JudikaturBVwG

W166 2280783-1 – Bundesverwaltungsgericht Entscheidung

Entscheidung
26. April 2024

Spruch

W166 2280783-1/5E

Beschluss

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Carmen LOIBNER-PERGER als Vorsitzende und die Richterin Mag. Ivona GRUBESIC sowie den fachkundigen Laienrichter Mag. Gerald SOMMERHUBER als Beisitzer über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , vertreten durch EHM METZ MÖDLAGL Rechtsanwälte, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen, Landesstelle Wien, vom 14.08.2023, betreffend die Abweisung des Antrages auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Mobilitätseinschränkung auf Grund einer Behinderung“ im Behindertenpass, beschlossen:

A)

Der angefochtene Bescheid wird aufgehoben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Sozialministeriumservice, Landesstelle Wien, zurückverwiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

Begründung:

I. Verfahrensgang:

Die Beschwerdeführerin ist seit 26.05.2015 im Besitz eines Behindertenpasses mit einem Gesamtgrad der Behinderung (GdB) im Ausmaß von 50 v.H. und stellte am 28.12.2022 einen Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung auf Grund einer Behinderung“ in den Behindertenpass. Mit dem Antrag legte die Beschwerdeführerin diverse psychiatrische Beweismittel vor.

Seitens der belangten Behörde wurde daraufhin ein Sachverständigengutachten eines Facharztes für Neurologie und Psychiatrie vom 03.07.2023 - basierend auf der persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin - eingeholt, in welchem zur beatragten Zusatzeintragung Nachfolgendes ausgeführt wurde:

„(…)

Derzeitige Beschwerden:

sie kann nicht alleine außer Haus gehen, da sie da mit Panikattacken und Ängsten reagiert, deshalb ist die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ihr auch nicht mehr möglich. Außer Haus gehen ist kaum möglich, einkaufen alleine ist nicht möglich, enge Räume und Menschen nicht möglich. Sie ist in psychiatrischer Betreuung im Krankenhaus Hietzing, dort bekommt sie auch Psychotherapie. Die laufende Ketamin-Therapie (seit April 2022) würde keine wirkliche Wirkung zeigen.

Behandlung(en) / Medikamente / Hilfsmittel:

Medikation:

- Ritalin 20 mg 0-1-1-0

- Concerta 54 mg 1-0-0-0

- Efectin 150 mg 2-0-0-0

- Efectin 75 mg 1-0-0-0

- Aripiprazol 10 mg 1-0-0-0

- Pregabalin 100 mg 1-1-0-0

- Alprazolam bei Bedarf

- Temesta bei Bedarf

- Praxiten bei Bedarf

- Sirdalud bei Bedarf

- Spravato 3x 28 mg /Woche im Spital AKH eine Elektrokrampftherapie wird diskutiert

(…)

Gesamtmobilität – Gangbild:

Stand und Gang: unauffällig

Status Psychicus:

AW klar, wach, orientiert, Duktus nachvollziehbar, inhaltlich etwas entleert, wirkt genau, jedoch langsam, wirkt belastet, keine produktive Symptomatik oder wahnhafte Verarbeitung, Angabe von Selbstverletzung durch Schneiden an den Handgelenken 11/22 (lt. AW Hilfeschrei, sich spüren, keine SM Absicht), Stimmung deutlich depressiv entleert, in beiden Skalenbereichen eingeschränkt affizierbar, Anhedonie, Realitätssinn erhalten, Auffassung, Konzentration eingeschränkt, psychomotorisch verlangsamt (…)

1. Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel - Welche der festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen lassen das Zurücklegen einer kurzen Wegstrecke, das Ein- und Aussteigen sowie den sicheren Transport in einem öffentlichen Verkehrsmittel nicht zu und warum?

keine; es besteht ein unauffälliges Gangbild, die AW kann kurze Wegstrecken (300-400m) selbständig zurücklegen, das Ein- und Aussteigen sowie die sichere Beförderung in öffentlichen Verkehrsmittel ist nicht maßgeblich beeinträchtigt, das festgestellte und dokumentierte Leiden 1 ist in Art und Ausprägung nicht derart vorhanden, um maßgebliche Behinderung bei der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ausreichend zu begründen. Klaustrophobie, Sozialphobie und phobische Angst vor Kontrollverlust nicht als führende Bestandteile des beantragten Leidens dokumentiert. Die Orientierung und Gefahreneinschätzung im öffentlichen Raum ist ausreichend vorhanden.“

Als Funktionseinschränkung wurde eine Depression vor dem Hintergrund einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung, Panikattacken diagnostiziert.

Die belangte Behörde brachte der Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 07.07.2023 das Ergebnis der Beweisaufnahme zur Kenntnis und räumte ihr in Wahrung des Parteiengehörs die Gelegenheit ein, binnen zwei Wochen ab Zustellung des Schreibens eine Stellungnahme abzugeben. Eine Stellungnahme wurde nicht eingebracht.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 14.08.2023 hat die belangte Behörde den Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in den Behindertenpass abgewiesen und stützte sich in der Begründung auf das von der belangten Behörde eingeholte fachärztliche Sachverständigengutachten vom 03.07.2023, welches in der Beilage zum Bescheid an die Beschwerdeführerin übermittelt wurde.

Gegen den angefochtenen Bescheid erhob die nunmehr rechtsanwaltlich vertretene Beschwerdeführerin fristgerecht Beschwerde und brachte vor, aus Sicht ihrer behandelnden Fachärzte sei sie nicht in der Lage ein öffentliches Verkehrsmittel zu benützen, es bestehe bei ihre eine therapierefraktäre depressive Symptomatik mit massiver Antriebslosigkeit sowie reduzierter Belastbarkeit, Neigung zur Reizüberflutung mit rascher Überforderung und Panikattacken mit körperlicher Begleitsymptomatik. Bei ihr seien die Diagnosen Rezidivierende depressive Störung (ICD-10 F33.2), Agoraphobie mit Panikstörung (ICD-10 F41.0) und Emotionale instabile Persönlichkeit vom Borderline Typus (ICD-10 F60.3) gestellt worden. Mit der Beschwerde wurde eine fachärztliche Stellungnahme der psychiatrischen Abteilung des AKH vom 20.07.2023 vorgelegt.

Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht von der belangten Behörde am 07.11.2023 vorgelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Gemäß § 6 des Bundesgesetzes über die Organisation des Bundesverwaltungsgerichtes (Bundesverwaltungsgerichtsgesetz – BVwGG) entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Gemäß § 45 Abs. 3 Bundesbehindertengesetz hat in Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes durch den Senat zu erfolgen.

Gegenständlich liegt somit Senatszuständigkeit vor.

Zu Spruchpunkt A)

Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist. Gemäß Abs. 2 leg.cit. hat über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG das Verwaltungsgericht selbst zu entscheiden, wenn 1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder 2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG hat das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vorliegen und die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhaltes unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

Das Modell der Aufhebung des Bescheides und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Behörde folgt konzeptionell jenem des § 66 Abs. 2 AVG, setzt im Unterschied dazu aber nicht auch die Notwendigkeit der Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung voraus. Voraussetzung für eine Aufhebung und Zurückverweisung ist allgemein (nur) das Fehlen behördlicher Ermittlungsschritte. Sonstige Mängel, abseits jener der Sachverhaltsfeststellung, legitimieren nicht zur Behebung auf Grundlage von § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG (vgl. Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren, 2. Auflage, Wien 2018, Anm. 11, S. 204).

§ 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes, wenn „die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen“ hat.

Der Verwaltungsgerichtshof hat sich im seinem Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, mit der Sachentscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte auseinandergesetzt und darin folgende Grundsätze klargestellt:

Die Aufhebung eines Bescheides einer Verwaltungsbehörde durch ein Verwaltungsgericht komme nach dem Wortlaut des § 28 Abs. 1 Z 1 VwGVG nicht in Betracht, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt feststeht. Dies wird jedenfalls dann der Fall sein, wenn der entscheidungsrelevante Sachverhalt bereits im verwaltungsbehördlichen Verfahren geklärt wurde, zumal dann, wenn sich aus der Zusammenschau der im verwaltungsbehördlichen Bescheid getroffenen Feststellungen (im Zusammenhalt mit den dem Bescheid zu Grunde liegenden Verwaltungsakten) mit dem Vorbringen in der gegen den Bescheid erhobenen Beschwerde kein gegenläufiger Anhaltspunkt ergibt.

Der Verfassungsgesetzgeber habe sich bei Erlassung der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012, BGBl. I 51, davon leiten lassen, dass die Verwaltungsgerichte grundsätzlich in der Sache selbst zu entscheiden haben, weshalb ein prinzipieller Vorrang einer meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte anzunehmen ist.

Angesichts des in § 28 VwGVG insgesamt verankerten Systems stelle die nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG bestehende Zurückverweisungsmöglichkeit eine Ausnahme von der grundsätzlichen meritorischen Entscheidungszuständigkeit der Verwaltungsgerichte dar. Nach dem damit gebotenen Verständnis stehe diese Möglichkeit bezüglich ihrer Voraussetzungen nicht auf derselben Stufe wie die im ersten Satz des § 28 Abs. 3 VwGVG verankerte grundsätzliche meritorische Entscheidungskompetenz der Verwaltungsgerichte. Vielmehr verlangt das im § 28 VwGVG insgesamt normierte System, in dem insbesondere die normative Zielsetzung der Verfahrensbeschleunigung bzw. der Berücksichtigung einer angemessenen Verfahrensdauer ihren Ausdruck findet, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht wird. Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen wird daher insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhaltes (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (etwa im Sinn einer "Delegierung" der Entscheidung an das Verwaltungsgericht).

Die gegenständlich maßgeblichen Bestimmungen des Bundesbehindertengesetzes, BGBl. 283/1990 idF BGBl. I. 57/2015 (BBG), lauten:

„§ 42. (1) Der Behindertenpass hat den Vor- und Familiennamen, das Geburtsdatum, eine allfällige Versicherungsnummer, den Wohnort und einen festgestellten Grad der Behinderung oder der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu enthalten und ist mit einem Lichtbild auszustatten. Zusätzliche Eintragungen, die dem Nachweis von Rechten und Vergünstigungen dienen, sind auf Antrag des behinderten Menschen zulässig. Die Eintragung ist vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen vorzunehmen.

…..

§ 45. (1) Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme einer Zusatzeintragung oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung sind unter Anschluss der erforderlichen Nachweise bei dem Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen einzubringen.

(2) Ein Bescheid ist nur dann zu erteilen, wenn einem Antrag gemäß Abs. 1 nicht stattgegeben oder der Pass eingezogen wird.

(3) In Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung hat die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Senat zu erfolgen.

(4) Bei Senatsentscheidungen in Verfahren gemäß Abs. 3 hat eine Vertreterin oder ein Vertreter der Interessenvertretung der Menschen mit Behinderung als fachkundige Laienrichterin oder fachkundiger Laienrichter mitzuwirken. Die fachkundigen Laienrichterinnen oder Laienrichter (Ersatzmitglieder) haben für die jeweiligen Agenden die erforderliche Qualifikation (insbesondere Fachkunde im Bereich des Sozialrechts) aufzuweisen.

§ 47. Der Bundesminister für Arbeit und Soziales ist ermächtigt, mit Verordnung die näheren Bestimmungen über den nach § 40 auszustellenden Behindertenpass und damit verbundene Berechtigungen festzusetzen.

§ 1 Abs. 4 der Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen, BGBl. II Nr. 495/2013 idF BGBl. II 263/2016, lautet auszugsweise:

(….)

(4) Auf Antrag des Menschen mit Behinderung ist jedenfalls einzutragen:

(….)

3. die Feststellung, dass dem Inhaber/der Inhaberin des Passes die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung nicht zumutbar ist; die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ist insbesondere dann nicht zumutbar, wenn das 36. Lebensmonat vollendet ist und

erhebliche Einschränkungen der Funktionen der unteren Extremitäten oder

erhebliche Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit oder

erhebliche Einschränkungen psychischer, neurologischer oder intellektueller Fähigkeiten, Funktionen oder

eine schwere anhaltende Erkrankung des Immunsystems oder

eine hochgradige Sehbehinderung, Blindheit oder Taubblindheit nach § 1 Abs. 2 Z 1 lit. b oder d

vorliegen.

(5) Grundlage für die Beurteilung, ob die Voraussetzungen für die in Abs. 4 genannten Eintragungen erfüllt sind, bildet ein Gutachten eines/einer ärztlichen Sachverständigen des Sozialministeriumservice. Soweit es zur ganzheitlichen Beurteilung der Funktionsbeeinträchtigungen erforderlich erscheint, können Experten/Expertinnen aus anderen Fachbereichen beigezogen werden. Bei der Ermittlung der Funktionsbeeinträchtigungen sind alle zumutbaren therapeutischen Optionen, wechselseitige Beeinflussungen und Kompensationsmöglichkeiten zu berücksichtigen. (…)

In den Erläuterungen zu § 1 Abs. 2 Z 3 (nunmehr § 1 Abs. 4 Z 3) der Verordnung über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen, BGBl. II 495/2013, wird unter anderem – soweit im gegenständlichen Fall relevant – Folgendes ausgeführt:

„Mit der vorliegenden Verordnung sollen präzise Kriterien für die Beurteilung der Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel festgelegt werden. Die durch die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes bisher entwickelten Grundsätze werden dabei berücksichtigt.

(…)

Grundsätzlich ist eine Beurteilung nur im Zuge einer Untersuchung des Antragstellers/der Antragstellerin möglich. Im Rahmen der Mitwirkungspflicht des Menschen mit Behinderung sind therapeutische Möglichkeiten zu berücksichtigen. Therapiefraktion – das heißt keine therapeutische Option ist mehr offen – ist in geeigneter Form nachzuweisen. Eine Bestätigung des Hausarztes/der Hausärztin ist nicht ausreichend.

Durch die Verwendung des Begriffes „dauerhafte Mobilitätseinschränkung“ hat schon der Gesetzgeber (StVO-Novelle) zum Ausdruck gebracht, dass es sich um eine Funktionsbeeinträchtigung handeln muss, die zumindest 6 Monate andauert. Dieser Zeitraum entspricht auch den grundsätzlichen Voraussetzungen für die Erlangung eines Behindertenpasses.

(…)

Erhebliche Einschränkungen psychischer, neurologischer oder intellektueller Funktionen umfassen im Hinblick auf eine Beurteilung der Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel folgende Krankheitsbilder:

- Klaustrophobie, Soziophobie und phobische Angststörungen als Hauptdiagnose nach ICD 10 und nach Ausschöpfung des therapeutischen Angebotes und einer nachgewiesenen Behandlung von mindestens 1 Jahr,

- hochgradige Entwicklungsstörungen mit gravierenden Verhaltensauffälligkeiten,

- schwere kognitive Einschränkungen, die mit einer eingeschränkten Gefahreneinschätzung des öffentlichen Raumes einhergehen,

- nachweislich therapierefraktäres, schweres, cerebrales Anfallsleiden - Begleitperson ist erforderlich.

Um die Frage der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel beurteilen zu können, hat die Behörde nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu ermitteln, ob der Antragsteller dauernd an seiner Gesundheit geschädigt ist und wie sich diese Gesundheitsschädigung nach ihrer Art und ihrer Schwere auf die Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auswirkt. Sofern nicht die Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auf Grund der Art und der Schwere der Gesundheitsschädigung auf der Hand liegt, bedarf es in einem Verfahren über einen Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Gesundheitsschädigung" regelmäßig eines ärztlichen Sachverständigengutachtens, in dem die dauernde Gesundheitsschädigung und ihre Auswirkungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel in nachvollziehbarer Weise dargestellt werden. Nur dadurch wird die Behörde in die Lage versetzt, zu beurteilen, ob dem Betreffenden die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Gesundheitsschädigung unzumutbar ist (vgl. VwGH 17.06.2013, 2010/11/0021, und die dort zitierten Erkenntnisse vom 23.02.2011, 2007/11/0142, und vom 25.05.2012, 2008/11/0128, jeweils mwN.).

Ein solches Sachverständigengutachten muss sich mit der Frage befassen, ob der Antragsteller dauernd an seiner Gesundheit geschädigt ist und wie sich diese Gesundheitsschädigung nach ihrer Art und ihrer Schwere auf die Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auswirkt (VwGH 20.03.2001, 2000/11/0321).

Der angefochtene Bescheid erweist sich in Bezug auf den zu ermittelnden Sachverhalt aus nachfolgenden Gründen als mangelhaft:

Im von der belangten Behörde eingeholten Gutachten eines Facharztes für Psychiatrie und Neurologie vom 03.07.2023 wurde zur beantragten Zusatzeintragung ausgeführt:

„(…) die sichere Beförderung in öffentlichen Verkehrsmittel ist nicht maßgeblich beeinträchtigt, das festgestellte und dokumentierte Leiden 1 ist in Art und Ausprägung nicht derart vorhanden, um maßgebliche Behinderung bei der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ausreichend zu begründen. Klaustrophobie, Sozialphobie und phobische Angst vor Kontrollverlust sind nicht als führende Bestandteile des beantragten Leidens dokumentiert. Die Orientierung und Gefahreneinschätzung im öffentlichen Raum ist ausreichend vorhanden.“

Als Funktionseinschränkung wurde eine Depression vor dem Hintergrund einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung, Panikattacken diagnostiziert.

Anlässlich der persönlichen Untersuchung am 21.06.2023 hat die Beschwerdeführerin vorgebracht, sie könne nicht alleine außer Haus gehen, da sie mit Panikattacken und Ängsten reagiere, deshalb sei ihr auch die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel nicht mehr möglich. Auch alleine einkaufen und der Aufenthalt in engen Räumen mit Menschen sei ihr nicht möglich. Die Beschwerdeführerin sei in einem Krankenhaus in psychiatrischer Betreuung, wo sie auch Psychotherapie bekomme. Die laufende Ketamin-Therapie (seit April 2022) würde keine wirkliche Wirkung zeigen.

Dieses Vorbringen deckt sich auch mit den von der Beschwerdeführerin vorgelegten fachärztlichen Beweismitteln von psychiatrischen Abteilungen/Ambulanzen von zwei Kliniken. Diesen Beweismitteln – welche im fachärztlichen Gutachten vom 03.07.2023 unter „Zusammenfassung relevanter Befunde“ – angeführt sind, ist zu entnehmen, dass die Beschwerdeführerin seit dem Jahr 2015 in regelmäßiger fachärztlicher und seit März 2022 in regelmäßiger psychotherapeutischer Behandlung steht und unter Panikattacken und Angstzuständen leide, welche sich in letzter Zeit insbesondere bei Menschenansammlungen verschlechtert hätten. Sie könne öffentliche Verkehrsmittel gar nicht mehr benützen und brauche Begleitung bei Terminen. Zu Hause habe sie Betreuung durch die Caritas bei der Alltagsbewältigung. In den fachärztlichen Beweismitteln wurde auch eine Angstsymptomatik diagnostiziert.

Den medizinischen Beweismitteln ist weiters zu entnehmen, dass die Beschwerdeführerin die verschiedensten Antidepressiva verordnet bekommt bzw. einnimmt und auch verschiedene diesbezügliche Therapien in Anspruch genommen werden, aber ein schlechtes Therapieansprechen vorliege.

Es ist nunmehr - nach den obigen Ausführungen - nicht nachvollziehbar, dass der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie in seinem Gutachten vom 03.07.2023 ausführt, dass Klaustrophobie, Sozialphobie und phobische Angst nicht als führende Bestandteile des beantragten Leidens dokumentiert sind.

Auch ist der fachärztliche Sachverständige überhaupt nicht auf die allfällige Ausschöpfung des therapeutischen Angebotes und einer nachgewiesenen Behandlung von mindestens 1 Jahr eingegangen, obwohl den vorgelegten fachärztlichen Beweismitteln zu entnehmen ist, dass die Beschwerdeführerin seit dem Jahr 2015 in regelmäßiger fachärztlicher und seit März 2022 in regelmäßiger psychotherapeutischer Behandlung steht, regelmäßige Medikamente einnimmt sowie Therapien in Anspruch nimmt und das Ansprechen darauf, trotz diverser Veränderungen der Therapien und Medikamente, schlecht sei.

Überdies wurde seitens der Beschwerdeführerin ein Sachverständigengutachten einer Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin vom 04.01.2024 nachgereicht, in welchem - neben den Diagnosen Rezidivierende depressive Störung gegenwärtig schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen und ADHS – die Diagnose Agoraphobie gestellt wurde. Verwiesen wird auf eine fachärztliche Stellungnahme der psychiatrischen Abteilung des AKH vom 20.07.2023, in welcher – neben den Diagnosen Rezidivierende depressive Störung (F33.2), Emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline Typus (F60.3) – eine Agoraphobie mit Panikstörung (F41.0) diagnostiziert und ausgeführt wurde, dass bei der Beschwerdeführerin eine reduzierte Belastbarkeit mit Neigung zur Reizüberflutung mit rascher Überforderung insbesondere an stark frequentierten öffentlichen Plätzen bestehe und es trotz intensiver psychopharmakologischer und psychotherapeutischer Therapie zum Auftreten von Panikattacken mit körperlicher Begleitsymptomatik komme.

Festgehalten wird auch, dass die Beschwerdeführerin regelmäßig in fachärztlicher und psychotherapeutischer Behandlung stehe und im AKH bereits 17 Mal Therapien mit Ketamin ohne anhaltenden Erfolg durchgeführt worden seien.

Diese fachärztliche Stellungnahme der psychiatrischen Abteilung des AKH vom 20.07.2023 wurde von der Beschwerdeführerin bereits mit der Beschwerde vorgelegt. Dennoch machte die belangte Behörde von der ihr gemäß § 14 VwGVG eingeräumten Möglichkeit der Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung keinen Gebrauch, sondern legte dem Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde mit dem Verwaltungsakt zur Entscheidung vor. Die diesbezüglich angeführte Begründung der belangten Behörde, eine Beschwerdevorentscheidung sei fristgerecht nicht mehr möglich, da innerhalb dieser Frist alle Untersuchungstermine vergeben seien, ist nicht nachvollziehbar, da die belangte Behörde die psychiatrische Stellungnahme vom 20.07.2023 dem beigezogenen fachärztlichen Sachverständigen, der die Beschwerdeführerin zeitnahe am 21.06.2023 untersucht und das fachärztliche Gutachten am 03.07.2023 erstellt hat, zum damaligen Zeitpunkt zur ergänzenden aktenmäßigen Beurteilung übermitteln hätte können. Diese Möglichkeit bestand für das ho. Gericht nicht, da der von der belangten Behörde im gegenständlichen Verfahren beigezogene Facharzt für Neurologie und Psychiatrie dem ho. Gericht als Sachverständiger nicht zur Verfügung steht.

Das von der belangten Behörde eingeholte fachärztliche Gutachten vom 03.07.2023 ist daher im Hinblick auf die Frage des Vorliegens der Voraussetzungen für die beantragte Zusatzeintragung nicht als schlüssig anzusehen.

Zusammenfassend fehlt es an einer nachvollziehbaren und schlüssigen Begründung für die Annahme der belangten Behörde, der Beschwerdeführerin sei die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel zumutbar.

Die belangte Behörde hat somit notwendige Ermittlungen des Sachverhaltes unterlassen und erweist sich der vorliegende Sachverhalt zur Beurteilung der Voraussetzungen für die Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung auf Grund einer Behinderung“ auf Grund der nur ansatzweise erfolgten Ermittlungen im verwaltungsbehördlichen Verfahren bzw. der Delegierung der Ermittlung des Sachverhaltes in entscheidungswesentlichen Fragen an das Verwaltungsgericht als so mangelhaft, dass weitere Ermittlungen des Sachverhaltes erforderlich sind.

Im fortgesetzten Verfahren wird die belangte Behörde ein fachärztliches Sachverständigengutachten, basierend auf einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin, zu den oben dargelegten Fragestellungen einzuholen und die Ergebnisse unter Einbeziehung des Beschwerdevorbringens und der vorgelegten medizinischen Beweismittel - insbesondere auch der fachärztlichen Stellungnahme vom 20.07.2023 - bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen haben. Von den vollständigen Ergebnissen des weiteren Ermittlungsverfahrens wird die Beschwerdeführerin mit der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme in Wahrung des Parteiengehörs in Kenntnis zu setzen sein.

Dass eine unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht „im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden“ wäre, ist – angesichts des mit dem bundesverwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren als Mehrparteienverfahren verbundenen erhöhten Aufwandes – nicht ersichtlich. Aufgrund der infrastrukturellen Gegebenheiten des Bundesverwaltungsgerichts kann das gegenständliche Verfahren im Vergleich zur belangten Behörde nicht rascher, sondern nur kostenintensiver durch Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens durchgeführt werden. Wie oben bereits ausgeführt, steht der von der belangten Behörde im gegenständlichen Verfahren beigezogene Facharzt für Neurologie und Psychiatrie dem ho. Gericht als Sachverständiger nicht zur Verfügung.

Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind somit im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben. Da der maßgebliche Sachverhalt im Fall der Beschwerdeführerin noch nicht feststeht und vom Bundesverwaltungsgericht auch nicht rasch und kostengünstig festgestellt werden kann, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen der angefochtene Bescheid gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG aufzuheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen zurückzuverweisen.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen.

Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden, noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen.

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