Spruch
W185 2264398-1/7E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Gerhard PRÜNSTER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA Syrien, vertreten durch RA MMag Dr. Franz Stefan PECHMANN, Prinz Eugen-Straße 70/2/1.1, 1040 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.11.2022, Zl. 1316240904-222263242, zu Recht erkannt:
A) Der Beschwerde wird gemäß § 21 Abs. 3 erster Satz BFA-Verfahrensgesetz idgF (BFA-VG) stattgegeben, das Verfahren über den Antrag auf internationalen Schutz wird zugelassen und der bekämpfte Bescheid behoben.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Die Beschwerdeführerin stellte nach illegaler Einreise am 21.07.2022 den Antrag, ihr in Österreich internationalen Schutz zu gewähren. Einer EURODAC-Treffermeldung zufolge wurde die Beschwerdeführerin am 03.07.2022 in Italien erkennungsdienstlich behandelt (IT2…………).
Am 21.07.2022 wurde die Beschwerdeführerin einer Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes unterzogen und gab hierbei zusammengefasst an, der Einvernahme ohne Probleme folgen zu können, keine Medikamente einnehmen zu müssen und nicht schwanger zu sein. In Österreich oder einem anderen EU-Staat habe sie keine Familienangehörigen. Sie habe die Heimat im Februar 2022 verlassen und sei illegal in den Libanon gereist. Von Zypern aus sei die Beschwerdeführerin dann schlepperunterstützt nach Italien gelangt. Dort habe sie nicht um Asyl angesucht, da ihr Zielland Österreich gewesen sei. In Italien habe sie sich etwa 2 Wochen lang aufgehalten und sei „normal“ behandelt worden. Die Beschwerdeführerin wolle nicht nach Italien zurückkehren, sondern in Österreich bleiben. Hier sei eine Tante von ihr aufhältig und hier sei sie in Sicherheit. Ihr Ehemann werde seit ca 2 Jahren vermisst.
Am 22.07.2022 richtete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: Bundesamt oder BFA) Informationsersuchen nach Art 34 der VO (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (infolge Dublin III-VO) an Italien und Zypern.
Mit Schreiben vom 05.08.2022 teilte die italienische Dublin-Behörde mit, dass die Beschwerdeführerin am 03.07.2022 erkennungsdienstlich behandelt worden sei.
Am 16.08.2022 teilten die zypriotischen Behörden mit, dass die Beschwerdeführerin in Zypern nicht bekannt sei.
Am 18.08.2022 richtete das Bundesamt ein Aufnahmeersuchen gemäß Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO an Italien; dies unter Hinweis auf den Eurodac-Treffer der Kategorie „2“ mit Italien und das Antwortschreiben Zyperns.
Mit Schreiben vom 08.11.2022 wies das Bundesamt die italienischen Behörden auf die Verfristung und die daraus resultierende Zuständigkeit Italiens nach Art 22 Abs 7 Dublin III-VO, beginnend mit dem 19.10.2022, hin (AS 85).
Am 30.11.2022 fand eine Einvernahme der Beschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl statt. Hiebei gab diese im Wesentlichen an, sich körperlich und geistig in der Lage zu fühlen, die Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten. Sie sei aktuell nicht in ärztlicher Behandlung. In Österreich würde sich die Cousine ihres Vaters (welche gleichzeitig ihre Schwiegermutter sei) aufhalten; diese sei anerkannter Flüchtling. Die Beschwerdeführerin wohne mit der angeführten Verwandten im gemeinsamen Haushalt. Ihr Mann befinde sich auch in Österreich. Diesen habe sie telefonisch in Syrien geheiratet; als die Beschwerdeführerin nach Österreich gekommen sei, hätten sie die „Papiere machen lassen“. Sie seien traditionell verheiratet. Die Beschwerdeführerin legte in der Folge den Eheschließungsvertrag vor. Die Beschwerdeführerin und ihr Gatte seien von der Schwiegermutter abhängig; diese finanziere alles. Ihr Mann befinde sich seit 2004 in Österreich und sei hier anerkannter Flüchtling. Über Vorhalt der Zustimmung Italiens zu ihrer Übernahme und der in der Folge beabsichtigten Zurückweisung des Antrages und die geplante Ausweisung nach Italien erklärte die Beschwerdeführerin, nicht nach Italien zurückkehren zu wollen, auch wenn dies so vorgesehen sein sollte. Sie habe sich 4 Tage in Italien aufgehalten, ihr dortiges Leben jedoch „nicht gemocht“. Sie sei dort in einem geschlossenen Camp gewesen. Die Beschwerdeführerin wolle bei ihrem Mann bleiben.
Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass gemäß Artikel 13 Abs 1 iVm Art 22 Abs 7 Dublin III-VO Italien für die Prüfung des Antrages zuständig sei (Spruchpunkt I.). Gleichzeitig wurde gegen die Beschwerdeführerin gemäß § 61 Abs. 1 FPG die Außerlandesbringung angeordnet und festgestellt, dass demzufolge deren Abschiebung nach Italien gemäß § 61 Abs. 2 FPG zulässig sei (Spruchpunkt II.).
Gegen diesen Bescheid des Bundesamtes richtet sich die fristgerecht erhobene Beschwerde, in welcher im Wesentlich vorgebracht wurde, dass die Beschwerdeführerin und ihr nunmehrigen Gatte im Mai 2022 telefonisch nach traditionellem Ritus geheiratet hätten; ein Ehevertrag sei unterfertigt worden. Die Beziehung sei glücklich und erfülle alle Merkmale einer Ehe; es bestünde auch ein gemeinsamer Haushalt. In Italien habe die Beschwerdeführerin demgegenüber weder familiäre noch soziale Anknüpfungspunkte. Das Zielland sei Österreich gewesen. In der Erstbefragung der Beschwerdeführerin sei es zu einer Reihe von Übersetzungsfehlern gekommen. In der Einvernahme vor dem Bundesamt seien keine Details zum Privat- und Familienleben abgefragt worden. Auch sei eine Einvernahme des Ehemanns der Beschwerdeführerin unterblieben. Es sei, entgegen den Ausführung der Behörde, vom Vorleigen eines iSd Art 8 EMRK schützenswerten Familienlebens in Österreich auszugehen. Es bestünde eine Zuständigkeit Österreichs gemäß Art 9 Dublin III-VO.
Am 03.07.2022 veranlasste das Bundesverwaltungsgericht Abfragen aus dem Zentralen Melderegister, dem Betreuungsinformationssystem GVS sowie dem Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister. Die Abfragen haben ergeben, dass die Beschwerdeführerin nach wie vor in Österreich aufhältig und aufrecht gemeldet ist. Über Anfrage gab das Bundesamt mit E-Mail vom 27.04.2023 bekannt, dass die Überstellungsfrist am 20.04.2023 abgelaufen ist (OZ 6).
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Festgestellt wird zunächst der dargelegte Verfahrensgang.
Obwohl unzweifelhaft die Zuständigkeit Italiens zur Führung des Asylverfahrens der Beschwerdeführerin vorlag, erfolgte deren Überstellung nicht binnen der in Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO festgelegten Frist von sechs Monaten, konkret bis zum Ablauf des 19.04.2023. Das Verfahren wurde nicht ausgesetzt und es kam auch zu keiner Fristverlängerung im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO.
2. Beweiswürdigung:
Die festgestellten Tatsachen ergeben sich aus dem Akt des Bundesamtes, insbesondere dem Konsultationsverfahren, sowie den Abfragen des Zentralen Melderegisters, des Betreuungsinformationssystem GVS sowie des Informationsverbundsystems Zentrales Fremdenregister. Überdies gab das Bundesamt auf Nachfrage seitens des BVwG bekannt, dass die Überstellungsfrist inzwischen abgelaufen ist.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A) Stattgebung der Beschwerde
Die maßgebliche Bestimmung des BFA-Verfahrensgesetzes (BFA-VG) idgF lautet:
§ 21 (3) Ist der Beschwerde gegen die Entscheidung des Bundesamtes im Zulassungsverfahren stattzugeben, ist das Verfahren zugelassen. Der Beschwerde gegen die Entscheidung im Zulassungsverfahren ist auch stattzugeben, wenn der vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint.“
Die maßgeblichen Bestimmungen der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (Dublin III-VO) lauten:
Artikel 29 Dublin III – VO: Modalitäten und Fristen
(1) Die Überstellung des Antragstellers oder einer anderen Person im Sinne von Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe c oder d aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat erfolgt gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme — oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Artikel 27 Absatz 3 aufschiebende Wirkung hat.
……………………...
(2) Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über. Diese Frist kann höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn die betreffende Person flüchtig ist.“
…
Artikel 42 Berechnung der Fristen
Die in dieser Verordnung vorgesehenen Fristen werden wie folgt berechnet:
a) Ist für den Anfang einer nach Tagen, Wochen oder Monaten bemessenen Frist der Zeitpunkt maßgebend, zu dem ein Ereignis eintritt oder eine Handlung vorgenommen wird, so wird bei Berechnung dieser Frist der Tag, auf den das Ereignis oder die Handlung fällt, nicht mitgerechnet.
b) Eine nach Wochen oder Monaten bemessene Frist endet mit Ablauf des Tages, der in der letzten Woche oder im letzten Monat dieselbe Bezeichnung oder dieselbe Zahl wie der Tag trägt, an dem das Ereignis eingetreten oder die Handlung vorgenommen worden ist, von denen an die Frist zu berechnen ist. Fehlt bei einer nach Monaten bemessenen Frist im letzten Monat der für ihren Ablauf maßgebende Tag, so endet die Frist mit Ablauf des letzten Tages dieses Monats.
c) Eine Frist umfasst die Samstage, die Sonntage und alle gesetzlichen Feiertage in jedem der betroffenen Mitgliedstaaten.
Auf Grund des Aufnahmegesuch Österreichs gem. Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO an Italien vom 18.08.2022 und der Zustimmung Italiens zur Übernahme der Beschwerdeführerin durch Verschweigen (Verfristung), endete die sechsmonatige Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 iVm Art 42 Dublin III-VO mit Ablauf des 19.04.2023.
Eine Aussetzung des Verfahrens bzw eine Verlängerung der Überstellungsfrist, etwa aufgrund Inhaftierung oder unbekannten Aufenthalts der Beschwerdeführerin - hat nicht stattgefunden. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist somit die Überstellungsfrist gem. Art. 29 Abs. 1 Dublin III–VO bereits abgelaufen.
Die Verfristungsbestimmungen der Dublin III-VO normieren einen Zuständigkeitsübergang bzw. eine Zuständigkeitsbegründung des die Überstellung nicht während dieser Frist durchführenden Mitgliedsstaates. Ein Übergang der Zuständigkeit hat im gegenständlichen Verfahren somit stattgefunden und ist Österreich demnach nunmehr für die Führung des materiellen Verfahrens der Beschwerdeführerin zuständig. Dementsprechend war der gegenständliche, die Zuständigkeit Österreichs zurückweisende Bescheid zu beheben und das Verfahren zuzulassen.
In diesem Zusammenhang bleibt noch anzuführen, dass die in Art 29 Abs 1 und 2 Dublin III-VO normierte Frist zur Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat eine zwingende Frist ist (siehe EuGH 25.10.2017, Rs C-201/16 Shiri), bei deren Nichteinhaltung die Zuständigkeit, ohne dass dies von der Reaktion des zuständigen Mitgliedstaates abhängig wäre, auf den ersuchenden Staat übergeht. Darauf kann sich auch ein Antragsteller berufen (VwGH 13.12.2017, Ra 2017/19/0081).
Eine mündliche Verhandlung konnte gemäß § 21 Abs. 6a und 7 BFA-VG unterbleiben, zumal sämtliche verfahrenswesentliche Abklärungen, insbesondere aber die im gegenständlichen Verfahren relevante Frage hinsichtlich des Vorliegens eines Fristablaufes, eindeutig aus dem vorliegenden Verwaltungsakt beantwortet werden konnten.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Im Übrigen treffen Art. 29 Dub III-VO und § 21 Abs. 3 BFA-VG klare, eindeutige Regelungen (vgl. OGH 22.03.1992, 5Ob105/90), weshalb keine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung vorliegt.