch nicht gehindert ist, sich wieder eine existenzielle Grundlage im Herkunftsland aufzubauen (VwGH 23.11.2017, Ra 2015/22/0162).
- strafrechtliche Unbescholtenheit:
Die BF sind strafrechtlich unbescholten.
Die Feststellung, wonach die BF strafrechtlich unbescholten sind, relativiert sich durch den erst verhältnismäßig kurzen Aufenthalt der BF und stellt darüber hinaus laut Judikatur weder eine Stärkung der persönlichen Interessen noch eine Schwächung der öffentlichen Interessen dar (VwGH 21.1.1999, Zahl 98/18/0420). Der VwGH geht wohl davon aus, dass es von Fremden, welche sich im Bundesgebiet aufhalten als selbstverständlich anzunehmen ist, dass sie die geltenden Rechtsvorschriften einhalten.
- Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-. Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts:
Die BF reisten nicht rechtmäßig in das Bundesgebiet ein, was an sich schon als relevanter Verstoß gegen das Einwanderungsrecht in die Interessensabwägung einzubeziehen ist (vgl. zB. VwGH 25.02.2010, 2009/21/0165; 25.02.2010, 2009/21/0070). Sie legalisierten ihren Aufenthalt erst durch die Stellung von Anträgen auf internationalen Schutz.
Die BF verletzten durch die teilweise nicht wahrheitsgemäße Begründung ihrer Anträge auf internationalen Schutz ihre Mitwirkungsverpflichtungen im Asylverfahren.
3.3.2.6. Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass sich die BF nur etwas weniger als zwei Jahre und zwei Monate in Österreich aufhielten und dieser Zeitraum keineswegs ausreichend dafür ist, sich in die österreichische Gesellschaft nachhaltig zu integrieren. Ihr Aufenthalt beruhte lediglich auf Anträgen auf internationalen Schutz, die sich als nicht berechtigt erwiesen haben, und ist auch zu kurz, um ihrem Interesse an einem Weiterverbleib im Bundesgebiet ein relevantes Gewicht zu verleihen. Einem inländischen Aufenthalt von weniger als fünf Jahren kommt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ohne Hinzutreten weiterer maßgeblicher Umstände noch keine maßgebliche Bedeutung hinsichtlich der durchzuführenden Interessenabwägung zu (VwGH vom 15.03.2016, Zl. Ra 2016/19/0031 mwN).
Hinzu kommt erschwerend, dass die Asylanträge von Vornherein unbegründet waren, die BF1, BF2 und BF3 die Asylbehörden teilweise offensichtlich durch Behauptung falscher Tatsachen versuchten, in die Irre zu führen, um unberechtigt einen Aufenthaltstitel über das Asylverfahren zu erlangen. Erst durch Missachtung der österreichischen Rechtsordnung konnten sich die BF diese Vorteile verschaffen.
Bestandteil einer gelungenen Integration ist u. a., dass sich die asylwerbende Person auch im Asylverfahren im Wesentlichen regelkonform verhält, worüber sie überdies ausdrücklich zu Beginn und im Laufe des Verfahrens belehrt wird. Das Verhalten im Asylverfahren, also konkret vor den staatlichen Behörden des Aufnahmestaates, in dem sie behauptet, Schutz vor Verfolgung zu benötigen, kann somit bei einer Bewertung der Integration in Österreich nicht ausgeblendet werden. Auf Grund von nicht wahrheitsgemäßen Angaben führt dies gegenständlich zu einer Minderung der privaten Interessen der BF und zu einer Stärkung der genannten öffentlichen Interessen.
Die strafrechtliche Unbescholtenheit der BF wirkt sich in der Bewertung neutral aus und führt nicht zur Verstärkung der privaten Interessen.
Soweit die BF über private Bindungen in Österreich verfügen, ist im Übrigen darauf hinzuweisen, dass diese zwar durch eine Rückkehr in die Türkei gelockert werden, es deutet jedoch nichts darauf hin, dass die BF hierdurch gezwungen sind, den Kontakt zu jenen Personen, die ihnen in Österreich nahestehen, gänzlich abzubrechen. Es steht ihnen frei, die Kontakte anderweitig (telefonisch, elektronisch, brieflich, gegebenenfalls auch in einem Drittstaat, etc.) aufrecht zu erhalten.
Den BF1 bis BF3 ist in integrativer Hinsicht zugute zu halten, dass sie in Österreich einen Basisbildungskurs besuchten, wobei lediglich die BF3 eine Integrationsprüfung auf dem Sprachniveau A1 erfolgreich absolvierte. Zudem besuchte die BF3 in Österreich einen Kurs „OÖ Finanzführerschein Basic“ und sowie ein Jahr lang die Polytechnische Schule. Die BF weisen einfache Deutschkenntnisse auf, sodass eine grundsätzliche Kommunikation auf Deutsch möglich ist. Zudem konnten sich die BF in Österreich bereits einen Freundes- bzw. Bekanntenkreis aufbauen, wobei zu jenen Personen kein finanzielles oder sonstiges Abhängigkeitsverhältnis besteht. Besonders enge Freundschaften wurden im Verfahren nicht vorgebracht, ebenso wenig wie Unterstützungsschreiben von Freunden. In diesem Zusammenhang ist jedoch auch die höchstgerichtliche Judikatur beachtlich, wonach selbst die - hier bei Weitem nicht vorhandenen - Umstände, dass selbst ein Fremder, der perfekt Deutsch spricht sowie sozial vielfältig vernetzt und integriert ist, über keine über das übliche Maß hinausgehenden Integrationsmerkmale verfügt, und diesen daher nur untergeordnete Bedeutung zukommt (Erk. d. VwGH vom 6.11.2009, 2008/18/0720; 25.02.2010, 2010/18/0029).
Es sind auch ansonsten keine besonderen zu Gunsten der BF sprechenden integrativen Schritte erkennbar. Die BF1 und BF2 sind - mit Ausnahme eines einzelnen Arbeitstages des BF1 am 17.09.2024 - in Österreich keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen, sodass von keiner entsprechenden Selbsterhaltungsfähigkeit ausgegangen werden kann. Diesem Umstand steht der Bezug von Leistungen der Öffentlichen Hand im Wege der Grundversorgung gegenüber, wiewohl den BF auch eine angemessene Vorlaufzeit zur Integration in den österreichischen Arbeitsmarkt zweifelsfrei zuzugestehen war. Der BF1 und die BF2 absolvierten abgesehen von einem Basisbildungskurs keine weiteren Ausbildungen. Zudem engagieren sich die BF (sofern altersmäßig zumutbar) im Bundesgebiet weder ehrenamtlich noch gehören sie einem Verein an. Im Verfahren kam nicht hervor, dass sie tiefergehend in die österreichische Gesellschaft integriert wären. Es liegen daher keinesfalls besondere Integrationsmerkmale vor.
Es besteht dadurch noch keine derartige Verdichtung ihrer persönlichen Interessen, dass bereits von „außergewöhnlichen Umständen“ gesprochen werden kann und ihnen schon deshalb unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ein dauernder Verbleib in Österreich ermöglicht werden müsste.
Die Bindungen zum Heimatstaat der BF sind deutlich stärker ausgeprägt. Die BF wurden in der Türkei geboren, dort sozialisiert, können sich im Herkunftsstaat in der (auch in ihrem Herkunftsort) dominierenden türkischen Landessprache verständigen und haben nahezu ihr gesamtes Leben in diesem Staat verbracht. Der BF1 stammt aus der Stadtgemeinde XXXX in der südostanatolischen Provinz Gaziantep, wo er aufwuchs und bis ca. zum 16. Lebensjahr lebte, ehe er gemeinsam mit seinem Bruder in die Stadt XXXX zog. Die BF2 stammt ebenfalls aus der Stadtgemeinde XXXX in der südostanatolischen Provinz Gaziantep, wo sie aufwuchs und bis zu ihrem 18. Lebensjahr lebte. Im Oktober oder November 2007 heirateten der BF1 und die BF2 in der Türkei standesamtlich sowie traditionell und lebten ab diesem Zeitpunkt bis zu ihrer Ausreise in der Stadt XXXX . Der Ehe entsprangen die vier gemeinsamen Kinder BF3 bis BF6. Der BF1 besuchte fünf Jahre lang die Schule und ging anschließend verschiedenen Erwerbstätigkeiten nach. So arbeitete er zwei Jahre lang als Schweißer in einer Eisenwarenwerkstatt, 1-2 Jahre als Installateur, drei Jahre lang als Elektrogerätereparateur sowie zwischenzeitig auch als Reinigungskraft in einem Restaurant. Ungefähr 15 Jahre lang arbeitete er dann in der Textilbranche und die letzten beiden Jahre vor seiner Ausreise in einer Teppichproduktionsfirma. Nebenbei half er auch in Garten- und Feldwirtschaft mit. Im Jahr 2005 leistete er seinen Militärdienst ab. Der BF1 ist Miteigentümer einer Wohnung in der Türkei und verfügt dort über ein Auto. Die BF2 besuchte in der Türkei acht Jahre lang die Schule, wobei sie die letzten drei Jahre via Fernunterricht absolvierte. Von ihrem 10. Lebensjahr bis zu ihrem 18. Lebensjahr arbeitete die BF2 in einer Seidenteppichproduktionsfirma, anschließend betrieb sie über 10 Jahre lang eine Boutique. Von 2021 bis 2022 machte die BF2 eine Kochausbildung. Sie verfügt in der Türkei über mehrere Gärten und Felder von einer insgesamten Fläche von ca. 20-30 Hektar. Zudem verfügt sie über eine Eigentumswohnung in XXXX und über Miteigentum am Elternhaus. Die Pistazienfelder der BF2 werden aktuell von ihrem Bruder bewirtschaftet, die Einnahmen werden aufgeteilt und der Anteil der BF2 von ihrem Bruder für sie aufgespart. Die BF3 besuchte in der Türkei acht Jahre lang die Schule und konnte in der Türkei noch keine Berufserfahrung sammeln. Die BF4 bis BF6 waren in der Türkei altersgemäß in den entsprechenden Schulstufen eingeschult. Die BF waren in der Türkei im Hinblick auf ihre Grundbedürfnisse abgesichert. Der BF1 und die BF2 waren bis zur Ausreise aus der Türkei in der Lage, im Herkunftsstaat ihre Existenz sowie jene ihrer Familie zu sichern, ihre finanzielle Situation war gut. Die BF verfügen zudem über umfangreiche familiäre Anknüpfungspunkte in der Türkei. Es besteht daher eine deutlich größere Bindung der BF zu ihrem Herkunftsstaat als zu Österreich und ist davon auszugehen, dass sie mit den dort herrschenden Gepflogenheiten nach wie vor bestens vertraut sind, weshalb keineswegs erkennbar, inwiefern sich die BF im Falle ihrer Rückkehr bei der Wiedereingliederung in die dortige Gesellschaft unüberwindbaren Hürden gegenübersehen könnten.
Der Verwaltungsgerichtshof hat zudem mehrfach darauf hingewiesen, dass es im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte (wie im gegenständlichen Fall) in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 28.02.2019, Ro 2019/01/0003, mwN).
Im Rahmen der Interessensabwägung gem. Art. 8 Abs. 2 EMRK ist auch das Kindeswohl zu berücksichtigen. Nach der Rechtsprechung des VwGH sind gemäß § 9 Abs. 1 und 2 BFA-VG 2014 bei einer Rückkehrentscheidung, von welcher Kinder bzw. Minderjährige betroffen sind, die besten Interessen und das Wohlergehen dieser Kinder, insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen sie im Heimatstaat begegnen, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen (Hinweis Urteile des EGMR vom 18. Oktober 2006, Üner gegen die Niederlande, Beschwerde Nr. 46410/99, Randnr. 58, und vom 6. Juli 2010, Neulinger und Shuruk gegen die Schweiz, Beschwerde Nr. 41615/07, Randnr. 146). Maßgebliche Bedeutung kommt hinsichtlich der Beurteilung des Kriteriums der Bindungen zum Heimatstaat nach § 9 Abs. 2 Z 5 BFA-VG 2014 dabei den Fragen zu, wo die Kinder geboren wurden, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld sie gelebt haben, wo sie ihre Schulbildung absolviert haben, ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen, und insbesondere, ob sie sich in einem anpassungsfähigen Alter befinden ("adaptable age"; Hinweis Urteile des EGMR vom 31. Juli 2008, Darren Omoregie und andere gegen Norwegen, Beschwerde Nr. 265/07, Randnr. 66, vom 17. Februar 2009, Onur gegen das Vereinigte Königreich, Beschwerde Nr. 27319/07, Randnr. 60, und vom 24. November 2009, Omojudi gegen das Vereinigte Königreich, Beschwerde Nr. 1820/08, Randnr. 46; siehe dazu auch das hg. Erkenntnis vom 17. Dezember 2007, Zlen. 2006/01/0216 bis 0219) befinden (vgl. VwGH 30.8.2017, Ra 2017/18/0070 bis 0072, mwN zur diesbezüglichen Rechtsprechung des EGMR; 24.09.2019, Ra 2019/20/0274; Führt die Überprüfung des Kriteriums nach § 9 Abs. 2 Z 5 BFA-VG 2014 zu dem Ergebnis, dass eine Minderjährige zum Heimatland keine oder nur mehr äußerst geringe Bindungen aufweist, wird das - vorausgesetzt, sie ist unbescholten und hat in Österreich einen ausreichenden Grad an Integration erreicht - in der Regel dafür sprechen, ihr den weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet zu ermöglichen, und zwar jedenfalls dann, wenn nicht - in zumutbarer Weise - erwartet werden kann, dass sie sich im Falle einer Rückführung an die Verhältnisse im Heimatland, etwa das Erlernen der dortigen Sprache, den Aufbau neuer Kontakte, die Fortsetzung einer begonnenen Ausbildung, usw., wieder anpassen. In einem solchen Fall kommt auch bei einer verhältnismäßig kurzen Aufenthaltsdauer in Österreich den fehlenden Bindungen der Minderjährigen zum Heimatstaat im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtabwägung großes Gewicht zu (VwGH 30.08.2017, Ra 2017/18/0070; VwGH 21.05.2019, Ra 2019/19/0136).
Allfällige ungünstigere Entwicklungsbedingungen im Ausland begründen für sich allein noch keine Gefährdung des Kindeswohls, vor allem dann nicht, wenn die Familie von dort stammt (OGH 08.07.2003, Zl. 4Ob146/03d unter Verweis auf Coester in Staudinger, BGB13 § 1666 Rz 82 mwN). Zudem gehören die sozioökonomischen Verhältnisse der Eltern grundsätzlich zum Schicksal und Lebensrisiko eines Kindes (ebd.).
Entsprechend der höchstgerichtlichen Judikatur kommt bei der im Rahmen des § 9 Abs. 1 BFA-VG vorzunehmenden Interessensabwägung den Kriterien des in § 138 ABGB definierten Kindeswohles lediglich die Funktion eines „Orientierungsmaßstabes“ zu. Die Berücksichtigung des Kindeswohls stellt im Kontext aufenthaltsbeendender Maßnahmen lediglich einen Aspekt im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung dar; das Kindeswohl ist daher bei der Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit gegenläufigen Interessen von Fremden nicht das einzig ausschlaggebende Kriterium. Die konkrete Gewichtung des Kindeswohles im Rahmen der nach § 9 BFA-VG vorzunehmenden Gesamtbetrachtung hängt von den Umständen des jeweiligen Einzelfalles ab (VwGH 2.3.2022, Ra 2021/20/0156-10, Ra 202/20/0358 bis 0361-7; VwGH 8.9.2021, Ra 2021/20/0166 bis 0170 mwN). Somit stellt das Kindeswohl im Kontext der Prüfungsschritte der Zulässigkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen lediglich einen Aspekt im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung dar und ist nicht das einzige ausschlaggebende Kriterium.
Grundsätzlich ist im gegenständlichen Fall festzuhalten, dass die Eltern (BF1 und BF2) sowie die minderjährigen BF3 bis BF6 türkische Staatsangehörige sind; es sind sämtliche BF im selben Umfang von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen bedroht und gehören die sozioökonomischen Lebensverhältnisse der BF1 und BF2 zum von den BF3 bis BF6 hinzunehmenden Lebensrisiko, weshalb aus dem Umstand der Beendigung des Aufenthaltes per se noch kein relevanter Eingriff in das Kindeswohl ableitbar ist. Aufgrund ihres Lebensalters ist hinsichtlich der BF3 bis BF6 davon auszugehen, dass sich erhebliche und prägende Anknüpfungspunkte überwiegend aus dem Umfeld der Kernfamilie - insbesondere der Eltern (BF1 und BF2) - ergeben. Die minderjährigen BF3 bis BF6 befinden sich in einem Alter erhöhter Anpassungsfähigkeit und beobachtete die erkennende Richterin im Rahmen ihrer langjährigen Laufbahn, dass minderjährige Fremde, welche in einem vergleichbaren Alter nach Österreich einreisten, sich innerhalb kürzester Zeit in ihr Lebensumfeld umfassend eingliederten und bestehen für das BVwG keine Hinweise, dass Derartiges nicht auch im hier vorliegenden spiegelbildlichen Fall einer Rückkehr in die Türkei stattfinden könnte. Es wäre den minderjährigen BF3 bis BF6 gemeinsam mit den Eltern (BF1 und BF2) jedenfalls möglich, sich in die türkische Gesellschaft zu (re-)integrieren und das dortige Schul- und Ausbildungssystem jeweils für sich in Anspruch zu nehmen (BF3 bis BF6), und erscheint eine Fortführung ihrer schulischen Laufbahn im Herkunftsstaat jedenfalls als nicht unzumutbar.
Es sei an dieser Stelle auch darauf hingewiesen, dass die aktuelle Situation durch das Verhalten der BF1 und BF2 herbeigeführt wurde und es nunmehr an ihnen liegt, die Eingliederung der BF3 bis BF6 in die türkische Gesellschaft nicht zu verzögern.
Im Verfahren wurde darüber hinaus nie behauptet und ergaben sich auch im Rahmen der amtswegigen Ermittlungen keine Hinweise auf einen Umstand, welcher den Schluss zuließe, dass die Eltern der minderjährigen BF3 bis BF6 ein Verhalten an den Tag legen würden, welches dem Kindeswohl widerstreiten würde und sie diesem Verhalten in der Türkei schutzlos ausgesetzt wären. Die BF1 und BF2 vermittelten den Eindruck, am Wohlergehen ihrer Kinder interessiert zu sein, und brachten auch keine von Verwandten oder sonstigen Personen im Herkunftsstaat potentiell ausgehenden Gewalttätigkeiten oder sonstige befürchtete Verhaltensweisen, welche dem Kindeswohl widersprechen würden, glaubhaft vor. Nochmals sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass dem Fluchtvorbringen der BF1 bis BF3 keine Glaubwürdigkeit geschenkt werden konnte.
Im vorliegenden Fall war für das BVwG festzustellen, dass aufgrund der Arbeitsfähigkeit der Eltern bzw. zumindest des BF1 von der Selbsterhaltungsfähigkeit und Bewältigung des Lebensunterhalts der gesamten Familie ausgegangen werden kann. Darüber hinaus herrscht in der Türkei kein generelles Umfeld, welches einer positiven Persönlichkeitsentwicklung der minderjährigen BF3 bis BF6 entgegenstehen würde.
Ausgehend von den persönlichen Profilen der BF und den Erwägungen zur Lebensgrundlage im Herkunftsstaat geht das erkennende Gericht davon aus, dass die minderjährigen BF3 bis BF6 im Wege der Versorgung durch ihre Eltern bzw. ihres Vaters (BF1), nicht nur eine hinreichende Absicherung im Hinblick auf die Güter des täglichen Bedarfs, sondern insbesondere auch im Hinblick auf ihre altersgerechten Bedürfnisse erfahren werden. Die Pflege und Obsorge der BF3 bis BF6 sind jedenfalls durch die BF2 sichergestellt. Zur Deckung eines allfälligen zusätzlichen Betreuungsbedarfes hinsichtlich der BF3 bis BF6 können – für den Fall einer Erwerbsaufnahme durch die BF2 – die familiären Netzwerke der BF unterstützend beansprucht werden.
Außerdem ist nach wie vor von einer sehr engen Bindung der BF zur Türkei auszugehen, zumal sie dort allesamt geboren wurden und geradezu ihr gesamtes Leben verbracht haben. Sie wurden in der Türkei vollumfänglich sozialisiert (BF1 und BF2) bzw. durchliefen dort zumindest erhebliche Abschnitte (BF3) bzw. die Anfangsstadien (BF4 bis BF6) ihrer Persönlichkeitsentwicklung. Hinzu kommt, dass sie nach wie vor umfangreiche familiäre Anknüpfungspunkte in der Türkei haben. Demgegenüber halten sie sich mit etwas weniger als zwei Jahren und zwei Monaten eine verhältnismäßig sehr kurze Zeit in Österreich auf. Es besteht daher eine deutlich größere Bindung der BF zu ihrem Herkunftsstaat als zu Österreich und ist davon auszugehen, dass sie mit den dort herrschenden Gepflogenheiten nach wie vor bestens vertraut sind. Die minderjährigen schulpflichtigen BF3 bis BF6 haben in ihrem Herkunftsstaat zum Zeitpunkt ihrer Ausreise (Juli 2023) noch die Schule besucht, woraus abzuleiten ist, dass sie ihre schulische Ausbildung auch im Rückkehrfall im Herkunftsstaat - ohne erhebliche Unterbrechung - fortsetzen können und mit dem dort vorherrschenden Bildungssystem und Programm noch vertraut sein müssen. Darüber hinaus geht das BVwG fallgegenständlich davon aus, dass die BF3 bis BF6 über ihr Umfeld bzw. ihre Eltern (BF1 und BF2) die türkisch-kurdische Kultur vermittelt bekamen bzw. nach wie vor bekommen, die Sprache ihres Herkunftsstaates beherrschen und ihnen die türkischen Gepflogenheiten damit nicht gänzlich unbekannt sind. Wenngleich die minderjährigen BF3 bis BF6 im Falle der Rückkehr in die Türkei ihre allenfalls in Österreich hinzugewonnenen Schulfreunde zurücklassen, sich wieder an ihr früheres soziales Umfeld gewöhnen müssten und die Rückkehr für sie daher mit einer anfänglichen Umstellungsphase verbunden sein könnte, so wird ihre Wiedereingliederung jedenfalls dadurch erleichtert, dass sie ihre grundlegende Sozialisation im Herkunftsstaat erfahren haben (vgl. VwGH 05.03.2020, Ra 2020/19/0010, Rn. 15, mwN) und sich in einem anpassungsfähigen Alter befinden.
Aus den oa. Ausführungen ergibt sich, dass die aufenthaltsbeendenden Maßnahmen auch aus der Sicht des Kindeswohles zulässig sind.
Der Vollständigkeit halber sei auch darauf hingewiesen, dass sich aus einer Zusammenschau der Erkenntnisse des VfGH vom 12.6.2010 U 614/10, U613/10 und den Beschluss desselben Tages U615/10 u. a. ergibt, dass sich die Kinder das Verhalten der Eltern im gegenständlichen Fall zurechnen lassen müssen. Obwohl die dort genannten minderjährigen Beschwerdeführer auf das Verhalten ihrer 1962 geborenen Mutter und 1992 geborenen Schwester keinerlei Einfluss hatten und ihnen deren Verhalten, insbesondere jenes der Mutter, nicht subjektiv vorgeworfen werden konnte, wurde die Behandlung ihrer Beschwerden dennoch mit Beschluss U615/10 u. a. abgewiesen. Im Lichte der Erk. des VfGH B 950-954/10-08, S. 19, bzw. v. 10.03.2011, B1565/10, wo die Aufenthaltsdauer der Beschwerdeführer in Österreich aufgrund den Beschwerdeführern nicht zurechenbarer Dauer der Asylverfahren als wesentliches Argument für eine Interessensabwägung zu Gunsten der Beschwerdeführer herangezogen wurde, ist ableitbar, dass in den in Beschluss U615/10 genannten Fällen trotz fehlender subjektiver Vorwerfbarkeit des Verhaltens der Beschwerdeführer im Hinblick auf die Verfahrensdauer aufgrund deren Minderjährigkeit und des Verhaltens der Mutter gerade dieses Verhalten der Mutter im Rahmen der Interessensabwägung in Bezug auf die minderjährigen Kinder dennoch eine Rolle spielte, sie sich dieses zwar nicht vorwerfen, aber in einem gewissen Umfang zurechnen lassen mussten, da ansonsten davon auszugehen gewesen wäre, dass ein mit den in den Erk. des VfGH B 950-954/10-08, S. 19, bzw. v. 10.03.2011, B1565/10 beschriebenen Fällen vergleichbarer Fall vorliegen würde und zu einer vergleichbaren Entscheidung geführt hätte. Im Lichte der beschriebenen Ausführungen verkennt das BVwG zwar nicht, dass sich die BF3 bis BF6 das Verhalten der Eltern (BF1 und BF2) im Rahmen der Interessensabwägung gemäß Ar. 8 EMRK nicht im vollen Umfang subjektiv vorwerfen lassen müssen, doch ist dieses Verhalten im Rahmen einer objektiven Zurechnung dennoch nicht unbeachtlich und gelten die Ausführungen in Bezug auf die BF1 und BF2 - wenn auch in abgeschwächter Form - somit auch für die BF3 bis BF6.
Letztlich ist auch auf die Judikatur des VwGH zu verweisen, wonach die allfällige Trennung von Familienangehörigen ebenso wie mögliche Schwierigkeiten bei der Wiedereingliederung im Heimatland im öffentlichen Interesse in Kauf zu nehmen sind (vgl. VwGH 09.07.2009, 2008/22/0932; 22.02.2011, 2010/18/0417) und selbst Schwierigkeiten bei der Gestaltung der Lebensverhältnisse, die infolge der alleinigen Rückkehr auftreten können, hinzunehmen sind (vgl. VwGH 15.03.2016, Zl. Ra 2015/21/0180).
Unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände und unter Einbeziehung der oa. Judikatur der Höchstgerichte ist gegenständlich ein überwiegendes öffentliches Interesse – nämlich die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, konkret das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung und Stärkung der Einwanderungskontrolle, das wirtschaftliche Wohl des Landes sowie zur Verhinderung von strafbaren Handlungen insbesondere in Bezug auf den verwaltungsstrafrechtlich pönalisierten, nicht rechtmäßigen Aufenthalt von Fremden im Bundesgebiet – an der Aufenthaltsbeendigung der BF festzustellen, das die Interessen der BF an einem Verbleib in Österreich überwiegt. Die Rückkehrentscheidung ist daher als notwendig und nicht unverhältnismäßig zu erachten.
Es erfolgte daher zu Recht die Erlassung von Rückkehrentscheidungen gem. § 52 Abs. 2 Z 2 FPG, weshalb die Entscheidungen des BFA im Ergebnis zu bestätigen und die Beschwerden somit jeweils hinsichtlich der Spruchpunkte IV. der angefochtenen Bescheide abzuweisen waren.
3.5. Zu den Spruchpunkten V. der angefochtenen Bescheide
3.5.1. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG hat das Bundesamt mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, dass eine Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 FPG in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist, es sei denn, dass dies aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich sei.
Nach § 50 Abs. 1 FPG ist die Abschiebung Fremder in einen Staat unzulässig, wenn dadurch Art 2 oder 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), BGBl. Nr. 210/1958, oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre.
Nach § 50 Abs. 2 FPG ist Abschiebung in einen Staat unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre (Art 33 Z 1 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974), es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005).
Nach § 50 Abs. 3 FPG ist Abschiebung in einen Staat unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht.
3.5.2. Die Zulässigkeit der Abschiebung der BF in den Herkunftsstaat Türkei ist gem. § 46 FPG gegeben, da nach den die Abweisungen ihrer Anträge auf internationalen Schutz tragenden Feststellungen der vorliegenden Entscheidung keine Gründe vorliegen, aus denen sich eine Unzulässigkeit der Abschiebung im Sinne des § 50 FPG ergeben würden.
Es waren daher die Entscheidungen des BFA im Ergebnis zu bestätigen und die Beschwerden somit hinsichtlich der Spruchpunkte V. der angefochtenen Bescheide abzuweisen.
3.6. Zu den Spruchpunkten VI. der angefochtenen Bescheide:
3.6.1. Gemäß § 55 Abs. 1 FPG wird mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt. Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt nach § 55 Abs. 2 FPG 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen.
3.6.2. Da derartige Gründe im Verfahren nicht vorgebracht wurden, wurde die Frist zu Recht mit 14 Tagen festgelegt.
Zu Spruchteil B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung, weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
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